frühjahr 2016 vielfalt– - bildungsbande

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Seite 9 Seite 3 Seite 10 Seite 6 Seite 13 Seite 7 Ausgesetzt: Das Recht auf Schule Appell: Asylpaket II Neugründung: Bündnis Antiziganismus Engagement: Politisch mit Torte Vielfalt– Das Bildungsmagazin Frühjahr 2016 wir finden etwas Positives und berichten darüber. Bei all den Zäunen, die zur Abwehr von Flüchtlin- gen um Europa hochgezogen werden, bei deutschen Asylpaketen, die noch mehr Frauen und Kinder ins Meer und mutmaßlich in den Tod treiben, bei ab- nehmender Willkommenskultur und zunehmender Zahl rechtsextremer Anschläge gegen Wohnheime und rassistischer Angriffe gegen Flüchtlinge ist das nicht ganz einfach. Aber stimmt das überhaupt mit der abnehmenden Willkommenskultur? Oder haben wir nur den Ein- druck, weil Politik und Verwaltungen nicht willens oder fähig sind, Strukturen für eine wirkliche Inte- gration zu entwickeln? Wird das Rad zurückgedreht? Wie haltbar sind die neuen Freundschaften, die So- lidarität, die Offenheit und das Bemühen, den hier- her Geflüchteten einen guten Start und einen guten Platz in dieser Gesellschaft zu ermöglichen? Für die, die es trotz Stacheldraht und Meer geschafft haben, ist es jetzt „die Zeit nach der Flucht“: Allerorts wird Deutsch gepaukt, bürokratische Barrieren und Ge- meinheiten gilt es zu überwinden. Die Flüchtlinge nehmen ihr Leben in die Hand, oftmals unterstützt von Vor-ihnen-Geflohenen, von Migrant_innen und von Deutschen mit und ohne Migrationsgeschichte. Empowerment ist dabei ein wichtiges Stichwort, dem wir in der Frühjahrsausgabe einen Schwer- punkt widmen. Welche Strategien (er)finden Men- schen nach ihrer Flucht, und welche Unterstützung befähigt sie, hier erfolgreich anzukommen? Davon handeln die Geschichten der Geflüchteten und der Unterstützer_innen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, aber eines gemeinsam haben: den Wunsch, eine gemeinsame Zukunft zu gestalten. Den Start machen die Schüler und Schülerinnen von Schule ohne Rassismus in NRW. Und dann zeigen wir Ihnen die aussagekräftigen Bilder junger Mus- lim_innen, die aufmerksam machen auf Islam- feindlichkeit und ein Zeichen setzen wollen gegen Diskrimnierung und Schubladendenken - eine Fo- tosession der Islamwissenschaftlerin Hanna Attar und der Medienstudierenden Ilayda Sayilga im Rahmen des Projektes “Nicht in meinem Namen! Gemeinsam gegen Diskriminierung, antimuslimi- schen Rassismus und den Missbrauch von Religion“ in Trägerschaft der AWO Arbeit & Qualifizierung gGmbH Solingen. Weitere Infos unter http://www.awo-aqua.de/htm/nimn.htm Mercedes Pascual für die Redaktion Foto: DA

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Page 1: Frühjahr 2016 Vielfalt– - BildungsBande

Seite 9Seite 3

Seite 10Seite 6

Seite 13Seite 7

Ausgesetzt: Das Recht auf Schule

Appell: Asylpaket II

Neugründung: Bündnis Antiziganismus

Engagement: Politisch mit Torte

Vielfalt–Das Bildungsmagazin

Frühjahr 2016

wir finden etwas Positives und berichten darüber.Bei all den Zäunen, die zur Abwehr von Flüchtlin-gen um Europa hochgezogen werden, bei deutschenAsylpaketen, die noch mehr Frauen und Kinder insMeer und mutmaßlich in den Tod treiben, bei ab-nehmender Willkommenskultur und zunehmenderZahl rechtsextremer Anschläge gegen Wohnheime und rassistischer Angriffe gegen Flüchtlinge ist dasnicht ganz einfach. Aber stimmt das überhaupt mit der abnehmendenWillkommenskultur? Oder haben wir nur den Ein-druck, weil Politik und Verwaltungen nicht willensoder fähig sind, Strukturen für eine wirkliche Inte-gration zu entwickeln? Wird das Rad zurückgedreht?Wie haltbar sind die neuen Freundschaften, die So-lidarität, die Offenheit und das Bemühen, den hier-her Geflüchteten einen guten Start und einen gutenPlatz in dieser Gesellschaft zu ermöglichen? Für die,die es trotz Stacheldraht und Meer geschafft haben,ist es jetzt „die Zeit nach der Flucht“: Allerorts wirdDeutsch gepaukt, bürokratische Barrieren und Ge-meinheiten gilt es zu überwinden. Die Flüchtlingenehmen ihr Leben in die Hand, oftmals unterstütztvon Vor-ihnen-Geflohenen, von Migrant_innen undvon Deutschen mit und ohne Migrationsgeschichte.

Empowerment ist dabei ein wichtiges Stichwort,dem wir in der Frühjahrsausgabe einen Schwer-punkt widmen. Welche Strategien (er)finden Men-schen nach ihrer Flucht, und welche Unterstützungbefähigt sie, hier erfolgreich anzukommen? Davonhandeln die Geschichten der Geflüchteten und der Unterstützer_innen, die unterschiedlicher nicht seinkönnten, aber eines gemeinsam haben: denWunsch, eine gemeinsame Zukunft zu gestalten.Den Start machen die Schüler und Schülerinnen vonSchule ohne Rassismus in NRW. Und dann zeigen

wir Ihnen die aussagekräftigen Bilder junger Mus-lim_innen, die aufmerksam machen auf Islam-feindlichkeit und ein Zeichen setzen wollen gegenDiskrimnierung und Schubladendenken - eine Fo-tosession der Islamwissenschaftlerin Hanna Attarund der Medienstudierenden Ilayda Sayilga im

Rahmen des Projektes “Nicht in meinem Namen!Gemeinsam gegen Diskriminierung, antimuslimi-schen Rassismus und den Missbrauch von Religion“in Trägerschaft der AWO Arbeit & QualifizierunggGmbH Solingen. Weitere Infos unterhttp://www.awo-aqua.de/htm/nimn.htm

Mercedes Pascual für die Redaktion

Foto

: DA

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Schule /2

Vielfalt – Das Bildungsmagazin

Die rassistischen Vorfälle vom Donnerstag, den18.02.2016 in Clausnitz haben uns, die SchülerIn-nen des LandesschülerInnentreffens von „Schuleohne Rassismus – Schule mit Courage“ NRW ent-setzt und dazu bewogen, dazu Stellung zu bezie-hen.Am Donnerstagabend ist in Clausnitz, einem säch-sischen Dorf, ein Bus mit Geflüchteten, unter ihnenFrauen und Kinder, blockiert worden. Diese Tat wirftviele Fragen auf: Zum einen, wie die vertrauliche In-formation über das Ankommen der Geflüchtetenverbreitet und wie diese Tat organisiert wurde, ohne

aufzufallen. Außerdem ist fragwürdig, dass die Po-lizei nur wegen des Verbots des Versammlungs-rechts ermittelt, obwohl Menschen massiv beleidigtund verletzt wurden. Schockierend ist außerdem dieVeröffentlichung eines Videos auf Facebook der Or-ganisation „Döbeln wehrt sich", das die Übergriffeauf den Bus und eingeschüchterte AsylbewerberIn-nen zeigt und befürwortet. Erschreckt hat uns Schü-lerInnen, dass Clausnitz nur die Spitze des Eisbergsist. Die Zahl der Übergriffe auf Unterkünfte für Ge-flüchtete ist in den letzten 50 Tagen auf ein uner-messliches Maß gestiegen. Bundesweit gab es 200

Anschläge auf Unterkünfte, davon allein 43 in NRW.Das sind vier Anschläge am Tag.Da „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“für eine offene, tolerante Gemeinschaft steht und indieser jeder Mensch seinen Platz hat, kritisieren wir117 SchülerInnen des Landestreffens die zuneh-mende Gewalt gegen die Geflüchteten, die in Claus-nitz zum Ausdruck kam. Wir rufen DICH auf zu COURAGIERTEM HANDELN!Wir rufen DICH auf, dich gegen RASSISMUS und DIS-KRIMINIERUNG zu stellen! Wir rufen dich auf, HIN-ZUSCHAUEN. Refugees Welcome!

Fotos: SOR

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Vielfalt – Das Bildungsmagazin

„Alle zugewanderten Kinder haben ein Recht auf Bil-dung, unabhängig vom Aufenthaltsstatus“. Soschreibt es die Redaktion in jeder Ausgabe des Bil-dungsmagazins. Der Satz ziert freilich auch Vorträgezum Beispiel der NRW-Schulministerin und andereStellungnahmen aus der Politik. Zwischen den Aus-gaben von "Vielfalt" ist die Redaktion aktiv auf derSuche nach Bündnispartner_innen, um dieses Rechtauf Bildung auch in eine Schulwirklichkeit für alleKinder umzusetzen, oder auf der Suche nach Schul-plätzen für Kinder, die von Amts wegen nicht ver-mittelt werden. Denn in den Flüchtlingsunterkünf-ten Kölns bleiben Kinder häufig monatelang ohneSchulplatz, in den Landeseinrichtungen grundsätz-lich bis zur Zuweisung in eine Kommune – unddemnächst in den geplanten „besonderen Aufnah-mezentren“ endgültig. Hier sollen, so die neuenAsylgesetze, Asylsuchende aus „sicheren Herkunfts-staaten“, Folgeantragsteller_innen und Asylsu-chende ohne Identitätsdokumente untergebrachtwerden. Die Kinder dieser Flüchtlingsgruppen kön-nen also demnächst aus der UN-Kinderrechtskon-vention, die ihnen das Recht auf einen Schulplatzgibt und die Schulpflicht für sie einfordert, Papier-flieger basteln. Zeit dafür haben sie ja dann genug.

Das Recht eines jeden Kindes auf Bildung wurdeauch beim Runden Tisch „Beschulung von Flüchtlin-gen – Was unternimmt die Landesregierung?“ ein-gefordert, zu dem die nordrhein-westfälischeSPD-Abgeordnete Gabriele Hammelrath Ende Fe-bruar eingeladen hatte. Eine Antwort darauf bliebdie Kölner Schuldezernentin Agnes Klein trotz Un-terstützung aus der Verwaltung den Lehrer_innenund Flüchtlingsunterstützer_innen im Publikumschuldig. Diese bekamen stattdessen Zahlen vomLand und der Kommune.

Die Landeszahlen: Im Schuljahr 2015/16 wurden in NRW 5.766 Leh-rerstellen für die Beschulung zugewanderter Kin-der neu geschaffen, davon 1.200 Integrationsstel-

len für die Sprachförderung, , 4.124 Stellen für denerhöhten Grundbedarf und 255 für die Offene Ganz-tagsschule. Es werden 19,2 Millionen Euro für dieOGS bereitgestellt sowie noch einmal 2 Millionen

Weiterbildungsmittel und eine Million für Aushil-fen. In den Kommunalen Integrationszentren sind10 Stellen dazugekommen, bei den multiprofessio-nellen Teams 113, bei den Schulpsycholog_innen

Foto: AWO aqua

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Vielfalt – Das Bildungsmagazin

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20 Stellen, bei den Fachberatern Schulaufsicht 40Stellen. Insgesamt werden im Landeshaushalt 179Millionen Euro angesetzt.

Für wie viele und welche Schüler_innen? In welcheStädte und Kommunen fließen die Finanzmittel undvor allem: sind sie verknüpft mit besonderen Auf-gaben und Zielen für die Integration der Kinder undJugendlichen im Bildungssystem? Diese Fragen kön-nen am Abend vom Podium nicht beantwortet wer-den. Zudem, gibt die LandtagsabgeordneteHammelrath zu bedenken, sei der Markt, gemeintsind Lehrerinnen und Lehrer, leergefegt. Von 400 zu-sätzlichen Stellen konnten nur 80 besetzt werden.

Die Kölner Zahlen:Seit Sommer 2015 – also im laufenden Schuljahr –wurden 1.191 schulpflichtige Kinder Kölner Schulenals Quereinsteiger zugewiesen. Und die Zahl nimmtzu. Die neuen Familiennachzugsregelungen seienbei den Familien bereits angekommen. Immer mehrFrauen und Kinder würden sich selbst auf den Wegnach Europa aufmachen, beschreibt Schuldezer-nentin Klein die unübersichtliche Lage. Die Antwort des Kölner Ausschusses Schule undWeiterbildung auf die Anfrage der Fraktion Die Linkebestätigt den Trend. „Somit ist bis zum Ende desSchuljahres mit einer deutlichen Erhöhung im Ver-gleich zum Vorjahr zu rechnen.“ 2.121 Kinder imSchulalter leben in Kölner Hotels, Wohnheimen undNotaufnahmen. Eine weitere Zahl kennt CarolinKirsch, Leiterin des Schulamts für die Stadt Köln. 230Schüler_innen, hier wird nicht zwischen Flüchtlin-gen und EU-Bürger_innen unterschieden, werden

derzeit monatlich neu den Schulen zugewiesen. Dasheißt, die Stadt Köln braucht im Schnitt 12 neue Vor-bereitungsklassen im Monat. Diese schulpflichtigen Kinder irgendwie mit Schul-plätzen zu versorgen, bringt die Verwaltung an ihreGrenzen, von Qualität und geplanter Integration istkeine Rede mehr. Die Zahl der Kinder, die in Köln leben, aber nicht derStadt Köln zugewiesen sind, bleibt an diesem Abenddes Runden Tisches unerwähnt. In der Antwort derStadt auf die erwähnte Anfrage wird sie allerdingserstmals kommuniziert. In Köln werden von Amtswegen 219 Kinder im Schulalter nicht beschult. 33dieser Kinder sind zwischen 6 und 10 Jahren, 186Kinder und Jugendliche zwischen 11 und 18 Jahrenalt.

Auf dem Weg in eine bildungspolitische Katastro-pheAm Ende des zweistündigen Kölner "Runden TischesSchulplätze" ahnt jeder und jede auch ohne diesekonkrete Zahl, die immer nur eine Momentauf-nahme darstellt, dass wir einer bildungspolitischenKatastrophe entgegensteuern, und empfindet Mit-gefühl mit einer sich abstrampelnden Verwaltung,die engagiert ihr möglichstes versucht, aber imGrunde von der Politik im Stich gelassen wird. Das Schulministerium in NRW begünstige die mo-natelange Nichtbeschulung von Kindern und Ju-gendlichen in Heimen und Lagern, indem es dieBeschulung von einer ausländerrechtlichen Maß-nahme, der Zuweisung zu einer Kommune, abhän-gig mache, kritisiert die pensionierte Lehrerin

Gabriele Metzner von der Kölner Initiative Schul-plätze für alle. „Auf dem Rücken der Kinder wird dar-auf spekuliert, dass das restriktive Asylrecht dieFamilien schon außer Landes schaffen wird, bevordie gesellschaftlichen Folgekosten von Analphabe-tismus und beruflicher Chancenlosigkeit auftau-chen.“ Nicht nur die Kinder und Jugendlichen ohne kom-munale Zuweisung und aus den sogenannten si-cheren Herkunftsländern bleiben draußen vor derTür. Auch jene, die mit 17 oder 18 Jahren nachDeutschland kommen und deshalb nicht mehrschulpflichtig sind, haben kaum Chancen auf schu-lische Bildung zum Beispiel in Berufskollegs. „Wirmüssen die Schulpflicht hochsetzen – andere Bun-desländer haben das getan", verlangt deshalb dieLandtagsabgeordnete Hammelrath: "Das Ministe-rium ist allerdings der Meinung: Das bekommt manüber die Weiterbildungseinrichtungen hin, sprichVolkshochschulen. Wir glauben, dass das nicht aus-reichen wird, denn die größte Anzahl der zu unsKommenden ist zwischen 18 und 35 Jahre alt.“ Eine Änderung des NRW-Schulgesetzes, das dieSchulpflicht verbindlich für alle in NRW lebendenKinder regelt und die Kinderrechtskonvention um-setzt, wird derzeit noch nicht von der SPD gefordert,obwohl sie zur Klarstellung, langfristigen Planungund Gleichstellung aller Kinder besonders in Zeitengroßer Herausforderungen notwendig wäre. Den-noch gilt: Auf die Kinderrechtskonvention kann sichjede Schulleitung berufen, die trotzdem Kinder undJugendliche in ihre Schule aufnimmt.

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Die Zahl der Schüler_innen in Nordrhein-Westfalenist in diesem Schuljahr zum zwölften Mal in Folgegesunken. Das Statistische Landesamt teilte EndeFebruar mit, dass an den rund 5500 allgemeinbil-denden Schulen 1,92 Millionen Schüler_innen un-terrichtet werden. Das sind 21.000 weniger als imvergangenen Schuljahr. Vor 12 Jahren besuchtennoch fast 390 000 Schüler mehr als heute eine all-gemeinbildende Schule in NRW. Außer an den Ge-samtschulen und den im Schuljahr 2012/2013 anden Start gebrachten Sekundarschulen sank dieSchüler_innenzahl in allen Schulformen. Am stärk-sten in den Hauptschulen, dort werden etwa 13 Pro-zent weniger Kinder unterrichtet als im letzten Jahr.

Der Städte- und Gemeindebund Nordrhein-Westfa-len hat am 1. März einen Handlungsleitfaden zurIntegration von Flüchtlingen veröffentlicht. Die Bro-schüre sei als Hilfestellung für die Kommunen ge-dacht, erklärte der Präsident des Verbandes, derSoester Bürgermeister Eckhard Ruthemeyer. „DieStädte und Gemeinden sind der Hauptort der Inte-gration.“Wir dokumentieren Passagen aus dem Handlungs-feld Schule und offene Ganztagsschule: „Schule muss sich daran messen lassen, inwiefernsie allen Kindern und Jugendlichen, ob mit oderohne Migrationshintergrund und unabhängig vonder sozialen Herkunft, gleichberechtigte Chanceneinräumt - gerade auch auf das Erreichen höhererBildungsabschlüsse. In Anbetracht der Tatsache, dassZuwanderer eben nicht nur im Einschulungsalternach Europa/ Deutschland kommen, sondern inallen Jahrgangsstufen, gilt es auch den älteren zu-

gewanderten Schülern Erfolg versprechend Bil-dungswege zu ermöglichen. Da diese Schüler ersteinmal Deutsch lernen müssen, verzögert sich ihrSchulstart in den übrigen Fächern noch einmalmehr. Deshalb sind für sie Bildungswege von be-sonderer Bedeutung, die zeitlich über die Vollzeit-schulpflicht hinaus reichen. Im bestehendenSchulsystem sind das berufsorientierte Bildungs-wege, die über Berufskollegs, duale Ausbildungund sich daran anschließende AusbildungsgängeChancen schaffen. Hier ergibt sich etwa folgendeChancen-Kette: duale Berufsausbildung- Geselle-Meister -Hochschulstudium. Sinnvoll ist zudem dieSchaffung bzw. Stärkung von berufsbegleitendenBildungswegen, wie sie mit im Prinzip gleicher Ziel-richtung in der Nachkriegszeit für diejenigen ein-gerichtet wurden, die ähnlich gebrocheneBildungswege und Bildungsverzögerungen hatten,wie sie heute für viele Flüchtlinge typisch sind.“

Systematisch werden in den neuen BayerischenRückführungszentren für Flüchtlinge mit wenig Aus-sicht auf ein Bleiberecht Kinderrechte verletzt, so dieGrüne Europapolitikerin Barbara Lochbihler und derBundestagsabgeordnete Volker Beck. Die beiden Politiker kritisieren, dass die Kinder inden Rückführungszentren für Menschen mit wenigBleibechancen nicht in Regelschulen gehen, sondernnur ein paar Stunden am Tag in Englisch, Mathema-tik und Naturwissenschaften unterrichtet werden.

Deutschunterricht gebe es nicht. "Nach der Kinder-rechtskonvention muss aber dem Kind Achtung vorden Werten des Landes, in dem es lebt, vermitteltwerden", schreiben Beck und Lochbihler. "Wie dasin Deutschland ohne Deutschunterricht gehen soll,erschließt sich nicht." Die Bundesregierung schauedem "tatenlos zu". Daher hätten sie sich an das UN-Gremium gewandt.Die sogenannten Balkanzentren in Manching bei In-golstadt und im oberfränkischen Bamberg wurden

im vergangenen Herbst eingerichtet, um vor allemAsylsuchende aus dem Balkan-Raum rascher ab-schieben zu können.

Der Kinderrechtsausschuss der Vereinten Nationenprüft zwar regelmäßig, ob Kinderrechte gewahrtwerden. Sein Durchsetzungsvermögen gegenüberStaaten und Institutionen ist aber schwach. Das Gre-mium kann Empfehlungen aussprechen und in besonders schweren Fällen ein Untersuchungsver-fahren gegen das Land einleiten.

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Aktuelles /6

Angesichts der Änderung des Familiennachzugs fürunbegleitete minderjährige Flüchtlinge im "Asylpa-ket II" erklärte Claudia Kittel, Leiterin der Monito-ring-Stelle UN- Kinderrechtskonvention desDeutschen Instituts für Menschenrechte, am 9. Fe-bruar:"Eine Aussetzung des Familiennachzugs für zweiJahre für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge,die als subsidiär Schutzberechtigte anerkannt wer-den, verstößt gegen die UN-Kinderrechtskonven

tion. Faktisch würden die Kinder damit sogar weitlänger als zwei Jahre von ihren Eltern getrennt. Inder Praxis ist davon auszugehen, dass Familienzu-sammenführungen wegen langer Verfahren tat-sächlich erst nach vier Jahren stattfinden könnten. Die UN-Kinderrechtskonvention verpflichtet die Ver-tragsstaaten dazu, dass ein Kind nicht von seinen El-tern getrennt werden darf, es sei denn, dass dieseTrennung für das Wohl des Kindes notwendig ist.Dementsprechend muss Deutschland als Vertrags-staat Anträge auf Familienzusammenführung nach

Artikel 10 der Konvention 'wohlwollend, human undbeschleunigt bearbeiten'. Eine pauschale Ausset-zung der Familienzusammenführung über Jahre istdamit ganz offensichtlich nicht vereinbar." Der Kinderschutzbund-Präsident Heinz Hilgers hatsich am 1. März in einem Brief an BundespräsidentGauck gewandt und ihn gebeten, das Gesetz wegender Neuregelung des Familiennachzugs zu stoppen.Das Gesetz war Ende Februar von Bundestag undBundesrat verabschiedet worden. Es kann aber erstin Kraft treten, wenn der Bundespräsident es unter-zeichnet. „Wir bitten Sie herzlich, dieses Gesetz nicht zu un-terzeichnen.“ Der Bundespräsident kündigte an, dieEinwände des Kinderschutzbundes zu prüfen.Die geplante Einschränkung des Familiennachzugsverstoße sowohl gegen internationale Abkommenals auch gegen das Grundgesetz, das Ehe und Fami-lie unter einen besonderen Schutz stelle, heißt es indem Schreiben. "Im Asylpaket II wird das Recht aufFamiliennachzug für alle Flüchtlinge mit einge-schränktem Schutz für zwei Jahre ausgesetzt. Dassoll auch für hier lebende Minderjährige gelten,deren Eltern dann nicht zu ihnen kommen können".Hilgers schrieb, für Kinder sei der Familienzusam-menhalt während des Krieges, auf der Flucht undbeim Ankommen das Wichtigste. Eine gewaltsameTrennung über einen langen Zeitraum führe zu „gra-vierenden Bindungs- und Beziehungsstörungen“.„Die oft vorhandene Traumatisierung der Kinderwird dabei weder aufgehoben noch verarbeitet, son-dern durch Ungewissheit, Unsicherheit und geringeZuversicht fortgesetzt“, heißt es in dem Brief desKinderschutzbundes. Prinzipiell dürfe „ein geflüchtetes Kind nichtschlechter gestellt sein als ein Kind, das in Deutsch-land aufgewachsen ist“, erklärte Hilgers. Ohnehinseien Menschenrechte „nicht nur eine Schönwet-terangelegenheit. Gerade in der Krise müssen sieerst ihre Wirkung entfalten.“ Frauen und Kinder be-sonders aus Syrien seien „jetzt erst recht gezwun-gen, sich auf den oft lebensgefährlichen Weg nachEuropa zu begeben“.Wie die Frankfurter Rundschau berichtete, erklärteGaucks Sprecherin, der Bundespräsident werde dieVerfassungsmäßigkeit des Asylpakets II sorgfältigprüfen. Da die Prüfung andauere, könne man keineAngaben zum weiteren Zeitplan machen.

KINDERSCHUTZBUND BITTET GAUCK DAS ASYLPAKET II ZU STOPPEN

Foto: AWO aqua

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Vielfalt – Das Bildungsmagazin

Aktuelles /7

Deutschland nimmt Geflüchtete aus Kriegsgebieten auf. Gleichzeitig wird dasAsylrecht verschärft und der Familiennachzug erschwert. Was bedeutet das fürdie Geflüchteten? Ralf Pierau sprach mit Bashar S., einem syrischen Geflüchte-ten.

BASHAR S. FLÜCHTETE AUS SYRIEN, UM SEINE FAMILIE ZU RETTEN Bashar S., Jahrgang 1979, ist verheiratet und hat zwei Kinder (2006 bzw. 2009geboren). Sein Vater floh mit seiner Familie 1948 aus Palästina. Deshalb steht inBashars syrischem Pass: „Palestinian Refugee“. Er absolvierte zuerst ein zwei-jähriges Studium zum Englisch-Lehrer. Danach arbeitete er als Audiotechnikerim palästinensischen Radio in Damaskus. Parallel dazu und bis zu seiner Fluchtim Jahr 2015 war er Leiter der Soundabteilung einer Audiofirma in Damaskus.In Deutschland macht er gerade ein Praktikum bei einem Radiosender. BasharS. stellte am 9. Juni seinen Asylantrag. Am 16. Dezember erließ das Bundesamt(BAMF) den Bescheid, der ihm die „Flüchtlingseigenschaft“ zuerkennt. Den Briefdazu erhielt er einen Monat später. Seine Frau und seine beiden Söhne lebennoch in Damaskus.

Herr S., Sie leben seit acht Monaten in Deutschland, haben hier Asyl. Wie geht esihrer Familie in Damaskus?Meine Frau ist jetzt allein mit ihrer Schwester und unseren Kindern. Alle unsereVerwandten sind raus aus Syrien. Die Preise dort sind um das Zehn- bis Fünf-zehnfache gestiegen. Überall in Damaskus sind Soldaten. Sie machen dort, wassie wollen. Es gibt keine Gesetze mehr.

In Deutschland wird darüber diskutiert, welche Flüchtlinge ihre Familie nachho-len dürfen. Was denken Sie darüber?Seit drei Wochen habe ich die Erlaubnis zum Familiennachzug. Darüber bin ichsehr glücklich. Ich bin doch hierher gekommen, um meine Familie zu retten.

Aber es passiert nichts. Ich bin hier in Sicherheit, aber meine Familie lebt wei-ter im Krieg.

Ihre Familie darf noch nachreisen. Warum ist sie denn noch nicht in Deutschland?Sie brauchen ja Visa. Die gibt es in der deutschen Botschaft. In Syrien gibt esaber keine Botschaft mehr. Das heißt, meine Frau und die Kinder müssen zurdeutschen Botschaft im Libanon. Den Termin dafür habe ich gleich beantragt.Doch es passiert nichts. Auf Facebook heißt es, die frühesten Termine soll es imMärz 2017 geben.

Was passiert, wenn Ihre Familie nicht kommen kann?Ich weiß es nicht. Ich kann es mir überhaupt nicht vorstellen. Wegen meiner Fa-milie bin ich hier.

Was machen Sie nun?Warten. Wir haben kein Geld mehr. Ich bin hier sicher, aber mir zerreißt es dasHerz, wenn ich an meine Frau und die Kinder in Damaskus denke. Ich kann imMoment nichts tun.

Wann haben Sie denn Ihre Familie zuletzt gesehen?Am 7. Mai 2015. An dem Tag habe ich Damaskus und meine Familie verlassen.

Was passierte an dem Tag?Um sechs Uhr wollte ich los. Die Kinder schliefen noch. Meine Frau fragte, ob siedie beiden wecken soll. Ich sagte ‚Nein‘ und verabschiedete mich nur von mei-ner Frau und ihrer Schwester. Dann fuhr ich mit einem Verwandten zum Hotel.Dort wartete der Bus.

Ralf PierauAus http://www.migazin.de/2016/03

Foto: AWO aqua

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Aktuelles /8

Vielfalt – Das Bildungsmagazin

Mehr als 20 Organisationen haben Ende Februar einBündnis für Solidarität mit den Sinti und RomaEuropas in Berlin ins Leben gerufen. Die Kampagnegegen Antiziganismus solle auf die anhaltende Aus-grenzung europaweit aufmerksam machen. Rund12 Millionen Sinti und Roma leben in Europa. Dieneue Dimension, die der Rassismus gegen Sinti undRoma in Europa erreicht habe, sei nicht hinnehm-bar, so der Direktor der Stiftung Denkmal für die er-mordeten Juden Europas, Uwe Neumärker. Ob dieWeigerung eines Campingplatzbesitzers, Romaeinen Stellplatz zu geben, oder die geplatzte Abitur-

Feier, weil der Geschäftsführer keine feiernden Romain seinem Restaurant haben wollte - "die massiveFeindschaft gegenüber Roma und Sinti ist allge-genwärtig", sagte Neumärker. Roma würden nur alsProblem betrachtet und hätten keine Fürsprecher inder Mehrheitsgesellschaft. Auch die Politik ver-schweige die allgegenwärtige Diskriminierung."Deshalb haben wir dieses Bündnis gebildet", sagteNeumärker.Auf der Internetplattform change.org sammelt dasBündnis, dem unter anderem der Zentralrat Deut-scher Sinti und Roma, Amnesty International, die

Diakonie Deutschland und die Antidiskriminie-rungsstelle des Bundes angehören, Unterschriftenfür eine Petition. Zum internationalen Romaday am 8. April lädt dasBündnis zu einer Kundgebung gegen Antiziganis-mus nach Berlin ein. Als Gäste sind neben Bundes-präsident Joachim Gauck die Integrationsbeauf-tragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz (SPD),und der Präsident des Zentralrats der Juden inDeutschland, Josef Schuster, angekündigt.

Foto: AWO aqua

START EINER KAMPAGNE FÜR EUROPAS GRÖSSTE MINDERHEIT

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Vielfalt – Das Bildungsmagazin

Kita /9

Seit Ende August letzten Jahres wohnen die Farhartsin Köln. Und vor anderthalb Jahren sind sie aus Af-ghanistan geflüchtet: Farhad, 43, der Ingenieur,Freshta, seine 31-jährige Frau, von Beruf Lehrerin,und Wares, ihr fünfjähriger Sohn. In einem hellen,aber spärlich möblierten, rund 35 qm großenfreundlichen Zimmer ist die Flüchtlingsfamilie vor-läufig zu Hause. Gleich nebenan befindet sich derKindergarten, den Wares seit zwei Monaten be-sucht. Jeden Tag freut er sich darauf, dort seineneuen Freunde und Freundinnen zu treffen. Und dieErzieherin Christine. „Er liebt sie sehr“, erklärt Mut-ter Freshta Farhart. Anfangs, erinnert sich die lebhafte Frau, war das garnicht zu erwarten. Wares klammerte sich ängstlichan seine Mama und wollte sie keinesfalls fortgehenlassen. Darin unterscheidet er sich allerdings nichtallzu sehr von einem deutschen Kind, das mit fünfJahren in einer Kita neu ankommt. Dessen Einge-wöhnungsphase dauert laut Erzieherin Christine inder Regel rund drei Wochen. Bei Wares waren esvier. Ganz allmählich, so hatte Christine es geraten,zog seine Mama sich zurück. Schließlich stand sienur noch am Fenster und winkte ihm zu, wenn erdraußen mit den anderen Kindern spielte. „Am 27.Tag meinte Christine, ich könnte beruhigt nachHause gehen. Und es hat geklappt! Wares hat bloßgefragt, ob ich ihn wieder abholen komme.“

EINen SICHERen ORT GEFUNDENWar die vierwöchige Eingewöhnungsphase, wäh-rend der sie stets präsent war, anstrengend fürFreshta? „Nein, gar nicht“, sagt sie. „Ich habe in derZeit viel Deutsch gelernt, sowohl von den Erziehe-rinnen als auch durch die Kinder.“In Kabul war es weitaus schwieriger gewesen. Al-lerdings war Freshtas Sohn damals noch viel jünger– eineinhalb. Im staatlichen Kindergarten in der af-ghanischen Metropole waren zwei Erzieherinnen fürsiebzig Kinder zuständig, und für alle zusammengab es nur einen Raum. Da hat Wares geweint undwollte nicht bleiben. Freshta hat deshalb nicht wie-der – wie zunächst geplant – als Lehrerin gearbei-tet.

FLUCHTWEGEDie drei Monate dauernde Flucht der Familie hatWares tapfer ausgehalten. Von Kabul aus sind sienach Moskau geflogen und von da aus ging es zuFuß über die Ukraine in die Slowakei. Seine Mutterwar erstaunt, wie ruhig ihr sonst so quirliges Kindsich auf dem langen, oft beschwerlichen Weg ver-halten hat. Nur einmal, als die slowakische Polizeisie alle festgenommen hat, erinnert sich Freshta,hat Wares fürchterlich und anhaltend geweint: „Erhat genau mitbekommen, in was für einer schlim-men Situation wir steckten!“ Die Fußmärsche haben den Vierjährigen immer wie-der an die Erschöpfungsgrenze gebracht. Aber auchdie Erwachsenen konnten oft nicht mehr. „Ich habedann einmal in der Ukraine andere Flüchtlinge ge-beten, ob sie ihn eine Zeitlang tragen könnten. Abersie lehnten ab: „Nein, wir sind auch völlig er-schöpft!“ Das werde ich nie vergessen. Gottseidankist das vorbei.45 Flüchtlinge wurden in einem engen Kellerraumzusammengepfercht. Es war finster und schmutzigund es gab kaum Luft zum Atmen. Ratten liefen hinund her, und nur einmal täglich gab es eine magereEssensration. „Aber Wares“, erzählt Freshta, „hat daim Keller die ganze Zeit mit den Leuten geplappertund gespielt, mit jedem. Alle waren froh, dass er dawar und uns half, die Zeit zu vertreiben. Wares waraller Liebling.“

IN DEUTSCHLAND ANGEKOMMENUnd noch einmal erlebte Familie Farhart ein schlim-mes „Camp“. Das war die Erstaufnahmeeinrichtungbei Hamm: finster und schmutzig – Freshta schüt-telt sich: „Nie hätte ich geglaubt, dass es so etwas inDeutschland gibt! Es war absolut verdreckt, beson-ders das Bad – ekelhaft. Und Wares hat gedacht, wirseien wieder auf der Flucht, und hatte Angst. Ichhabe den Cousin meiner Mutter in Dortmund ange-rufen und gesagt, dass wir auf keinen Fall dort blei-ben können. Er hat uns dann abgeholt, und wirkonnten eine Zeitlang bei ihm wohnen.“Während seine Mutter das alles berichtet, liegtWares erschöpft in seinem Bett. Eine Hodenentzün-dung macht ihm zu schaffen. Die Eltern wissen

nicht, wie sie die nötige ärztliche Behandlung fi-nanzieren können. Versichert sind sie ja nicht. Sieleben einstweilen ohne Papiere im Kirchenasyl.Denn ihr Asylantrag wurde in Deutschland gar nichterst bearbeitet, weil sie als erstes in der Slowakei alsFlüchtlinge registriert wurden. Jetzt hoffen sie dar-auf, dass die sogenannte "Dublinregel" zurückge-nommen wird und sie perspektivisch in Deutschlandbleiben können. Da klopft es an der Tür. Die Pfarre-rin erklärt, die Gemeinde wolle die Arztkosten über-nehmen.

PERSPEKTIVENBald wird Wares also wohl wieder in den Kinder-garten gehen können und auch wieder seinenFreund Jakob besuchen. Da gefällt es ihm besondersgut, weil die Familie eine Katze hat. Sein größterWunsch ist es, auch so ein Kätzchen zu besitzen. Undwas wünscht sich Wares' Mutter für das verblei-bende Jahr im Kindergarten? „Ich hoffe, er wird sogut Deutsch lernen, dass er in der Schule keine Pro-bleme bekommt und dass er viel Sport machenkann.“ Und sie selbst? Auch sie büffelt eifrig undmöchte gerne als Erzieherin arbeiten.

Die Welt in Ordnung bringen„Ein Kind wollte mit seinem Vater spielen. Da derVater weder Zeit noch Lust zum Spielen hatte, kamihm eine Idee, um das Kind zu beschäftigen. In einerZeitung fand er eine detailreiche Abbildung derErde. Er riss das Blatt mit der Weltkugel aus der Zei-tung und zerschnitt es in viele kleine Einzelteile. DasKind, das Puzzles liebte, machte sich sofort ans Werkund der Vater zog sich zufrieden zurück. Aber schonnach kurzer Zeit kam das Kind mit dem vollständi-gen Welt-Bild. Der Vater war verblüfft und wolltewissen, wie es möglich war, in so kurzer Zeit die Ein-zelteile zu ordnen.„Das war ganz einfach!“, antwortete das Kind stolz.„Auf der Rückseite des Blattes war ein Mensch ab-gebildet. Damit habe ich begonnen. Als der Menschin Ordnung war, war es auch die Welt.“

Fatih Köylüoğlu, Migazin vom 4.3.2016

VON DER FLUCHT AUS AFGHANISTAN IN EINEN KÖLNER KINDERGARTEN

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Schwerpunkt /10

Vielfalt – Das Bildungsmagazin

“Porto Amal“ (deutsch: Hafen der Hoffnung) ist ein„Clearinghaus“ für unbegleitete minderjährige ge-flüchtete Mädchen in Bielefeld, eine Zweigstelle desMädchenhauses Bielefeld e.V. Mädchen zwischen14 und 17 Jahren aus vielen Ländern haben hier Zu-flucht gefunden. Vielfalt – das Bildungsmagazin hatmit der pädagogischen Leiterin von Porto Amal, Jo-hanna Kurth, gesprochen:

Frau Kurth, wie viele geflüchtete Mädchen wohnenderzeit bei Ihnen?Porto Amal ist mehr als voll belegt. Es sind jetztzwölf Mädchen bei uns untergebracht, zwei davonauf Notplätzen. Das heißt, wir haben in zwei Ein-zelzimmer noch je ein zweites Bett gestellt.

Woher kommen die Mädchen?Im Moment vorrangig aus Syrien und Irak, des Wei-teren aus Eritrea, Afghanistan, Iran, Pakistan und In-dien.

Wie sahen ihre Fluchtwege aus?

Oft sind sie sehr lange unterwegs gewesen, per LKWund in langen Fußmärschen über Libyen und dannper Boot nach Italien, von dort mit unterschiedli-chen Transportmitteln nach Deutschland. Das hatunter Umständen bis zu zwei Jahre gedauert. Man-che mussten sich zwischendurch wieder Geld ver-dienen, um ihre weitere Flucht bezahlen zu können.Dann verdingten sie sich zum Beispiel als Haus-haltsgehilfinnen – die korrektere Bezeichnung wäreallerdings vielfach „Haussklavin“ gewesen. Vielewurden auch ins Gefängnis gesteckt – nicht weil siekriminell waren, sondern nur, weil sie nicht offizielleingereist waren. Und immer wieder sind sie inübervollen Flüchtlingslagern gelandet.

Aus welchen Gründen haben sie sich auf diesen be-schwerlichen und gefahrvollen Fluchtweg gemacht?Weil Krieg und Terror in ihren Herkunftsstaatenwüten, weil sie Angst vor einer Zwangsverheiratunghatten oder vor Genitalverstümmelung. Auch umeiner Zwangsrekrutierung als Kindersoldatin zu ent-gehen – die ist gang und gäbe beispielsweise in Eri-

trea.Da haben sie wahrscheinlich traumatische Erfahrun-gen machen müssen?Oh ja, viele haben Kriegstraumen davongetragen –sie haben etwa hautnah miterleben müssen, wieihnen nahestehende Menschen umgebracht wur-den, Eltern, Geschwister, Freunde, Nachbarn. Vorund während und oftmals auch nach der Fluchthaben Mädchen Vergewaltigungen und andere de-mütigende Formen sexualisierter Gewalt erlitten.

Wie erleben Sie diese traumatisierten Mädchen?Sie sind in der Regel völlig eingeschüchtert, sehr stillund zurückgezogen, auch schreckhaft. Sie könnenkaum den Blick heben oder ein Wort nach außenrichten. Nachts können sie kaum schlafen, habenimmer wieder Albträume. Im Dunkeln mögen sienicht hinausgehen. Und sie haben große Schwie-rigkeiten im Umgang mit Männern. In Anspan-nungssituationen wird so ein Mädchen leichtohnmächtig – es gibt die unterschiedlichsten Fol-gestörungen.

Welchen Aufenthaltsstatus haben die Mädchen inPorto Amal?Gar keinen. Sie kommen zunächst als „illegal Ein-gereiste“ und erhalten während des Clearingver-fahrens, also bis ein Asylantrag gestellt wurde oderein vorläufiges Bleiberecht aus humanitären Grün-den greift, erst mal eine „Aufenthaltsbescheini-gung“. Wenn sie nach Bielefeld zugewiesen werdenund einen Vormund haben, bekommen sie bis zurVolljährigkeit einen längerfristigen Aufenthalt.

Was können Sie hier für diese Mädchen tun?Wir versuchen sie zu stabilisieren und zu stärken.Zunächst erklärt unsere Psychologin ihnen, was beieiner posttraumatischen Belastungsstörung pas-siert: dass es normal ist, wenn sie etwas Schreckli-ches, das ihnen widerfahren ist, wieder und wiederspüren, als würde es erneut geschehen. Wenn wir merken, dass eine stationäre Therapienötig ist, versuchen wir sie zu ermöglichen.

Und wie stärken Sie die Jugendlichen in Ihrem „Hafen

EMPOWERMENT IM CLEARINGHAUS

Foto:

Foto: Porto Amal

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der Hoffnung“?Wir ermutigen sie, zu äußern, was sie möchten, ihre Bedürfnisse kundzutun. Eswird nichts über ihren Kopf hinweg entschieden. Im Mädchenplenum können siezum Beispiel bestimmen, was sie in ihrer Freizeit machen möchten. Sie bekom-men eigenes Bekleidungsgeld. Und sie dürfen sich auch über uns beschweren.So erfahren sie, was wir Selbstwirksamkeit nennen.

Worüber beschweren sie sich denn zum Beispiel?Dass sie „zu wenig von uns bekommen“ und meinen damit mangelnde Zuwen-dung. Dazu muss man wissen: Wenn jemand die Familie verlassen musste oderschreckliche Verluste erlebt hat, entsteht immer ein Gefühl von Mangel. Darumwünschen diese traumatisierten Mädchen sich natürlich von den Mitarbeite-rinnen im Haus sehr viel mehr, als diese leisten können: „Wir kriegen hier nichts!“lautet ihre Klage. Das stimmt so nicht – aber unsere Zuwendung reicht nichtaus, um die innere Leere der Betroffenen zu füllen.

Haben Sie denn genügend Personal?Nein. Wir haben über sieben Vollzeit-Stellen, die sich auf mehrere Mitarbeite-rinnen aufteilen, da fast alle in Teilzeit arbeiten. Wir sind jeden Tag 24 Stundenvor Ort und arbeiten in Schichten.

Wie sind die Mitarbeitenden ausgebildet?Es sind Pädagoginnen, Erzieherinnen, Krankenpflegekräfte, Hauswirtschafte-rinnen, eine Ergotherapeutin und eine Psychologin. Manche Mädchen möchtenallerdings erst einfach nur ankommen und sich nicht mit ihrer Problematik be-schäftigen – das wäre dann auch zu viel.

Wohin kommen die Mädchen nach ihrem Aufenthalt im Porto Amal?Sie können in unser Mädchenwohnen „Linah“ umziehen, das wir gerade aus-weiten. Dort leben nicht nur geflüchtete, sondern auch hier ansässige Mädchen,die nicht mehr in ihrem Umfeld bleiben können, weil sie dort zu sehr bedrohtsind. So fördern wir auch Inklusion.Es kommt auch vor, dass Mädchen mit 18 in eine Erstaufnahmeeinrichtung müs-sen, auch solche, die durch eine medizinische Altersfestsetzung als 18-jährigeingeschätzt werden. Das ist eine sehr unangenehme und vor allem sehr unzu-verlässige Maßnahme, letztendlich sehr umstritten. Sie wird gerichtlich ange-ordnet, wenn das angegebene Alter in Frage gestellt wird. Für die Mädchenwirkt sie häufig retraumatisierend, weil sie sich ausziehen müssen und nacktbegutachtet und fotografiert werden.

Was gibt denn den geflüchteten Mädchen Kraft und Mut?Wir bieten ihnen Entspannung und positive Erlebnisse. Viel bringt es, sie zum La-chen anzuregen. Hier im Haus haben die Mädchen auch viel Praktisches undNützliches gemacht. Auch das stärkt ihr Selbstbewusstsein. So haben wir zumBeispiel mit ihnen einen Lehmofen selbst gebaut und eine Hauswand bemalt.Wichtig ist auch, dass sie ihre Räume selbst gestalten können. Sie leben hier in

Ein- oder Zweibettzimmern. Wenn sie wollen, können sie lernen, selbstständigzu renovieren, um nicht immer auf Hilfe von außen angewiesen zu sein. Wirhaben den Aufenthaltsraum gemeinsam neu gestaltet und eine Sofaecke ausPaletten gebaut. Die boten sich an, weil sie kostenfrei zu haben waren.Einmal im Jahr veranstalten wir eine Freizeit in einer ländlichen Umgebung miterlebnispädagogischen Ansätzen. Voriges Jahr waren wir an einem See hier inder Umgebung. Da konnten die Mädchen Kanu fahren und wandern. Und esgab Tiere, die sie streicheln durften. Einmal sind wir auf Wunsch der Mädchengruppe nach Berlin gefahren undhaben den Bundestag besichtigt. Danach fühlten sie sich in Bielefeld heimischerals zuvor, weil sie sich hier schon orientieren und selbstständig nach draußengehen können.Wir haben auch Empowerment-Workshops gemacht mit Inhalten wie „sichselbst erleben“, Gruppen- und Rollenspiele, Kletterübungen, Balance-Spiele,die die eigene Körperwahrnehmung schulen und Selbstbehauptungskurse. Damerken die Mädchen plötzlich: „Ja, ich bin stark!“ Das hilft gegen Ohnmachtsgefühle. Denn oft denken Menschen, die Gewalt er-lebt haben: „Ich kann nichts tun.“ Und in solchen Workshops merken sie: „Oh,ich kann mich auch hinstellen und Nein sagen.“ Sie erleben, dass sie mit einerbestimmten Technik sogar ein Brett durchschlagen können.

Was sind zum Beispiel Effekte erfolgreichen Empowerments?Dass so ein Mädchen etwas für sich einfordern kann. Was ich sehr mag, ist daserste „Nein!“ aus ihrem Mund. Wenn sie auch mal Widerstand leistet, danndenke ich: Ja, so langsam kommt sie an, jetzt fühlt sie sich allmählich sicher.Das ist ein sehr schöner Moment. Dann kann man sie bald in ein eigenständigesLeben entlassen. Ein anderer Moment ist auch, wenn sie beginnen, ihre Termineselbst zu vereinbaren.

Können Sie ein Beispiel erfolgreichen Empowerments aus Ihrer Praxis schildern?Mariam* aus Guinea war ein Jahr lang hier. Anfangs war sie extrem zurückhal-tend und sehr still. Jetzt, mit 18, hat sie eine Ausbildung zur Altenpflegerin auf-genommen und lebt in ihrer eigenen Wohnung. Wir haben sie noch eine Weileambulant betreut. Jetzt kann sie ihren eigenen Haushalt managen. Sie hat heuteeine sehr positive Einstellung und hat gelernt, auf Menschen zuzugehen.

Gibt es denn noch Schwierigkeiten?Was Mariam vor allem schwierig findet ist, dass sie immer wieder – durchauswohlwollend – nach dem, was sie erlebt hat, gefragt wird. Es fällt ihr schwer zusagen: „Darüber möchte ich nicht reden“, weil sie nicht unhöflich sein möchte.Die Geflüchteten wollen nicht immer wieder an ihre traumatischen Erlebnisse er-innert werden. Da wäre eine stärkere Sensibilisierung der Einheimischen wün-schenswert.

Was hilft den Mädchen dabei, hier in Deutschland selbstständig zu werden?

Vielfalt – Das Bildungsmagazin

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Natürlich die Sprache – Sprache und Bildung. Wir bieten von Anfang an eineninternen Sprachkurs an. Durch die Gesetzesänderung der vorläufigen Inobhut-nahme seit November 2015 haben die Mädchen kaum mehr die Möglichkeit,an einem Außenkurs teilzunehmen. Vorher war es so, dass unbegleitete min-derjährige Geflüchtete da wo sie aufgefunden wurden, automatisch zugewie-sen waren und bis zur Volljährigkeit dort bleiben konnten. Aber jetzt werdensie innerhalb von 30 Tagen verteilt wie Erwachsene auch. Das heißt, dass siezwar hier ankommen - aber ihre Reise ist noch nicht zu Ende. Sie werden dannnoch mal aus den Kursen und der Stadt herausgerissen.

Wie sieht es in Bielefeld mit Schulplätzen für die geflüchteten Mädchen aus?Es wird zwar versucht, möglichst schnell alle einzuschulen, aber es gibt nachwie vor Wartezeiten. Zurzeit versuchen viele Schulen auchSeiteneinsteiger_innen-Klassen einzurichten. Die sind im Nu wieder voll. Undbei den Mädchen ist die Schwierigkeit, dass wir sie nicht in Klassen mit nur we-nigen Mädchen und einem Jungenüberhang schicken können. Wenn fünf Mäd-chen dabei sind, ist es kein Problem. Aber wenn es nur ein oder zwei sind, kommtdie Klasse nicht in Frage. Manchmal heißt es auch, die Anfahrt wäre zu weit.Die Wartezeiten sind außerdem vom Sprachniveau abhängig. Im MädchenhausBielefeld haben wir jetzt Mädchen, die schon ein halbes Jahr da sind und immernoch keinen Schulplatz haben.

Wie wird die Arbeit von Porto Amal finanziert?Während des Clearingverfahrens aus Landesmitteln. Wir bekommen aber auchSpenden. Ohne die können wir nicht auskommen. Wir hatten beispielsweise imJahr 2015 Übersetzungskosten von ca. 10.000 Euro, davon hat das Land 3.800Euro übernommen. Aber Übersetzungen sind extrem wichtig für die Mädchen.Je schneller sie etwas verstehen, desto schneller werden sie selbstständig undkommen dann auch aus der Jugendhilfe heraus. In Dolmetscherinnen zu inve-stieren würde also zugleich Einsparungen bringen.

Gibt es mit Porto Amal vergleichbare Einrichtungen auch in anderen Städten?Es gibt Bestrebungen, so etwas auch andernorts einzurichten. Aber bisher istmir kein weiteres Clearinghaus speziell für geflüchtete Mädchen in anderenKommunen bekannt.

* Mariam ist ein Pseudonym

weitere Infos: www.maedchenhaus-flucht.de

WAS MÄDCHEN AUS PORTO AMAL ÜBER IHRE FLUCHT BERICHTEN

AAMINA, 17 JAHRE, GEFLÜCHTET AUS SOMALIA:

Aamina hat mit ihren Eltern und ihren zwei Geschwistern in der KleinstadtBaardheere in bescheidenen Verhältnissen gelebt. Nach der Ermordung des Va-ters durch die Terrorgruppe Al Shabaab ist die Familie entführt worden und Aa-mina sollte zwangsverheiratet werden. Sie wurde gefangen gehalten, konnteaber während der Gebetszeit fliehen. Sie hielt sich bei ihrem Onkel versteckt,bis er einen Fluchthelfer organisieren konnte.Über Äthiopien, Sudan, Libyen und Italien ist sie allein nach Deutschland ge-flüchtet. Insgesamt hat ihre Flucht zwei Jahre gedauert.In der Sahara ist sie ein halbes Jahr und in Libyen ein Jahr gefangen gehaltenworden. Sie erinnert sich an viele schlimme Erlebnisse während der Flucht. Siehat gesehen, wie Menschen geschlagen, vergewaltigt und getötet wurden. Sieselbst ist auch geschlagen worden.

RABIJE, 14 JAHRE, GEFLÜCHTET AUS SYRIEN Rabije ist vor dem Krieg in Syrien geflüchtet. Ihre Schule wurde bombardiert.Sie ist aus den Trümmern geborgen worden, und Rabijes Familie ist mit insge-samt sechs minderjährigen Kindern in die Türkei geflohen. In der Türkei habe sie mit ihrer Schwester in einer Firma als Reinigungskraft ge-arbeitet, erzählt Rabije. Dort habe sich, nachdem alle Arbeiter die Firma verlas-sen hätten, ein Mann an ihr und ihrer Schwester sexuell vergehen wollen. Beidensei aber die Flucht gelungen. (...)Von Izmir aus organisierten Schlepper ihre Flucht. Eine Flugreise hätten sie sichnicht leisten können, also flüchteten sie per Boot. Beim ersten Versuch sei dasBoot mit 45 Menschen an Bord schon nach etwa 100 Metern gesunken. R. be-richtet, dass die Schlepper Schüsse abgefeuert und alle gezwungen hätten, in einzweites Boot zu steigen. Auf dem offenen Meer habe sich das Boot mit Wassergefüllt, das alle mit ihren Schuhen versuchten heraus zu schippen. Der Motordes Bootes habe versagt, vermutlich durch Benzinmangel.Das Boot habe sich irgendwann wohl in griechischem Hoheitsgebiet befunden,so dass ein Rettungsschiff alle Menschen gerettet habe. Rabije selbst sei see-krank geworden, habe erbrochen und sei schließlich in Ohnmacht gefallen. Sieerwachte erst wieder an Land.Zu Fuß und per Bus gelangte die Gruppe in ein Zwischenlager und von dort ausmit dem Zug direkt nach Deutschland.

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Ein pastellfarbiges Schaufenster auf Kölns VenloerStraße in Ehrenfeld zieht die Blicke derPassant_innen auf sich. Immer wieder bleibt je-mand für Minuten davor stehen, manche fotogra-fieren die Auslage, zuweilen klingelt dann auch dieLadentür. Es geht um Torten und allerlei Zubehör.Das ganz Besondere: Hier wird das Thema Flucht aufsüße Art kommentiert. Auf einer Torte steht in Zuk-

kerguss geschrieben: „Refugees welcome in Köln“,auf einer anderen steht eine Merkel-Nachbildungals Engelsfigur aus Fondant modelliert, dazu dieSchrift: „Wir schaffen das!“ Auf der dritten prangenZuckerguss-Figuren, die man als Geflüchtete be-trachten kann. Und ein Schild dankt Praktikantin-nen aus Kölner Schulen für diese Dekoration. Emine Sancak, mittlerweile Auszubildende bei La-

deninhaberin Ebru Ata, war eine von ihnen. Jetztdiskutiert sie morgens mit der Chefin und Prakti-kantin Yeliz Bakkal Artikel aus der Tageszeitung undmodelliert dabei Tortenverzierungen, neben Hoch-zeitspärchen und Geburtstagsfigürchen eben auchThematisches aus dem aktuellen Diskurs. Die ge-meinsame morgendliche Zeitungslektüre hat EbruAta hier zur Regel gemacht. Es ist wichtig, findet sie,dass die jungen Frauen sich auch mit Politik be-schäftigen. Die 15-jährige Gymnasiastin DeryaDuman – auch sie hat in der Torten-Boutique ihrPraktikum absolviert – berichtet, dass sie diese au-ßerschulische Bildung im Politik-Unterricht gut nut-zen konnte. Und eines Tages befanden die Frauen:„Schon wieder ein Anschlag auf ein Flüchtlingsheim– das müssen wir ins Schaufenster bringen!“ Yeliz,15, besucht die Heinrich-Böll-Gesamtschule. Sie hatihr Praktikum gerade erst begonnen und ist gleichengagiert eingestiegen. Eine weinende schwangereFrau in einem schwarzen Umhang hat sie aus Fon-dant-Masse modelliert, um so ihr Mitgefühl für dasLeid der Flüchtenden auszudrücken. Manchmalkommen Kinder aus dem benachbarten Über-gangswohnheim Herkulesstraße vorbei, um einfrisch gebackenes Muffin einzuheimsen, das EbruAta gern spendiert. Die Konditorin ist überzeugt,dass bürgerschaftliches Engagement nötig ist, umdie gesellschaftlichen Verhältnisse für alle ein Stückangenehmer zu gestalten. So veranstaltet sie auchSammlungen für neu Angekommene aus Kriegs-und Krisengebieten. Und sie gründete den Verein„Stopp Gewalt Violence Siddet“ e.V. „Wir stärken dieindividuellen Kompetenzen junger Menschen undtragen dazu bei, dass sie ihr Potenzial entfalten kön-nen. Mit ausgebildeten Streetworkern und Sozial-pädagogen unterstützt unser Verein benachteiligteKinder“ lautet dessen gewaltpräventive Devise. Dem Bezirksbürgermeister, berichtet Ebru Ata, hatihr Engagement missfallen: Die sollten „ihre Bröt-chen backen“ und sich nicht in die Politik einmi-schen, soll er geäußert haben. Das hat dieengagierte Kölnerin gekränkt: „Wir backen keineBrötchen. Vielmehr sind wir mit unserem Kondito-ren-Handwerk künstlerisch tätig!“ Eine politischeSpielart der „Eat-Art“ mitten in Köln-Ehrenfeld, diebei den Kund_innen auf viel Zustimmung trifft, er-klärt Ata. „Na ja, die gegenteilig Eingestellten kom-men ja auch gar nicht erst in unseren Laden!“

Fotos: Manfred Wegener

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Jinan Dib ist Soziolinguistin und arbeitet in Köln mitgeflüchteten Menschen. Derzeit begleitet sie eh-renamtlich drei albanische Schwestern, 15, 18 und20 Jahre alt, die mit ihrer Familie vor einem Drei-vierteljahr in Köln angekommen sind. In Albanienhatten die beiden Jüngeren eine weiterführendeSchule besucht, die Älteste hatte als Bürokauffraugearbeitet. Hier lebten sie zunächst sozial isoliertund fühlten sich missachtet.Dib selbst hat als PoC (Person of Color) Erfahrungdamit, diskriminiert zu werden. Daher kann sie denFrust der Gymnasiastin Selina* (15) gut verstehen,wenn sie von Rassismuserfahrungen berichtet, wiees ihr ging, als sie sich um einen Praktikumsplatz ineinem Kölner Kaufhaus bewarb. Sobald sie sagte,dass sie aus Albanien kommt, drehte man ihr denRücken zu und ließ sie einfach wortlos stehen. JinanDib ermuntert sie, nicht aufzugeben und ihr Glück

anderswo zu versuchen. Dib kann von erfolgreicher Hilfe zur Selbsthilfe be-richten, die sie während ihrer Tätigkeit für ein Em-powerment-Projekt in „Aufsuchender Arbeit“geleistet hat. Empowerment bedeutet Befähigung,Ertüchtigung, Ermutigung, Bestärkung. „In meinenGruppen waren manche richtiggehend depressiv.Sie hatten ein ungewöhnlich starkes Schlafbedürf-nis und kaum noch Interesse an der Außenwelt.Nach einem Jahr in Köln kannten sie sich in der Stadtkaum aus.“ Dib ging mit ihnen los und zeigte ihnenspannende Orte wie den Universitäts-Campus, denGrüngürtel, wo sie joggten und grillten, und aucheinen von einer Frau of Color geführten Laden in Eh-renfeld, der Praktikumsplätze auch für Geflüchteteanbietet.Mira* ist mit ihren 20 Jahren „zu alt“ für die deut-sche Regelschule. Sie konnte aber mit Dibs Unter-

stützung einen Platz in einer Abendschule findenund hofft, dort bald ihren Realschulabschluss ma-chen zu können. Die 18jährige Diana* hatte wochenlang nur nochmutlos in ihrem Zimmer gesessen, bevor Jinan Dibsie unterstützte. Gerade hat sie ein Praktikum beieinem Kölner Arzt kurdischer Herkunft absolviertund besucht die Internationale Förderklasse der Be-rufsschule. Sie hat schon recht gut Deutsch gelernt,kann Blut abnehmen und EKGs in der Arztpraxis er-stellen. Ihre Chancen stehen gut, dass sie dort eineAusbildung zur Arzthelferin aufnehmen kann, fallssie in Deutschland bleiben darf. Da Albanien als si-cheres Herkunftsland gilt, ist das allerdings höchstungewiss. Ihr Ziel, eines Tages Medizin zu studieren,behält sie jedoch fest im Auge.

* Name von der Redaktion geändert

Vielfalt – Das BildungsmagazinFoto: AWO aqua

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Vielfalt – Das Bildungsmagazin

„BildungsBande bringt eine andere Richtung in dieSchulen. Denn Kinder und Jugendliche dürfen erle-ben: Ich darf etwas entwickeln und mich um anderekümmern. Jetzt bin ich ein gestaltender Akteur.Diese Erfahrung von Selbstwirksamkeit und Sinn-haftigkeit des persönlichen Tuns möchten wir vielenjungen Menschen ermöglichen. Dadurch entstehtauch eine neue Begegnungskultur“, heißt es auf derWebsite www.bildungsbande.de.Ältere Schüler coachen jüngere und erfahren sichdabei neu und anders, alle Beteiligten gewinnen anSelbstbewusstsein und Selbstständigkeit. Wie dasan der interkulturell geprägten Frida Levy Gesamt-schule in Essen funktioniert, konnte „Vielfalt“-Re-dakteurin Ariane Dettloff im Interview mit dreiCoachs, zwei Gecoachten und „Bildungsbanden“-Koordinatorin Karita Aust erkunden.

Die 15-jährige Manal, deren Großvater als soge-nannter Gastarbeiter aus Marokko eingewandert ist,ist in der neunten Klasse. Der zwölfjährige Shirzad,der mit seiner Familie aus Syrien geflüchtet ist, be-sucht die Vorbereitungsklasse und lernt zweimalwöchentlich je eine Stunde mit ihr Deutsch. ManalsKlassenkamerad Abdullah, 15, (seine Eltern habenWurzeln im Libanon) hat einen aus Rumänien überItalien in die Bundesrepublik geflüchteten Jungengecoacht sowie Dia aus Syrien. Dalina, 14, aus derParallelklasse 9 D hat Vorfahren aus Serbien. Sie hatals „BildungsBanden“-Aktive mit David aus Polen(10) gearbeitet und auch mit dem zehnjährigen Roj,dessen Eltern aus dem kurdischen Teil Syriens stam-men und über die Niederlande nach Essen gekom-men sind.Jetzt sitzen sie alle mit ihrer „BildungsBanden“ -Ko-ordinatorin Karita Aust um einen runden Tisch undberichten von ihren Peer-to-Peer-Erfahrungen* indem Projekt. Das Coaching kann an der Frida LevyGesamtschule innerhalb der normalen Unterrichts-zeit als regelrechtes Fach stattfinden. Frau Aust, diesonst Englisch und Sport unterrichtet, findet das sehrbegrüßenswert. Das sei nicht in allen Partnerschu-len des Projekts der Fall.

Spielend LernenUnd wie läuft so ein Schüler-Unterricht ab? Ähnlichwie auch in der Klasse, sagt Manal, fügt aber hinzu,

DIE „BILDUNGSBANDE“ DER FRIDA LEVY GESAMTSCHULE IN ESSEN

Foto: AWO aqua

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dass sie mit ihren Peers auch immer wieder Spielespielt. Und Roj freut sich, dass auch Dalina in den„BildungsBande“-Stunden viel mit ihm spielt odersich einfach mit ihm unterhält: „In der Klasse ist esso, dass man immer schreibt und liest und liest undschreibt.“ Klar, sagt Coach Abdullah, er bemühe sich,die Aufmerksamkeit seiner jüngeren Schüler_innenaus der Vorbereitungsklasse nicht erlahmen zu las-sen: „Man muss für Abwechslung sorgen – einehalbe Stunde lesen und schreiben üben, dann wie-der spielen, zum Beispiel Memory oder das Galgen-männchen-Spiel.“ Bei diesem Wortlernspiel wird für

jeden falsch in eine Wortlücke eingesetzten Buch-staben ein Körperteil eines Strichmännchens zeich-nend „aufgehängt“. Spielend lernen bringt mehr alsdröges Pauken – eine pädagogische Binsenweisheit.Abdullahs Erfolg: Dia, den er seit einem halben Jahrcoacht, kann sich schon gut auf Deutsch verständi-gen. Shirzad, der „Schützling“ von Manal, sprichtbeinahe fließend deutsch. Er kann selbstständig ein-kaufen gehen und für seine Eltern übersetzen. In derSchule kann er jetzt schon die meiste Zeit am Un-terricht der Regelklasse teilnehmen. Nur noch sechsWochenstunden lernt er in der Vorbereitungsklasse.

„Ich bin sehr stolz auf ihn“, sagt Manal. Die jungeLehrende genießt ihr Coaching und meint: „ Dabeilernt man auch, mit Menschen umzugehen“, wassie zu der Überlegung bringt, ob da vielleicht aucheine Berufsperspektive in Richtung Pädagogik fürsie aufscheint.

Manal hat unter anderen auch geflüchtete Kindergecoacht. Hat sie dabei Besonderheiten bemerkt?„Nein, wir sind alle gleich. Nur dass diese Kinderdurch die Flucht oft Nicht-Schönes erlebt haben. An-fangs waren sie sehr zurückhaltend. Aber mit derZeit haben sie sich auch geöffnet.“Karita Aust hebt hervor, dass geflüchtete Kinder oftbesonders lernbegierig seien: „Da muss man nichterst eine dicke Motivationsphase vorschalten, umsie für irgend etwas zu begeistern. Sie haben vonvornherein den starken Wunsch zu lernen, um hieranzukommen.“

Ein Gewinn für alleNicht nur die Gecoachten lernen in der Eins-zu-Eins-Situation der Peer-Education besonders intensiv. DieNähe erzeugt eine persönliche Beziehung, die wech-selseitiges Lernen fördert. Dalina drückt es so aus:„Meine jungen Schüler haben mir Vertrauen ge-schenkt – das war sehr schön für mich.“ Und diePädagogin Karita Aust erlebt in ihrer 5. Klasse, wiedie Kinder sich auf die Ergänzungsstunde „Bil-dungsBande“ freuen. „Die Akzeptanz der Jugendli-chen untereinander ist einfach höher“, stellt dieLehrerin neidlos fest, „das macht den Erfolg aus. Ichals Lehrkraft kann dabei lernen, mich zurückzuneh-men.“ Für alle Beteiligten scheint das Lernen als „Bil-dungsBande“ rundum erfreulich zu sein. Die Effektegehen über faktisches Wissen weit hinaus. „Für michwar es so, dass ich viel mehr Freunde bekommenhab“, hebt Roj hervor. „Man fühlt sich erwachsen“,bekennt Bildungs-Coach Abdullah. Keine Frage, die„BildungsBanden“ – mittlerweile existieren bun-desweit schon 36, davon 21 in NRW - sind ein tollesBeispiel für „Empowerment“. *Peer = Altersgenosse

Fotos: BildungsBande

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Vielfalt – Das Bildungsmagazin

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Das Smartphone kam erst vor acht Jahren in Gestaltdes ersten iPhones als Luxus-Artikel auf den Markt.Aber fast von Anfang an war es auch in ärmeren Län-dern verbreitet, oft stärker als Festnetztelefone. Aufder Flucht sind die Digitalgeräte alles andere als einStatussymbol. Sie sind Schutzinstrumente auf dem

Weg in ein besseres Leben.

GPS und Google Maps weisen den Weg„Ich heiße Abdo Hassan, ich bin kurdisch, ich habesyrisch Nationalité,“ stellt sich der Mann mit derschwarzen Brille vor. Er sitzt mit seinen Freunden aneinem der Tische im „Café Zuflucht“, einem einfa-

chen Raum im Haus der Evangelischen Gemeinde inKassel. Hier gibt es Kaffee, Kuchen und Spielzeug fürdie Kinder. Smartphones sind allgegenwärtig. Der31-jährige Hassan kam über die Türkei und die Bal-kanroute nach Deutschland. Das kleine, abgenutzteHandy habe er in der Türkei für 20 Dollar erstanden,erzählt der Wirtschaftsfachmann in Englisch. Injedem Transit-Land habe er eine neue SIM-Karte ge-kauft. Auf der langen Reise durch unbekanntes Ge-biet habe ihm GPS geholfen. „Und Google Mapszeigte die Richtung zur Grenze an und wie fern odernah wir unserem Ziel waren.“

Inzwischen informieren zahlreiche „Auf dem WegGruppen“ auf Facebook über offene Grenzüber-gänge, Routen, Schlepper, Boote, Unterkünfte undaufnahmebereite Länder. „Viele Leute haben Erfah-rungen vom Grenzübertritt,“ weiß Hassan. Sie hät-ten vor Terroristen oder Dieben gewarnt und sichereRouten empfohlen. Der große Mann lacht: „Das hatunseren Weg leichter und sicherer gemacht.“

Solche Info-Gruppen können ganz klein und per-sönlich sein oder bis zu 70.000 Nutzer haben, sagenExpert_innen. Die großen bestünden nicht längerals zwei Monate, denn Grenzschützer_innen solltensie nicht entdecken und mitmischen.

Neue Apps zeigen FluchtroutenInzwischen stehen immer neue Apps bereit. „refu-geeinfo.eu“ zum Beispiel zeigt die europäischenFluchtrouten detailliert an; über „Trace the Face“vom Roten Kreuz kann man nach verschollenen An-gehörigen suchen. So wird das Smartphone zumFluchthelfer und manchmal zum einzigen Wertge-genstand, der sich zur Not auch zu Geld machenlässt.

Vassilis Tsianos, Migrationsforscher und Soziologe ander Universität Hamburg hat vor zwei Jahren Flücht-linge auf den griechischen Inseln Kos und Lesbos be-fragt. Er bezeichnet ihre vielfältigen, digitalerworbenen Kenntnisse als „Schwarmwissen“, dasquasi in Echtzeit entsteht. Beispiel: Kaum hatte Un-garn seine Grenze geschlossen, verbreiteten sich imInternet Ausweichrouten über Kroatien. „So gewin-nen die Reisenden ein Stück Souveränität, Selbst-kontrolle und Schutz,“ sagt der Forscher. Manchehätten gar gesagt, bei Verlust des Handys würden

SCHUTZINSTRUMENT UND WEGWEISER

Foto: AWO aqua

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Vielfalt – Das Bildungsmagazin

sie sich umbringen. „Das zeigt, wie lebenswichtig esist.“

Außerdem ist es billig – per Prepaidkarte und ko-stenlosen WLAN-Hotspots in Bahnhöfen, Fastfood-Filialen und Cafés. „SMS ist out, zu teuer“, erklärtder Flüchtlingsberater und IT-Experte Hashem Baz-rafshan, der vor 30 Jahren aus dem Iran nachDeutschland geflohen ist. Eine SMS koste neun Cent,und Skype funktioniere in manchen Ländern nicht.Mit „Viber“, „Telegram“ oder „Whats App“ könneman kostenlos Texte, Töne und Videos schicken.

Nahezu alle Neuankömmlinge besitzen den Com-puter des 21. Jahrhunderts. Er kann helfen, sich dieFremde heimisch zu machen. Und den Kontakt nachHause zu halten.

Trost per WhatsappViele Geflüchtete schildern ein morgendliches Ri-tual. Direkt nach dem Aufwachen die Familie kon-taktieren: Ist alles in Ordnung? So auch die SyrerinJalila Hussein, eine junge Frau mit einem hübschenKopftuch. Sie lebt seit einem Jahr mit Mann und dreiKindern in Kassel. Es herrscht Krieg in der fernen Hei-mat. „Ich frage immer: alles gesund, keiner krank?Meine Tochter wohnt in der Türkei, dort herrschtauch Krieg. Ihre kleine Tochter wurde erschossen.“Nur per Handy könne sie sie trösten. „Ich finde dasHandy sehr wichtig im Leben.“ Und: „Ohne Handysind wir verloren in Deutschland.“ Sie benutze dieWörterbücher bei den Gängen zum Arzt, in den Kin-dergarten und in die Schule. Oder bei der Woh-nungssuche.

Der syrische Kurde Ali Mervan, Abiturient ausAleppo, sieht seine Zukunft in Deutschland. Ermöchte studieren und Ingenieur werden. An einemAbend im Kölner „Allerweltshaus“, wo Ehrenamtli-che den Flüchtlingen ein Abendessen servieren, sitzter wie viele andere mit Freunden am Tisch. DerJunge trägt eine graue Beanie. Er spricht ruhig, sehrfreundlich. Aber gleichzeitig wirkt er bedrückt. Den

Grund zeigen seine Fotos aus seiner GeburtsstadtKobane, jener syrisch-kurdischen Stadt, in der imSeptember 2014 der so genannte „Islamische Staat“gewütet hat. „Kobane ist fertig, dieser Krieg... dasda war meine Wohnung... alle sind geflohen.“ Stra-ßen und Häuser sind zerstört, zerschossen, keinStein steht mehr auf dem andern, Soldaten ohneUniform. Ali scrollt weiter und zeigt Bilder vomKrieg. Sein Stück Lebensgeschichte. „Da sehen Siemeine Familie, auch in Antalya am Meer. Meinekleine Schwester ist hier in Deutschland im Krank-haus - tot. Sie hatte einen Kloß im Bauch. Meinegroße Schwester ist in Berlin, mein Vater in der Tür-kei, meine Mutter im Krieg in Damaskus, tot. Ich ver-misse sehr meine Familie.“

Das Smartphone dokumentiert einen Teil seinerIdentität. Und es öffnet das Fenster zur Welt. „Ichgucke immer Nachrichten von meine Stadt Kobanein Facebook immer Kontakt mit meiner Familie undmit meinen Freunde – was ist los in Kobane?“

Aber die Zukunft ist hier. Ali besucht gerne seineLandsleute in anderen Städten. Er zeigt auf „DB“,„Deutsche Bahn“ und andere Icons. Und er lernt be-herzt Deutsch. "Wartezeit ist Sprachlernzeit", sagendie Forscher. Wissbegierig und mit großer Ausdauerstürzen sich die Neuankömmlinge auf die neue,schwierige Fremdsprache.

Deutschlernen im ChatDer 26-jährige Gheiath Hobbi aus Syrien schreibtständig in einen vor ihm liegenden Block: deutscheVokabeln. Er ist Abiturient und hat in Syrien schonals Manager in einem Supermarkt gearbeitet. Erwollte nicht in den Krieg, sagt er selbstbewusst,darum sei er nach seinem Militärdienst geflohen.„Ich lerne täglich von meinem Handy“, erzählt er be-reitwillig, in Deutsch. „Zum Beispiel vorher hatte ichkeine Ahnung über das Leben in Deutschland undsuche ich im Internet, gibt es ein paar Nachricht oderUnterricht über diese Sprache und deshalb lerne ich

im Internet oder in der Schule.“ Er notiere alle neuenWörter, die er im Chat mit seinen Freunden auf„Whats App“ erführe. „Kein Meister ist vom Himmelgefallen“, lacht er.

Erstaunlich: Viele dieser jungen Geflüchteten lebensehr beengt in unpersönlichen Gebäuden und Turn-hallen. Aber statt die Zeit tot zu schlagen, nutzen siejede Minute fürs Deutschlernen. Alle haben mehrereWörterbücher, Vokabeltrainer und Deutschkurse aufihrem Smartphone. Tatsächlich zeigen die Statisti-ken der Google-Server im Lauf des letzten Jahre in-nerhalb Deutschlands eine fünffache Steigerung derÜbersetzungen aus dem Arabischen per „Googletranslate“.

Keineswegs aber motiviert das Smartphone dieMenschen, sich auf den Weg zu machen, meint derMigrationsforscher Vassilis Tsiamos. „Wanderungs-prozesse haben eine eigene Logik und entwickelnsich langsam über Jahre. Sie begleiten die Migra-tion.“ Das Digitale „umgebe“ die Migration und ga-rantiere dafür, dass die Leute „ein StückchenKontrolle über ihr Leben an der Überschreitung derGrenze wiedergewinnen können.“ Weitergedachtbedeute dieser Erfolg: Mehr Menschen werden dieMöglichkeit auf ein besseres Leben wahrnehmen.

Hashem Bazrafshan, der viele Flüchtlinge kennengelernt hat, bremst diese positive Aussicht: DennSmartphones seien längst nicht für jeden Schutzsu-chenden bezahlbar und nützlich. Denn die Mehrheitder Geflüchteten „war noch nie in der Schule“.

Umso bemerkenswerter ist es, dass viele Flüchtlingekaum mit ihren Smartphones spielen. Sie hören lie-ber Musik. Wie Mervan, der junge Kurde in Köln. “Ichbin traurig,“ sagt er, schaltet sein Gerät ein, lädteinen Text hoch und singt ganz leise das deutscheLied: Eins bisschen Frieden...

Birgit Morgenrath

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Vielfalt – Das Bildungsmagazin

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Saída ist ein arabischer Mädchenname, er bedeutet„die Glückliche“. Aber auf der ersten Seite des Bil-derbuchs „Am Tag, als Saída zu uns kam“ sehen wirsie weinen. Sie ist unglücklich, weil sie Deutschnicht versteht – und deutschsprachige Kinder sienicht. Darum sucht die Ich-Erzählerin – eine Mit-schülerin von Saída – „ihre“ Wörter „in allen Ecken,Winkeln, Löchern und Schubladen“. Sie hofft, dieWörter könnten Saídas Tränen trocknen und ihrSchweigen aufbrechen. Wir Lesenden suchen mitund entdecken in wunderschön gemalten BildernBuchstaben, „die manchmal wie Blumen undmanchmal wie Insekten aussehen“. Dabei lernenjene ohne Arabischkenntnisse, dass „Sonne“

„schams“ und „dahik“ „lachen“ heißt. Auf der vor-letzten Seite sehen wir die kleine Saída glücklich lä-cheln, weil ihre deutsche Freundin ihr eineGeschichte erzählt. Und zum Schluss, als beide aufeinem Teppich durch die Lüfte segeln, fällt das Wort„Grenze“ – „hudud“ „über Bord“. Mit poetischen Texten und zauberhaften Illustratio-nen weckt das Buch von Susana Gómez Redondound Sonja Wimmer Mitgefühl für Geflüchtete undmacht zugleich Lust auf interkulturelle Begegnung.

Susana Gómez Redondo und Sonja Wimmer: AmTag, als Saída zu uns kam. Peter Hammer Verlag2016, 32 Seiten, 15,90€, ab 5 Jahre

AM TAG, ALS SAÍDA ZU UNS KAM

16 Kindertageseinrichtungen im Bereich der AWOam Mittelrhein haben sich zu einem gemeinsamenVerbund zusammengeschlossen. Das sind 3 Einrich-tungen in kommunaler Trägerschaft und 13 Einrich-tungen in Trägerschaft der AWO. Damit erfüllen siedie Voraussetzungen für das im Januar 2016 ge-startete Bundesprojekt „Sprach- Kitas: Weil Spracheder Schlüssel zur Welt ist“. Dieses unterstützt Kin-dertageseinrichtungen mit einem hohen Anteil vonKindern mit Migrationshintergrund. Darüber hinausfördert das Bundesministerium für Familie, Senio-ren, Frauen und Jugend die Zusammenarbeit mitden Familien und die Umsetzung inklusiver Bildung.

Anlässlich der ersten Trägerkonferenz stellte sich diezukünftige Fachberaterin Sabrina Hemmer vor. Siewird ab Mitte Februar die Kita-Teams bei der Wei-terentwicklung der alltagsintegrierten Sprachbil-dung begleiten, beraten und unterstützen. Gemeinsames Ziel der beteiligten Einrichtungen istes, möglichst früh allen Kindern den Zugang zuguten Bildungsangeboten zu ermöglichen. Die Trägerkonferenz diente nicht nur dem gegen-seitigen Kennenlernen, vielmehr wurde deutlich,dass das gemeinsame Verbundprojekt das Forum zueinem intensiven Erfahrungsaustausch bietet. „Sprache ist eine Schlüsselkompetenz - insbeson-

dere mit Blick auf soziale Integration und späterauch den schulischen Erfolg. Im Verbund bündelndie Fachkräfte ihre Kompetenzen für eine sensibleund theoriegestützte Wahrnehmung der Kinder-sprache und verknüpfen sie gleichzeitig mit prakti-scher Sprachbildung und Sprachförderung. DieTeilnahme des Verbunds der 16 KiTas am Bundes-programm Sprach-Kitas stellt einen weiteren Schrittin Richtung Chancengleichheit und Teilhabe für alledar“, so Andreas Johnsen, Geschäftsführer der AWOMittelrhein.

START DES BUNDESPROGRAMMS SPRACH-KITAS: WEIL SPRACHE DER SCHLÜSSEL ZUR WELT IST

Die Landesregierung hat eine Übersicht der Sprach-förderangebote für geflüchtete Erwachsene ab 16Jahren veröffentlicht. Der seit März im Internet ab-rufbare zwölfseitige Flyer zeigt eine Auswahl der

wichtigsten Programme der Sprachförderung, dieunter anderem vom Bund und dem Land Nordrhein-Westfalen finanziert werden.https://broschueren.nordrheinwestfalendirekt.de/b

roschuerenservice/msw/sprachfoerderangebote-fuer-gefluechtete/2148

PROGRAMME FÜR GEFLÜCHTETE ERWACHSENE IN NORDRHEIN-WESTFALEN

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ImpressumHerausgeber:ArbeiterwohlfahrtBezirksverband Mittelrhein e.V.IntegrationsagenturDienststelle Venloer Wall 15, 50672 Köln

RedaktionDr. Donja AmirpurAriane DettloffMercedes Pascual Iglesias

Gefördert durch:

Verantwortlich (i. S. d. P.)Andreas Johnsen, Geschäftsführer

Telefon: 0221 – 29942874E-Mail: [email protected]

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Seit Oktober 2015 steigt die Anzahl der in KölnSchutzsuchenden kontinuierlich an. Zur Zeit lebenetwa 11.000 Flüchtlinge und 1.400 Kinder und Ju-gendliche hier. Nach wie vor ist die Hilfsbereitschaftgroß und auf das ehrenamtliche Engagement derKölner Bürger_innen ist Verlass. In der ehrenamtli-chen Flüchtlingsarbeit haben sich unterschiedlicheOrganisationsformen entwickelt: Es gibt die Will-kommensinitiativen in den Stadtteilen und an denStandorten der Unterkünfte, das ehrenamtliche En-gagement in den Wohlfahrtsverbänden, das ehren-amtliche Engagement in den Unterkünften undNotunterkünften und das Engagement der kirchli-chen Einrichtungen.

Dieses Engagement ist eine Unterstützung und Er-gänzung der staatlichen Daseinsvorsorge und derAufgaben, die durch Kommunen, das Land oder denBund zu bewältigen sind. Dieses bürgerschaftlicheEngagement ist geprägt von selbstorganisiertemHandeln, es bedarf aber auch guter Rahmenbedin-gungen.

Die AWO Köln konnte seit September 2015 die Be-ratungstätigkeit für Ehrenamtliche in der Flücht-lingsarbeit ausbauen.

Schwerpunkte in dieser Arbeit sind: - Die persönliche Beratung von Interessierten, diesich ehrenamtlich in der Flüchtlingsarbeit engagie-ren möchten- Die regelmäßige Herausgabe der Info-Post “Eh-renamtliche Flüchtlingsarbeit in Köln”- Die Erweiterung von LESEMENTOR Köln und desSchwerpunkts LESEMENTOR Köln/Flüchtlingsarbeit- Die Zusammenarbeit und Vernetzung mit den viel-fältigen Stellen, die in Köln im Rahmen der ehren-amtlichen Flüchtlingsarbeit unterwegs sind.

Info-Post zur Flüchtlingsarbeit: seit Oktober gibt dasBüro für Bürgerengagement (BfB) diese Info-Postregelmäßig heraus. Alle 4-6 Wochen erscheint dieaktualisierte Ausgabe mit Möglichkeiten des ehren-amtlichen Einsatzes, mit Anlaufstellen und mit Hin-weisen auf Hintergrundmaterialien und Buchtipps.(www.awo-koeln.de)

Bei LESEMENTOR Köln begleitet ein_e Ehrenamtli-che_r ein Kind einmal in der Woche. In diesem Men-torprojekt sind 620 Lesementor_innen an 103Kölner Schulen aktiv. Von diesen 103 Schulen bie-ten 14 Schulen sog. Seiteneinsteiger_innenklassenfür Kinder mit Fluchterfahrung an. Zurzeit sind 38Lesementor_innen in diesen Vorbereitungsklassenehrenamtlich aktiv.

Das Büro für Bürgerengagement stellt Informatio-nen zu Möglichkeiten und Rahmenbedingungen eh-renamtlichen Engagements in der Flüchtlingsarbeitzusammen, es stellt auch trägerübergreifend Fort-bildungsangebote zur Verfügung.

Angelika Blickhäuser, Leiterin des Büros für Bürger-engagementAWO Kreisverband Köln e.V.Bundesprojekt: Bürgerschaftliches Engagement inder Flüchtlingsarbeit in der AWOLESEMENTOR Köln, LESEMENTOR Köln interkulturellAngelika Blickhä[email protected] www.awo-koeln.de

EHRENAMTLICHE FLÜCHTLINGSARBEIT

Mit vielem Dank für die Bilder an die AWO Aquaund das Projekt “Nicht in meinem Namen! - Ge-meinsam gegen Diskriminierung, antimuslimi-schen Rassismus und den Missbrauch vonReligion”.