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Ernst Fraenkel: Gesammelte Schriften. Bd. 1: Recht und Politik in der Weimarer Repu- blik, hg. von Hubertus Buchstein unter Mitarbeit von Rainer Kühn. Baden-Baden: Nomos 1999, 704 S., DM 128,–. Karl G. Kick Ernst Fraenkel wäre am 26. Dezember 1998 einhundert Jahre alt geworden. Gerade recht- zeitig zu diesem Jubiläum erschien der erste Band der von Alexander von Brünneck, Hu- bertus Buchstein und Gerhard Göhler heraus- gegebenen siebenbändigen Ausgabe seiner Ge- sammelten Schriften. Fraenkels Bedeutung be- ruht auf seinen Arbeiten zu einer pluralisti- schen Demokratietheorie und zum Vergleich westlicher Regierungssysteme. Breite Bekannt- heit erlangte er aber nur durch zwei Arbeiten: den Aufsatz „Deutschland und die westlichen Demokratien“, der auf einem Vortrag zum ein- jährigen Bestehen des Otto-Suhr-Instituts in- nerhalb der Freien Universität Berlin im Jahre 1960 zurückgeht und den Kern des gleichna- migen Sammelbandes bildet, und durch sein Buch „Das amerikanische Regierungssystem“. Wie alle frühen Politikwissenschaftler in Deutschland war auch Fraenkel von Hause aus Jurist und wie viele floh er – 1938 – vor den Nationalsozialisten in die USA. Dort absolvier- te er an der Universitäy of Chicago ein zweites Jurastudium, war dann Dozent an der New School for Social Research in New York und arbeitete seit 1944 im Staatsdienst als Berater amerikanischer Regierungsbehörden in Korea. 1951 kehrte er nach Deutschland zurück, wo er von 1953 bis 1967 einen Lehrstuhl für Ver- gleichende Lehre der Herrschaftssysteme an der Freien Universität Berlin innehatte. Mit den Gesammelten Schriften soll nun zwar keine historisch-kritische Gesamtausgabe vorgelegt werden, wohl aber eine umfassende Auswahl aller veröffentlichten und unveröf- fentlichten Texte Fraenkels, „denen eine eigen- ständige wissenschaftliche Bedeutung zu- kommt“, wie die Herausgeber der Gesamtedi- tion im Vorwort schreiben. Die Anordnung der Texte folgt den Themenkreisen, die Fraen- kel im Laufe seines Lebens bearbeitete, und versucht so eine Verbindung von chronologi- scher und systematischer Ordnung. Für jeden Band ist ein Vorwort der jeweiligen Herausge- ber vorgesehen, in dem die abgedruckten Texte sachlich kommentiert und die Editionsgrund- sätze dargelegt werden. Weiters enthält jeder Band ein Personen- und Sachregister. Der sieb- te Band ist einer vollständigen Bibliografie der Schriften Fraenkels und einem Gesamtregister vorbehalten. Der erste Band versammelt alle wichtigen Texte Fraenkels aus dem Zeitraum von 1923 bis 1933, von denen der überwiegende Teil Fragen der Arbeits- und Wirtschaftsverfassung behandelt – so bereits die 1923 bei Hugo Sinz- heimer geschriebene Doktorarbeit mit dem Ti- tel „Der nichtige Arbeitsvertrag (zugleich ein Versuch zur Systematik des Arbeitsrechts)“. Das Arbeitsrecht der Weimarer Republik be- deutete für Fraenkel einen wesentlichen politi- schen und verfassungsrechtlichen Fortschritt, es war ihm „Prunkstück der Republik“, das die Möglichkeit zur Versöhnung der sozialen Klas- sen und zur Integration der Arbeiter in den bürgerlichen Rechtsstaat bot (475). Auch wenn – oder gerade weil die in Artikel 165 der Reichsverfassung vorgesehenen Arbeiterräte auf Bezirks- und Reichsebene nicht eingerichtet wurden, hätten die wirtschaftlichen Verbände wichtige politische Funktionen übernommen; Fraenkel sprach von „kollektiver Demokratie“ (352). Sie ergänzten damit das Parlament, wel- ches im modernen Wohlfahrtsstaat nicht län- ger als alleiniger Repräsentant einer demokrati- schen Volkseinheit fungiert, sondern in enger Verbindung mit Regierung und Verwaltung spezifische Funktionen innehat. Um die Funk- tion des Parlaments zu sichern, forderte er in seinen verfassungspolitischen Schriften ein konstruktives Mißtrauensvotum: Ein Parla- ment, das zur Approbation nicht fähig sei, ver- wirke das Recht zur Reprobation (523), wobei ihm Möglichkeiten und Grenzen dieses Instru- ments durchaus bewußt waren. Fraenkel war damit weit über die naive (oder böswillige) Par- lamentarismuskritik jener Zeit hinaus. Ergänzend wurden einige Texte aus der Nachkriegszeit in den Band aufgenommen, nämlich das autobiografische Vorwort zu dem Sammelband „Reformismus und Pluralismus“ aus dem Jahre 1973, das die knappen Ausfüh- rungen der beiden Bearbeiter zum Leben Fra- enkels ergänzt und überhaupt die Edition sinn- voll einleitet, sowie sechs weitere Stücke, dar- unter die Frankfurter Gedenkrede aus dem Jahr 1958 auf Hugo Sinzheimer, der den prä- genden Einfluß auf Fraenkel hatte, dessen Be- Einzelbesprechungen 371

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Page 1: Ernst Fraenkel:  Gesammelte Schriften. Bd. 1: Recht und Politik in der Weimarer Republik, hg. von Hubertus Buchstein unter Mitarbeit von Rainer Kühn

Ernst Fraenkel: Gesammelte Schriften. Bd. 1:Recht und Politik in der Weimarer Repu-blik, hg. von Hubertus Buchstein unterMitarbeit von Rainer Kühn. Baden-Baden:Nomos 1999, 704 S., DM 128,–.

Karl G. Kick

Ernst Fraenkel wäre am 26. Dezember 1998einhundert Jahre alt geworden. Gerade recht-zeitig zu diesem Jubiläum erschien der ersteBand der von Alexander von Brünneck, Hu-bertus Buchstein und Gerhard Göhler heraus-gegebenen siebenbändigen Ausgabe seiner Ge-sammelten Schriften. Fraenkels Bedeutung be-ruht auf seinen Arbeiten zu einer pluralisti-schen Demokratietheorie und zum Vergleichwestlicher Regierungssysteme. Breite Bekannt-heit erlangte er aber nur durch zwei Arbeiten:den Aufsatz „Deutschland und die westlichenDemokratien“, der auf einem Vortrag zum ein-jährigen Bestehen des Otto-Suhr-Instituts in-nerhalb der Freien Universität Berlin im Jahre1960 zurückgeht und den Kern des gleichna-migen Sammelbandes bildet, und durch seinBuch „Das amerikanische Regierungssystem“.Wie alle frühen Politikwissenschaftler inDeutschland war auch Fraenkel von Hause ausJurist und wie viele floh er – 1938 – vor denNationalsozialisten in die USA. Dort absolvier-te er an der Universitäy of Chicago ein zweitesJurastudium, war dann Dozent an der NewSchool for Social Research in New York undarbeitete seit 1944 im Staatsdienst als Berateramerikanischer Regierungsbehörden in Korea.1951 kehrte er nach Deutschland zurück, woer von 1953 bis 1967 einen Lehrstuhl für Ver-gleichende Lehre der Herrschaftssysteme an derFreien Universität Berlin innehatte.

Mit den Gesammelten Schriften soll nunzwar keine historisch-kritische Gesamtausgabevorgelegt werden, wohl aber eine umfassendeAuswahl aller veröffentlichten und unveröf-fentlichten Texte Fraenkels, „denen eine eigen-ständige wissenschaftliche Bedeutung zu-kommt“, wie die Herausgeber der Gesamtedi-tion im Vorwort schreiben. Die Anordnungder Texte folgt den Themenkreisen, die Fraen-kel im Laufe seines Lebens bearbeitete, undversucht so eine Verbindung von chronologi-scher und systematischer Ordnung. Für jedenBand ist ein Vorwort der jeweiligen Herausge-ber vorgesehen, in dem die abgedruckten Texte

sachlich kommentiert und die Editionsgrund-sätze dargelegt werden. Weiters enthält jederBand ein Personen- und Sachregister. Der sieb-te Band ist einer vollständigen Bibliografie derSchriften Fraenkels und einem Gesamtregistervorbehalten.

Der erste Band versammelt alle wichtigenTexte Fraenkels aus dem Zeitraum von 1923bis 1933, von denen der überwiegende TeilFragen der Arbeits- und Wirtschaftsverfassungbehandelt – so bereits die 1923 bei Hugo Sinz-heimer geschriebene Doktorarbeit mit dem Ti-tel „Der nichtige Arbeitsvertrag (zugleich einVersuch zur Systematik des Arbeitsrechts)“.Das Arbeitsrecht der Weimarer Republik be-deutete für Fraenkel einen wesentlichen politi-schen und verfassungsrechtlichen Fortschritt,es war ihm „Prunkstück der Republik“, das dieMöglichkeit zur Versöhnung der sozialen Klas-sen und zur Integration der Arbeiter in denbürgerlichen Rechtsstaat bot (475). Auch wenn– oder gerade weil die in Artikel 165 derReichsverfassung vorgesehenen Arbeiterräte aufBezirks- und Reichsebene nicht eingerichtetwurden, hätten die wirtschaftlichen Verbändewichtige politische Funktionen übernommen;Fraenkel sprach von „kollektiver Demokratie“(352). Sie ergänzten damit das Parlament, wel-ches im modernen Wohlfahrtsstaat nicht län-ger als alleiniger Repräsentant einer demokrati-schen Volkseinheit fungiert, sondern in engerVerbindung mit Regierung und Verwaltungspezifische Funktionen innehat. Um die Funk-tion des Parlaments zu sichern, forderte er inseinen verfassungspolitischen Schriften einkonstruktives Mißtrauensvotum: Ein Parla-ment, das zur Approbation nicht fähig sei, ver-wirke das Recht zur Reprobation (523), wobeiihm Möglichkeiten und Grenzen dieses Instru-ments durchaus bewußt waren. Fraenkel wardamit weit über die naive (oder böswillige) Par-lamentarismuskritik jener Zeit hinaus.

Ergänzend wurden einige Texte aus derNachkriegszeit in den Band aufgenommen,nämlich das autobiografische Vorwort zu demSammelband „Reformismus und Pluralismus“aus dem Jahre 1973, das die knappen Ausfüh-rungen der beiden Bearbeiter zum Leben Fra-enkels ergänzt und überhaupt die Edition sinn-voll einleitet, sowie sechs weitere Stücke, dar-unter die Frankfurter Gedenkrede aus demJahr 1958 auf Hugo Sinzheimer, der den prä-genden Einfluß auf Fraenkel hatte, dessen Be-

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deutung aber nicht soweit in die Geschichtezurückwirkte, daß sie schon Otto von Gierkehätte herausstellen können (625 – es war na-türlich umgekehrt), ein Briefwechsel mit demStudenten Dieter Gronow von 1971 über denDarmstädter Arbeiter- und Soldatenrat im Jah-re 1918 und ein Brief an Karl-Dietrich Erd-mann zu einer Fernsehdiskussion aus dem Jah-re 1973. Man wird fragen, ob der Bezug dieserTexte zum eigentlichen Thema des Bandes –Recht und Politik in der Weimarer Republik –nicht doch ein nur sehr formaler ist, zumaldann, wenn der Leser wie beim letzten Beispielnur mit einiger Vorkenntnis und Mühe heraus-finden kann, worum es da eigentlich geht(nämlich das Verhalten des Deutschen Metall-arbeiter-Verbandes nach dem „Preußenschlag“,also die Absetzung der preußischen Regierungdurch die Reichsregierung). Es ist ein Mankodes Bandes, daß die Herausgeber nicht ein we-nig der Mühe und auch des Geldes der DFG,das sie, wie sie im Vorwort beteuern, daraufverwandten, entlegene und schwer greifbareTexte Fraenkels einem breiteren Publikum zu-gänglich zu machen, auch dafür aufgebrachthaben, gerade diese Texte dem Publikum ver-ständlich zu machen, indem fehlende Datums-angaben ergänzt, Personennamen erklärt, Sach-zusammenhänge erläutert worden wären.

Gleichwohl, Fraenkels Schriften zeigen aufbeeindruckende Weise, wie sich parteipoliti-sches Engagement und intellektuelle Leiden-schaft zu staatsbürgerlicher Verantwortung ver-binden und die frühe Entwicklung nicht nureines bedeutenden Politikwissenschaftlers for-men, sondern überhaupt dieses Fach, das abernun, da es seine Klassikerausgaben erhält, nichtmehr länger als eine junge Disziplin geltenwird.

Marc Abélès, Henri-Pierre Jeudy (eds.): Anthro-pologie du politique (Anthropologie des Po-litischen). Paris: Armand Colin 1997, 283S., F 130,–.

Werner Rossade

Dieser Sammelband mit Beiträgen von zwölfMitgliedern des LAIOS (= Laboratoire d’An-thropologie des Institutions et des Organisa-

tions Sociales) ist eine wichtige Publikation ausdem Forschungsbereich der politischen Ethno-logie, die im letzten Jahrzehnt in Frankreich,vertreten vor allem durch jüngere Wissen-schaftler, bereits eine ganze Reihe von Veröf-fentlichungen zu verzeichnen hat, die hierzu-lande noch wenig bekannt sind. Das LAIOSist, wie zahlreiche andere Laboratoires, eineEinrichtung des CNRS, des Nationalen Zen-trums für wissenschaftliche Forschung mit sei-nen vielfältigen Verzweigungen. Bei diesen„Laboratorien“ handelt es sich um StändigeForschungsgruppen, die sich aus Wissenschaft-lern zusammensetzen, die vom CNRS ange-stellt sind, und solchen, die an Universitätenoder vergleichbaren Einrichtungen arbeiten.Der vorliegende Band umfaßt, neben der Ein-leitung, 12 Beiträge in vier Teilen, die über-schrieben sind: (1) Identität und Ethnizität, (2)Krieg, Nation, Staatsbürgerlichkeit (Citoyenne-té), (3) Staat und multikulturelle Institutionen,(4) Zeiten und Symboliken der Macht. Der er-ste Teil bringt einen Aufsatz von J.-F. Gossiauxzur definitorischen Abgrenzung von Ethnizität,Nationalität(en) und Nation. Er versteht ,Na-tionalität’ als Projektion der ethnischen Struk-tur, die in einer Beziehung von Identität undAnderssein zentriert, auf die Ebene des Politi-schen, als kollektiven Willen zum Ausdruckdes Ethnischen im Bereich der Machtverhält-nisse. Die gewesene „Föderative SozialistischeRepublik Jugoslawien“, mit ihrer Trennungvon Nationalität und Territorium eher eineFöderation von Völkern als von Republiken,faßt er als am weitesten gegangene Realisierungdes austromarxistischen Nationalitätenkon-zepts. Nation ist in seinem begrifflichen Kon-text das (Wieder-)Zusammenfallen von Natio-nalität als politisierter Ethnizität und von Ter-ritorium. Problematisiert werden insbesondereauch Begriff und Gegebenheit der ethnischen(nationalen) Minderheiten.

Weiter untersuchen im ersten Teil G. Col-lomb die ,Indianer’frage in Französisch-Guyanaals Exempel für die Herausbildung eines politi-schen Raumes und S. Trebinjac Wesenszügeder Volksrepublik China als Staat, ausgehendvon langjähriger ethnologischer Feldforschungüber die Gesänge der dortigen nationalen Min-derheiten. Im zweiten Teil erscheinen Beiträgevon Catherine Neveu zur noch wenig bearbeite-ten Ethnologie (,Anthropologie’) der Staats-bürgerlichkeit und von Michel Adam über den

372 PVS-Literatur