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Erläuterungen zum Mahamudra-Gebet des Dritten Karmapa Rangdjung Dordje 2011, im Dharmazentrum Möhra Lama Tilmann Lhündrup Mit einem besonderen Dank an Anette Splitthoff und Marianne Krobath für die Abschrift und Gestaltung!

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Erläuterungen zum Mahamudra-Gebet

des Dritten Karmapa

Rangdjung Dordje

2011, im Dharmazentrum Möhra

Lama Tilmann Lhündrup

Mit einem besonderen Dank an Anette Splitthoff und Marianne Krobath

für die Abschrift und Gestaltung!

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Inhaltsübersicht

Erläuterung des Titels .............................................................................................................. 5 Zuflucht, Bitte um Unterstützung ........................................................................................... 7

1. Vers .................................................................................................................................... 7

Das Bodhicitta des Strebens .................................................................................................... 8 2. Vers .................................................................................................................................... 8

Das Bodhicitta der Anwendung ............................................................................................ 10 3. Vers .................................................................................................................................. 10 4. Vers .................................................................................................................................. 11

Die Dreifache Weisheit ........................................................................................................... 18 5. Vers .................................................................................................................................. 18

Hören, Studieren ............................................................................................................... 18

Kontemplieren .................................................................................................................. 18

Meditieren ........................................................................................................................ 19 Dreifache Weisheit ........................................................................................................... 20

Mahamudra im Überblick – Basis, Weg und Frucht .......................................................... 21 6. Vers .................................................................................................................................. 21

7. Vers .................................................................................................................................. 26 8. Vers .................................................................................................................................. 29

Die Sichtweise des Mahamudra ............................................................................................ 31 9. Vers .................................................................................................................................. 31 10. Vers ................................................................................................................................ 37

11. Vers ................................................................................................................................ 41 Existent ............................................................................................................................. 41 Nichtexistent ..................................................................................................................... 41

Sowohl existent als auch nichtexistent ............................................................................. 42

Weder existent noch nichtexistent .................................................................................... 42 Jenseits von Existenz und Nichtexistenz – ohne Bezugspunkte ...................................... 42

12. Vers ................................................................................................................................ 47

13. Vers ................................................................................................................................ 47 14. Vers ................................................................................................................................ 49

Meditation ........................................................................................................................ 49 Buchempfehlung ............................................................................................................... 50

Meditation ............................................................................................................................... 50 15. Vers ................................................................................................................................ 50 16. Vers – Geistige Ruhe ...................................................................................................... 52

17. Vers – Intuitive Einsicht ................................................................................................. 56 18. Vers ................................................................................................................................ 58 19. Vers – Erfahrung von Mahamudra ................................................................................. 60

20. Vers ................................................................................................................................ 65 21. Vers ................................................................................................................................ 68 22. Vers ................................................................................................................................ 69 23. Vers ................................................................................................................................ 70

24. Vers ................................................................................................................................ 72

Widmung ................................................................................................................................. 73 25. Vers ................................................................................................................................ 73 Praxis des Gebetes ................................................................................................................ 74

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Der Pfad des Strebens

nach dem Mahamudra des Wahren Sinnes

Das Mahamudra-Gebet von Meister Rangdjung Dordje

NAMO GURU (Verehrung den Lehrern)

Lamas und Jidam-Gottheiten der Mandalas,

Siegreiche und Eure Erben in den zehn Richtungen und drei Zeiten,

bitte denkt liebevoll an mich und gewährt Euren Segen,

dass sich meine Pfade des Strebens genauso verwirklichen, wie sie gemeint sind.

Mögen die Ströme heilsamen Handelns, die vom Schneeberg

der reinen Absichten von mir und all den zahllosen Lebewesen entspringen,

ungetrübt vom dreifachen Wirkkreis

in den Ozean der vier Körper der Siegreichen münden.

Solange dies nicht verwirklicht ist, wie lange es auch dauern mag,

mögen wir Geburt um Geburt in allen Leben

nicht einmal die Worte „schädliches Handeln” und „Leiden” kennen,

sondern uns der Pracht eines Ozeans heilsamer Handlungen und des Glücks erfreuen.

Mögen wir die höchsten Freiheiten und Errungenschaften erlangen

und mit Vertrauen, Energie und Weisheit vortrefflichen spirituellen Lehrern folgen,

den Nektar ihrer Unterweisungen erhalten, sie richtig anwenden

und ohne irgendwelche Hindernisse in allen Leben den wahren Dharma praktizieren.

Das Hören der Texte und logisches Denken befreien uns vom Schleier des Nichtwissens,

das Kontemplieren der Kernunterweisungen vertreibt die Dunkelheit der Zweifel

und die in der Meditation entstehende Klarheit erhellt die Wirklichkeit, so wie sie ist –

möge das Leuchten dieser dreifachen Weisheit zunehmen.

Durch das Wesen der Basis, die beiden Wahrheiten,

frei von den Extremen des Glaubens an Beständigkeit oder Nichtexistenz,

und den höchsten Weg, die beiden Ansammlungen,

frei von den Extremen des Zuschreibens und Leugnens,

erlangen wir die Frucht, die beiden Nutzen,

frei von den Extremen des Werdens und des Friedens –

mögen wir diesem Dharma ohne Fehl und Irrtum begegnen.

Die Basis der Reinigung ist der Geist an sich, klar und leer zugleich,

das Reinigende ist der große Vajra-Yoga des Mahamudra

und das zu Reinigende sind die zeitweiligen Makel der Verwirrung –

möge sich die Frucht der Reinigung, der makellose Dharmakaya, offenbaren.

Zuschreibungen bezüglich der Basis beseitigt zu haben, ist Gewissheit der Sicht;

diese unabgelenkt zu wahren, ist der Schlüsselpunkt der Meditation

und Geschick in allen Aspekten der Meditation zu entwickeln, ist höchstes Handeln –

mögen wir Gewissheit in Sicht, Meditation und Handeln besitzen.

Alle Phänomene sind Manifestationen des Geistes

und was den Geist angeht, so ist da kein Geist – Geist ist leer von einer Selbstnatur.

Leer, erscheint er zugleich ungehindert in jedweder Form.

Dies gründlich untersuchend, mögen wir die zugrunde liegende Wurzel durchtrennen.

Spontane Erscheinungen ohne jegliche Existenz werden verwirrt für Objekte gehalten

und spontane Bewusstheit hält sich aufgrund von mangelndem Gewahrsein für ein Ich.

Dieses dualistische Haften lässt uns in der Sphäre samsarischer Existenzen kreisen.

Mögen wir die Täuschungen des Nicht-Gewahrseins an der Wurzel selbst durchtrennen.

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Geist ist nicht existent, denn selbst die Siegreichen sehen ihn nicht.

Er ist auch nicht nichtexistent, denn er ist die Basis von ganz Samsara-Nirwana.

Er ist weder beides zugleich, noch keines von beiden, sondern der Mittlere Weg der Einheit.

Mögen wir, frei von Extremen, die wahre Natur des Geistes erkennen.

Man kann sie durch nichts zeigen und sagen: „Das ist sie“

und man kann sie durch nichts widerlegen und sagen: „Das ist sie nicht“.

Die wahre Natur ist nicht bedingt und jenseits von begrifflichem Erfassen.

Mögen wir Gewissheit in Bezug auf das wahre Letztendliche erlangen.

Ist dies nicht verwirklicht, kreisen wir im Ozean von Samsara.

Ist es verwirklicht, ist Buddha nicht woanders.

Alles ist das – nichts ist nicht das.

Mögen wir die wahre Natur erkennen, die versteckte Dimension der Basis von allem.

Erscheinen ist Geist und Leersein ist auch Geist,

Erkenntnis ist Geist, aber auch Verwirrtsein ist unser Geist,

Entstehen ist Geist und Vergehen ist Geist –

mögen alle Zuschreibungen im Geist durchtrennt werden.

Unverdorben durch die Anstrengungen absichtsvollen Meditierens

und nicht vom Wirbel gewöhnlicher Beschäftigungen aufgewühlt,

mögen wir es lernen, ungekünstelt in natürlicher Gelöstheit zu ruhen

und geschickt die Praxis des Geistes zu wahren, so wie er wirklich ist.

Die Wellen der groben und feinen Gedanken kommen in sich selbst zur Ruhe

und der Strom des unaufgewühlten Geistes sammelt sich natürlicherweise.

Frei vom trübenden Schlamm der Dumpfheit und Trägheit

möge der Ozean Geistiger Ruhe unbewegt und stabil verweilen.

Immer wieder in den nicht zu sehenden Geist schauend

kommt es zu dem Intuitiven Sehen, dass – so wie es ist – nichts zu sehen ist,

und durchtrennt alle Zweifel darüber, was ist oder nicht ist.

Frei von Verwirrung, möge unsere ureigene Natur sich selbst erkennen.

In die Objekte schauend, gibt es keine Objekte – sie werden als Geist erkannt.

In den Geist schauend, ist da kein Geist – er ist von Natur aus leer.

In beides schauend, befreit sich dualistisches Haften in sich selbst.

Mögen wir den Geist verwirklichen wie er wirklich ist: Erhellende Klarheit.

Frei von geistigem Erschaffen ist dies das Große Siegel (Mahamudra),

frei von Extremen ist es der Große Mittlere Weg (Maha-Madhyamaka),

dies alles vereinend wird es auch Große Vollendung genannt (Maha-Ati).

Eines erkannt, ist der Sinn von allen verwirklicht – mögen wir darin Gewissheit erlangen.

Frei von Verlangen ist Große Freude ununterbrochen,

frei von Haften an Merkmalen ist Erhellende Klarheit unverhüllt,

jenseits vom Intellekt ist Nichtdenken spontan gegenwärtig –

frei von Anstrengung mögen diese Erfahrungen unaufhörlich sein.

Das Festhalten an begehrten ‚guten‘ Erfahrungen befreit sich in sich selbst

und Verwirrung über ‚schlechte‘ Gedanken klärt sich in der Weite ihrer eigenen Natur:

Gewöhnlicher Geist ist frei von Aufgeben und Kultivieren, Vermeiden und Erlangen –

mögen wir die Freiheit von Vorstellungen verwirklichen, die wahre Natur der Dinge.

Die Natur der Lebewesen war immer schon Buddha,

doch weil sie dies nicht erkennen, irren sie endlos in Samsara.

Möge für die Lebewesen in ihrem endlosen Leid

unerträgliches Mitgefühl in diesem Seinsstrom entstehen!

Da unerträgliches Mitgefühl voller Kraft und ohne Schranken ist,

zeigt sich in Momenten solcher Liebe unverhüllt die Bedeutung der leeren Natur.

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Mögen wir diesen unfehlbaren, höchsten Weg der Einheit [von Mitgefühl und Weisheit]

Tag und Nacht üben, ohne ihn je zu verlassen.

Mögen kraft unserer Meditation die Augen und höheren Wahrnehmungen entstehen

und mögen wir die Lebewesen zur Reife führen, Buddhagefilde kultivieren

und die Pfade des Strebens zum Verwirklichen aller Buddha-Dharmas vollenden.

Mögen wir durch das zu Ende bringen von Reifen, Kultivieren und Vollenden alle zur

Buddhaschaft erwachen.

Durch das Mitgefühl der Buddhas und ihrer Erben in den zehn Richtungen

und durch die Kraft alles wirklich Heilsamen, das es gibt,

mögen die reinen Pfade des Strebens von mir und allen Lebewesen

genauso verwirklicht werden, wie sie gemeint sind.

Erläuterung des Titels

Der Autor dieses Gebetes, der 3. Gyalwa Karmapa, Rangdjung Dordje wurde 1284 geboren und starb

bereits 1334 im Alter von nicht ganz fünfzig Jahren. Er reiste zum Ende seines Lebens nach China und

schrieb dieses Gebet auf seiner Reise, als er am chinesischen Ozean saß. Er saß mit Blick auf den

Ozean und verfasste dieses Wunschgebet, das in der Kagyü-Linie als die kürzeste und kompletteste

Zusammenfassung des Mahamudra gilt. Der 17. Gyalwa Karmapa hat uns kürzlich dieses Gebet noch

einmal ans Herz gelegt und uns sogar darum gebeten, es auswendig zu lernen, weil es alles beinhalten

würde, was wir für die Praxis brauchen.

Wenn ich jetzt verkürzend von einem Gebet spreche, so ist damit ein Pfad des Strebens gemeint, auf

Tibetisch mönlam. Lam heißt Weg und mönpa ist Streben, Aspiration oder die Kraft der Ausrichtung.

Das sollten wir im Geist behalten, denn es handelt sich nicht um ein Wunschgebet, in dem wir um

Erfüllung von etwas, das wir uns wünschen, bitten. Es geht um einen Weg der Transformation, also

einen Weg der Erkenntnis, der Transformation unseres Denkens und Handelns. Der tibetische Aus-

druck mönpa – diese Aspiration, dieses Streben – ist der gleiche Ausdruck, den wir auch im

strebenden Bodhicitta haben. Es ist dieses Engagement, sich wirklich auszurichten und den Inhalt

unseres Strebens dann auch umzusetzen.

Im Grunde genommen haben wir es also hier mit einem Gebet zu tun, in dem jeder Vers zwar mit

einem Wunsch aufhört, aber ein Engagement, eine Verpflichtung, beinhaltet. Wenn wir das ernsthaft

rezitieren, beten, so bedeutet das, so stark mit dem Herzen dabei zu sein, dass wir tatsächlich auch

alles umsetzen werden. Es ist also ein Pfad des Strebens, ein pranidhana auf Sanskrit, eine Praxis, in

der wir uns klar werden, was unser Streben eigentlich ausmacht und uns darauf einlassen, es

umzusetzen. Für diesen Weg des Umsetzens unserer Aspirationen laden wir den Segen der Lehrer ein.

Wir bitten das gesamte erwachte Umfeld, uns zu unterstützen, diese Wünsche zu verwirklichen.

Es besteht also doch ein ziemlicher Unterschied zu dem, was wir im Westen traditionell Gebet nennen.

Dieses Gebet stellt eine komplette Praxis dar. Es ist ein Studium, es beinhaltet Kontemplation und es

führt in die Meditation. Es ist Ausdruck unseres Bodhisattva-Gelübdes. Wir verpflichten uns und

lassen uns darauf ein, wir sprechen diese Verpflichtungen aus und setzen sie dann um. Und es ist zu-

gleich ein Guru-Yoga. Es ist zugleich eine Praxis der Hingabe und der Öffnung und eine Praxis des

Mitgefühls, denn zu Anfang und am Ende der Verse, die den Rahmen geben, beziehen wir immer alle

Lebewesen mit ein. Das Ganze ist ein Gebet für alle Lebewesen, also eine sehr komplette Praxis, die

in sich alle Elemente beinhaltet, die wir brauchen, um eine fruchtbare Praxis aufzubauen.

Mahamudra, der nächste Ausdruck im Titel, bedeutet ‚das große Siegel’; maha heißt groß und mudra

Siegel. Mit Siegel ist gemeint, dass allen Erfahrungen, allen Erscheinungen ein gemeinsames Merkmal

innewohnt: ihre Substanzlosigkeit. Wir nennen das auch die Leerheit. Allen Erscheinungen ist gemein-

sam, dass sie keinen Wesenskern haben. Das ist das Siegel, das alle Erfahrungen authentisch macht.

Wenn wir erkennen, dass Erscheinungen, Erfahrungen ohne Wesenskern sind, so ist das das Siegel des

Erwachens. In dem Moment haben wir das Siegel geöffnet, wir haben es entschlüsselt. Wir haben die

Erfahrung zu dem genutzt, was das Erwachen dann freisetzt, wir haben es zum Erwachen genutzt. Das

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Siegel ist groß, weil es sich auf alle Phänomene bezieht. Alle Phänomene ohne Unterschied, besitzen

das Siegel der Leerheit. Sie sind somit die Quelle des Erwachens, wenn wir sehen, dass sie keinerlei

Substanz haben, dass sie von prozesshafter Natur sind.

Wahrer Sinn, ngedön auf Tibetisch, bezieht sich darauf, dass es sich hier nicht um vorläufige Instruk-

tionen handelt, sondern dass hier über den letztendlichen Sinn der Praxis gesprochen wird. Die Aus-

drucksweise ist möglichst nahe an der wirklich intendierten Bedeutung, es wird nicht vorbereitend

gesprochen, sondern der Sinn wird möglichst direkt beschrieben.

Zugleich bedeutet es auch, dass es sich beim Mahamudra des wahren Sinnes um die essentielle

Form des Mahamudra handelt. Wir können verschiedene Zugänge unterscheiden. Es gibt das Sutra-

Mahamudra, das auf den Lehrreden des 3. Drehens des Rades des Dharma aufbaut, also den Unter-

weisungen der Mahayana-Sutren, die im 3./4. Jahrhundert nach Christus aufgezeichnet wurden. Das ist

der Sutra-Weg, ein schrittweiser Weg, bei dem man mit der Praxis der Geistesruhe einsteigt, weiter

geht zu intuitiver Einsicht und von dort in das Verweilen in Mahamudra. Im Tantra-Mahamudra

bedient sich die Mahamudra-Praxis der Praxis mit Meditations-Gottheiten. Ihr kennt das auch. Stellt

euch vor, ihr würdet eine euch vertraute Meditationsgottheit wie Avalokiteshvara oder Tara oder

Vajrasattva wählen und zutiefst praktizieren, dann könntet ihr im Rahmen der Jidam-Praxis, – eine

Meditationsgottheit wird Jidam genannt – alle Unterweisungen zum Mahamudra im Rahmen dieser

Praxis anwenden. Da kommen dann noch zusätzliche Erklärungen hinzu, die diesen Weg ausführen.

Essenz-Mahamudra ist im Grunde genommen unabhängig von der Methode das Ausdeuten dessen,

worum es eigentlich geht. Im Essenz-Mahamudra ist es so wie auch im Tantra-Mahamudra: Es gibt

eigentlich keinen Weg. Es gibt hier kein schrittweises Fortschreiten, sondern es wird davon

ausgegangen, dass Erwachen immer nur im Jetzt stattfinden kann. Dass das Erwachen sich immer im

gegenwärtigen Erleben vollzieht und es sich nicht um einen Weg handelt, wo wir Kalpas vor uns

haben. Wenn Erwachen, dann immer jetzt.

Obwohl das eigentlich nur Fragen der Sichtweise sind und es sich nicht um einen wirklichen Unter-

schied handelt, ist es doch wichtig zu wissen, was mit diesem Titel „Mahamudra des wahren Sinnes“

angekündigt wird. Es handelt sich also um essentielle Unterweisungen, bei denen darauf verzichtet

wird, die Methodik des schrittweisen Weges in den Vordergrund zu stellen. Es wird auch darauf ver-

zichtet, die Arbeit mit den Meditations-Gottheiten anzusprechen. Es geht um Hinweise, wie wir unser

Erleben direkt zum Erwachen nutzen können. Das ist also damit gemeint, wenn wir einen Pfad des

Strebens nach dem Mahamudra des wahren Sinnes vor uns haben.

Wir lassen uns ein auf einen Weg der direkten Erkenntnis, jetzt und heute, und verpflichten uns inner-

lich dazu, diesen Weg auch wirklich zu gehen und umzusetzen. Es ist also nicht nur ein Wunschgebet,

nicht nur ein Gebet um Segen.

NAMO GURU (VEREHRUNG DEN LEHRERN)

Namo Guru ist die Anrufung. Damit ruft der Karmapa – aber auch wir – die gesamte Übertragungs-

linie des Mahamudra an. Alle erwachten Meister, die die Natur des Geistes verwirklicht haben und

speziell noch all die, die in der konkreten Übertragung des Mahamudra stehen. Der erste Meister in

der Linie ist Buddha Shakyamuni und dann geht die Übertragung ihren Weg durch die Jahrhunderte.

Der erste uns bekannte Lehrer, der Mahamudra öffentlich gemacht hat, ist Saraha. Von Saraha gehen

die Erklärungen durch verschiedene Mahasiddha-Linien und finden ihren Weg über Tilopa zu

Naropa, von Naropa zu Marpa, beziehungsweise von Saraha über Maitripa zu Marpa. Marpa bringt

diese Unterweisungen nach Tibet, unterrichtet sie seinen Schülern. Uns ist besonders Milarepa be-

kannt. Milarepa unterrichtet sie Gampopa, der sie in großem Maße in Tibet verbreitet. Einer der fünf

Hauptschüler von Gampopa war Düsum Khyenpa, der 1. Karmapa, und in der Übertragungslinie von

Düsum Khyenpa steht dann auch der 3. Karmapa, der aber auch von Lehrern anderer Linien

Mahamudra-Übertragungen erhalten hat.

Im Kontext dieses Gebetes, dieser Praxis, ist wichtig zu wissen, dass der 3. Karmapa ebenfalls ein

Linienhalter in der Dzogchen-Tradition war, also in der Linie der essentiellen Belehrungen der

Nyingma-Linie. Als Marpa die Mahamudra-Unterweisungen nach Tibet gebracht, gab es bereits eine

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Übertragungslinie in Tibet mit einer ganz tiefgründigen Praxis, die Dzogchen heißt, Maha Ati oder

Mahasandhi auf Sanskrit. Da wird dieselbe Praxis mit etwas anderen Worten und mit etwas anderer

Methodik beschrieben. Es ist ein ganz besonderer Fall, dass sich in der Person des 3. Karmapa die

beiden Übertragungslinien vereinen. Das gab es zwar immer wieder, aber der 3. Karmapa gehört auch

zum Zufluchtsbaum der Nyingmapas, weil er später auch Lehrer von Longchenpa war, einem ganz

berühmten Dzogchen-Lehrer. Er hat die Lehre des Dzogchen systematisiert. Wir haben also mit dem

3. Karmapa einen Meister vor uns, der in beiden Zufluchtsbäumen auftaucht. Er ist sowohl für die

Nyingmapas wie auch für die Kagyüpas Zufluchtslehrer, also eine absolute Referenz. Und damit

haben die Aussagen, die Karmapa hier in diesem Gebet trifft, noch ein zusätzliches Gewicht, weil er

wirklich die Referenz war zu seiner Zeit.

Zuflucht, Bitte um Unterstützung

Rangdjung Dordje ruft also all die Lehrer an, die an der Übertragungslinie beteiligt waren, bis hin zu

ihm und schreibt dann den ersten Sloka, den ersten Vierzeiler:

1. Vers

Lamas und Jidam-Gottheiten der Mandalas,

Siegreiche und Eure Erben in den zehn Richtungen und drei Zeiten,

bitte denkt liebevoll an mich und gewährt Euren Segen,

dass sich meine Pfade des Strebens genauso verwirklichen, wie sie gemeint sind.

Lamas sind die Meister, die Lehrer aus der Sicht des Vajrayana. Jidam-Gottheiten, sind die Medita-

tions-Gottheiten, die zu verschiedenen Mandalas gruppiert sind. Man kann Mandalas als Aktivitäts-

kreise bezeichnen, ein Jidam-Mandala ist ein Mandala erleuchteter Aktivität, also ein Kreis, ein Feld

erleuchteter Aktivität. Damit ist gemeint, dass Karmapa alle Jidams anruft, genauso wie alle Lamas.

Mit ‚Siegreiche’ sind alle Buddhas angerufen und mit ‚Eure Erben’ alle männlichen und weiblichen

Bodhisattvas, denn Karmapa fügt hinzu: in den zehn Richtungen und drei Zeiten. Die drei Zeiten

sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Karmapa ruft also selbst die zukünftigen Erwachten an,

nicht nur die vergangenen und gegenwärtigen. Und die Anrufung bezieht sich auf die zehn Richtungen

des Universums. Das sind die vier Hauptrichtungen, die vier Zwischenrichtungen sowie oben und

unten. Es sind also alle Richtungen des Universums, man kann sagen aller Universen.

Rangjung Dorje bittet all diese Erwachten liebevoll, also mit ihrem Geist voller Liebe, dieser Wünsche

gewahr zu sein. Wir bitten die Erwachten also in unserer Praxis darum, Zeugen zu sein, dass dieser

Pfad des Strebens unser Herz bewegt und wir bitten sie mitzuhelfen, dass sich durch die Kraft ihrer

Inspiration, durch die Kraft ihres Segens, diese Pfade des Strebens genauso verwirklichen wie sie

gemeint sind, wie es wirklich die tiefste innere Absicht ist.

Das Wort Segen – djinlab auf Tibetisch – bedeutet, wenn wir der Etymologie nachgehen das, was wir

vielleicht mit Inspiration bezeichnen. Lab hat etymologisch eine Wurzel im Wort Welle, es sind

Wellen der Inspiration. Djin hat etymologisch eine Wurzel in der Bedeutung von Wärme. Im Grunde

genommen treten wir ein in die Wellen der Wärme, die vom Erwachen, von erwachten Meistern

ausgehen. Segen ist also nicht etwas, das man hat und gibt, sondern Segen ist etwas, das sich

natürlicherweise ausbreitet, wenn sich der Geistesstrom in die Dimension des Erwachens öffnet. Dann

ist Segen da. Das sind Wellen der Inspiration, die das Herz, unser Wesen wärmen. Sie inspirieren uns,

lassen uns warm werden, geben uns die Kraft, vorwärts zu gehen, die Kraft, unsere Anliegen

umzusetzen und Hindernisse zu überwinden. Das wären die Worterklärungen zum ersten Vers.

Teilnehmerin: Ich habe Segen als Ausstrahlung eines Meisters verstanden. Würde das heißen, dass ich

den Segen erlange, egal ob er ihn mir gibt oder nicht? Ich muss nicht formell darum bitten. Oder was

ist der Unterschied, formell um den Segen bitten und der Ausstrahlung, die er natürlich hat?

Das ist eine gute Frage. Im Grunde genommen ist die Segenskraft nie unterbrochen. Die Ausstrahlung

ist immer da, und indem wir bitten, öffnen wir uns. Wo es vielleicht ein bisschen verschlossen war,

öffnen wir uns, und dadurch kann uns diese Inspiration erreichen. Das ist das Vertrauen in uns. Indem

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wir auf diese Weise bitten, drücken wir Vertrauen aus, und Vertrauen ist die Kraft, die unser Herz

öffnet. Dadurch kann – bildlich gesprochen – der Segen eintreten, aber im Grunde genommen öffnen

wir uns nur. Wir lassen Barrieren wegfallen und dadurch kommen wir in den Strom des Segens hinein.

Dann ist es also unabhängig davon, ob der Meister in dem Moment anwesend ist oder nicht?

Ja, genau! Und wenn man noch genauer nachfragt, dann ist es so, dass die Quelle des Segens nicht der

Meister als Person ist, sondern der Dharmakaya, der Wahrheitskörper. Die Dimension des Erwachens

selbst ist Quelle des Segens.

Teilnehmer: Du sagtest eben, die Übertragung ging von Saraha aus zu Maitripa. War das ein leben-

der Yogi oder ist das Buddha Maitreya?

Zwischen Saraha und Maitripa waren schon noch ein paar andere Meister. Maitripa war ein lebender

Yogi, der von Marpa extra noch aufgesucht wurde. Auch Naropa hatte Unterweisungen von Maitripa

erhalten und fand, dass Marpa direkt zur Quelle dieser Unterweisungen gehen sollte, wo er sie auch

erhalten hat. Sie alle waren Zeitgenossen. – Übrigens ist dieser spitzige Hut, den Gendün Rinpotsche

getragen hat, aus der Linie von Maitripa. Das war der Hut von Maitripas Mahamudra-Linie.

Ihr merkt, dass dieser erste Vers eine Anrufung ist und im Grunde genommen dieselbe Qualität der

Hingabe und Öffnung ausdrückt wie das Zufluchtnehmen, wenn wir uns für die Zuflucht öffnen. Und

diese Funktion hat der Vers auch. Im Rahmen dieser Praxis ist dies hier die Zuflucht mit der Bitte um

Unterstützung für den Weg.

Das Bodhicitta des Strebens

Der nächste Vers ist ein Wunsch, ein Ausdruck von Bodhicitta. Wir lassen die Vision entstehen, dass

alle Lebewesen das Erwachen erlangen werden und zwar in Form eines Wunsches.

2. Vers

Mögen die Ströme heilsamen Handelns, die vom Schneeberg

der reinen Absichten von mir und all den zahllosen Wesen entspringen

ungetrübt vom dreifachen Wirkkreis

in den Ozean der vier Körper der Siegreichen münden.

Wir stellen uns vor, Karmapa sitzt am Meer und ist sich bewusst von woher das Wasser der großen

Ströme Chinas kommt. Es kommt aus dem Himalaya, von den Schneebergen Tibets. Karmapa nimmt

dieses Bild und übersetzt es in die spirituelle Praxis. Wasser ist das Lebenselixier überhaupt, und das

Lebenselixier des spirituellen Weges ist heilsames Handeln. Die Ströme heilsamen Handelns sind

dann besonders nahrhaft, sind dann besonders rein, wenn sie von reinen Absichten ausgehen, also

wenn die Motivation möglichst wenig ichbezogen und möglichst offen ist, möglichst weit, möglichst

tief auf das Wohl aller Lebewesen bezogen. So wie Schnee das Symbol von Reinheit ist, so ist diese

reine Motivation wie ein prächtiger Berg, der in der Sonne leuchtet. Er ist so rein, so klar, und das ist

das Edle in den reinen Absichten aller Lebewesen, die immer wieder dazu führen, dass Väter und

Mütter sich um ihre Kinder kümmern, dass Menschen sich untereinander helfen, dass uneigennützig

gehandelt wird. Überall lassen sich uneigennützige Motivationen finden.

Damit heilsame Handlungen wirklich rein sind, müssen sie frei von der dreifachen Fixierung sein, dem

dreifachen Wirkkreis. Tri-Mandala bedeutet das Kreisen in einer dreifachen Fixierung auf Subjekt,

Objekt und der Handlung, die zwischen Subjekt und Objekt stattfindet. Wir denken normalerweise

selbst beim heilsamen Handeln, dass ich es bin – Subjekt –, der dem Anderen – Objekt – etwas Gutes

tut – Handlung. Ich tue dem Anderen etwas Gutes. Darin sind eine Menge Fixierungen versteckt, da

hat die Identifikation ihre Wurzeln. Das Tri-Mandala, diese dreifache Fixierung, dieser dreifache

Wirkkreis ist im Grunde genommen unsere Ichbezogenheit.

Der Wunsch bedeutet: Möge sich alles heilsame Handeln von Ichbezogenheit befreien. Mögen auch

die Absichten frei von Ichbezogenheit sein. Mögen dadurch diese nahrhaften Ströme heilsamen

Handelns wirklich in den Ozean des Erwachens fließen können. Dieser Ozean des Erwachens wird

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Ozean der vier Körper der Siegreichen genannt, der vier Kayas. Das bedeutet hier einfach vollkom-

menes Erwachen, vollkommene Buddhaschaft, kein geringeres Erwachen als das. Das ist die Haupt-

botschaft der letzten Zeile.

Die Kayas, die Aspekte des Erwachens, sind:

Dharmakaya – Wahrheitskörper, die vollkommen offene Geistesdimension, die aber dynamisch ist:

Sambhogakaya – Freudenkörper, der zu dynamischen Manifestationen des Geistes führt, die sich

ihrerseits dann auch wieder konkret manifestieren:

Nirmanakaya – Ausstrahlungskörper, die wahrnehmbare, konkrete Manifestation.

Wir haben also den Ausstrahlungskörper als das Wahrnehmbare, den Sambhogakaya als die dyna-

mische Energie, die dem völlig offenen, grenzenlosen, mittelpunktslosen Dharmakaya innewohnt. Da-

mit wir ja nicht auf die Idee kommen, dass es sich um drei verschiedene Körper, verschiedene Aspekte

handelt, gibt es den Svabhavikakaya, das ist der Essenzkörper. Damit wird darauf hingewiesen, dass

die drei eins sind.

Kaya bedeutet nicht Köper im physischen Sinn. Es ist auch im Sanskrit so wie im Deutschen und in

anderen Sprachen, dass kaya die Gesamtheit von etwas bedeutet, z.B. der Lehrkörper ist die Gesamt-

heit der Lehrer einer Schule. So war der Korpus der Lehrreden Buddhas die Gesamtheit der Lehrreden

des Buddhas. Körper der Lehrreden war die allererste Bedeutung von Dharmakaya. Später hat sich

dieser Begriff entwickelt und steht für das Stabile, Verlässliche, das die Gesamtheit des Erwachens

beinhaltet. Diese Aspekte, all das, was zum Erwachen gehört, wird als offene, leere Geistesnatur mit

ihrer Dynamik und ihren Manifestationen beschrieben, die eine Einheit bilden. Das sind die vier

Kayas. Die vier Kayas, speziell Dharmakaya und Svabhavikakaya können auch anders erklärt werden,

sie können auch gegeneinander ausgetauscht werden. Aber die Erklärung, die ich euch jetzt gegeben

habe, ist die Standard-Erklärung, mit der es sich ganz gut leben lässt.

Mit dem zweiten Vers ist gemeint, dass wir unser Bodhicitta spüren. Wir spüren den Wunsch, dass

alle Lebewesen frei sein mögen, und wir drücken den Wunsch so aus, dass wir unser Verständnis von

Karma mit einbeziehen. Wir wissen, dass die Lebewesen nur frei werden können, dass sie das voll-

kommene Erwachen nur dann erlangen können, wenn die Ströme ihres Handelns – ihres Denkens,

Sprechens und physischen Handelns – von Ichbezogenheit gereinigt werden. Dieses Verständnis

drückt sich in dem Wunsch aus: Mögen die Ströme heilsamen Handelns, die vom Schneeberg der

reinen Absichten von mir und all den zahllosen Wesen entspringen, ungetrübt vom dreifachen

Wirkkreis, also von Ichbezogenheit, dann auch tatsächlich in den Ozean des Erwachens münden. Das ist die Bedeutung des Wunsches. Dieser Wunsch beinhaltet die Kontemplation über Karma, über

die Leidhaftigkeit von Samsara, über das, was zu diesem Leiden in Samsara führt – nichtheilsames

Handeln, das aus Absichten gespeist ist, die auf Ichbezogenheit beruhen. Wir machen den Wunsch,

dass sich genau das umdreht, und dass es keine verseuchten Ströme sind, die da fließen, sondern dass

sich die Ströme dann in völliger Reinheit in den vollkommen reinen Ozean des Gewahrseins aller

Buddhas ergießen können. Das alles ist in diesem zweite Vers enthalten, und sicherlich noch mehr.

Teilnehmer: Du hast gesagt, Dharmakaya sei die völlig offene Geistesdimension. Ich stolpere immer

über das Wort Dimension. Könnte man statt Geistesdimension einfach Geist sagen oder was fügt

dieses Wort Dimension da noch hinzu?

Dharmadhatu und Dharmakaya sind hier Synonyme. Es ist das Wort dhatu, das ich hier mit Dimen-

sion bezeichne. Im Grunde genommen fügt es dem nichts zu sondern will einfach etwas vermeiden.

Völlig offener Geist reicht aus, soll aber auch nicht vergegenständlicht werden. Es soll das Gefühl

dafür entstehen, dass sich wirklich ein Raum öffnet, dass es sich nicht um das Auffinden eines Geistes

handelt, sondern um das Eintreten und sich Auflösen in einer Erfahrungsdimension. Das ist eigentlich

damit gemeint.

So könnte man auch sagen Geistesraum? Das find ich besser.

Ja, gut, danke! Offener Geistesraum. Diese Wörter haben sich bei mir vielleicht eingebürgert, weil ich

ständig auf Englisch und Französisch unterrichte. Dann schleichen sich diese lateinischen Wörter ein.

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Das Bodhicitta der Anwendung

Die beiden nächsten Verse behandeln das angewandte Bodhicitta, den Geist des Erwachens der

Anwendung. Es geht um die innere Verpflichtung, unsere Wünsche auch tatsächlich in die Praxis

umzusetzen.

3. Vers

Solange dies nicht verwirklicht ist, wie lange es auch dauern mag,

mögen wir Geburt um Geburt in allen Leben

nicht einmal die Worte „schädliches Handeln” und „Leiden” kennen,

sondern uns der Pracht eines Ozeans heilsamer Handlungen und des Glücks erfreuen.

Das ist der Beginn der inneren Verpflichtung, die im nächsten Vers noch weiter gehen wird. Da geht

es dann darum, in all diesen Leben, von denen hier gesprochen wird, bei günstigen Bedingungen

tatsächlich den Dharma zu praktizieren bis dann alle Lebewesen befreit sind.

Der Anfang hier ist, solange dies nicht verwirklicht ist, d.h. solange die Geistesströme der Lebewesen

noch nicht in den Ozean des erwachten Gewahrseins gemündet sind, solange mögen sie immer bessere

Bedingungen finden. Mögen sie hervorragende, die besten Bedingungen finden, um praktizieren zu

können, Geburt um Geburt. Hier taucht die Kontemplation über den Daseinskreislauf noch einmal auf.

Denn solange sie nicht befreit sind, werden sich Lebewesen Geburt um Geburt auf Grund ihrer Muster

immer wieder in verschiedenen Daseinsformen manifestieren. Und was sie gefangen hält, ist, dass sie

sich immer wieder in schädlichen Handlungen und Leid verstricken.

Wenn es dann heißt, dass wir nicht einmal die Worte „schädliches Handeln“ und „Leiden“ kennen,

so muss man wissen, wie diese typisch tibetische Ausdrucksweise gemeint ist. Etwas nicht zu kennen,

bedeutet, es nicht zu erfahren. Man benutzt Worte für das, was man erfährt. Das bedeutet also, dass

der Weg der Lebewesen nicht einmal durch die Erfahrung von Leiden und schädlichen Handlungen

behindert werden möge, sodass sie sich damit nicht herumschlagen müssen, sondern dass sie sich

direkt auf den Dharma ausrichten können. Im Grunde genommen ist das so etwas wie unser Wunsch,

in Dewatschen, in Sukhavati geboren zu werden. Dass wir Bedingungen finden, die unsere Emotionen

nicht stimulieren, dass wir uns also nicht erneut verwickeln, sondern einfach abarbeiten können, was

an Projektionen von selbst in unserem Geist auftaucht. Im Grunde genommen ist es also der Wunsch,

in möglichst reinen Bereichen geboren zu werden und dort die Praxis ohne Hindernisse ausführen zu

können.

Sodass wir uns der Pracht eines Ozeans des Glücks und der heilsamen Handlungen erfreuen. Das

sind Gegensatzpaare: schädliche Handlungen – heilsame Handlungen, Leid – Glück. Leid ist die Folge

von schädlichen Handlungen. Glück, Freude ist die Folge von heilsamen Handlungen. Damit ist wie-

der eine Kontemplation über Karma, über Ursache und Wirkung angedeutet. Der Wunsch bedeutet

also auch, dass wir allen Lebewesen wünschen, dass sie alle Gelegenheiten nutzen, heilsam zu han-

deln, damit sie dadurch in glückliche, freudvolle Lebensumstände hineinfinden, wo sie dann auch viel

leichter die Bedingungen finden, um den Dharma in seiner ganzen Tiefe zu praktizieren.

Zum Wort Pracht, die Pracht eines Ozeans: Das tibetische Wort päl hat verschiedene Konnotationen.

Es bedeutet Strahlkraft, Glanz, Pracht, auch Segenskraft. Es gibt ein deutsches Sprichwort: „Nichts ist

eine schönere Zierde des Menschen als sein heilsames Tun.“ Es ist wirklich prachtvoll, sehr inspirie-

rend, wunderschön anzuschauen, wenn sich heilsames Handeln vollzieht. – Heilsames Handeln

beinhaltet auch Denken und Sprechen. Immer wenn das Wort Handeln im Dharma auftaucht, ist damit

Handeln mit Körper, Rede und Geist gemeint. Wir gestalten unser Leben gar nicht so sehr durch unser

physisches Handeln, sondern vor allen Dingen durch unser Denken. Das Denken geht ja immer dem

physischen Handeln und dem Sprechen voraus. Also ist Handeln im Grunde genommen Denken, es

geht um die Absicht. Wenn man es genau ausdrücken will: Es ist die Absicht, die unseren Gedanken

und unseren Worten und unseren physischen Handlungen voraus geht.

Der Wunsch beinhaltet also, dass alle Lebewesen ganz im Heilsamen aufgehen, dass ihr Denken ganz

auf das Heilsame ausgerichtet ist und dass ihnen der Gedanke an schädliche Handlungen überhaupt

nicht kommt. Das bedeutet, dass sie nicht einmal das Wort schädliche Handlung kennen, der Gedanke

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kommt ihnen nicht, der Geist geht nicht in diese Richtung. Wir machen den Wunsch, dass alle natür-

licherweise in die Richtung des Heilsamen gehen.

Teilnehmer: Für mich heißt das auch, den Geist dann wirklich zu disziplinieren. Worte und Handeln

sind das eine, aber den Geist zu disziplinieren oder auch im positiven Sinne zu kontrollieren, also

diese Disziplin aufzubringen ist unglaublich schwer, finde ich. Weil es wie so eine Eigendynamik hat.

Völlig richtig. Ich erinnere mich gerade, während du sprichst, an diesen berühmten Satz, der die Lehre

Buddhas zusammenfasst: „Vermeide schädliches Handeln, kultiviere Heilsames und zähme deinen

Geist!“ Das ist die Grundbotschaft des Dharma. Und dieses Zähmen oder Disziplinieren weckt genau-

so irreführende Assoziationen wie das Wort Kontrolle. Zähmen bedeutet im Grunde genommen an der

richtigen Stelle loslassen. Das ist mit zähmen gemeint, entspannen. Wir könnten auch sagen: Meistere

deinen Geist! Das heißt: Finde einen Weg, sodass der Geist zu seinen natürlichen Qualitäten findet

und in sich ruht und dann aus sich heraus, aus den Qualitäten heraus denkt und handelt. Das ist mit

Disziplinieren gemeint.

Manchmal hat man das Gefühl es ist eine positive Handlung aber vielleicht ist es ja dann doch keine.

Wir kommen nicht drum herum, noch mehr Achtsamkeit, noch mehr Gewahrsein zu entwickeln.

Teilnehmerin: Ich finde es immer schwierig, mir überhaupt bewusst zu werden, was ich alles denke

und was daraus folgt. Wenn du sagst keine Kontrolle, so ist für mich erstmal wichtig, mir überhaupt

bewusst zu werden, was ich alles denke, sonst agiere ich einfach so und es gibt keine Änderung in

dem, was ich tue und sage.

Völlig richtig. Ein Beispiel für heilsame Kontrolle: Wenn mein Geist ganz aufgewühlt ist, sage ich

mir: „O.k. Jetzt wenigstens auf den Atem achten. Kontrolliere den Geist und achte auf das Ein- und

Ausströmen des Atems!“ Das ist eine Form von Kontrolle. Wir haben hier wieder das gleiche Phäno-

men zu beobachten, wie es gestern auch bei einer Frage beschrieben wurde: Indem wir den Geist

kontrolliert auf das Atmen ausrichten, müssen wir gleichzeitig etwas anderes loslassen. Wir lassen

gleichzeitig die emotionalen Impulse los und bleiben bei etwas Neutralem, Beruhigendem. Wir nutzen

also unsere Kraft, den Geist zu lenken. Wir lenken ihn bewusst auf ein heilsames Objekt, einen Be-

zugspunkt, und dadurch können die Impulse, die immer noch auftauchen, sich nicht ausbreiten. Wir

nennen das Kontrolle, aber in der Kontrolle sind sowohl ein Lenken, wie auch ein Loslassen. Das

meinte ich mit „an der richtigen Stelle loslassen.“

Lasst uns 10 Minuten meditieren oder – besser gesagt – kontemplieren. Ihr habt Unterweisungen ge-

hört. Jetzt lasst den Blick noch einmal auf diese ersten drei Vierzeiler fallen und kontempliert, was für

eine Bedeutung das für euch hat, wo es euch berührt, wo es vielleicht eine kleine Veränderung im

Geist auslöst. Beim Kontemplieren wird uns auch klar, was wir eventuell noch für offene Fragen

haben. Es ist gut, sich die bewusst zu machen und sich eventuell sogar zu notieren. Und an das Kon-

templieren schließt sich dann eine noch entspanntere Form des Seins an, das Hinübergleiten in nicht-

begriffliche Meditation. Dann ruhen wir uns einfach aus in der Nachwirkung des Verstehens, des

Erkennens. Wir können auch sagen, wir ruhen im Segen in der Inspiration.

4. Vers

Dieser Vers bringt die Fortsetzung dieser Bodhicitta-Wünsche für alle Leben. Es geht hier um die

Voraussetzungen, die wir brauchen, damit unser Anliegen auch in Erfüllung geht.

Mögen wir die höchsten Freiheiten und Errungenschaften erlangen

und mit Vertrauen, Energie und Weisheit vortrefflichen spirituellen Lehrern folgen,

den Nektar ihrer Unterweisungen erhalten, sie richtig anwenden

und ohne irgendwelche Hindernisse in allen Leben den wahren Dharma praktizieren.

Das ist es, was wir brauchen, um mit unserer Praxis Erfolg zu haben. Die höchsten Freiheiten und

Errungenschaften ist ein zusammenhängender Ausdruck für das kostbare Menschendasein. Wir

sprechen da von den acht Freiheiten und zehn Errungenschaften. Dabei geht es darum, frei zu sein von

hinderlichen Umständen – z.B. anderen Daseinsformen, in denen wir den Dharma nicht praktizieren

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können – oder von Bedingungen innerhalb des Menschendaseins, die den Geist so aufwühlen, bzw.

ihn so vernebeln, dass wir nicht in der Lage sind, den Dharma zu verstehen.

Mit Errungenschaften ist gemeint, dass wir etwas als Folge von etwas Vorangegangenem erlangen, es

ist Karma. Die ersten fünf sind Bedingungen, die gar nicht direkt von uns abhängen: Dass ein Buddha

in der Welt erschienen ist, dass er gelehrt hat, dass seine Lehre erhalten ist, dass sie gelehrt wird und

dass es Unterstützer für das Praktizieren der Lehre gibt. Das sind also Bedingungen, wie wir sie z.B.

hier finden. Die anderen fünf hängen von uns selber ab und sind auch Ausdruck von Kräften, die wir

in früheren Zeiten freigesetzt haben und die jetzt in uns bewirken, dass wir z.B. Vertrauen empfinden,

wenn wir den Dharma hören. Wir erkennen dann, dass es sich um etwas handelt, das unserer

Aufmerksamkeit würdig ist. Das ist etwas, das wir auf Grund einer Vorarbeit erlangt haben. Genauso

wie die äußeren Bedingungen, dass es heute noch den Dharma gibt, auf der Vorarbeit von Millionen

von Dharmapraktizierenden beruhen, die seit 2500 Jahren immer wieder die Bedingungen zur

Verfügung stellen, dass praktiziert werden kann.

Ein kostbares Menschendasein ist das Zusammentreffen dieser Bedingungen. Dass wir hier sitzen,

bedeutet, dass wir ausreichend Freiheit in unserem Leben haben, um zu einer Dharmaveranstaltung

fahren zu können, dass wir ausreichend Vertrauen haben, um uns genau solch eine Aktivität auszu-

suchen und ihr unsere Zeit zu widmen. Wir haben Vertrauen in den Dharma. Und wir können uns in

einem Raum treffen, in dem der Dharma angemessen unterrichtet werden kann, wo gute Bedingungen

zusammen kommen, dass er gelehrt, aufgenommen und gemeinsam praktiziert werden kann. In dem

Moment ist das Menschendasein wirklich kostbar, weil alle Bedingungen zusammengekommen sind.

Formell bedeutet das, dass wir Zuflucht nehmen. Unser Menschendasein wird im formellen Dharma

dann zu einem kostbaren Menschendasein, wenn wir uns wirklich auf die Dharmapraxis einlassen.

Das ist der Fall, wenn wir Zuflucht zu Buddha, Dharma und Sangha nehmen. Wir richten uns auf

Buddha, auf das Erwachen aus, auf den Dharma als die Unterweisungen und den Weg zum Erwachen,

und wir richten uns aus auf die Sangha als Helfer auf dem Weg, das sind diejenigen, die den Weg

schon kennen und uns helfen können. In dem Moment, wenn das stattfindet, wird unser bloßes

Menschendasein speziell kostbar, weil es jetzt dem höchsten Sinn dienen kann. Weil uns klar wird, es

geht nicht nur darum, weiter in den bisherigen Mechanismen zu kreisen, sondern Befreiung zu erlan-

gen, ins Erwachen hinein zu gehen.

Das ist mit dieser ersten Zeile gemeint, dass wir in allen Leben diese Bedingungen finden werden, die

es braucht, um dem Dharma zu begegnen und ihn tatsächlich auch hören zu können und uns darauf

auszurichten.

Speziell das Vertrauen wird noch einmal separat aufgeführt, obwohl es schon zu den Errungenschaf-

ten gehört. Vertrauen ist das zentrale Element, das unseren Weg ausmacht. Nun gibt es verschiedene

Arten von Vertrauen. Das wesentliche Vertrauen, um das es hier geht, ist, dass Erwachen möglich ist.

Das ist das Wesentliche. Dass es möglich ist, Befreiung zu erlangen, dass etwas in uns spürt, „Ja,

doch! Ich habe das Gefühl, das ist möglich.“ Das ist das beginnende Vertrauen. Dann das Vertrauen,

dass es einen Weg dorthin gibt, dass es möglich ist, aus der Verwirrung von jetzt in dieses Erwachen

zu gelangen. Das Vertrauen, dass es Methoden gibt, die mir auf diesem Weg helfen. Das Vertrauen,

dass mir diese Methoden zur Verfügung stehen und im Dharma gelehrt werden, der Dharma also diese

Methoden birgt und sie uns aufgezeigt werden. Und dann kommen weitere Arten des Vertrauens, wie

das Vertrauen in die Sangha, in die Helfer, in die Lehrer. Das sind zusätzliche Aspekte des Vertrauens.

Das Vertrauen, dass wir aus unserem verwirrten Zustand ins Erwachen gelangen können, ist dasselbe

wie das Vertrauen in das Gesetz von Ursache und Wirkung. Wir sehen, dass Verwirrung ihre Ursachen

hat und dass sich die Verwirrung legt, wenn wir diese Ursachen nicht mehr erzeugen und all das, was

an Folgen noch auszubaden ist, loslassen. Wir können in jedem Moment konkret mit unserem Geist

arbeiten, um diese Richtung ins Erwachen beizubehalten und immer weiter in diese Richtung zu

gehen. Wir können jeden Moment im Geist ein wenig offener sein, ein wenig entspannter, das

Gewahrsein weiten, wenn wir an andere denken als Gegenmittel für unsere Ichbezogenheit, wenn wir

der Vergänglichkeit gewahr werden, der Ursache- und Wirkungsbeziehungen gewahr werden. All das

sind die Möglichkeiten, die Methoden, von denen ich sprach. Es geht gar nicht so sehr darum, welche

konkrete Praxis ich ausführe, ob es Vajrasattva ist oder ob ich Verbeugungen mache oder stille

Meditation praktiziere. Das sind auch Mittel, aber die eigentlichen Mittel sind die Instruktionen

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darüber, wo wir hinzuschauen haben, um die Schlüssel im Schloss umdrehen zu können, um

bestimmte Knackpunkte lösen zu können, Essentielles verstehen zu können. Dabei helfen uns dann

zusätzliche Methoden.

Dies ist also mit Vertrauen gemeint, und Vertrauen ist vermutlich die wichtigste Qualität auf dem Weg

des Erwachens. Vertrauen selber ist auch ein Anzeichen dafür, dass wir bereits einen gewissen Weg

zurückgelegt haben. Wir säßen nicht hier, wenn wir dieses Vertrauen nicht hätten. Wir würden es nicht

empfinden, wenn wir nicht durch eine Ausrichtung auf das Heilsame immer mehr Interesse an dem,

was wirklich hilft, entwickelt hätten. Wir sind alle auf der Suche nach dem, was wirklich hilft. Das ist

diese Grundmotivation, die dazu führt, dass wir dann auch erkennen, wenn uns etwas Heilsames be-

gegnet. Dass wir dem Dharma begegnen und erkennen können, dass es sich da um etwas zutiefst

Heilsames handelt, ist Ausdruck dieser Vorarbeit, die wir schon geleistet haben.

Jetzt geht es noch darum, das Gehörte mit Energie, mit freudiger Ausdauer umzusetzen, Weisheit zu

entwickeln, also das Unterscheidungsvermögen zu schulen, um zu wissen, was schädlich und was heil-

sam ist. Was zum Erwachen führt und was nicht zum Erwachen führt.

Weisheit – sherab auf Tibetisch, prajna auf Sanskrit – ist das, worum es geht. Zunächst einmal ist es

die Weisheit zu wissen, was ich jetzt gleich tun werde, was das Wichtige ist, heute. Trungpa

Rinpotsche sagte, prajna beginnt damit, zu wissen wie man sich die Zähne bürstet. Das ist weltliche

Weisheit. Weltliche Weisheit beginnt damit, zu wissen wie wir uns in der Welt zurechtfinden. Und

jetzt geht es um die Weisheit zu wissen, wie wir aus diesen dualistischen Mustern herausfinden, wie

wir aus dieser Ichbezogenheit herausfinden. Was uns gut tut, was wirklich heilsam für uns und für

andere ist.

Mit diesen drei Qualitäten – Vertrauen, Energie und Weisheit – werden wir uns auf den Dharma

einlassen und spirituellen Lehrern folgen – authentischen, kompetenten Lehrern. In Ermangelung von

Lehrern können es zunächst einmal auch Dharmatexte sein. Nehmen wir an, wir würden in einem

afrikanischen Land leben, wo der Dharma noch sehr schwer zu finden ist, dann könnten wir zumindest

über das Internet Texte herunterladen und könnten schon einmal damit beginnen, den Weg zu gehen.

In Ermangelung eines Lehrers haben die Dharmatexte die Funktion des Lehrers. Und doch ist es so,

dass auf dem Weg die Notwendigkeit entsteht, lebenden Meistern zu begegnen, die uns helfen, aus der

großen Vielfalt der Dharmatexte nicht einfach das herauszunehmen, was unseren Mustern entspricht,

sondern auch die schwierigen Punkte anzugehen. Auch dorthin zu schauen, wo wir sonst nicht hin-

schauen. Dafür sind die lebenden Meister da. Sie helfen uns, die individuelle Feineinstellung vorzu-

nehmen, zu wissen worauf wir jetzt gerade in unserem Leben die Prioritäten zu legen haben. Denn die

Vielfalt der Dharmaunterweisungen ist überwältigend, und wir würden mit unserem normalen Ver-

ständnis eine Selektion für unsere Praxis und an Unterweisungen treffen, die auch von unseren

Emotionen geprägt ist. – Auch von unserer Weisheit, aber eben auch von den Mechanismen der Ich-

bezogenheit. Wir würden tunlichst einiges beiseite schieben, was unangenehm ist. Bestimmte Unter-

weisungen treffen bei uns auf Widerstand, und da braucht es eben auch die Lehrer, um uns ganz

geschickt und liebevoll dahin zu führen, auch die Bereiche auszuloten wo wir stärkere Widerstände

haben. Alles zu seiner Zeit, aber ohne Lehrer würden wir es vermutlich nicht tun.

Was authentische Lehrer sind, werde ich jetzt nicht im Einzelnen besprechen. Im „Schmuck der Be-

freiung“ sind die Qualitäten aufgelistet, die es braucht, um als spiritueller Freund gelten zu können –

acht, vier oder zwei Qualitäten. Die erste der beiden Qualitäten, die nun wirklich notwendig sind, ist,

niemals das Bodhicitta zu verlassen, selbst um des eigenen Lebens willen. Das Bodhisattva-Gelübde,

nie zu beschädigen, nicht zu brechen, selbst wenn das eigene Leben auf dem Spiel steht. Es ist also

eine totale Hinwendung zu allen Lebewesen, die selbst dann nicht in Frage gestellt wird, wenn das

eigene Leben in Gefahr ist. Als zweiter Punkt ist eine gute Kenntnis der Mahayana-Schriften, also im

Grunde genommen des Dharma, notwendig. Eine gute Kenntnis bedeutet aber eine wirklich gute

Kenntnis, eine sehr umfassende Kenntnis. Wenn man sich allein nur diese beiden Punkte anschaut,

kann man sehen, dass solche vortrefflichen Lehrer selten zu finden sind. Sie sind äußerst kostbar und

an sie sollten wir uns halten. Wenn diese Motivation, allen Wesen heilsam zu begegnen und sie zum

Erwachen zu führen, noch nicht stabil ist, dann bedeutet das auch, dass der Lehrer/die Lehrerin noch

nicht so weit in der Reinigung, im Auflösen der Ichbezogenheit fortgeschritten ist und immer noch

Schattenseiten haben mag, die das Unterrichten des Dharma verzerren. Das sollten wir einfach wissen.

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Wer mehr über die Qualitäten von Lehrern wissen möchte, kann im „Schmuck der Befreiung“ nach-

lesen, um es genauer zu erfahren.

Wenn wir solche authentische Lehrer gefunden haben, dann bitten wir sie, uns zu unterrichten, denn

nur dann unterrichten sie. Wir kommen zu den Unterweisungen mit dem Wunsch sie umzusetzen, und

im Grunde genommen verpflichten wir uns auch, eine Unterweisung umzusetzen, wenn wir um sie

gebeten haben – zumindest sie auszuprobieren, darum geht es. Umsetzen bedeutet ausprobieren. „Ich

werde es ausprobieren und ich werde diesen Nektar der Unterweisungen nicht vergeuden.“

Ich weiß noch, welche Beziehung meine Mutter zur Milch hatte. Wenn ich Milch umgeschüttet hatte,

so war das eine Katastrophe. Milch war so was Kostbares. Jetzt stellt euch den Dharmanektar vor. Die

Unterweisungen sind so etwas unglaublich Kostbares! Wenn man die vergeudet, quasi umschüttet,

vergammeln lässt, so ist das viel schlimmer als andere Formen von Nahrung nicht gut zu nutzen. Das

ist mit diesem Bild vom Nektar der Unterweisungen gemeint. Das ist mehr als göttlicher Nektar, es ist

Weisheitsnektar, es ist Befreiungsnektar. Es ist das, was das Potential in sich birgt, Lebewesen zum

vollkommenen Erwachen zu führen. Das wirklich zu schätzen, bedeutet natürlich auch, dass wir uns

bemühen werden, diesen Nektar gut zu nutzen und umzusetzen. Dabei braucht niemand große Klasse

oder ein großer Meister zu sein. Wir setzen sie um so gut wir können und kommen dann mit unseren

Fragen wieder zu kompetenten Begleitern und bleiben im Austausch über unsere Dharmapraxis,

sodass wir allmählich tiefer in das Verständnis eindringen.

Dabei können Hindernisse auftreten, es können äußere oder innere Hindernisse sein. Äußere Hinder-

nisse sind Lebensbedingungen, die unserer Praxis einen solchen Schlag versetzen, dass wir es nicht

schaffen, sie aufrecht zu erhalten. Innere Hindernisse sind in erster Linie Zweifel, starke Emotionen,

die vorübergehend unseren Geist so verschleiern, dass wir es nicht mehr schaffen, die Unterweisungen

anzuwenden. Natürlich sind äußere Hindernisse nur insofern wirksam, als sie in uns innerlich eine

Reaktion auslösen und zu inneren Komplikationen führen. Ein äußeres Hindernis muss also nicht

unbedingt ein Hindernis für unsere Praxis sein, es kann auch eine Stimulation sein. Das hängt davon

ab, wie wir uns damit in Beziehung setzen. Und ein inneres Hindernis – eine aufsteigende Emotion

oder ein starker Zweifel – braucht gar nicht unsere Praxis zu untergraben, sondern kann geradezu

Anlass sein, eine neue Schattenseite anzuschauen und gezielt nach Auflösung dieser Zweifel, dieser

Fragen zu suchen, uns darum zu kümmern. Ein Hindernis kann also im Grunde genommen ein Motor

für unsere Praxis sein.

Kein Hindernis führt zwangsläufig zum Unterbrechen der Praxis. – Egal wie schlimm die Krankheit

ist. – Ich habe von bewundernswerten Meistern gehört, die selbst in Konzentrationslagern der Chine-

sen ihre Praxis nicht verloren sondern sie sogar vertieft haben. Es ist also prinzipiell möglich, selbst in

schlimmsten Situationen zu praktizieren. Aber wir sind eben noch nicht so flexibel im Geist. Es kann

uns passieren, dass uns die Praxis einmal wegrutscht und dann kann es sein, dass wir ein paar Tage,

Wochen, Monate, Jahre nicht mehr dazu kommen, unser eigentliches Anliegen zu verfolgen. Wir

waren ursprünglich mit dem Wunsch gestartet, unser Anliegen umzusetzen, haben es allerdings aus

dem Blick verloren und meinen, nicht mehr die Kraft zu haben, es umsetzen zu können. Das ist

natürlich schade. Wenn uns das passiert, so sind das verlorene Tage, Stunden oder verlorene Jahre in

unserem Leben, kann man sagen, oder wir haben eine Situation verpasst.

Dieser Wunsch beinhaltet, dass es für diese Lebewesen, die sich auf den Weg begeben, für mich und

alle anderen, keine solchen Aussetzer gibt. Wenn es also heißt ohne irgendwelche Hindernisse, so

bedeutet das nicht, dass wir frei bleiben mögen von allem, was unsere Praxis erschwert. Es bedeutet,

dass nichts, was uns widerfährt, die Kraft haben möge, unsere Praxis zu unterbrechen, sondern alles

zur Praxis gemacht werden kann. Wenn wir in allen Leben den Dharma in dieser Weise praktizieren,

vollzieht sich der Weg ganz, ganz schnell. Wir kommen sehr schnell zu Einsichten, wir kommen sehr

bald dazu, mehr Gewahrsein zu üben um bestimmte Schleier aufzulösen.

Das wären die Erklärungen zum vierten Vers, zu den Voraussetzungen die es braucht, um den Dharma

zu praktizieren.

Teilnehmer: Oft sieht man ja Menschen, die unheimlich gutes Karma haben. Sie haben Wohlstand,

weltliche Weisheit, Gesundheit. Das kommt ja nicht von ungefähr. Trotzdem haben sie die Verbindung

ja doch irgendwo verloren. Die stürzen teilweise wieder ab. Da wollte ich wissen, was man abgesehen

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vielleicht von Gebeten tun kann, sozusagen die Verbindung zu halten von Leben zu Leben zu Leben,

dass es einem nicht so passiert.

Du denkst an Menschen, die auch schon intensiven Kontakt mit dem Dharma hatten? Oder sprichst du

einfach von Menschen, die sehr gute äußere Bedingungen hatten?

Teilnehmer: Intelligenz ist ja, wenn ich es richtig verstanden habe, früher einmal eine Schulung in

Weisheit gewesen. Wenn jemand sehr reich ist, hat er viel Freigebigkeit praktiziert. Jemand ist gesund

etc., er hat eigentlich extrem viel Heilsames vollzogen. Wenn das bei Leuten so extrem ausgeprägt ist,

vermute ich mal, müssten sie einen spirituellen Pfad gegangen sein. Sie haben hohe Ausprägungen als

Ergebnis tugendhafter Handlungen und trotzdem gibt es, wie man es gerade in unserem Kulturkreis

sieht, Menschen, die überhaupt keinen Bezug mehr zum spirituellen Pfad haben und auch nicht mehr

eine Haltung ähnlich der Ursache, sondern sie kippen völlig ins andere Gegenteil ab. Meine

persönliche Frage ist dann: Jetzt hat man eine Verbindung, man bemüht sich auf seinem Level, wie

halte ich diese Verbindung, abgesehen von Gebeten?

Diese Frage hat schon viele Generationen beschäftigt. Um diese Verbindung herzustellen, nutzen wir

die Kräfte der Ausrichtung vor der Praxis und die Kräfte der Ausrichtung nach der Praxis. Das nennen

wir Widmung. Wir sprechen von starker Aspiration, also von starkem Streben, von Zuflucht und

Bodhicitta vor der Praxis und von Widmung danach. Es geht darum, jede Aktivität, die wir ausführen,

mit dem Weg des Erwachens zu verbinden. Wenn das nicht geschieht, wenn es nicht einbezogen wird,

dann kommt es zu einem einseitigen Entwickeln von Qualitäten, Intelligenz usw. Wir sind z.B. auch

freigiebig, aber wir sind nicht freigiebig in Bezug auf das Erwachen aller Lebewesen, wir sind einfach

freigiebig um Gutes zu tun oder damit es dem anderen besser geht, aber wir haben nicht das länger-

fristige Ziel im Blick. Solches heilsames Handeln aus vergangenen Leben, heißt es, führt dazu, dass

Menschen zwar jetzt sehr viel Gutes erfahren, aber dieses Band zum Weg des Erwachens kaum

vorhanden ist, weil sie diese Anknüpfung nie gemacht haben. Es ging ihnen gar nicht darum. Es ging

ihnen darum, dass es Menschen innerhalb des Daseinskreislaufes einfach besser geht. Deswegen legen

gerade auch die Lehrer der tibetischen Tradition solch einen großen Wert darauf, dass wir ganz be-

wusst unsere alltäglichen Handlungen mit den Wünschen des Weges verbinden, so dass auch sie in

diesen Kontext gestellt werden. Dass sie gewidmet werden, und die Kraft der Widmung bedeutet, dass

die Freigiebigkeit, die wir gerade geübt haben, nicht nur zu einer guten Situation in der Zukunft führt,

sondern zu einer Situation, die eben auch für den Weg genutzt werden kann. Es ist dieses Widmen und

diese Ausrichtung, was diese Verknüpfung in unserem Geistesstrom herstellt. Es wird nicht äußerlich

verknüpft.

Wir sind z.B. Lehrer in einer Grundschule und unterrichten. Das ist erst einmal einfach eine Handlung,

wie sie jeder andere auch ausführt, der da unterrichtet. Dann aber geht es uns darum, in den Schülern

nicht nur ihr partielles Verständnis des Faches zu stärken, sondern in ihnen die Qualitäten zu wecken,

die sie auch für den Weg des Erwachens brauchen. Das heißt, für uns ist dieses Handeln in einem viel

größeren Kontext. Das bewirkt, dass auch die Früchte aus diesem Handeln dann diesem größeren

Kontext zugutekommen. Das ist die Kunst, bei allem bewusst zu sein, dass es sich um einen Teil des

eigenen spirituellen Weges handelt. Das wäre also der erste Teil, der wichtigere Teil der Antwort.

Der andere Teil ist, dass wir bemerken, dass auch Menschen, die schon einmal mit dem Dharma

Kontakt gehabt haben, Abstand nehmen. Das kann noch andere Gründe haben. Den wichtigsten Grund

sehe ich darin, dass sie sich während der Zeit, in der sie mit dem Dharma in Kontakt waren, nicht aus-

reichend mit der Essenz des Dharmas verbunden haben, sondern mit äußeren Formen. Mit Menschen,

mit Gruppen, mit einem äußeren, vielleicht auch intellektuellen Verständnis, und es ist nicht zu einem

ausreichenden Kontakt in der Tiefe gekommen. Wenn dieser tiefe Kontakt jedoch einmal entstanden

ist, dann können Menschen zwar sehr weit weggehen, z.B. nie mehr zu Unterweisungen kommen, aber

im Herzen geht die Praxis weiter. Die hört nicht auf, sie haben nicht wirklich eine Distanz zur Essenz

des Dharma, sondern nur zu den äußeren Formen, den Traditionen. Das bedeutet noch gar nicht so

viel, weil es in der Tiefe ja weiter geht. Das war der zweite Teil der Antwort für eine andere Gruppe

von Menschen.

Teilnehmerin: Ich habe eine Frage zu Dewatschen. Dieser Wunsch, in Dewatschen geboren zu

werden, ist für mich sehr abstrakt. Gibt es nicht Dewatschen auch in unserem Bereich? Das müsste es

doch auch geben.

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Dewatschen ist gerade hier. Auch bei dir zu Hause kann Dewatschen sein. Wenn wir die reine

Sichtweise erfahren, dann ist Dewatschen präsent, wo auch immer wir sind. Und da es uns nicht

gegeben ist, die reine Sichtweise immer so locker aufrecht zu erhalten, machen wir Wünsche, im

nächsten Leben gute Bedingungen zu finden, dass es auf Grund der hilfreichen Umgebung ganz

natürlich kommt. Aber wer wirklich geübt ist, der kann das auch in diesem Leben.

Ja, das würde mir abstrakt vorkommen, wenn es woanders wäre.

Es ist eben schwierig, die reine Sichtweise aufrecht zu erhalten. Das würde bedeuten, dass jede

Situation von uns als Dharmaunterweisung erlebt wird. Das ist Dewatschen. Es heißt, dass in

Dewatschen die Unterweisungen Amitabhas ständig zu hören sind. Amitabha ist der Dharmakaya, der

Wahrheitskörper. Die Quelle der Unterweisungen ist die Verwirklichung von Amitabha im

Dharmakaya, und daraus manifestieren sich die Unterweisungen. Damit also unser Leben hier wirklich

zu Dewatschen wird, müssten wir mit dieser Quelle der Unterweisungen in innigem Kontakt sein. Das

geht.

Teilnehmerin: Könnte man sagen, dass Dewatschen mal da ist und mal nicht da ist? Dass man diese

Verbindung mal hat und mal nicht hat, dass man sie auch verlieren kann und dann mal wieder einen

Zugang dazu haben kann? Oder ist es einmal Dewatschen immer Dewatschen? Ich verstehe das noch

nicht so ganz.

Ich denke, so ein Dewatschen, das plötzlich weg ist, ist noch nicht wirklich Dewatschen. Das ist noch

nicht stabil genug. Wenn wir von Sukhavati sprechen, vom reinen Bereich der Freude, dann sprechen

wir von einem stabilen Bereich. Unsere fluktuierende reine Sichtweise kann uns nur Ahnungen davon

geben, was Dewatschen eigentlich wirklich ist.

Das erweckt doch den Wunsch!

Teilnehmer: Dann ist es doch leichter, nach dem Tod nach Dewatschen zu gehen, denn dort sind die

Bedingungen günstig, um in die reine Sichtweise einzutreten und sie kontinuierlich zu erfahren,

während es hier im Menschenbereich doch äußerst schwierig ist. Um sie die ganze Zeit halten zu

können, müssten wir eigentlich schon befreit sein.

Das ist auch genau das Minimum, um es hier aufrechterhalten zu können. Dazu müssten wir bereits

auf der 1. Bodhisattva-Stufe sein. Das ist genau das, was gefragt ist, damit es stabil ist.

Teilnehmer: Es heißt doch, wenn man im Tod an Dewatschen denkt, dann kommt man sofort hinein.

Wenn du mit großem Vertrauen daran denkst, dann ja. Wenn du in diesem Leben die Tage, Monate

und Jahre, die dir noch bleiben, dazu nutzt, dich immer wieder darauf auszurichten, darin Vertrauen

entwickelst und viele heilsame Handlungen ausführst, die du auch in diese Richtung widmest, dann

wird das Denken an Dewatschen oder an Amitabha oder Tschenresi im Tod diese Folge haben, dass

du in Dewatschen eintreten kannst.

Teilnehmer: Auch wenn man kein Loch im Kopf hat?

Ja, auch dann, wenn man nicht intensiv Phowa praktiziert hat.

Teilnehmerin: Mit diesen Wünschen, die da geweckt werden, habe ich manchmal Probleme, denn es

sind ja ‚meine’ Wünsche auch. Das ist ja voller Wollen. Da findet ein Greifen statt, aus dem ich

schwer rauskomme, denn ich will den Weg ja gehen um genau dahin zu kommen. Natürlich auch für

alle anderen, das ist ja schon inbegriffen, aber trotzdem erlebe ich das auch als Anspannung in mir,

weil ein Greifen stattfindet. Mit dem Ausrichten ist sofort auch da, das andere nicht haben zu wollen

und das eine möchte ich aber haben. Das widerspricht sich manchmal in mir.

Das widerspricht sich bei allen. Und die Lösung?

Ja, da habe ich noch keine. Eigentlich das Loslassen, aber das kann ich ja scheinbar noch nicht.

Das kannst du. Du kannst dich entspannter ausrichten als mit diesem greifenden Wollen. Eine innere

Ausrichtung zu haben, bedeutet nicht, dass wir ständig im Greifen nach dem Ziel sind. Das können wir

lernen. Wir können es lernen z.B. auf Dewatschen ausgerichtet zu sein oder auf das Erwachen ausge-

richtet zu sein, ohne danach zu greifen. Zwischen Wollen und Ausrichten oder Streben besteht

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nämlich ein Unterschied. Wir müssen herausfinden, wie wir streben können, ohne ins Greifen zu

fallen. Wie können wir uns ausrichten, ohne verzweifelt zu sein, wenn das jetzt nicht gleich eintritt?

Zuflucht ist genau das. Wenn wir uns auf das Erwachen ausrichten, nennen wir das Zuflucht. Wir

richten uns auf einen sicheren Ort, einen sicheren Bereich, eine Dimension aus. Dann ist es kein

Greifen sondern ein Bündeln unserer Energie und wir geben dieser Energie eine Richtung. Man kann

als Beispiel auch einen Anker nehmen. Wir werfen unseren Anker irgendwo hin, haken ein, und egal

was im Leben kommt, wir hangeln uns immer an diesem Anker, an diesem Ankertau entlang, in die

Richtung wo wir unseren Anker eingeworfen haben. Ob wir es wie eine Kraft, die ihre Richtung

kennt, beschreiben oder wie einen Anker, an dem alle Kräfte ausgerichtet werden, beide Arten der

Beschreibung sind möglich. Wir werden lernen, das ohne so viel Wollen zu praktizieren. Ich war zu

Anfang meines Weges selber so wahnsinnig motiviert und im Greifen und im Wollen. Ich kann mich

noch gut daran erinnern, es war ganz stark. Aber man lernt wirklich mit der Zeit, das entspannter

anzugehen und trotzdem ausgerichtet zu bleiben.

Teilnehmer: Kann man auch sagen, dass man nach Dewatschen kommt, wenn man das Vertrauen hat,

dass es so sein wird und einfach praktiziert, wie man kann? Man meditiert so wie man kann, ohne die

fixe Vorstellung zu haben, sondern einfach nur das Vertrauen zu haben, dass es passiert wenn man

Bodhicitta entwickelt und seinen Kräften entsprechend praktiziert.

Ja, wenn dem Vertrauen ständig die entsprechenden Handlungen folgen, dann wird es so sein. Es gibt

aber auch Menschen, die vertrauen, dass es dann so kommt, weil sie in ihrem Leben drei Mal das

Dewatschen-Gebet gebetet haben, oder weil sie einmal eine Einweihung erhalten haben. Viele Lehrer,

inklusive der 17. Karmapa, haben gesagt, dass das nicht ausreicht. Die Leute haben dann auch

Vertrauen, aber das Vertrauen hat keine Basis. Wenn man den Kommentar zu Dewatschen von Karma

Tschagme liest, dann müssen vier Bedingungen zusammen kommen, um in Dewatschen geboren zu

werden. Vertrauen ist nur eine von den vieren. Die anderen sind heilsames Handeln, ein stetes sich

Ausrichten auf Dewatschen und das Visualisieren von Dewatschen, also die Vision wirklich wach zu

halten im Geist. Bodhicitta ist mit heilsamem Handeln gemeint.

Teilnehmer: Welche Rolle spielt Phowa dabei?

Phowa hilft dabei, die Energien so stark auszurichten. Phowa ist im Grunde genommen die Unter-

stützung für diese Ausrichtung, dass das Band mit Amitabha ganz stark wird. Das ist Phowa.

Also eine Unterstützung aber kein Ersatz, sodass man mit einem Mal Phowa die Fahrkarte nach

Dewatschen nicht bekommt?

Nein, das geht nicht. Aus den Kommentaren geht hervor, dass es schon ausreichend ist, wenn man

nach der Praxis des Phowa wirklich eine kontinuierliche Praxis bis ans Lebensende aufrechterhält, wo

dieses Band mit Amitabha weiter genährt wird.

Das Phowa soll man regelmäßig praktizieren?

Es geht gar nicht mehr darum, unbedingt die Phowa-Praxis auszuführen. Es geht darum, so regelmäßig

wie möglich das Band zu Amitabha zu halten. Wenn geht täglich.

Wie am Ende der Tschenresi-Puja?

Genau, dieses Gebet am Ende der Tschenresi-Puja mit innerer Beteiligung sprechen. Die innere

Beteiligung ist wichtig, dann reicht es. Ansonsten einfach unseren Bodhisattva-Weg gehen.

Nun wollen wir wieder zum Thema zurückkommen. Es ist nicht so, dass wir wirklich abgekommen

sind. Dewatschen ist ein hervorragender Bereich, um Mahamudra zu praktizieren. Aber jetzt kommen

wir zur Praxis in diesem Leben zurück. Der vierte Vers ruft auf zur Kontemplation, ob denn diese

Faktoren alle in meinem Leben jetzt zusammen kommen. Wir können jeden Vers als eine Aufforde-

rung zur Kontemplation verstehen. Jedes Wort sogar, jedes Wort in diesem Gebet ist voller

Bedeutung.

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Wenn wir also dann Leben um Leben in einem Umfeld sein können, in dem wir den Dharma

praktizieren können, dann geht es um das Entwickeln von Weisheit, von Verständnis, Erkenntnis,

Gewahrsein. Damit befasst sich der fünfte Vers.

Die Dreifache Weisheit

5. Vers

Das Hören der Texte und logisches Denken befreien uns vom Schleier des Nichtwissens,

das Kontemplieren der Kernunterweisungen vertreibt die Dunkelheit der Zweifel

und die in der Meditation entstehende Klarheit erhellt die Wirklichkeit, so wie sie ist –

möge das Leuchten dieser dreifachen Weisheit zunehmen.

Karmapa benutzt in diesem Vierzeiler das Beispiel von Licht und Dunkel. Er beschreibt, wie schon

das Hören der Texte und logisches Denken – die Kräfte des Verstandes – Schleier auflösen. Speziell

werden dadurch die Schleier des Nichtkennens der Unterweisungen aufgelöst. Nicht zu wissen oder zu

kennen bedeutet hier, dass wir noch nie aufgeklärt worden sind. Wir sind noch nie ins Wissen versetzt

worden, wir haben noch nie erfahren, was notwendig ist um zu verstehen. Es ist also eine Ebene des

Nichtwissens, die nicht gleichbedeutend ist mit Unwissenheit. Es ist das Nichtwissen, die Nicht-

Kenntnis der Heilmittel. Das ist vergleichbar damit, dass wir krank sind und nicht wissen, dass es für

unsere Krankheit eine Therapie gibt. Das ist damit gemeint.

Teilnehmerin: Ist das Prajna?

Ja, diese drei Zeilen beschreiben drei verschiedene Aspekte von Prajna.

Hören, Studieren

Die erste Stufe ist, einfach zu wissen, dass es einen Weg zur Heilung gibt, einen Weg des Erwachens,

und wie er zu gehen ist. Es geht darum, all die Informationen zu bekommen und diese Informationen

gut aufzunehmen, sie korrekt zu verstehen. Dieser erste Abschnitt – das Studieren, Debattieren, Nach-

fragen und Erforschen – geht bis zur intellektuellen Klärung der Dharma-Themen. Wenn jemand diese

Ebene wirklich geklärt hat, dann ist er in der Lage, die Unterweisungen der Lehrer korrekt wiederzu-

geben, ohne Fehler zu machen. Eine Unterweisung so aufzunehmen, dass sie unverfälscht und logisch

wiedergegeben werden kann, ist durch die Kraft des Intellekts, die Kraft des begrifflichen Verstehens

möglich. Wir durchdringen also nicht nur die Begriffe, sondern wir verstehen auch, wie sie aufeinan-

der aufbauen, die innere Logik der Darstellung. Wir wissen um die Therapie.

Wir haben die Therapie noch nicht angewendet. – Ein wenig doch, denn man kann nichts lernen, ohne

dass es einen verändert. Auch intellektuelles Wissen verändert den Menschen. Solange wir noch nicht

gewusst haben, war das eine Sache, aber jetzt wissen wir, und dieses Wissen begleitet uns. Es ist

gegenwärtig und verändert bereits unsere Sichtweise. Wirkliches Wissen verändert die Sichtweise.

Wir können z.B. nicht mehr zur Sichtweise zurückkehren, die Erde wäre eine Scheibe, auch wenn das

noch in einigen Dharmatexten steht. – Aber weder Karmapa noch der Dalai Lama noch andere Meister

halten diese Sicht aufrecht. Wir wissen zu viel, um noch zu dieser Sicht zurückkehren zu können.

Wissen verändert also die Sicht. Was wir jetzt machen, passiert größtenteils auf dieser ersten Ebene:

Ihr hört, ihr versucht zu verstehen und ihr fragt nach. Wir klären Begriffe, wir klären Verständnis.

Bereits das bewirkt eine Änderung der Sichtweise. Dadurch lichten sich schon Schleier – noch nicht

alle, aber doch schon eine ganze Reihe.

Kontemplieren

Dann braucht es die intensivere Anwendung auf uns selbst, und das ist hier mit Kontemplieren ge-

meint. Das Tibetische sampa wird auch übersetzt als ‚tiefes Nachdenken’, wobei dieses Nachdenken

eine persönliche Anwendung auf uns selbst ist. Kontemplieren ist der Prozess des denkenden Erfüh-

lens. Wir ergründen, was der Gegenstand der Kontemplation mit uns zu tun hat. Die Frage, mit der wir

jede Kontemplation beginnen, ist: „Was hat dieser Text, dieser Satz mit mir zu tun?“ oder „Wie würde

mein Leben aussehen, wenn ich das umsetzen würde?“ Das ist das Kontemplieren, es ist visionär. Wir

stellen uns vor, was sich ändern würde, wenn wir uns das ganz zu Herzen nehmen. Indem wir uns das

vorstellen, testen wir es schon, der Test beginnt. Wir sind dabei, es uns vorzustellen und schon bereit

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es anzuwenden, und bereits in der Vorstellung bekommen wir ein Gefühl dafür, „Oh, das fühlt sich

stimmig an, das möchte ich umsetzen!“

Es ist also die persönliche Anwendung des Dharma in unserem Leben. Zunächst erfassen wir die

Unterweisungen korrekt und dann wenden wir sie auf uns selbst an. So ist das Hören der Unter-

weisungen über Vergänglichkeit eigentlich immer verbunden mit einem reflektierenden nach innen

Schauen: „Ist es denn eigentlich wirklich so? Stimmt es, dass alle Dinge vergänglich sind, dass alle

Erfahrungen vergänglich sind?“ Das ist bereits der kontemplative Prozess, der oft in uns simultan mit

dem Hören einer Unterweisung abläuft. Während wir noch dabei sind, die Unterweisung aufzuneh-

men, läuft bereits ein kontemplativer Prozess an, und den setzen wir in der persönlichen Praxis noch

weiter fort. Das wären hier am Kurs oder nach diesem Kurs die Momente, wo wir das Gebet noch

einmal lesen, die Notizen dazu studieren, uns das Gehörte in Erinnerung rufen und dann hineinfühlen,

was das mit uns zu tun hat. Das ist also auch schon ein intuitiver Prozess. Das Wissen verbindet sich

mit dem Fühlen, und vom Fühlen geht es in das Handeln. Es geht also vom Fühlen in die Absichten, in

die Handlungsimpulse und führt zu einem anderen Handeln.

Wir können Studieren und Kontemplieren nicht wirklich trennen. Studieren hat – wenn wir es nicht

nur ganz abstrakt machen – eine persönliche Komponente. Wenn jemand sein Thema nur intellektuell,

abstrakt studiert hat, dann hat dieser zweite Prozess nicht stattgefunden. Es gibt z.B. an den Unis

Buddhologen, die den Buddhismus zwar studiert haben, aber ohne große innere Beteiligung. Kaum ein

Dharmalehrer kann mit so jemandem mithalten. Aber innerlich ist die Beteiligung gleich Null. Es gibt

andere Buddhologen, bei denen die Beteiligung hundert Prozent ist. Es kommt darauf an, wie sie

studieren. Ein lebensveränderndes Studium muss mit einer Anwendung auf sich selbst einhergehen.

Dann ist Philosophie kein Wissensbereich mehr, sondern eine Lebenskunst. Für den Dharma ist das

genauso. Dharma ist dann nicht mehr Wissen, sondern wird zur Kunst des Erwachens, zur Kunst im

Erwachen zu leben. Die Kontemplation macht den Unterschied aus.

Kontemplation wendet sich speziell den Kernunterweisungen zu. Diese Unterweisungen wurden den

Praktizierenden mündlich gegeben. Speziell in den Unterweisungen, die wir mündlich von unseren

Lehrern erhalten, steckt genau das, was wir zu bedenken haben, denn sie sind an die Situation ange-

passt. Es sind nicht irgendwelche Unterweisungen, es sind speziell die Unterweisungen, die unserer

Situation angemessen sind. Ganz besonders gilt das für die Meditationsanweisungen, die genau mit

unserem Geist arbeiten, da wo er jetzt feststeckt. Sie zeigen auf, welches Bedenken, Kontemplieren,

Hinschauen unserem Geist helfen könnte, sich aus dieser Verengung zu lösen. Das nennt man eine

Kernunterweisung, män-ngnag auf Tibetisch. Es ist normalerweise eine mündlich gegebene Unterwei-

sung, die aus dem Schatz der Erfahrung der Meister stammt und individuell an Schüler weitergegeben

wird. Früher schrieb man män-ngnag auch nicht auf. Heute wird alles aufgeschrieben, wir wissen dann

aber nicht mehr, für wen die Unterweisung persönlich gemeint war. Die persönliche Anleitung basiert

immer noch auf dem Austausch mit lebenden Lehrern.

Meditieren

Die Kontemplation führt zu einem Verstehen, zu einem tieferen Einklang, es lösen sich Blockaden.

Immer wenn sich ein Verstehen einstellt, wenn wir spüren, „Ah! Ja, so ist das!“ gleiten wir in die

Meditation über, wenn wir es zulassen. Es hat sich was gelöst, es hat sich was geöffnet und es gibt

jetzt nichts mehr zu tun. Für eine Weile gibt es nichts mehr zu tun und es stellt sich eine nichtbegriff-

liche Präsenz ein. Solange wir noch über den Dharma und über unser Leben nachdenken, sind wir

noch im Kontemplieren. Wenn wir nicht mehr über irgendetwas nachdenken und in gelöster Präsenz

verweilen, das nennen wir Meditation. In der Meditation zeigt sich die klärende, erhellende Kraft

unseres Geistes. Das ist vergleichbar mit Licht. Es ist das Licht des Verstehens, des Schauens, das die

Dunkelheit vertreibt. Es ist wie eine innere Helligkeit. Wir haben ja im Deutschen diesen Ausdruck

„Mir wird etwas klar“. Damit ist gemeint: „Ich verstehe etwas.“ Genauso ist es auch im Tibetischen

mit den Begriffen von Klarheit, Helligkeit und des Lichtes. Es ist nicht ein wirkliches inneres Licht,

das da quasi brennen würde, als würden wir einer Lichtquelle begegnen. Unser ganzes Gewahrsein ist

Licht. Das gesamte Gewahrsein ist klar und licht. Es ist nicht so, dass es einen Bereich des Gewahr-

seins gäbe, in dem eine Lichtquelle ist, und noch andere Bereiche des Gewahrseins, die einen Nutzen

davon haben. Das gesamte Gewahrsein ist klar, hell, transparent, ohne Schatten. Weil keine Schatten

da sind, nennt man das hell, licht, weil das Gewahrsein alles durchdringt.

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Teilnehmer: Das Licht das keinen Schatten wirft.

Ja, genau! Das Licht, das keinen Schatten wirft.

Teilnehmer: Bei der Kontemplation hast du gesagt, das ist noch denken, da denke ich nach. Aber die

Klarheit, die in der Meditation entsteht, die teilt sich doch über einen Gedanken mit. Ist diese Form,

dass ich das jetzt nicht mehr will, die Steuer oder ist das der Unterschied oder ist das noch anders?

Das kommt jetzt drauf an, auf welcher Ebene ich dir antworte. Dieser kleine kommentierende Gedan-

ke, der sagt, „Oh, das ist aber schön.“ stört die Meditation nicht. Der gehört mit zur Meditation, hat

aber eigentlich dort gar nichts zu suchen. Es ist noch eine kleine Komplikation.

Auch diese Erfahrungen, für die es kein Wort gibt?

Ja, das sind einfach diese kleinen Extra-Schlaufen, die du noch im Geist drehst. Das ist immer noch

ein kleiner Kommentar, aber diese Kommentare werden irgendwann überflüssig. Sie erübrigen sich.

Teilnehmer: Ich habe mich auch eben gefragt, als wir vorhin den Vers noch mal gelesen haben und

dann beim Meditieren: Wenn ich dann meditiere, beschäftigen mich ja noch die Eindrücke, die du uns

in den Geist gesetzt hast. Wenn ich denen jetzt folge und sie einfach vorbei ziehen lasse, wie wir

normalerweise bei der Meditation mit den Gedanken umgehen, ist es dann eher Kontemplation oder

Meditation?

Das ist dann schon Meditation. Wenn keine Gedankenketten mehr entstehen, dann nennen wir das

Meditation. Deshalb können wir auch das, was deine Vorrednerin sagte, Meditation nennen. Diese

Meditation vereinfacht sich noch. Die wird sich immer weiter vereinfachen. Solange wir über etwas

nachdenken, solange es zu Gedankenketten kommt und dadurch auch zu gewissen Aha-Erlebnissen,

das nennen wir noch Kontemplieren. In der Meditation ist es auch so, dass uns Dinge klar werden,

aber danach kommt oft wieder ein Prozess der Kontemplation. Es entsteht ein intuitives Verstehen,

und wenn das dann in den sprachlichen Raum geholt wird, sind wir wieder in einem Kontemplieren

und beziehen die nichtbegriffliche Erfahrung der Meditation ein in einen kontemplativen Prozess.

Deswegen besteht auch ein großer Unterschied zwischen dem, was die eigentliche Meditationserfah-

rung ist und dem, was Praktizierende dann daraus machen. Es gibt Menschen, die durchaus bestimmte

Meditations-Erfahrungen erfahren haben, sie aber nicht verbalisieren können, denn das sind zwei

verschiedene Prozesse. Das Verbalisieren benutzt wieder andere Qualitäten unseres Geistes, andere

Fähigkeiten als das einfache Verweilen. Man kann also nicht die Tiefe der Meditation daran ab-

schätzen, wie gut jemand verbalisieren kann. Es ist wieder ein anderer Prozess.

Teilnehmer: Was verhindert oder wo muss man aufpassen, dass das Kontemplieren – es ist ja auch

eine gewisse Fokussierung des Geistes auf ein Thema – nicht zu Anhaftung, zu konzeptionellen Ideen

und Vorstellungen führt, bzw. sie fördert?

Da gibt es einen ganz guten Tipp: Wenn wir bei der Kontemplation bemerken, dass wir uns im Kreis

drehen, dass wir schon wieder dasselbe denken, dann können wir aufhören.

Dreifache Weisheit

Wir nennen das die dreifache Weisheit, sherab sum, die drei Weisheiten: Die Weisheit, die durch das

Studieren entsteht, durch hören und korrekt aufnehmen, die Weisheit die durch das Kontemplieren

entsteht, also durch das Verbinden mit den eigenen Erfahrungen, und die Weisheit, die aus dem nicht-

begrifflichen Erleben entsteht, aus der Meditation.

Diese drei Aspekte von Weisheit ergänzen sich gegenseitig, sie helfen einander. Das korrekte Aufneh-

men und Verstehen der Unterweisungen hilft uns in der Kontemplation, die Kontemplation hilft uns,

in die Meditation zu finden, die Meditation öffnet neue Erfahrensbereiche, die wir wieder bedenken

und kontemplieren, und für die wir auch in unserem Studium ein Pendant finden. Wir finden sie ge-

spiegelt in den Dharmaunterweisungen. Dadurch entsteht wieder mehr Vertrauen in den eigenen Geist,

wir können tiefer loslassen, wir können uns tiefer einlassen, sodass diese drei Aspekte ständig ineinan-

der greifen. Sie bilden einen einzigen Gewahrseinsstrom, der sich eben verschiedener Fähigkeiten

bedient, zu verschiedenen Zeiten.

Teilnehmer: Wenn die Eindrücke vom Studieren und Kontemplieren jetzt in meinem Kopf wirken, in

meinem Geist, also wenn ich das direkt nach dem Kontemplieren mache und dann das alles loslasse,

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das ist dann also das Meditieren? Wenn man das quasi direkt danach macht, nachdem man diesen

Vers studiert hat, hat man die Eindrücke im Kopf und die lässt man einfach los?

Durch das aufmerksame Lesen und das in Erinnerung-Rufen unseres Wissens über die Bedeutung des

Textes und dann das Kontemplieren darüber, was das mit uns zu tun hat, treten wir in ein Verständnis

ein, von dem, was Karmapa hier gemeint hat. Wir erleben das manchmal auch einfach als Segen. Wir

brauchen manchmal gar nicht lange und ausführlich nachzudenken. Wir nehmen Kontakt auf mit

einem Verstehen, wir treten ein in ein Verstehen, und dieses Verstehen entspannt das Greifen in

unserem Geist. Dann entsteht Meditation. Deswegen heißt es, dass Meditation durch Segen entsteht.

Mit diesem Segen nehmen wir über die Worte Kontakt auf. Über die Unterweisungen, die Karmapa

uns hier gibt, gibt er uns eine Möglichkeit, in seine Sichtweise der Dinge einzutreten, sie zu erahnen.

In dem Maße, wie wir uns dafür öffnen können, treten wir in den Segen seiner Worte und seines Ver-

stehens ein.

Dieses zusätzliche Wort ‚Segen’ wirkt ein bisschen erleichternd, denn es ist kein abstrakter Vorgang,

der hier stattfindet. Es ist nicht so, dass wir einfach nur kontempliert haben und damit basta, es ist

genug, wir gehen jetzt ins Meditieren, sondern da passiert innerlich etwas. Da geschieht etwas, was

uns zutiefst öffnet und beruhigt. Da entsteht ein Vertrauen und ein Spüren, dass es jetzt einfach gar

nichts weiter zu denken gibt. Und darin verhallen dann die letzten Eindrücke von dem, was du gehört

hast. Das ist nur noch wie ein Echo, hat überhaupt keine Bedeutung mehr. Du bist schon in tiefer Ruhe

und Offenheit angelangt, und das ist dann nur noch so ein Nachhall. Du verweilst dann einfach da

drin. Dann würde man nicht mehr sagen, dass du über den Vers meditierst, sondern du meditierst

stimuliert durch den Vers. Der Vers hat eine Stimulation deines Gewahrseins bewirkt und dieser

Stimulation geben wir uns hin und wir bleiben in der Nachwirkung dieser Stimulation. Der Vers

entschwindet in dem Moment. Das Gehörte, Gelesene entschwindet. Dann zählt nur noch die direkte

Erfahrung.

Mahamudra im Überblick – Basis, Weg und Frucht

6. Vers

Durch das Wesen der Basis, die beiden Wahrheiten,

frei von den Extremen des Glaubens an Beständigkeit oder Nichtexistenz

und den höchsten Weg, die beiden Ansammlungen,

frei von den Extremen des Zuschreibens und Leugnens,

erlangen wir die Frucht, die beiden Nutzen,

frei von den Extremen des Werdens und des Friedens –

mögen wir diesem Dharma ohne Fehl und Irrtum begegnen.

Was ist die Basis? – Die Buddhanatur, die grundlegende Natur des Geistes. Die beiden Wahrheiten? –

Relative und letztendliche.

Was bedeutet denn das? Wie könnte man relative Wahrheit definieren? So wie es erscheint. Die

letztendliche Wahrheit wäre die Seinsweise, das eigentliche, das wahre Sein und so wie es erscheint,

so wie es erfahrbar wird, ist die relative Wahrheit. So kann man es auch ausdrücken.

Teilnehmer: Ein Merkmal der relativen Wahrheit ist eben, dass ich und du, also die Dualität ganz real

erscheint.

Ja, das ist der Irrtum bezüglich der relativen Wahrheit, dass einem das alles ganz real erscheint. Die

Schau des Letztendlichen kuriert diese irrige Annahme.

Frei von den Extremen des Glaubens an Beständigkeit oder Nichtexistenz. Mit Beständigkeit ist hier

ein dauerhaftes, quasi ewiges Bestehen gemeint, dass die Dinge sind und so bleiben wie sie sind. Oder

auch der Glaube, dass sie zumindest einen Wesenskern haben, der unveränderlich ist, wo sich anderes

verändern kann.

Bei äußeren Dingen, z.B. bei diesem Tisch, wäre der Glaube an Beständigkeit, dass dieser Tisch

immer ein Tisch sein wird. Das lässt sich nicht aufrechterhalten. Dieser Tisch kann leicht zu Asche

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werden, er kann zu Holzstaub werden. Asche und Holzstaub können zu Erde werden, aus Erde kann

wieder Neues entstehen, es kann ein Baum wachsen. Es ist also nicht zu bestätigen. Was nun die

Erfahrung des Tisches angeht, so mache ich ja jede Erfahrung durch die Sinne. Ich kann diesen Tisch

spüren, ich kann seine Form fühlen. Er hat eine gewisse Kühle, eine kühle Temperatur im Unterschied

zu anderem. Ich kann ihn hochheben, ich kann versuchen ihn zusammenzudrücken, was nicht geht. Ich

kann was draufstellen. Ich kann ihn durch die Sinne erfahren, ich kann ihn anschauen. Ich kann ihn

schön finden, nicht schön finden. Dieser Tisch, von dem ich spreche, ist nicht derselbe Tisch, den ihr

in eurem Erleben erfährt, denn wir haben etwas andere Sinnesinformationen und interpretieren sie

obendrein noch geringfügig verschieden. Wie wir morgen diesen Tisch erleben, ist schon wieder

anders, auch die Erinnerung an diesen Tisch wird sich wandeln. In all diesem Erleben, auch von etwas

scheinbar Konkretem, gibt es nichts, was wirklich fest, stabil wäre. Das ist dann damit gemeint, dass

wir nichts für beständig halten.

Der Glaube an Beständigkeit ist erst einmal der Glaube, dass Emotionen, Erfahrungen im Geist, soge-

nannte Phänomene, Erscheinungen Beständigkeit hätten, dass äußere Dinge Beständigkeit hätten.

Überall schleicht sich der Glaube an Beständigkeit ein, sogar der Glaube, dass Erkenntnis, die ich

gemacht habe, beständig wäre. Auch Erkenntnis ist nicht beständig, auch sie wird immer wieder neu

erfahren. Die Erkenntnis, die ich gestern hatte, hilft mir heute nichts mehr. Nur insofern als sie mich

vielleicht stimuliert, wieder hinzuschauen und sie neu zu sehen. Das ist die einzige Hilfe, die ich

daraus habe. Ich habe ein gewisses Vertrauen, dass die Dinge anders sind als ich sie in meiner Ver-

wirrung so annehme.

Wenn wir das tief anschauen, könnten wir ja denken, „Na ja, nichts ist beständig. Also gibt es die

Dinge eigentlich gar nicht. Wie können wir von einem Tisch reden, wenn das alles nur eine zusam-

mengebastelte Projektion in einem Geist ist? Wie können wir von Erkenntnis sprechen, wenn sie doch

gar keinen Bestand hat? Wie können wir von einem Leben sprechen voller Ereignisse, die alle keinen

Bestand haben? Dann gibt es das einfach alles gar nicht, dann gibt es mich nicht, dann gibt es dich

nicht, dann gibt es die Welt nicht.“ Wir könnten ja zu diesem Schluss kommen. Das würde man als

Haften an Nichtexistenz bezeichnen. Das ist eine andere extreme Anschauung, denn wie kann man so

etwas Offensichtliches wie den Tisch leugnen? Wie kann man leugnen, dass wir gestern schon hier

zusammen saßen, oder heute Morgen? Obwohl das völlig ephemer, also flüchtig, nicht greifbar ist,

kann man es doch nicht leugnen. Man kann doch nicht sagen, das gibt es nicht. Auch wenn Worte wie

Hall sind, kann man doch nicht leugnen, dass da gerade was war. Es ist ja was angekommen, es ist ja

ein Verständnis dadurch entstanden, Kommunikation hat ja stattgefunden. Man kann auch einen Ge-

danken nicht leugnen, auch wenn die Auswirkungen eines einzelnen Gedankens vielleicht nicht so

offenkundig sind. Es ist also nicht angebracht, von Nichtexistenz zu sprechen, genauso wie man nicht

von einer dauerhaften, unveränderlichen Existenz sprechen kann.

Nun sollten wir aber diese beiden extremen Sichtweisen auf die beiden Wahrheiten anwenden. Wir

sollten schauen, wie man in die Irre gehen kann, wenn man z.B. behauptet, das Gesetz von Ursache

und Wirkung existiert. Wie existiert es denn? Als etwas Unveränderliches? Nein, Erscheinungen exis-

tieren erst einmal als solche nicht, aber auch all das, was wir über die relative Wirklichkeit sagen, dass

da Ursache- und Wirkungsbeziehungen sind, all diese Begriffe, mit denen wir die Wirklichkeit be-

schreiben, beschreiben nichts, was solide wäre, sondern beschreiben Abläufe, beschreiben Prozesse,

die nicht als solches existieren.

Wir könnten den gleichen Fehler auch in Bezug auf die letztendliche Wirklichkeit machen. Wir

könnten sagen: „Der Dharmakaya, das Erwachen, Buddhaschaft, existiert. Nur Buddhaschaft existiert,

nur das ist wirklich!“ Wir könnten auch die letztendliche Ebene der Wirklichkeit vergegenständlichen.

Auch das wäre wieder ein Hineinfallen in das Extrem des Fixierens, des Vergegenständlichens, aus

dem erwachten Gewahrsein ein existierendes Objekt zu machen. Der Fehler des Zuschreibens von

Existenz kann also überall gemacht werden, im Relativen wie im Letztendlichen. Wenn ich sage, „Da

hast du aber schlechtes Karma!“, so bedeutet das, dass du offenbar schädliche Handlungen in der

Vergangenheit ausgeführt hast, die jetzt zu bestimmten Folgen heranreifen. Existiert denn dieses

schlechte Karma? Es existiert nicht als etwas, als ein Ding, das greifbar ist. Es sind Kräfte, die wirken.

Es ist sogar möglich, dass sie durch das Einwirken anderer Kräfte gar nicht zur Auswirkung kommen,

weil sie bereinigt werden, weil sie durch entsprechende Kräfte aufgenommen werden, eingebunden

werden und eine Transformation erleben. Kräfte können eine andere Richtung nehmen. So etwas wie

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das schlechte Karma oder das gute Karma gibt es also gar nicht. Es wirken Kräfte, die wir nicht

festmachen können. Und so ist es mit allen Dingen.

Es ist einer der Grundfehler im Aufnehmen des Dharma, den Dharma zu vergegenständlichen:

„Nirwana existiert, da will ich hin!“, „Dewatschen existiert, da will ich hin!“ Was ist es denn

eigentlich, was da vermeintlich existiert? „Aha, Dewatschen, ein Gewahrseinsraum… o.k., ein

Gewahrseinsraum. Der existiert!“ Nein! Ein Gewahrseinsraum kann nicht existieren. Es ist ein Strom

von Erfahrungen, der sich auf eine bestimmte Art und Weise manifestiert, aber ohne fassbar zu sein.

Egal was wir hören, z.B. Entsagung: „Ich habe Entsagung.“ – Wie? Wo denn? Oder: „Ich habe

Vertrauen?“ – Wo denn? Wo ist Vertrauen?

Alles, was wir im Dharma hören, kann vergegenständlicht werden. Wenn wir genauer hinschauen,

merken wir: „Nein, also zeigen kann ich es dir nicht!“ Es handelt sich um Kräfte, die im Gewahrsein,

in unserem Bewusstsein wirken. Wir beschreiben ständig Prozesse, mit allem. Ich sage z.B.: „Die

Heidi, die gibt es. Die ist so.“ Aber ich beschreibe damit einen Prozess. Die Heidi als solche gibt es

nicht. Sie ist ein Prozess, in dem sie heute ähnlich aussieht wie gestern, erkennbar ähnlich aber doch

anders. Zu meinen, sie wäre ewig so, geht nicht. Merkt ihr? Egal welchen Bereich wir nehmen, das

Extrem des Zuschreibens von dauerhafter Existenz stellt einen Irrtum dar. Es geht darum, diesen Punkt

hier zu verstehen, beim Meditieren und vor allen Dingen beim Kontemplieren zu forschen: Gibt es

irgendeine Ausnahme zu dem, was ich jetzt sage? Gibt es irgendetwas, das existiert? Gibt es irgend-

etwas, dem man eine dauerhafte Existenz zuschreiben könnte? Und die Gegenfrage: Gibt es irgend-

etwas dem man eine Nichtexistenz zuschreiben könnte? Gibt es irgendetwas, das nicht existiert?

Teilnehmer: Wie ist das mit diesem Beobachter, dem Bewusstsein an sich, das ohne zu werten sozu-

sagen immer da ist, also offen für die Erfahrung. Ist das unveränderlich?

Das ist doch eine interessante Frage. Dem müssten wir genau auf den Grund gehen. Ist das Bewusst-

sein unveränderlich existent? Das ist doch eine spannende Frage. Genau da könnte man ja sagen: „Das

zeitlose Gewahrsein ist existent, es existiert.“ Ist das zeitlose Gewahrsein existenter als das unterschei-

dende, dualistische Gewahrsein? Das sind spannende Fragen. Kann Gewahrsein als solches unverän-

derlich existieren? Das sind wichtige Fragen.

Teilnehmer: Ich habe ein ganz einfaches Beispiel, als du sagtest, Erkenntnis ist nicht beständig, habe

ich sofort einen Widerspruch gespürt. Jetzt nach deinen Ausführungen ist es natürlich klar, dass sie

nicht beständig ist, aber ich dachte an dieses simple Beispiel, wenn das kleine Kind seinen Finger auf

die heiße Herdplatte legt, dann hat es eine Erkenntnis, verdammt noch mal, das tut saumäßig weh.

Und diese Erkenntnis, die du natürlich nicht fassen kannst, aber irgendwo muss sie ja sein, wenn das

Kind das nächste Mal an den Herd geht, wird es die Finger nicht mehr darauf legen. Also es ist etwas

nicht fassbar und es gibt es.

Existiert diese Erkenntnis irgendwo oder muss ein Erkennen durch z.B. Erinnerung, Verknüpfung,

aktiviert werden, neu präsent sein? Das ist die springende Frage. – Man schreibt der letztendlichen

Wahrheit – darum handelt es sich bei diesem zeitlosen Gewahrsein, wir nehmen das reinste Gewahr-

sein, das es überhaupt gibt – keine dauerhafte Existenz zu. Es ist zwar immer gewahr, aber existiert

nicht als solches. Es ist spannend, denn wir haben mit dem Begriff von Existenz eine große Mühe.

Wie dieser Begriff in diesem Gebet verwendet wird, geht auf die indische Philosophie zurück. Dort

bedeutet Existenz immer Existenz als Objekt mit beschreibbaren Merkmalen. Wir können uns aber

damit anfreunden, dass es etwas gibt, was einen Prozess darstellt. Also es gibt das Erwachen, es gibt

das zeitlose Gewahrsein, nur nicht als ein fixes Ding. Wir können die Frage vielleicht einmal so weit

beantworten. Es ist eine andere Form von Existenz als die, die normalerweise gemeint ist. Diese Frage

hat unter den buddhistischen Schulen zu reichlichen Diskussionen geführt, und es ist wesentlich, dass

wir uns klar werden, dass das Erwachen genauso leer ist, genauso ohne Wesenskern ist, wie die

Verwirrung. Dass Gewahrsein und Bewusstlosigkeit, Nicht-Gewahrsein, die gleiche Natur des Geistes

haben, die aber auch nicht fassbar ist. Auch die Natur des Geistes existiert nicht als solches, auch sie

ist leer von einem Wesenskern, also nicht greifbar. Greifbare, fassbare, beschreibbare Existenz ist das,

was normalerweise mit Existenz gemeint ist. Bedeutet aber nicht, dass es das nicht gibt. Deswegen

fallen wir nicht ins andere Extrem, um zu sagen, „Das existiert nicht.“ Aber es ist auch nicht die

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Kombination dieser beiden Extreme. Etwas kann nicht zugleich greifbar existieren und unfassbar sein.

Das geht auch nicht.

* * *

Im sechsten Vers geht es um den Weg, der aus dem Erwerben der beiden Ansammlungen besteht.

Die eine Ansammlung heißt positive Kraft, Verdienste und besteht im heilsamen Handeln. Die andere

ist das Ausweiten des zeitlosen Gewahrseins. Auch da können wir in extreme Haltungen verfallen, die

wir mit Zuschreiben und Leugnen benennen. In Hinblick auf die Ansammlung von Verdiensten

würde das Extrem des Zuschreibens bedeuten, dass jemand Verdienste – positive Kraft – für so gegen-

ständlich hält, dass er sagt: „Ich muss jetzt Lichtopfer und Wasseropfer aufbauen. Ich muss Tormas

machen, das wird mich zur Erleuchtung bringen!“, „Ich muss Niederwerfungen machen, ich muss jetzt

Verdienste ansammeln, das wird es bringen!“ Wenn dann da jemand in die Quere kommt und

vielleicht sagt, „Du, die Decke wird schwarz. Können wir nicht die Kerzen draußen lassen?“ – „Nein,

nein! Die müssen vor dem Buddha stehen!!“ Das ist das Überbewerten, die Haltung des Zuschreibens

einer übergroßen Bedeutung von etwas, auf das wir uns fixieren.

Was wir das Aufbauen der positiven Kraft nennen, ist eigentlich nicht dafür gedacht, dass Retreat-

Zentren unbedingt in Brand stehen und dass dadurch Konflikte ausgelöst werden. Wenn ein Verhalten,

das dem Ansammeln von Verdiensten gilt, dazu führt, dass wir uns mit anderen verkrachen, dann

stimmt da irgendetwas nicht. Da sind wir wahrscheinlich in einem Fixieren gelandet. Das nennt man

hier das Zuschreiben von übermäßiger Bedeutung. Wir können es aber auch nicht leugnen. Leugnen

würde die andere Haltung bedeuten: „Komm, was machst denn du da mit deinen Wasseropferungen,

mit deinen Kerzen? Was soll denn das? Das soll zum Erleuchten führen?“ Also ein Leugnen der Wich-

tigkeit dieser kleinen Handlungen. Das geht dann weiter, indem wir sagen: „Anderen helfen? Wieso

eigentlich? Es ist doch ohnehin nur Einbildung, dass da jemand anderen hilft, aus irgendwelchen illu-

sorischen Leiden herauszufinden.“ Das ist das Leugnen der Ebene von Ursache und Wirkung, hier im

Bezug auf heilsames Handeln. Wenn man ein bisschen überzeichnet, erkennt man sofort, dass es

extreme Haltungen sind. Wenn wir sie nicht so extrem darstellen, dann merken wir sofort, dass wir

selber auch in den Extremen sind. Es macht uns z. B. was aus, wenn wir einen Morgen die Schälchen

auf unserem Altar einmal nicht aufgefrischt haben, wenn wir die Opferungen nicht erneuert haben

oder wenn wir irgendeine kleine Abmachung in Bezug auf heilsames Handeln im Rahmen des Dharma

nicht einhalten. Dann kommt so ein Stocken, wir werden ganz unsicher. Dann müssen wir erst einmal

überlegen, „Na? Blockiert das wirklich den Weg zum Erwachen?“ Wir müssen erst einmal überlegen

und uns damit entspannen.

Das Gleiche ist aber auch mit dem Leugnen. So leicht tut man die heilsamen Handlungen von anderen

ab, mit einer Geste aus einer intellektuellen Arroganz heraus: „Ist doch gar nicht nötig. Dieser

illusorische Bodhisattva, der sich um illusorische Wesen und um ihr illusorisches Leid kümmert, was

soll das eigentlich?“ Da fallen wir in das andere Extrem. Wichtig ist zu verstehen, was hilft. Es hilft,

mit reiner Motivation eine Handlung auszuführen zum Wohle aller Lebewesen, auch wenn diese

Handlung nur symbolisch ist. Wenn es nur das Vorstellen einer kleinen Blume im Geist ist, die wir im

Geist innerlich zu den Buddhas hochsteigen lassen. So einfach kann das sein. Das kann ganz starke

Auswirkungen haben, weil es mit einer reinen Motivation voll bewusst geschieht. Daraus eine

Fixierung zu machen, ist dann wieder die Falle des Zuschreibens und des Wirklichkeitsglaubens.

In Bezug auf die Ansammlung der Weisheit, also das Ausweiten des zeitlosen Gewahrseins können

wieder dieselben Muster zum Zug kommen. Wir können z.B. in der Meditation so verzweifelt werden,

weil wir nie dieses nonduale zeitlose Gewahrsein finden. Wo ist es denn? Und wir sind im Grunde

genommen dabei, ihm eine Existenz außerhalb von uns, außerhalb unseres jetzigen Seins zuzu-

schreiben und darum zu ringen, in dieses Gewahrsein hineinzufinden. Dabei beschreibt es nur die

Natur unseres jetzigen Erlebens, das was ohnehin immer schon da ist. Es ist ein Missverständnis, es ist

ein Wirklichkeitsglaube, es wird eine Existenz zugeschrieben. Es wird zu einem Gott gemacht, es wird

quasi angebetet. Das ist ein Extrem, da findet eine Übersteigerung statt, aufgrund von Missverständ-

nissen, aufgrund von emotionalen Bedürfnissen.

Gleichzeitig ist da aber auch das Leugnen, dass es dieses Gewahrsein gibt und dass es wirkt, befreit

und dynamisch ist. Zu leugnen, dass es die Möglichkeit zu erwachen gibt, wäre das andere Extrem.

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Das können wir bei Menschen finden, die behaupten, dass es kein solches Gewahrsein, kein freies

Gewahrsein gibt. Es gibt Menschen, die behaupten, dass Gewahrsein nur dualistisch funktionieren

kann, sie haben aber nicht die Erfahrung gemacht, die es braucht, um zu einer Korrektur dieser

Überzeugung zu gelangen.

Das sind verschiedene Aspekte des Leugnens. Im Grunde genommen dasselbe wir vorher, wir haben

einerseits die nihilistische Tendenz und auf der anderen Seite haben wir die existenzialistische, also

die Existenz bestätigende Tendenz. Wir müssen ihrer gewahr sein, weil wir uns tatsächlich mal so mal

verhalten. Wir haben diese Tendenzen in uns.

Teilnehmerin: Vielleicht ist es auch etwas Natürliches, dass man, wenn man mit den Verbeugungen

anfängt, so eine Zahl im Kopf hat und sich damit identifiziert. Das löst sich ja dann irgendwann doch

auf.

Wenn wir den Dharmaweg gehen, werden sich alle unsere Fixierungen zeigen, und speziell das Zählen

im Ngöndro ist dafür gedacht, dass sich unsere Zahlenfixierung zeigt und erschöpft. Wir sehen es, und

obwohl wir es sehen, finden wir noch nicht den Ausweg. Aber das gehört mit dazu. Es gehört mit

dazu, das alles ganz deutlich im Spiegel des Bewusstseins zu sehen.

Wenn ich das bei jemandem beobachte, dann motiviere ich ihn trotzdem, dran zu bleiben und es lieber

so zu machen, obwohl ich es nicht gut finde, dass er fixiert ist. Aber lieber so eine Fixierung als es

jetzt ganz zu lassen, oder?

Das ist besser, als wenn er versucht, im Videospiel möglichst viele Punkte zu kriegen. Aber wenn wir

eine Gelegenheit hätten, dann würden wir diesen Praktizierenden schon ermutigen, doch etwas mehr

Qualität in die Niederwerfungen zu bringen und tatsächlich auch an die Zuflucht zu denken.

Teilnehmer: Wenn wir durch das Ngöndro das Fixieren der Zahlen aufbauen und bei einer anderen

Praxis heißt es dann, wir dürfen nicht mehr zählen, was ist damit?

Das mag es auch geben, dass manche eine Fixierung auf Zahlen aufbauen. Das hängt auch mit dem

Umfeld zusammen. Wenn im Umfeld den Zahlen ein großer Wert beigemessen wird, dann entsteht bei

allen von uns eine Fixierung auf Zahlen. Das haben wir bei uns im Drei-Jahres-Retreat auch ganz gut

beobachten können. Die Zeit kurz halten und die Zahlen betonen und alle funktionieren, fast alle.

Methoden können sich also auch gegen den Praktizierenden wenden. Sie können auch Tendenzen

verstärken, die nicht so heilsam sind. Jede Methode birgt diese Gefahr in sich.

Dadurch erlangen wir die Frucht, die beiden Nutzen, den eigenen und den der anderen, frei von

den Extremen des Werdens und des Friedens. ‚Werden’ ist der korrekte Ausdruck für das, was wir

dann oft mit Daseinskreislauf übersetzen. Der Prozess des Werdens – bhava auf Sanskrit – ist das, was

durch die Kräfte des Karmas immer wieder unterhalten wird. Die Kräfte des ichbezogenen Handelns

führen immer wieder dazu, dass wir uns neu identifizieren. Weil wir aus Ichbezogenheit handeln,

erzeugen wir Kräfte, die zu neuer ich-identifizierter Existenz führen. Das ist der Kreislauf des

Werdens. Wir nennen es auch einfach Samsara. Frieden steht hier für Nirwana und bezieht sich auf

das Befrieden der Kleshas, der emotionalen Verblendung und bezieht sich hier darauf, in dem Frieden

zu verweilen, wo sich unsere Kleshas aufgelöst haben, ohne Bezug aufzunehmen zu Lebewesen, die

noch in den emotionalen Wallungen stecken und die Hilfe brauchen. Es ist also hier ein einseitiger

Frieden gemeint. Das Extrem ist der Frieden ganz allein für mich. Das ist das eine Extrem und das

vorhergehende war, sich zu verwickeln in ichbezogener Aktivität und eigentlich den Kreislauf der

Existenzen aufrecht zu erhalten.

Teilnehmer: Ich habe noch eine Frage zum fünften Vers. Wir hatten ja über die Weisheit, die aus der

Meditation entsteht, gesagt, dass das die ist, die auch jenseits von Dualismus führt. Ich verstehe es von

den Begriffen her nicht. Wo unterscheidet sich das und wo kommt die Grenze von diesem zeitlosen

Gewahrsein?

Das ist auch wieder eine gute Frage. Was wir Weisheit nennen oder Prajna auf Sanskrit ist also ein

immer subtiler werdendes Verstehen von dem, wie die Dinge sind. Und wenn dieses Verstehen ein-

mündet in das zeitlose Gewahrsein, dann wird es zu Jnana. Das zeitlose Gewahrsein ist die höchste

Form von Weisheit. Man braucht also nicht extra einen anderen Begriff. Wir nennen das dann auch

Prajnaparamita, das ist die Weisheit, die zum anderen Ufer führt, die transzendentale Weisheit. Das ist

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die, die wirklich in die Befreiung führt. Wir brauchen nicht einen anderen Begriff einzuführen. Es ist

einfach so, dass sich die Weisheit noch weiter vertieft oder ausweitet.

Teilnehmer: Eine Frage zum Nirwana. Beim Arhat heißt es ja, er hat die Leerheit des Ich verstanden,

also realisiert, aber noch nicht die Leerheit der Phänomene. Das ist so ein Punkt, den finde ich schwer

zu verstehen, weil beides ja voneinander abhängt. Wo es ein Ich gibt, gibt es dann ja auch gleich

wieder ein Gegenüber.

Ich habe diese Frage auch mit meinen Kollegen aus dem Theravada diskutiert. Wie darüber bei uns im

Mahayana gesprochen wird, ist für die meisten Praktizierenden im Theravada nicht zutreffend, weil

sich auch da ein ganzer Prozess entwickelt hat. Die Leerheit der Phänomene – inklusive der Leerheit

der Skandhas, inklusive der Leerheit der Elemente – ist heutzutage im Theravada von den allermeisten

Klöstern und ihren Traditionen voll akzeptiert. Die Anschauung, dass die Leerheit der Phänomene

nicht voll realisiert sei, gilt für Arhats aus der Schule der Vaibashikas. Sie haben sich zwar voll und

ganz dem Auflösen der ichbezogenen Impulse zugewendet, haben es aber in der Analyse, in der Schau

der Phänomene dabei belassen, die Existenz der äußeren Materie auf letzte, kleine, nicht wahrnehm-

bare Partikel zurückzuführen. Und ebenso führen sie den Faktor Zeit auf kleinste Zeiteinheiten zurück.

Sie gehen in der Analyse nicht weiter und bleiben damit eigentlich in einem unvollständigen Verständ-

nis der Phänomene stecken. Das gilt also nur für einen Teil der heutigen Theravada-Praktizierenden

und bezieht sich genau auf diese nicht ganz bis zum Ende geführte Schau oder Analyse, die etwas

weiter geht bei den Pratyeka-Buddhas und die bei den Bodhisattvas dann vollständig wird.

Wie man sich das erklären kann, dass es nicht dazu kommt, hängt damit zusammen, dass Leidfreiheit

bereits eintritt, wenn die Ichbezogenheit aufgelöst ist. Das reicht für Leidfreiheit. Es entsteht kein

subjektiv empfundenes Leiden aus den kognitiven Schleiern, die nicht aufgelöst wurden. Daher ist zu

erklären, warum sie da nicht weitergehen. Da ist kein Motor, da ist kein Antrieb weiterzugehen, wenn

nicht der Antrieb wäre, mitfühlend in der Welt zu handeln. Sobald man sich in der Welt einbringen

möchte und in der Welt aktiv sein möchte, ist es ganz wesentlich, auch das Verständnis der

Phänomene, speziell der als äußere Welt erlebten Phänomene, zum Abschluss zu bringen. Geschieht

das nicht, gibt es ein erhebliches Hindernis für die Aktivität zum Wohle der Anderen, weil wir ständig

mit Phänomenen, also mit äußeren Erscheinungen zu tun haben. Nur so kann ich es mir erklären.

7. Vers

Die Basis der Reinigung ist der Geist an sich, klar und leer zugleich

das Reinigende ist der große Vajra-Yoga des Mahamudra

und das zu Reinigende sind die zeitweiligen Makel der Verwirrung –

möge sich die Frucht der Reinigung, der makellose Dharmakaya, offenbaren.

Nach dem, was wir schon besprochen1 haben, ist das eigentlich nicht schwer zu verstehen. Die Basis

des Weges ist der Geist an sich. Der Weg besteht darin, Schleier aufzulösen, deswegen nennt man das

auch Reinigung. Dieser grundlegende Geist wird als klar und leer zugleich beschrieben. Mit klar ist

seine Dynamik gemeint und mit leer ist gemeint, dass weder Geist noch Erscheinungen fassbar sind,

dass sie keinen Wesenskern haben. Auf dem Weg setzen wir das Reinigungsmittel ein, das ist der

große Vajra-Yoga des Mahamudra. Das bedeutet, wir bringen Sicht, Meditation und Handeln des

Mahamudra zum Einsatz. Wir üben die Sicht, dass alle Phänomene Geist sind, dass Geist leer, dass er

nicht fassbar ist, dass in diesem unfassbaren Geist sich ungehindert eine Vielfalt von Erscheinungen,

Erfahrungen manifestiert und dass sich all diese Erfahrungen von selbst auflösen, von selbst befreien.

Das sind die vier Kernsätze. So sehe ich das Mahamudra.

Mit der Meditation ist vollkommen natürliches Meditieren gemeint, ohne zu manipulieren, frei von

Hoffnung und Furcht, also ohne etwas zu beabsichtigen und ohne etwas zu vermeiden. Und mit Han-

deln ist das Handeln aus diesem völlig offenen Bewusstsein heraus gemeint, das absichtslose Handeln

des Gewahrseins, das nicht mehr in Ichbezogenheit gefangen ist. Sicht, Meditation und Handeln

befreien sich von den Einflüssen der Ichbezogenheit, dieses Ichgefühl geht auf im zeitlosen Gewahr-

sein, das auch Vajra-Bewusstsein genannt wird. Dieses Gewahrsein ist unzerstörbar, es ist durch nichts

beeinflussbar. Selbst die schwerste Psychose kann die Natur des Geistes nicht stören. Die Natur des

1 1. Abendunterweisung

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Geistes ist vor und nach einer Psychose immer noch dieselbe. Dieses zeitlose Gewahrsein ist nicht zu

beeinträchtigen, durch nichts. Es ist einfach die Natur dessen, was sich zeigt, die Natur von Bewusst-

heit. Deswegen der Begriff Yoga, die Praxis der Einheit, zu einer Einheit finden, die Einheit von

Erscheinungen und Leerheit, Freude und Leerheit, Klarheit und Leerheit. Die Einheit zu erkennen

nennt man Yoga. Eine Praxis, die zur Erfahrung der Einheit führt, ist im tiefsten Sinne des Wortes ein

Yoga. Yoga ist das, was zusammenführt, was vereint. Und es ist der Vajra-Yoga, weil es mit der

unzerstörbaren Dimension unseres Geistes vereint, weil es zu dieser Einheit im durch nichts zu

beeinflussenden, Gewahrsein führt. Deswegen nennt man es den Vajra-Yoga des Mahamudra. Wir

könnten es auch übersetzen: Die wunderbare Praxis, die zum Erwachen des unzerstörbaren Gewahr-

seins führt.

Das Reinigende ist das Anwenden dieser Unterweisungen in jeder Situation. Was dabei gereinigt

wird, das zu Reinigende, sind die zeitweiligen Makel der Verwirrung. Es ist unsere Verwirrung, die

gereinigt wird, es sind unsere Schleier. Diese Verwirrung, diese Schleier sind aber nicht etwas, was

unserem Geist für immer inne wohnt. Sie sind von daher nur zeitweilig vorhanden, für ein paar Leben.

Wenn man den Begriff ‚zeitweilig’ noch genauer untersucht, dann bedeutet er tatsächlich, dass es

Schleier sind, die sich auflösen, wenn sich das Erwachen vollzieht. Aber ‚zeitweilig’ bedeutet auch,

dass die Schleier immer von Moment zu Moment aktiv sind, dass sie auch in dem Sinne zeitweilig

sind, obwohl sie uns wie ein Klotz vorkommen, wie ein riesiger Vorhang, der sehr solide ist und wo

man gar nicht durchschauen kann. In Wirklichkeit handelt es sich auch um, von Moment zu Moment

entstehende Schleier, die sich aufgrund von Kräften immer wieder neu manifestieren. Das sind die

Kräfte unserer Muster, unserer früheren Denk- und Handlungsweisen, die immer wieder dazu führen,

dass wir Situationen auf eine besondere Art und Weise interpretieren, z.B. aus dem Blickpunkt der

Ichbezogenheit, Subjekt – Objekt. Es ist also kein durchgehender Schleier, obwohl er fast immer an-

wesend ist, sondern ein Schleier, der sich in jeder Erfahrung neu aufbaut. Auch das ist die Bedeutung

von zeitweilig. Die eine Bedeutung ist also, dass es sich reinigen lässt und die andere ist, dass die

Bedeutung von Moment zu Moment entsteht. Das ist beides mit diesem Wort gemeint. Wir lösen

damit also all die unnötigen Komplikationen auf, die unser jetziges Erleben begleiten.

Und dadurch offenbart sich die Frucht der Reinigung. Das Ergebnis wenn alles gereinigt ist, ist, dass

die natürliche Klarheit, Offenheit des Geistes zum Vorschein kommt. Die nennen wir Dharmakaya,

den Wahrheitskörper, die Offenheit des Geistes, das nonduale Gewahrsein, die Natur der Dinge, die

Soheit. All das sind Synonyme, die Soheit, das alles sind verschiedene Worte, die auf dasselbe

hinweisen, auf das Unbeschreibbare hinweisen.

Teilnehmer: Du hast vorhin vom Essenz-Mahamudra erzählt. Als du gesagt hast, dass auch die

Verwirrung von Moment zu Moment neu entsteht, da wurde mir klar, dass ja zeitgleich auch das

Erwachen von Moment zu Moment geschehen kann und es keinen Pfad braucht.

Ja, richtig! Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Weil auch die Schleier sich von Moment zu Moment

neu aufbauen, ist es gerade darum auch möglich, in jedem Moment zu erwachen. Wenn da ein

kompakter dauerhafter Schleier wäre, dann wäre die Möglichkeit in jedem Moment zu erwachen, nicht

gegeben.

Teilnehmer: Ich habe es so verstanden, dass die Störgefühle auch Geist sind und dementsprechend die

letztendliche Natur des Geistes haben. Und weil die Störgefühle auch Geist sind, beinhalten sie die

fünf Weisheiten. Wenn ich mich nicht einmische, transformieren sich die Störgefühle in Weisheiten

und das wäre dann die Reinigung.

Passiert das einfach so?

Wenn die Störgefühle hochkommen, Verwirrung hochkommt und ich gewahr bin und sie entstehen

lasse, dann tauchen sie wieder ein. Ich habe es so verstanden, dass sie so in Weisheit transformiert

werden.

Fast richtig. Der springende Punkt ist genau, was du sagst: gewahr zu sein. Es reicht nicht aus, nur des

Auftauchens der Störgefühle gewahr zu sein. Wir müssen ihrer Natur gewahr sein. Und da besteht

kleiner Unterschied. Wenn wir nur bewusst sind, „Da ist Ärger“, das kann lange gehen. Wir müssen

uns der Natur des Ärgers bewusst werden, sonst werden wir ihn nie als Weisheit entdecken. Viele von

uns wissen: „Ich bin ärgerlich, ich bin ärgerlich, ich bin ärgerlich…“ Das Gewahr sein muss sich also

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der Natur des Erlebens zuwenden, nicht dem Inhalt. Das ist der Unterschied, nicht dem Inhalt, sondern

der Natur des Erlebens sich zuwenden. Das ist die Reinigung. Was dann passiert, ist auch nicht, dass

sich das Störgefühl transformiert und plötzlich zu einer Weisheit wird, sondern der Schleier dessen,

was das Störgefühl ausmacht, verschwindet. Er löst sich auf und das Gewahrsein zeigt sich. Es ist also

nicht eine Transformation im wahren Sinne des Wortes, es ist das Wegfallen von etwas, was das

Wesen der Natur der Dinge zum Vorschein kommen lässt. Da machen manche Dharmalehrer auch zu

hastige Abkürzungen und sprechen von Transformation der Emotionen in Weisheit, wie von einer

inneren Alchemie. Als ob aus der Begierde noch etwas Gutes herauszuholen wäre. Das einzig Gute an

der Begierde ist, dass sie sich auflöst und das unterscheidende Gewahrsein sich enthüllt. Es ist nicht

so, dass die Begierde plötzlich zu einem Goldschatz wird. Und da haben tibetische Texte, wie dieser

bekannte Kommentar von Karma Tschagme, „Der große Pfau“, auch etwas Vorschub geleistet, denn

es heißt dort gyur. Dieses Wort gyur übersetzen wir oft mit transformieren, es bedeutet aber in dem

Zusammenhang, dass es sich enthüllt, dass sich etwas Neues enthüllt. Es ist keine Transformation.

Teilnehmer: Ich habe noch eine Frage zu der Terminologie. Mal sagst du Gewahrsein, mal sagst du

nicht duales Gewahrsein, Bewusstsein, mal Bewusstheit. Mir ist noch nicht ganz klar, wie du diese

Begriffe auseinander hältst.

Es geht mir darum, sie nicht auseinander zu halten, sondern dass allen klar wird, das es Synonyme

sind. Hinter den Begriffen stehen verschiedene tibetische Ausdrücke, die ebenfalls Synonyme sind. In

dem Zusammenhang: rigpa, yeshe, manchmal auch sem nyi-me. Das sind alles Synonyme im

Tibetischen und das Wichtige hier ist, sich dran zu gewöhnen, nicht nur einen Begriff zu nehmen,

sondern immer wieder von verschiedenen Seiten auf dasselbe hinzuweisen.

Teilnehmer: Unter Bewusstsein, denke ich, stellen wir uns hier eher etwas Individuelles vor.

Deswegen benutze ich Bewusstheit normalerweise für rigpa, Bewusstsein für namshe, für vijnana

usw. Da sind also Unterschiede und ich bin mir der Unterschiede auch bewusst, wenn ich spreche.

Aber ich möchte das hier nicht zu einem zu scholastischen Kurs machen. Es geht darum, die Essenz zu

verstehen und das ist nicht zu sehr davon abhängig.

Teilnehmer: Als du gestern das mit den Fixierungen erklärt hast, habe ich das so verstanden, dass es

reicht, die Fixierungen loszulassen und dadurch entsteht der Raum, wo Weisheit sich zeigen kann oder

sich zeigt. Jetzt mit diesem Beispiel des Ärgers hast du gemeint, es reicht nicht zu sehen, dass man

ärgerlich ist, sondern es braucht noch dieses Element von Weisheit, das man quasi da hinzufügen

muss.

Nein, es braucht eine direkte Schau. Es ist nicht so, dass eine Weisheit hinzuzufügen wäre, sondern es

braucht eine direkte Schau der Natur der Emotion. Wir sollen also nicht mit dem Inhalt beschäftigt

sein, sondern es geht darum, das Wesen, die wahre Natur des Erlebens anzuschauen.

Also im Fall von Ärger. Ich ärgere mich über etwas, dann checke ich irgendwie, ich stecke da drinnen,

schaffe es irgendwie diese Fixierung auf das Objekt zu lösen und dann? Habe ich dann noch was zu

tun?

Wenn du die Fixierung auf das Objekt löst, dann wirst du in deinem Geist so eine Art Decrescendo

erleben, d.h. der Ärger löst sich allmählich auf. Das ist die Erfahrung, wenn im dualistischen Geist

eine Fixierung gelöst wird und der Geist sich allmählich anderen Dingen zuwendet. Es kommt zu

einem Decrescendo. Wenn du die Natur der Emotion schaust, dann ist die in der Zehntelsekunde

vorbei. Es gibt kein Decrescendo, sondern es ist vorbei. Wirklich weg, keine Spur mehr. Das ist

anders, das ist ein anderer Prozess. Und nur dieser Prozess der direkten Schau der Natur der Dinge

eröffnet das zeitlose Gewahrsein. Das andere ist, dass das Haften im dualistischen Gewahrsein gelöst

wird und wir mit unseren dualistischen Wahrnehmungen woanders weitermachen. Dadurch kommt es

zu einem Abschwellen der Emotion. Auch gut, sehr hilfreich. Es geht mit Ablenkung. Es geht da-

durch, dass man das nicht mehr so wichtig nimmt, dass irgendetwas anderes wichtiger wird, dass man

sich auf den Atem ausrichtet, dass man irgendwie den Geist auf etwas Heilsames, Schönes richtet. Das

führt alles dazu, dass die Fixierung auf die Emotion weniger wird.

Da kann es dann aber auch zu einem Weisheitsmoment kommen, oder dass z.B. eine Dharmalehre

einfällt.

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Ja, es kommt dann auch zu Erkenntnissen, z.B. dass die Emotion tatsächlich nicht wichtig war. Das

merkt man dann und dass sie sich tatsächlich auflöst, dass sie das einfach tut. Das sind Erkenntnisse

die dann entstehen, Weisheit entsteht also auch, aber nicht diese letztendliche Weisheit, was wir

zeitloses Gewahrsein nennen. Es braucht noch ein etwas tieferes Schauen, um das zu sehen.

Teilnehmer: Oben ist von den vier Kayas die Rede, und es wurde auch explizit gesagt, dass die ja

untrennbar sind. Warum wird der Dharmakaya explizit herausgenommen?

Weil der für sich alleine auch schon für alle vier steht.

Teilnehmer: Wenn der Ärger hochkommt, dann ist da eine starke Emotion. Wir stellen aber fest, wenn

wir gewahr sind und das einfach fokussieren, dass es weniger wird. Ist das nicht zugleich dann, wenn

wir merken er hat nicht diesen Bestand, dass wir dann auch schon diese Natur erkennen? Dass er

nicht so fest ist, dass er Veränderung hat. Dass wir das erkennen, wenn wir sehen, dass er verfliegt.

Gut, er kommt wieder, aber dass wir erkennen und überprüfen.

Ja, ein bisschen davon wurde erkannt, die Richtung ist richtig. Es ist immer noch vermengt mit einem

begrifflichen Erkennen, es ist vermengt mit einem Ich, das die Natur seiner Emotion erkennt. Das ist

noch nicht die Schau, von der ich hier spreche, von der ich jetzt hier sprechen muss, weil ich jetzt

gerade Mahamudra unterrichte. Was du beschreibst, sind Erkenntnisprozesse, die im Rahmen von

Shine, von Shamatha-Praxis stattfinden. Auch was von der Teilnehmerin vorher beschrieben wurde,

sind typische Shamatha-Erkenntnisse, die sich im Rahmen dieser Praxis einstellen, wenn man schon

eine gewisse Achtsamkeit hat und schon einiges mitbekommt von dem, wie die Prozesse laufen.

Wie erkennt man das andere, oder erlebt man das? Wie macht man das?

Noch weiter loslassen, noch mehr Vertrauen. Die Werkzeuge, wie man das macht, habe ich euch

schon in anderen Kursen erklärt. Damit machen wir auch weiter. In diesem Kurs hier seid ihr sehr

herausgefordert, weil es eine sehr subtile Sichtweise ist. Die Dinge werden vom letztendlichen

Standpunkt her betrachtet, und das ist sehr herausfordernd. Da kommt ihr manchmal mit eurem Durst

nach ganz konkreten Unterweisungen, die euch Schritt für Schritt führen, ein bisschen zu kurz. Ihr

möchtet gerne eine to-do-Liste. „Jetzt mach ich das, dann mach ich das und dann mach ich das.“ Die

kriegen wir hier nicht.

8. Vers

Zuschreibungen bezüglich der Basis beseitigt zu haben, ist Gewissheit der Sicht,

diese unabgelenkt zu wahren, ist der Schlüsselpunkt der Meditation

und Geschick in allen Aspekten der Meditation zu entwickeln, ist höchstes Handeln –

mögen wir Gewissheit in Sicht, Meditation und Handeln besitzen.

Was die Basis angeht, die Geistesnatur, haben wir geklärt. Was Zuschreibungen bezüglich der Basis

sind, haben wir auch geklärt. Im Grunde genommen handelt es sich dabei um Ideen über den Geist,

um fixierende Definitionen. Die Basis, die eigentliche Geistesnatur, ist nicht fassbar durch Definitio-

nen. Definitionen hüllen uns in eine vermeintliche Sicherheit, die ganz leicht ins Schwanken kommt,

wenn jemand etwas anders darüber redet, aber das Eigentliche hat sich nicht verändert. Das Eigent-

liche ist immer noch gleich. Es geht um die Basis, die Natur des Geistes, sie jenseits der Begriffe zu

erfahren.

Gewissheit der Sicht aufzubauen bedeutet, ganz klar darüber zu werden, was der Geist alles nicht ist –

allein schon intellektuell. Was alles nicht zutreffende Beschreibungen sind, ist schon einmal ganz,

ganz wichtig. Und es braucht hinführende Beschreibungen, wie man sich dem Geist, dem Gewahrsein

annähern kann. Das zu überprüfen muss der Logik standhalten, es darf nicht unlogisch sein. Es muss

im Einklang mit der Erfahrung sein, es darf unseren Erfahrungen nicht widersprechen, auch das muss

stimmen. Und dann überprüfen wir das auch noch in der Meditation. Auch Shine bzw. Shamatha, also

Geistesruhe-Meditation hilft enorm in der Klärung der Sicht. Wir werden immer gewisser, immer

zuversichtlicher in dem, was eine Sicht dieses Prozesses ist, den wir Gewahrsein nennen.

Dieses Verständnis über den Geist und seine Natur, müssen wir uns erarbeiten. Das fällt uns nicht

einfach in den Schoß. Deswegen gibt es Kurse zu Madhyamaka, den Lehren des mittleren Weges zum

Thema Prajnaparamita: Was ist eigentlich höchste Weisheit? Es gibt Kurse zu Mahamudra. Es gibt

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immer wieder Erklärungen zur Natur des Geistes. All das dient dazu, die Sicht zu schulen und ver-

kehrte Sichtweisen fallen zu lassen, ohne in neuen Fixierungen zu landen. Genau darum geht es. Es

geht nicht darum, uns eine Sicht anzulernen, sondern verkehrte Sichtweisen fallen zu lassen und dann

zu schauen, was übrig bleibt. Wie kann man es ausdrücken und dabei nicht schon wieder in eine

verkehrte Annahme fallen?

Die Schulung der Sichtweise ist das Hauptanliegen speziell der tibetischen Tradition. Diese Sichtweise

wird in der Zen-Tradition auch geschult. Die Koan-Schulung z.B. fordert all unsere verkehrten Sicht-

weisen heraus. Solange wir noch in diesen Sichtweisen funktionieren, winkt der Roshi ab, er schickt

den Praktizierenden hinaus: „Schau dir den Koan wieder an, mach weiter!“ Er praktiziert weiter, bis

sich eine Schicht verkehrter Sichtweisen gelöst hat und man mit einer Antwort durchkommt. Dann

bekommt man den nächsten Koan, und der geht die nächste Schicht verkehrter Sichtweisen an.

Genauso ist es auch im Mahamudra mit diesen herausfordernden Unterweisungen, die wir jetzt

miteinander teilen. Es werden Sichtweisen attackiert. Ihr sitzt da und innerlich kratzt ihr euch am Kopf

und überlegt, was gemeint ist, usw. Es ist herausfordernd. Ihr wühlt euch da so durch und kommt zu

ersten Verständnissen, versucht die abzuklären, und dann heißt es: „Jein, knapp am Ziel vorbei! Das

ist es doch nicht, schau noch mal hin!“ Manchmal heißt es „Ja!“ und dann geht es ein Schrittchen

weiter. So sind wir in diesem Prozess der Klärung der Sichtweise.

Wenn die Sichtweise geklärt ist, dann können wir richtig anfangen zu meditieren, denn Mahamudra-

Meditation besteht darin, sich immer wieder in dieser Sicht des nicht-fixierenden Schauens zu

stabilisieren, immer wieder da hinein zu finden. Immer wieder in die Schau der Natur der Dinge zu

finden, wodurch sich die Natur der Dinge immer mehr enthüllt, das ist Mahamudra-Praxis.

Mahamudra-Praxis kann nicht stattfinden, bevor wir nicht die Sicht geklärt haben. Deswegen sprechen

wir auch lieber von Shine-Praxis, von Shamatha-Praxis, also Geistesruhe. Das können wir überall, wo

wir sind, praktizieren. Es wird uns helfen, unsere Sicht zu klären. Wir können das noch nicht

Mahamudra-Praxis nennen. Wir können auch die kleinen Fragen, die wir uns stellen, nicht wirklich

Lhagtong-Meditation nennen. Es sind Fragen, die unsere Einsicht stimulieren, die uns zu einem be-

stimmten Schauen führen. Aber erst wenn die Schau den Knackpunkt löst und sich ein nichtbe-

griffliches, mittelpunktloses Schauen einstellt, wo keine Subjekt-Objekt-Wahrnehmung mehr da ist,

erst dann sprechen wir von Mahamudra. Das ist der Moment intuitiver Einsicht. Von Mahamudra-

Praxis sprechen wir, wenn wir immer wieder zurückfinden in diese mittelpunktlose Schau der Dinge.

Das ist Mahamudra-Praxis.

Der Mahamudra-Weg holt uns da ab, wo wir sind. Wir praktizieren Geistesruhe und mit den Lhag-

tong-Fragen, wie „Wo ist der Geist? Hat er eine Farbe, hat er eine Form?“ usw., mit diesen nervenden

Fragen kommen wir allmählich dazu, diese Sichtweisen auszuräumen und das direkte Schauen zu

lernen. Erst wenn sich das einstellt, sprechen wir von Mahamudra-Meditation, die darin besteht diese

Sicht aufrecht zu erhalten. Unabgelenkt, ohne in dualistisches Haften zu verfallen.

Geschick in allen Aspekten der Meditation zu entwickeln, ist höchstes Handeln. Handeln ist also

eigentlich Meditation und Meditation ist Sichtweise. Im Grunde genommen ist Handeln das Leben in

der direkten Schau, aus der heraus sich die Aktivität zum Wohl aller Wesen ergibt. Noch einmal

langsam: Der erste Schritt ist das Klären der Sicht. Der zweite Schritt ist das Verweilen in der Sicht.

Der dritte Schritt ist das Aufgehen in der Sicht, auch im Handeln. Handeln ist herausfordernder als nur

meditieren, mit Handeln meinen wir, dass wir mit unserer Umwelt in Wechselbeziehung treten. Da

verlieren wir normalerweise unsere direkte Schau, weil all unsere dualistischen Tendenzen stimuliert

werden. Darin den Schlüsselpunkt der Meditation aufrechterhalten zu können, das ist die Mahamudra-

Praxis, die Mahamudra-Aktivität.

Teilnehmer: Das Nonduale außerhalb der Meditation hat ja letztendlich nur ein Buddha. Also ein

Arhat z.B. der erkennt die Leerheit ja nur in der Meditation, wenn der aus der Meditation wieder

heraus geht, dann sieht der ja auch wieder dual. Er sieht es ja nur, wenn er sich in der Meditation

befindet. In der Nachmeditation erscheint einem Arhat auch alles dual, d.h. nur ein Buddha ist ja

sowohl in der formalen Meditation als auch in der Nachmeditation im nondualen Gewahrsein. So

habe ich das verstanden.

Da sind zu viele Hypothesen drin, das mag ich jetzt nicht alles entschlüsseln. Versuch die Frage so zu

formulieren, dass die Antwort dir was bringen könnte, dass es zu deiner Praxis eine Relevanz hat. Ich

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mag jetzt nicht auf diesen ganzen Zinnober mit Arhats und Bodhisattvas und Buddhas eingehen, da ist

zu viel Mahayana-Publicity drin.

Ich habe es so verstanden, dass das Nonduale aufrecht zu erhalten ja letztendlich schon das Ergebnis

ist, das ist ja keine Übung mehr. Wer das Nonduale in der Aktivität aufrechterhalten kann, ist ja schon

ein Buddha.

Der ist zumindest ein echter Mahamudra-Praktizierender. Würdest du Jigme Rinpotsche als Buddha

bezeichnen? Vielleicht. Was wir hier lesen, das ist die Praxis von Jigme Rinpotsche, das kann man

sehr gut beobachten. Du hast vielleicht erwartet, hier Schrittweise eingeführt zu werden. Aber

tatsächlich wird hier beschrieben, was echte Mahamudra-Aktivität ist. Und die ist so. Es ist aber ein

Fehler, zu glauben, dass sie nur bei Buddhas vorkommt. Jeder, bei dem sie noch nicht ständig

vorkommt, ist noch kein Buddha. Beim Buddha ist dies ständig der Fall, immer, ununterbrochen, 24

Stunden rund um die Uhr. Die anderen sind noch Mahamudra-Praktizierende in dem Sinn, dass sie

manchmal in dieser spontanen Aktivität sind und manchmal nicht. Dies gilt für alle Bodhisattvas auf

den zehn Bhumis. Bodhisattvas auf den niederen Stufen haben noch größere Mühe darin, das in der

Aktivität tatsächlich auch zu leben, während diejenigen auf den höheren Bodhisattva-Stufen, speziell

ab der siebten und achten, es schon mit großer Leichtigkeit praktizieren.

Für uns konkret bedeutet das, dass auch wir in unserem Handeln, in unserer täglichen Aktivität darauf

achten, möglichst frei von Fixierungen zu sein, einen möglichst offenen Geist zu haben, möglichst

panoramisch. Ich bemühe mich z.B. in einer Situation wie hier darum, ein Gewahrsein des gesamten

Raumes zu haben, zu allen und nicht nur zu einem zu sprechen, obwohl es mir nicht immer gelingt

jeden auch wirklich zu erreichen. Es geht darum, dass man alle einbezieht und an das Wohl aller

denkt, dadurch beginnt sich das Bewusstsein schon zu weiten. Und immer wieder schauen wir auch

hin: „Gibt es da überhaupt jemanden? Ist da ein Zentrum?“ So können wir eine Ahnung bekommen

von dem Fluss unseres Gewahrseins, dass wir die anderen in ihrem Gewahrseinsfluss wahrnehmen,

immer wieder frisch, immer wieder neu. Das können wir. Wir können uns darin üben, jede Person –

uns selber eingeschlossen – immer wieder frisch wahrzunehmen. So nach dem Motto: „Dich kenne ich

ja noch gar nicht! Wie geht’s denn dir?“ So als würde ich dich zum ersten Mal erleben. Natürlich ist

unsere ganze Vorgeschichte da, wir kennen uns und doch ist diese Bereitschaft, sich neu zu entdecken,

genau das, was uns dann hilft auch ins Mahamudra-Bewusstsein zu finden. Es geht um die Bereit-

schaft, immer in der Frische zu sein, immer im frischen Wahrnehmen dessen, was gerade ist und nicht

das Gewesene, die Erfahrungen aus der Vergangenheit, die Erinnerungen, die jetzige Situation domi-

nieren zu lassen. Gestern mag mich jemand angeschrien haben, „Okay, jetzt gerade lächelt diese

Person.“

Wie kann das sein? Es ist ganz wichtig, dass ich offen bin für das, was jetzt ist. Nur dann ermöglichen

wir ja, dass eine wirkliche Entwicklung stattfindet, dass ein Wandel stattfindet, dass etwas Neues

passieren kann. Diese Haltung führt ins Mahamudra. Sie führt dazu, dass wir immer wieder frisch

auch in unseren Aktivitäten schauen, was wirklich heilsam ist, was für alle heilsam ist, dass wir alle

einbeziehen. Das können wir konkret machen, und das lernen wir in der Meditation. In der Meditation

lernen wir, so offen zu sein. Wir lernen, uns nicht abzuschotten, nicht den Erinnerungen zu folgen und

auch nicht den Plänen für die Zukunft, und das setzen wir dann in der Aktivität fort.

* * *

Die Sichtweise des Mahamudra

Mit dem nächsten Vers kommen wir zur Beschreibung der Sichtweise im engeren Sinn. Wir sind

schon seit dem sechsten Vers in Einführungen zur Sichtweise. Sechs, sieben und acht sind Verse die

uns einen Überblick über den Mahamudra-Weg geben und jetzt geht es direkt um die Erkenntnisse, die

Verständnisse, die uns helfen werden, die Mahamudrapraxis zu entwickeln.

9. Vers

Alle Phänomene sind Manifestationen des Geistes

und was den Geist angeht, so ist da kein Geist – Geist ist leer von einer Selbstnatur.

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Leer, erscheint er zugleich ungehindert in jedweder Form.

Dies gründlich untersuchend, mögen wir die zugrunde liegende Wurzel durchtrennen.

Hier wird ein Weg beschrieben, ohne dass uns das vielleicht auffällt. Es ist ein Weg der Erkenntnis,

der sich in der Meditation vollzieht.

Alle Phänomene sind Manifestationen des Geistes. Es gibt eigentlich keine umfassendere Aussage

als das. Alles was wahrgenommen wird, alle Erscheinungen, sind Phänomene, Dharmas. Alles was im

Geist erfahrbar wird. Das bedeutet aber auch, dass wir die äußere Welt mit einbeziehen, also auch ihr

seid für mich Phänomene des Geistes. Ich habe euch nicht erzeugt, aber was immer ich von euch weiß,

taucht als Erfahrung im Geist auf. Die Marianne, die da sitzt, ist eine Manifestation des Geistes, inso-

fern als es gar keine andere Möglichkeit gibt als den Geist mit seinem Erleben, um irgendeine Aussage

zu treffen und mich in Beziehung zu setzen zu dem, was ich da als eine Person wahrnehme. Es gibt

nur die Möglichkeit über den Geist. Wir wissen nichts anderes über die Welt als mittels Bewusstsein,

Geist.

Wenn wir uns das in der Tiefe klar machen, so hat das unglaubliche Auswirkungen. Wir kommen

leicht ins Schleudern, denn wenn wir das so lesen, könnten wir denken, der Geist hat vielleicht diesen

Tisch hier erzeugt. Hat dein Geist den Tisch erzeugt oder mein Geist? Wir alle sehen diesen Tisch.

Oder war es der Geist des Tischlers oder des Holzfällers? … Es ist gemeint, dass der Eindruck von

Tisch im Geist von jedem von uns hervorgebracht wird. Wir kümmern uns nicht darum, wer einen

äußeren Tisch erzeugt hat, im Grunde genommen gibt es keinen äußeren Tisch. – Auch wenn ich ihn

jetzt berühre. Es gibt nur den Tisch der Erfahrung. Eure Erfahrung ist visuell, meine ist auch taktil. Ich

höre auch ein wenig, wenn ich daran reibe. Es gibt nur diese Erfahrung. Tisch ist Erfahrung und das

können wir natürlich auf alle Objekte ausweiten. Das bedeutet nicht unbedingt, dass es außerhalb

dieser Erfahrung nichts geben würde, nur können wir darüber keine Aussagen treffen, denn wir

können nur wissen, was erfahrbar wird.

Teilnehmer: Dann könnte man ja sagen Phänomene sind Erfahrungen, dann würde jeder sofort wissen

was gemeint ist.

Da würde ich mich etwas vom Tibetischen entfernen, aber es wäre korrekt es so zu sagen. Nang-chös

auf Tibetisch sind Erfahrungen, die im Geist entstehen oder vom Geist hervorgebracht werden.

Illusorische Produktion könnte man auch sagen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, das Wort zu

übersetzen. Wir haben es leichter, wenn wir von Erfahrungen sprechen. Für mich ist auch noch nicht

abschließend geklärt, wie man diese Textstellen am besten übersetzt, um nicht dem Tibetischen

unrecht zu tun aber auch nicht frei zu erfinden. Aber wenn wir es frei erklären: Unser Weg beginnt

damit, dass uns klar wird, dass es keine äußere Welt gibt. Es gibt keine äußere Welt. Wir sitzen hier

im Raum und haben zwar das Gefühl von einem inneren Beobachter und einer äußeren Welt, aber im

Grunde genommen sind da einfach nur sehen, hören, fühlen, schmecken, riechen und dann kommt das

Denken. Aber was machen diese fünf Sinne, die mit so genannten äußeren Erscheinungen zu tun

haben, eigentlich? Sie rufen Bilder hervor. Die visuellen Eindrücke, die auf meine Retina treffen, sind

ja nur kleine Unterschiede in der Helligkeit, kleine Unterschiede in der Farbempfindung. Sie werden

gemeldet und im Gehirn, das für die Verarbeitung von visuellen Eindrücken zuständig ist,

entschlüsselt, ihnen wird Bedeutung beigemessen. Diese Form z.B. sieht doch sehr nach Mensch aus.

Aufgrund von bisherigen Erfahrungen denke ich das. Manchmal täusche ich mich auch, dann halte ich

einen Baumstumpf, der auf der Wiese da hinten steht, plötzlich für einen Mann in einem dunklen

Mantel. Der Eindruck auf der Netzhaut war völlig korrekt, nur wurde er falsch interpretiert. Aber ich

bin überzeugt davon, dass es so ist, solange bis ich etwas anderes erfahre.

So ist es mit allen Eindrücken. Ich spreche jetzt, ihr meint ihr hört Worte. Es kommen Klangwellen am

Ohr an, in einem recht aufwändigen Lernprozess haben wir im Laufe unserer Kindheit gelernt, solche

Wellen zu entschlüsseln. Wir nehmen sie als Bedeutung tragende Muster wahr. Diesen Mustern wird

eine bestimmte Bedeutung gegeben. Es ist ein sehr langer Prozess, diesen verschiedenen Kombinatio-

nen von Wellen eine Bedeutung zu geben, und dann auch noch eine Bedeutung, mit der man

kommunizieren kann. Da bestehen jede Menge individueller Unterschiede. Zwischen dem, was gesagt

wird und was ich höre und dem, was bei mir ankommt bzw. was ich meine zu hören, liegen schon

einige Schritte. Wenn ich mich später an das Gehörte erinnere, sind noch einmal Schritte passiert. Da

haben wir also enorme Filter. Der springende Punkt hier ist jetzt noch gar nicht einmal, diese Filter

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aufzulösen, sondern nur sich bewusst zu werden, dass wir jeder in unserer eigenen Welt leben. Und

dass wir manchmal große Mühe haben, aus dieser einen Welt in die anderen Welten hinüber zu

kommunizieren um etwas von dem aufzunehmen, was in den anderen Welten los ist. Obwohl wir

karmisch, also von unseren Dispositionen, von unseren Mustern her so eng beieinander sind, dass wir

uns eigentlich verstehen können, ist doch jeder in seiner eigenen Welt.

Das hat aber auch was Gutes: Wenn alle Phänomene geistige Manifestationen sind, bedeutet das, dass

wir Herrscher in unserer eigenen Welt sind. Es bedeutet, dass – wenn wir den Geist beherrschen, d.h.

wenn der Geist frei ist, wenn er voll flexibel ist – dass wir unsere Welt gestalten können, dass wir

einen erheblichen Anteil daran haben, wie die Welt für uns aussieht. Wenn das Erleben einer ärger-

lichen Situation keine Manifestation des Geistes wäre, dann wäre ich ihr ausgeliefert, dann wäre sie

etwas Äußeres, zu dem ich mich verhalten muss. Da es aber ein innerliches Erleben ist, kann ich sogar

sagen: „Nein, ich rege mich nicht auf! Okay, das lasse ich.“ Diese Möglichkeit habe ich, nichts ver-

pflichtet mich tatsächlich einzusteigen, denn es ist alles im Prozess der eigenen Wahrnehmung pas-

siert. Das, was ich da höre und als eine Beleidigung entziffert habe, das kann ich auch sein lassen. Ich

brauche dem jetzt nicht noch weiter Bedeutung beizumessen. Da ist auch die Möglichkeit großer

Freiheit drin, wenn wir alles als geistige Prozesse verstehen. In diese Prozesse können wir hinein-

wirken, da können neue Kräfte aktiv werden. Speziell natürlich die Kräfte des Gewahrseins, einer

deutlicheren Schau der Wirklichkeit. Das eröffnet alle Möglichkeiten. Das eröffnet letzten Endes die

Möglichkeit zu erwachen.

Wenn wir das so verstehen, dass alle Erfahrungen, alle Phänomene Geist sind, dann fragt man sich

natürlich was denn dieser Geist ist. Das ist der ganz logische nächste Schritt. Alles ist Geist, geistige

Manifestation. Der Geist bringt das alles hervor, der Geist bringt die innere Welt hervor. „Ja, was ist

denn dieser Geist? Bin das ich, bringe ich das alles hervor?“ Wenn wir erleben, dass eigentlich alles

persönliche Erfahrung ist – so erleben wir es ja zunächst, wenn uns das klar wird – dann denken wir

automatisch, dass es die eigenen Projektionen sind. Hier steht zwar, dass es Manifestationen des

Geistes sind, aber unser erstes Verständnis wäre, „Das ist meine Projektion. Die Welt ist meine

Projektion.“ Dann habe ich auch wieder das gleiche Missverständnis, so als ob ich die Welt geschaffen

hätte. Es bedeutet aber nur, dass das Erleben der Welt ein persönliches Erleben ist, gefärbt von den

eigenen Filtern. Dann möchten wir natürlich wissen, wer hinter diesem schöpferischen Prozess des

Erzeugens immer neuer Schauspiele steht. Was ist dieser Geist? Wer ist dieses Subjekt? Gibt es da ein

handelndes Subjekt in diesem Schauspiel? Gibt es da einen Schöpfer, gibt es da einen Erzeuger, gibt

es jemanden, der verantwortlich ist? Bin ich verantwortlich für meine Welt? Ist der Geist verant-

wortlich für diese Welt?

Diese Fragen tauchen auf. Wenn wir ehrlich sind, beschäftigt uns das. Wir merken das sofort, wenn

uns jemand sagt, „Das ist deine Projektion. Das war doch einfach deine Projektion.“ Das ist wie ein

Angriff. Dann bin ich also verantwortlich dafür, dass ich mich so aufrege, „Das warst doch du!“

Sobald klar wird, dass es sich um Projektion, um etwas Erzeugtes, um etwas Geschaffenes handelt, um

etwas, das aufgrund von bestimmten Kräften hervorkommt, stellt sich sofort die Frage: Woher

kommen diese Kräfte? Gibt es da einen Geist, der das alles bewirkt? Gibt es eine Instanz? Ist da z.B.

meine Seele zugange? Ist das mein Gemüt, ist das meine Seele, die das alles macht? Was ist da, was

ist dahinter? Das wollen wir wissen. Wer gestaltet eigentlich meine Welt? Und da ist Geist – citta auf

Sanskrit, sem auf Tibetisch – der Sammelbegriff für alles, was man Bewusstsein nennen könnte.

Damit ist auch so etwas wie Seele gemeint, damit ist auch das Ich gemeint. All das ist damit zugleich

gemeint. Es ist der neutralste Begriff von all diesen möglichen Begriffen.

Wo ist dieses Ich? Wo ist der Geist? Wo ist die Seele? Damit öffnen wir ein neues Forschungskapitel.

Wir suchen nach dem Subjekt, nach dem Schöpfer, nach dem Verantwortlichen. Dann geht der Text

weiter:

Und was den Geist angeht, so ist da kein Geist. Ja wie, alles soll Geist sein und dann gibt es da keinen

Geist? Das ist wieder so ein Dilemma. Er ist nicht fassbar. Wir haben schon häufiger darüber

gesprochen, aber um es tief zu erfahren und dass es wirklich auf uns transformierend wirkt, muss es

ganz unter die Haut gehen, dass da niemand zu finden ist. Dass wir das noch nicht verstanden haben,

merken wir dann daran, dass wir uns immer noch angegriffen fühlen. Solange wir noch Identifikatio-

nen aufbauen, haben wir diesen Punkt noch nicht verstanden. Wir denken immer noch, da wäre

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jemand, da ginge es um jemanden. Substanzhaft gedacht. Ich, ich und mein Leben, meine Zukunft,

mein Tod, meine Beziehung. Es brodelt, weil wir diesen Punkt noch nicht verstanden haben.

Geist ist leer von einer Selbstnatur, fährt der Karmapa fort. Er ist von Natur aus ohne Wesenskern,

hat keine Substanz, da gibt es keine Seele, die meine Individualität für alle Ewigkeit in sich trägt. Es

ist nichts zu finden. Aber das hören wir jetzt so. Das könnt ihr mir glauben, das könnt ihr mir nicht

glauben. Nur das heute zu hören, wird nicht die große Veränderung in eurem Leben bewirken. Es

muss erkannt werden, ihr müsst euch auf diese Forschungsreise begeben, wirklich hinschauen. Es ist

unglaublich befreiend zu sehen, dass da tatsächlich nichts ist. Es ist kein Riesenereignis, aber es ist

völlig offen, völlig offener Raum, keinerlei Mittelpunkt, keine Grenzen. Es ist einfach nichts da, was

zu benennen wäre. Da gibt es nur Gewahrsein, das weiterströmt, aber kein Ich, keine Individualität. Da

ist nichts, was meine Person und nur mich charakterisieren würde. Nichts, was man an

Beschreibungen auch geben mag, ist zutreffend, er ist einfach Geist. Gewahrsein und Geist sind

Synonyme. Geist ist Gewahrsein, Gewahrsein ist Geist.

Das ist die Natur von dem, was wir beschreiben wollen, es ist gewahr. Aber darüber hinaus, dass sich

Gewahrsein vollzieht, können wir nichts aussagen über diesen vermeintlichen Geist. Er kann durch

nichts gestört werden, er wird in seiner grundlegenden Natur durch nichts verändert, lässt sich aber

auch nicht fassen, lässt sich nicht festnageln. Und da sind wir uns alle gleich. Da sind mein Geist und

dein Geist und der Geist von jemand anderem nicht unterschiedlich. Da ist nichts Individuelles dran.

Diese Qualität des Gewahrseins wird auch nicht angegriffen, wenn man mich beleidigt. Sie ist nicht

verbunden mit den Aussagen, die ich treffe, mit den Standpunkten, die ich einnehme, mit den Meinun-

gen und Emotionen, die ich habe. All das berührt die Natur dieses Gewahrseins nicht. Wir brauchen

das, was immer ist, dieses gewahre Sein nicht zu verteidigen, es baut sich nicht auf, wir brauchen es

nicht zu kultivieren, es lässt sich nicht zerstören. Es lässt sich aber auch nicht finden. Es zieht sich

einfach durch alles hindurch. Es ist in allen Prozessen offenbar gegenwärtig, denn Gewahrsein setzt

sich fort, selbst im Schlaf. Selbst in der Bewusstlosigkeit ist auf tiefen Ebenen noch Gewahrsein aktiv,

das können wir auch herausfinden. Wir können tatsächlich mit unserer meditativen Forschung so weit

gehen, dass wir auch im Tiefschlaf dieses Gewahrsein entdecken. Wir haben auch Berichte von Pa-

tienten, die bei operativen Eingriffen sicher bewusstlos waren aber trotzdem alles mitbekommen

haben. Demnach steckt das Gewahrsein offenbar nicht im Köper. Das Gehirn war nicht aktiviert wie

sonst im Wachzustand. Es gibt viele Hinweise auf dieses Gewahrsein, aber niemand kann es finden.

Leer, erscheint er zugleich ungehindert in jedweder Form. Der Geist ist leer – ohne Substanz – und

ungehindert, und zeigt sich als die Vielfalt der Erfahrungen. Nur dadurch kennen wir den Geist, durch

die Vielfalt der Erfahrungen. Und auch wenn im Geist keine spezielle Erfahrung präsent ist, so ist

doch die Erfahrung des Gewahrseins immer noch da. Auch in der tiefsten Meditation, wenn es zu

keinerlei Gedanken mehr kommt, ist da noch Gewahrsein, das ist die Erfahrung des Jetzt. Gewahrsein

bedeutet also nicht, dass ständig Gedanken da sein müssten. Geist ist nicht nur der aktive Geist. Auch

der ruhige Geist ist Geist, der völlig ruhige Geist, in dem zu diesem Zeitpunkt keinerlei Gedanken vor

sich gehen, der nichts anderes wahrnimmt als die Erfahrung des Gewahrseins selbst, also der Geist,

der in sich selbst einkehrt. Selbst gewahres Gewahrsein.

Dies gründlich untersuchend, mögen wir die zugrunde liegende Wurzel durchtrennen. Wenn wir

dies gründlich untersuchen, dann durchtrennen wir die Wurzel, den Irrtum, der an der Wurzel liegt und

die Basis allen Leidens, aller Täuschungen ist. Dann kappen wir die Wurzel, welche alles Leiden, alle

Spannung erzeugt. Das ist der springende Punkt der Praxis. In diesen vier Zeilen beschreibt Karmapa

die Praxis, um die es geht. Und das geht eigentlich nur durch den Prozess von Kontemplieren und

Meditieren. Wir können das durch Studieren vorbereiten, aber jetzt sind wir im Entwickeln der Sicht,

wo es eine so feine, subtile Schau braucht, dass diese Untersuchung eigentlich nur durch Momente der

Meditation einem wirklichen Ergebnis zugeführt werden kann.

Diese Fragen zu klären würde bedeuten, dass wir mit der Ich-Illusion aufräumen, dass die in sich

zusammenfällt und damit auch die Illusion einer abgegrenzten, immer bestehenden Individualität. Das

bedeutet auch, dass es da kein Ich gibt, das erwacht. Das wisst ihr auch schon. Wenn man das erkennt,

so bedeutet das auch, dass alles ichbezogene Streben, als Ich zur Erleuchtung zu gelangen, in sich

zusammenfällt. Der Motor, der uns bis jetzt vielleicht noch antreibt, dass ‚ich’ die Befreiung und das

Erwachen erleben möchte, ist weg. Dieser Motor ist abgestellt, fällt in sich zusammen und es wird

klar, dass Befreiung, Erwachen immer nur in diesem offenen Gewahrsein zu finden ist und dass diese

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Möglichkeit allen Lebewesen innewohnt. Das motiviert uns dann, denen die das nicht erfahren haben,

den Weg zu ebnen und zu zeigen: „Schau mal da! Da ist eine Möglichkeit, völlig frei und ohne Leid

zu leben.“

Der Motor unserer Praxis ist dann nicht mehr, dass das Ich dadurch befriedigt wird. Wenn diese

Illusion an der Wurzel gekappt ist, dann sind damit die Ängste gekappt, die von der Ichbezogenheit

ausgehen. Es gibt keine Angst mehr zu sterben, es gibt keine Angst mehr vor Kritik, vor Angriffen. Es

gibt keine Angst mehr, in der Öffentlichkeit zu stehen. Es gibt keine Angst mehr vor den vielen

Schwierigkeiten des Lebens. Es kommen noch einige Restängste ins Bewusstsein, die unter dem

Gewahrsein des Mahamudra aufgelöst werden müssen, das ist dann der Bodhisattva-Weg. Das ist der

Weg über die Bhumis, das Auflösen dieser Restschleier. Das geht dann noch einmal eine ganze Weile,

aber diese grundlegende, existentielle Angst ist vorbei. Auch die Angst, den Dharma nicht zu

verstehen, ist vorbei. Die löst sich darin auch auf.

In der Nachmeditationsphase gehen wir dann genau mit dieser Erkenntnis weiter, wo auch immer wir

stehen, was auch immer wir in diesem Prozess erkannt haben. Hier wird ein Lhagtong-Prozess be-

schrieben, was auch immer wir erkannt haben, nehmen wir hinein in die Nachmeditationsphase und

versuchen uns das immer wieder ins Bewusstsein zu rufen. Wir nehmen immer wieder darauf Bezug

und schauen erneut – auch in der Aktivität –, ob es jetzt auch so ist. Es geht immer wieder um die

frische Schau, auch in der Postmeditation. Das ist der Übungsprozess der Bodhisattvas, dass sie in der

Meditation immer kontinuierlicher darin verweilen und das dann auch in der Nachmeditation aktivie-

ren.

Trungpa Rinpotsche bezeichnete es so: Voller Scheinwerfer in der Meditation und dann möglichst mit

der Taschenlampe wenigstens in die Nachmeditation weitergehen. Das Licht muss weitergehen. Das

Licht der Weisheit, von der wir eben noch gelesen haben, wird in der Meditation ganz stark und es

darf nicht ausgehen, wenn wir in den Alltag übergehen, es muss im Alltag weiterwirken. Wir müssen

uns immer wieder daran erinnern, was wir verstanden haben. Aber eben nicht in dem Sinne, dass ich

mich erinnere an das, was ich ohnehin schon weiß, sondern ich erinnere mich daran zu schauen und es

jetzt wieder zu erfahren.

Teilnehmer: Wenn ich es richtig verstanden haben, dann könnte ich ja auch sagen alle Phänomene

werden durch den Geist etabliert, d.h. sie sind nicht von Natur aus Geist, sondern sie existieren in

Abhängigkeit vom Geist. Kann ich das so sagen? Die Natur vom Geist ist Bewusstsein, alle

Phänomene existieren in Abhängigkeit vom Geist.

Ich glaube, dass du dich damit ein bisschen auf einen Irrweg begibst, weil du beginnst, noch stärker

zwischen Geist und Phänomenen zu unterscheiden. Wenn sich dieser Erkenntnisprozess fortsetzt, dann

wirst du verstehen, dass die Erscheinungen, die Phänomene und Geist eins sind, dass sie nicht getrennt

sind. Und mit einer solchen vorläufigen Formulierung, wie du sie vorschlägst, würdest du die Kluft

noch etwas erweitern, als ob der Geist tatsächlich ein Handelnder wäre, der die Phänomene etabliert.

Ich glaube nicht, dass das hilfreich ist. Da sind wir wieder in dem handelnden, schöpferischen Geist,

der etwas anderes erzeugt. Dabei geht der ganze Einsichtsprozess eigentlich dahin, zu bemerken, dass

das, was wir als scheinbar Äußeres erleben, die Erfahrung ist, die im Gewahrsein entsteht. Das Ge-

wahrsein hält sich zwar für ein Subjekt, entsteht aber nur, wenn Erfahrung da ist. Erfahrung und

Gewahrsein sind gar nicht verschieden voneinander. Im direkten Erleben gibt es keinen Unterschied

zwischen wahrnehmendem Geist und wahrgenommener Erfahrung. Genau da kommt unser großer

Irrtum her. Du leitest uns damit über in den nächsten Vers, denn das ist genau die Frage, die man sich

stellt und die der Karmapa im nächsten Vierzeiler beantwortet.

Teilnehmerin: Für mich ist da ein Widerspruch. Da steht ‚Es gibt keinen Geist, Geist ist von Natur aus

leer.’ Da ist irgendwo ein Fehler drin.

Ja, ich würde die Reklamation bei Karmapa einreichen. Das macht er extra. Er spricht den ganzen Text

über vom Geist und dann sagt er plötzlich „Es gibt keinen Geist.“

Und dann sagt er plötzlich wieder es gibt doch Geist. Das ist schon verwirrend, also mich verwirrt es

nicht, aber…

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Wenn es dich nicht verwirrt, dann hast du schon den springenden Punkt verstanden. Es geht Karmapa

darum zu zeigen, dass man über den Geist weder die Aussage treffen kann „Geist existiert als

solches.“ noch „Es gibt ihn nicht als solches, er existiert nicht.“

Er ist nicht nichtexistent und damit ist dieser Widerspruch da.

Genau. Nimm es so als Widerspruch, es scheint dich ja nicht weiter zu belasten.

Ja mich stört es nicht, aber es könnte jemand anderes stören.

Es soll alle stören. Der Karmapa macht das extra. Es soll alle stören, denn es soll ja ein Forschungs-

prozess angeregt werden, sodass jeder selber hinschauen muss. „Gibt es ihn nun oder gibt es ihn

nicht?“, „Wie gibt es ihn denn?“, „Wie kann man behaupten, es gäbe ihn nicht?“ Karmapa sagt hier:

„Was den Geist angeht, so gibt es keinen Geist“ und dann sagt er auch noch „Geist ist von Natur aus

leer.“ Wie kann er denn sofort, nachdem er sagt, es gibt keinen Geist, eine Aussage über den Geist

treffen? Das ist doch ein Koan. Ich würde sagen, dass diese Aussage sich als Koan für die Zen-Tradi-

tion qualifiziert. Aussagen des Mahamudra sind oft paradox. Daran müssen wir uns gewöhnen, denn

im Paradoxon kommt unser intellektuelles Erfassen-Wollen in eine Zwickmühle. Und nur weil wir im

Paradoxon feststecken, suchen wir nach der dritten Lösung, nach dem, was jenseits der Extreme zu

finden ist. Wir müssen, um die Frage nach dem Geist zu lösen, die Anschauung von ‚existiert’ und

‚existiert nicht’ verlassen, d.h. wir müssen jenseits dieser beiden Begriffe gehen. Es scheint nicht hilf-

reich zu sein, zu versuchen den Geist mit diesen Begriffen zu erfassen. Das nennt man den Weg der

Mitte, Madhyamaka. Diese Mitte ist jenseits dieser Versuche, den Geist mit diesen dualistischen

Begriffspaaren zu erfassen.

Teilnehmer: Ist es möglich, Shine zu vertiefen ohne das man dabei Einsicht gewinnt?

Es ist möglich, Shine zu vertiefen, ohne diese letztendliche Einsicht zu gewinnen. Zumindest in den

Anfangsphasen von Shine, bis man in die Dhyanas, die meditativen Versenkungen, eintritt, werden auf

jeden Fall Erkenntnisprozesse laufen. In den Dhyanas gibt es Versenkungen, in denen das erkennende

Verstehen nicht möglich ist. Und darin kann man verweilen, ohne dass Fortschritte im Verstehen

gemacht werden. Aber die Geistesruhe, die wir kultivieren, wird immer mit einem zunehmenden Ver-

stehen einhergehen. Zumindest wird das Verstehen der Zusammenhänge in unserem Leben zunehmen.

Das wird immer der Fall sein. Aber wenn man den Geist in einer tiefen nichtbegrifflichen Meditation

quasi parkiert, wo er keinerlei Aktivitäten mehr ausführt und das unterscheidende Verstehen im

Stillstand ist wie in einem Dämmerzustand, ist das nicht förderlich für das weitere Erkennen.

Dazu gibt es dieses Beispiel mit den zwölf Jahren Versenkung von ….

Ja, von Saraha, der einen auf den Kopf gekriegt hat. Da gab es einige, die Meister dieser tiefen Medi-

tation waren, aber nicht zu dieser Einsicht gekommen sind, wo dann wirklich die Wurzel der Ich-

bezogenheit durchtrennt wird.

Und das hat ihm nicht geholfen, schneller oder schärfer zu schauen und zu erkennen?

Doch, hat es. Der Moment, als Saraha aus der 4. Versenkungsstufe, in der er verweilt hat, aufgetaucht

ist und erkannt hat, dass er in diesem tiefen Samadhi keine Erkenntnis erlangt hat, war ein Moment

von solcher Klarheit und Offenheit seines Geistes, dass er durch den Schock zur Erkenntnis kommen

konnte. Das heißt, auch diese Dhyanas, in denen der Geist in nichtbegrifflichem und nicht erkennen-

dem Gewahrsein verweilt, sind eine gute Voraussetzung, um danach den Blick auf die Natur des

Geschehens zu richten, weil der Geist völlig unabgelenkt ist, völlig klar. Klarer geht es nicht. Er muss

aber raus aus dieser meditativen Versenkung, ist aber noch nicht verwickelt in all den Projektionen

und den Gedanken. Das ist ein idealer Moment, um die Natur der Dinge zu schauen, das ist eine gute

Vorbereitung. Deswegen kannst du in vielen Sutras des Buddhas auch lesen, wie der Buddha seine

Schüler anhält, in diese Versenkung einzutreten, damit sie dann den Blick auf die Natur des Ge-

schehens richten. Es ist eine gute Vorbereitung, aber es geht auch ohne den Weg durch diese tiefen

Versenkungen, speziell die Karmapas haben sich darum bemüht, einen Weg aufzuzeigen wo wir bei

deutlich geringerer Geistesruhe trotzdem zum Erkennen vordringen können.

* * *

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Zu Beginn lesen wir die ersten neun Verse des Mahamudra-Gebetes. Das ist unser Einstieg in die

Unterweisungen. Erinnert euch daran, dass die ersten drei Verse der Zuflucht und dem Bodhicitta ent-

sprechen. Während wir lesen, berühren wir ganz kurz die Kontemplationen über die kostbare mensch-

liche Existenz, über die Bedingungen, die es braucht um zu praktizieren, über Ursache und Wirkung

und die Nachteile des Daseinskreislaufs. Das schwingt alles mit, während wir die ersten Verse lesen.

Dann kommen die Verse über die Sichtweise, und während wir das langsam durchlesen, tauchen

kleine Momente von Verständnis auf, die brauchen wir nicht festzuhalten. Sie passieren einfach

aufgrund dessen, dass wir uns ein wenig erinnern. Es tauchen aber auch Fragen auf, manchmal stockt

ihr vielleicht und merkt, „Ah, hier ist etwas noch nicht klar!“ Das lasst ihr auch los, damit braucht ihr

euch nicht zu beschäftigen. Wir rezitieren den Text jetzt einfach als Gebet, um in den Segen hinein zu

kommen, um in die Öffnung hinein zu kommen.

10. Vers

Spontane Erscheinungen ohne jegliche Existenz werden verwirrt für Objekte gehalten

und spontane Bewusstheit hält sich aufgrund von mangelndem Gewahrsein für ein Ich.

Dieses dualistische Haften lässt uns in der Sphäre samsarischer Existenzen kreisen –

mögen wir die Täuschungen des Nicht-Gewahrseins an der Wurzel selbst durchtrennen.

Vieles davon dürfte aufgrund der Abend-Unterweisungen schon klar sein.

Ich möchte den Begriff spontan noch erklären. Das ist ein Begriff, der beim Übersetzen etwas Mühe

macht. Hier sind rang nang und rang rig als spontane Erscheinung und spontane Bewusstheit

übersetzt – rang heißt aber eigentlich nicht spontan, es heißt selbst. Die Bedeutung von rang nang ist

also eigentlich ‚von selbst erscheinende Erscheinungen’ oder ‚aus sich heraus erscheinende Erschei-

nungen’. Gemeint sind also Erscheinungen, die keinen Urheber haben. Mir ist dazu noch kein besseres

Wort als ‚spontan’ eingefallen. Andere Übersetzer oder auch ich selber haben das manchmal als

Eigen-Erscheinungen übersetzt. Das lässt allerdings die Bedeutung zu, als ob es sich um meine

Erscheinung handelt, wobei aber aus sich heraus gemeint ist.

Teilnehmer: Kann man auch sagen: grundlos?

Man kann auch grundlos sagen, wobei man sich dann aber noch weiter vom Tibetischen entfernt. Aber

jetzt sollte klar sein, was mit dem Wort gemeint ist. Es muss eben erklärt werden. Mit der spontanen

Bewusstheit ist es auch so. Es ist Bewusstheit, die aus sich heraus bewusst ist. Das ist ihre Natur. Das

ist also eine Selbstbewusstheit, die aus sich selbst heraus gewahr ist. Manchmal findet man in den

Texten auch den Begriff Selbstgewahrsein, das bedeutet genau dasselbe. Es bedeutet nicht, dass wir

eines Selbst gewahr sind, sondern dieses Gewahrsein besteht aus sich heraus.

Gehen wir also die erste Zeile noch einmal durch:

Spontane Erscheinungen, bei denen wir keinerlei Existenz feststellen können. – Keinerlei Existenz

bedeutet, dass die Erscheinungen nichts Bleibendes haben. Es wird nicht geleugnet, dass sie erfahrbar

sind. Es bedeutet, dass sie in keiner Weise dauerhaft sind. Der Begriff existent wird speziell in der

indischen Philosophie, die sich dann in Asien auch ausgebreitet hat, nur für etwas verwendet, was

einen dauerhaften Bestand hat. Allem anderen schreibt man keine wirkliche Existenz zu. Wir im

Westen würden uns sicher auch mit dem Begriff ‚flüchtige Existenz’ anfreunden können. Wobei wir

dann allerdings noch genauer hinschauen müssten. Z.B. müssten wir doch herausfinden können, wie

lange ein Gedanke existiert.

Wie lange dauert eigentlich ein Gedanke? Wie lange dauert eine Wahrnehmung? Dabei kommen wir

echt in die Bredouille. Wir können der einzelnen Erscheinung keine Dauer zuordnen. Das ist es, was

ich gestern gemeint habe mit ‚Entstehen und Vergehen sind simultan’. Wir können keiner der Phasen

eines Gedankens – Auftauchen, Verweilen und sich Auflösen – einen klaren Zeitabschnitt zuordnen.

Je flexibler das Gewahrsein ist, desto kürzer dauert er, weil kein Haften stattfindet, bis man nicht mehr

davon sprechen kann, dass er überhaupt eine Dauer hat. Wir können nicht sagen, dass es ein Crescen-

do gibt, wo der Gedanke sich ankündigt und breit macht, dann ein Verweilen, ein Continuo und dann

ein Decrescendo, wo er wieder verschwindet. Das gibt es nicht. So läuft das nicht im Geist. Das geht

tak, tak, tak und schon ist das Nächste da.

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Nehmen wir als Beispiel die visuelle Wahrnehmung. Dreht einmal euren Kopf mit offenen Augen von

rechts nach links und nehmt wahr, was alles hier so im Raum ist, ohne an einem speziellen Objekt zu

verweilen. Was meint ihr, wie viele Geistesmomente das sind? Das ist doch ein Wahnsinn. Das kann

man nicht unterscheiden, man kann da nicht von Momenten sprechen. Wir haben eine solche

Flexibilität im Geist, dass wir ein kontinuierliches Wahrnehmen wechselnder Inhalte haben, ohne

irgendeine Unterbrechung, ohne dass es ein spürbares Staccato gäbe. Es ist nicht tak, tak, tak… Wir

sind nicht wie eine Maschine, die einzelne Bilder ablichtet.

Teilnehmer: Bei mir ist das so.

Ist bei dir so? Dann nehme ich an – das war auch eben die kleine Bedingung, die ich angefügt habe –

dass es bei dir ein ganz kurzes Fixieren auf einzelne Objekte der Wahrnehmung gibt. Dann entsteht

dieses Staccato-Gefühl, das wir alle kennen. Wir schauen zum Beispiel durch den Raum, nehmen die

erste Person wahr, sind dann bei der vierten, dann wieder bei der nächsten, ganz kurz. Wir halten kurz

an, um Objekte zu identifizieren. Wenn das stattfindet, dann entsteht das Gefühl von Zeit. Genau das

hat auch bei den Vaibashikas dazu geführt, dass sie in kleinste Zeiteinheiten unterschieden haben. Es

wird von ungefähr 32 Geistesmomenten pro Lidschlag gesprochen. Ihr wisst, wie schnell ein Lid-

schlag ist. Man kann mit der Aufmerksamkeit so schnell werden, dass man meint, es wäre so. Doch

wenn sich der Geist noch mehr vom Haften löst, dann löst sich auch das auf. Es widerspricht also nicht

deiner Erfahrung, sondern es ist nur ein Hinweis darauf, dass die Mahamudra-Meister uns ermutigen,

den Geist in seiner völligen Flexibilität zu betrachten.

Genauso ist es auch mit dem Hören. – Klangschale erklingt. – Man denkt zunächst, man hört einen

Klang. Dann nehmen wir wahr, dass es gar nicht ein Klang ist. Während wir hinhören, hören wir ja

auch, wie der Klang schwächer wird, nicht wahr? – Klangschale erklingt erneut. – Wir hören die

kleinen Schwingungen, wir hören Schwingungsunterschiede. Wie viele Hörmomente sind das? Ein

Hörmoment wäre das Entstehen einer Sinneserfahrung. Diese eine Sinneserfahrung verknüpfen wir

mit den anderen Sinneserfahrungen, und daraus entsteht ein als Ganzes gehörter Klang. Das Gleiche

vollzieht sich ständig während ich spreche. Ein Wort, Wort, Wort, Wort besteht aus einer Serie von

Klängen, die wir sehr differenziert unterscheiden können. Wörter, Wörter – Das ist anders als Wort,

Wort. Wir hören das sofort. Wir hören und unterscheiden mit einer Geschwindigkeit, die unglaublich

ist. Wenn solch ein einzelner Geistesmoment – z.B. der Anlaut W, mit dem das Wort ‚Wort’ beginnt –

undeutlich ist, kommen wir durcheinander. Wenn jemand sagt „Fort“, so ist das ein anderes Wort.

Dann müssen wir noch hinhören: Ist es nun das Auto ‚Ford’ oder geht er ‚fort’? Und dieses

Unterscheiden geht mit einer riesigen Geschwindigkeit. Man kann sich darauf einlassen zu denken,

dass ein Geistesmoment vielleicht ein Dreißigstel von einem Lidschlag dauert, aber im Grunde

genommen ist der Geist nicht an Zeiteinheiten gebunden. Er ist kontinuierliches Gewahrsein.

Diese rasche Folge von Erscheinungen, von Wahrnehmungen nennen wir unser Erleben, und dabei

können wir verschiedene Sinnesbereiche integrieren. Wir gehen zum Beispiel durch den Wald: Wir

spüren den Boden, wir haben die Gleichgewichtsinformationen, wir haben Geschwindigkeits- und

Anstrengungsinformationen, wir haben Raum, wir sehen, wir hören, wir können uns dabei noch

unterhalten und denken. Das ist eine Integration von gleichzeitigen Leistungen, die unglaublich ist.

Allein schon um eine Bewegung mitzubekommen. – Armbewegung erfolgt. – Ihr seht das jetzt! Nur

eine Bewegung, und wir sehen ständig! Da bewegen sich Zweige, da verschieben sich die

Perspektiven während wir laufen, es ist so unglaublich viel, was gleichzeitig los ist. Es ist fast

gleichzeitig. Wenn man bewusster wird, dann merkt man, dass der Geist sehr schnell zwischen

Sinnesfeldern wechseln kann, aber wir können dem keine Zeitdauer zumessen. Wir haben nicht den

Anfang, die Mitte und das Ende eines Momentes. Können wir nicht festlegen, wir haben Wahr-

nehmungen, die in einem Strom sind.

Spontane Erscheinungen ohne jegliche Existenz – Wenn etwas für existent gehalten wird, braucht es

eine Dauer. Wir können eine solche Dauer nicht wirklich festlegen, also heißt es im Text: Er-

scheinungen werden verwirrt für existierende Objekte gehalten. Da in der Vaibashika-Schule, einer

frühen Abhidharma-Schule des Buddhismus, der Erfahrung von Objekten tatsächlich eine Zeitdauer

zugeordnet wurde, nämlich ein Dreißigstel eines Lidschlags, sprachen sie von einer begrenzten

Existenz der Objekte. Daher kommt diese Aussage, dass sie die Natur der Phänomene nicht voll-

ständig ergründet haben. – Aber ausreichend um loszulassen, ausreichend um sich nicht mehr zu

identifizieren.

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Wir denken, dass es das alles gibt, dass das alles tatsächlich konkrete Erfahrung ist. Das ist soweit

auch nicht tragisch, solange es sich um neutrale Sinneserfahrungen handelt. Wenn wir aber Angst

spüren und die Angst für wirklich halten, dann blockiert sie uns: „Ich kann das nicht machen, weil ich

Angst habe!“ Wir müssen z.B. über eine tibetische Hängebrücke, wo jedes dritte Brettchen fehlt und

alles schwankt. Wir müssen darüber, wir haben keine andere Wahl, aber die Angst blockiert uns.

Wenn die Angst so etwas Konkretes ist, dann ist sie auch ein konkretes Hindernis. Und das sind alle

Ängste. Alle Ängste, auf die wir uns fixieren, die für wirklich und solide gehalten werden, blockieren

bestimmte Formen des Verhaltens. Sie blockieren oft sogar Rettungsaktionen, weil wir wie gelähmt

sind. Sie hindern uns daran, uns zu verteidigen, sie hindern uns daran, geschickt nach Alternativen zu

suchen. Angst ist keine Hilfe. Das gilt auch für alle Kleshas, die belastenden Emotionen: Sie blockie-

ren uns, sie halten uns in Fixierungen gefangen. Wir halten uns eigentlich selber in Fixierungen

gefangen und glauben, es gibt sie tatsächlich. Wenn wir sie aber anschauen, dann bestehen sie aus

einem Erleben, das aus millionenfachen Geistesmomenten besteht, also aus einem sich ständig

wandelnden Erleben. Da gibt es gar nicht die Angst.

Genau diese Arbeit mache ich mit Menschen, die zu mir kommen, weil sie unter irgendwelchen

Belastungen leiden. Wir schauen uns diese Belastungen direkt an und entdecken, dass sie keine fixe

Existenz haben, dass sie keine Substanz haben, dass sie ein sich wandelnder Erlebensstrom sind.

Indem wir in das Erleben des Wandels der Emotion hineinkommen, tun sich die Tore zu einem neuen

Verhalten in diesem Erleben weit auf. Plötzlich ist das Erleben nicht mehr fixiert, sondern es können

neue Kräfte in dieses Erleben hinein wirken und dadurch wandelt es sich. Die große Kraft, die

hineinwirkt, ist Gewahrsein, Bewusstheit. Wir werden uns des Wandels bewusst und weil wir des

Wandels bewusst sind, lassen wir viel mehr los und es kann sich sehr viel mehr Wandel einstellen.

Und so kann sich eine depressive Verstimmung, eine knallharte Depression im Nu auflösen, wenn wir

ins Erleben kommen, den Wandel spüren, den Wandel zulassen. Gewahrsein des Wandels und Akzep-

tieren des Wandels bewirken, dass sich Geisteszustände, die so fest erscheinen, im Nu auflösen. Im Nu

bedeutet wirklich, dass es in einem Gespräch passieren kann oder in einer begleiteten Meditation. Es

kann sich sonst über eine oder zwei Wochen hinziehen. Es geht wirklich sehr schnell, braucht aller-

dings die Fähigkeit, dabei zu bleiben und in das Erleben hinein zu gehen, davon ist es schon abhängig.

Wenn das nicht möglich ist, weil die Barrieren zu groß sind, dann ist es erst einmal nicht möglich, mit

diesem Ansatz zu arbeiten.

So ist es mit allem. Alles was uns als fixes Objekt erscheint ist eigentlich Erleben und ist kein fixes

Objekt. Es ist Erleben und auch nicht getrennt vom Subjekt. Im direkten Erleben einer Angst, gibt es

kein Subjekt getrennt von der Angst. Es ist angstvolles Erleben. Das ist das Gewahrsein, durch das

Erleben erlebbar wird. Erleben findet nur statt, wenn es mit Bewusstheit, mit Gewahrsein verknüpft

ist.

Spontane Bewusstheit – aus sich heraus bewusste Bewusstheit – hält sich – sich selbst – aufgrund

von mangelndem Gewahrsein für ein Ich. Diese Fähigkeit gewahr zu sein, hält sich selbst für anders

als die Inhalte der Bewusstheit, des Gewahrseins.

Dilgo Khyentse hat das einmal so erklärt: „Das ist wie bei Kindern, die ihr eigenes Spiel entwickeln.

Sie spielen, der Geist spielt, der Geist erzeugt Erfahrungen, Bilder, Kinder spielen. Es ist ihr eigenes

Spiel. Und dann beginnen sie plötzlich, ihr eigenes Spiel ernst zu nehmen. Sie verheddern sich darin.

Sie haben das Spiel selbst erfunden, verheddern sich darin, wollen gewinnen, wollen nicht verlieren,

werden knatschig. Die Freiheit, die sie zunächst hatten, ist ihnen völlig abhandengekommen. Sie sind

Gefangene ihres eigenen Spiels, weil in der Zwischenzeit Fixierungen stattgefunden haben, Identifi-

kationen.“ Das fand ich ganz hilfreich. Und so hat er uns auch erklärt, wie es denn dazu kommt, dass

dieser freie Geist, dieses freie Gewahrsein, das so dynamisch ist, sich so verwickelt. Es verwickelt sich

ins eigene Spiel, in das was natürlicherweise in ihm selbst auftaucht und hält das was auftaucht für

getrennt von der wahrnehmenden Qualität. Dabei sind Spielender und Spiel gar nicht getrennt. Es ist

eine künstliche Trennung. Während der Spielende spielt, sind Spiel und Spielender, eins. Das müsst

ihr aber selber überprüfen, da müsst ihr hineinschauen. Das ist der Mechanismus, dem wir aufsitzen.

Liebe: Es fließt Liebe zwischen zwei Menschen. Solange das einfach fließt sind, wir uns gar nicht

bewusst, dass da jemand jemand anderen liebt. Aber wenn wir in die Distanz gehen, haben wir das

Gefühl: „Ich liebe jemand anderen.“ Damit sind wir in der Ichbezogenheit und die Liebe beginnt uns

zu beschäftigen. Hoffnung und Furcht kommen hinein, Erwartungen und Befürchtungen, das ist auf-

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grund der Distanz, die sich eingestellt hat. Im direkten Erleben wäre vielleicht einfach zu spüren: „Ja,

da fließt es. … Und jetzt gerade ist kein Fluss da." Es ist zum Beispiel ein Erlebnis von Alleinsein da.

Dann aber beginnen wir mit dem Abstand zu vergleichen. Wir beginnen zu sagen: „Das mag ich. –

Das mag ich nicht!“ Wir bleiben nicht im einfachen Erleben, wir kommentieren. Wir beginnen innere

Skalen aufzubauen von dem, was wir am liebsten haben, was wir weniger lieb haben und was wir

überhaupt nicht gern möchten, und dadurch entsteht sehr viel Anspannung in unserem Leben. Darum

geht es, diese Anspannung aufzulösen.

Teilnehmerin: Ich habe eine Frage zum Begriff spontan. Gibt es dann spontane und nicht spontane

Erscheinungen?

Nein, es soll hier darauf hingewiesen werden, dass alle Erscheinungen spontan sind. Spontane Erschei-

nungen, die wirklich einfach aus sich heraus erscheinen, werden plötzlich für real existente Objekte

gehalten. Es heißt nicht, dass es andere Erscheinungen auch noch gibt.

Aber dann müsste man eigentlich gar nicht sagen, dass es spontan ist, weil es nichts anderes gibt.

Es soll ja darauf hingewiesen werden, dass sie spontan sind und bei der Bewusstheit dasselbe. Es soll

darauf hingewiesen werden, dass niemand diese Bewusstheit zu erzeugen braucht. Darum ist es

wichtig, dass das da steht, denn nur dann merkt man, dass man sich völlig unnötig in etwas einmischt,

was von selber abläuft. Sonst würde ja der Irrtum weiter bestehen bleiben, dass die Erscheinungen

vielleicht von woanders her kommen. Darum ist dieses Wort so wichtig. Es weist darauf hin, wie

schwerwiegend unser Irrtum ist. Wenn es tatsächlich Umstände gäbe, die mir, einem Getrennten, Er-

scheinungen wie einen getrennten Film präsentieren würden, dann dürfte ich die ja ruhig als getrennte

Objekte wahrnehmen, dann wäre ja kein Problem damit. Wenn es das gäbe. Also heißt es hier:

Erscheinungen sind spontan und ohne jegliche Existenz und werden trotzdem verwirrt für Objekte

gehalten, womit gemeint ist, getrennt, für sich existent. Das ist mit dem Wort Objekt gemeint.

Spontane Bewusstheit – der andere Aspekt des Erlebens, also nicht der Inhalt sondern das Gewahrsein

– hält sich aufgrund von mangelndem Gewahrsein für ein Ich. Mangelndes Gewahrsein bedeutet

mangelhaftes Hinschauen und in der Folge mangelhaftes Bewusstsein dessen, was tatsächlich statt-

findet. Dadurch sind wir bei einem Subjekt und Objekt angelangt, und das wird dualistisches Haften

genannt.

Dualistisches Haften bedeutet, in Subjekt und Objekt zu denken und aufgrund dieses dualistischen

Haftens kreisen wir in der Sphäre samsarischer Existenzen. Von einer Existenz zur anderen. Das ist

auch die Definition von Samsara. Die Definition von Samsara ist nicht, dass es etwa die Welt wäre.

Die Welt, die wir erleben, kann eine Welt sein, die von erwachtem Gewahrsein durchdrungen ist, oder

eben eine Welt, in der es aufgrund von dualistischen Fixierungen zu Leid kommt. Nur die letztere wird

Samsara genannt. Ob die Bewohner des Dharmazentrums Möhra in Samsara oder Nirwana sind, wäre

noch zu untersuchen. Es ist nicht per se der Fall, dass das hier ein reiner Bereich ist. Und es ist auch

nicht gesagt, dass man zu Hause per se in einem unreinen Bereich ist. Also zu Hause Samsara und hier

Nirwana – überhaupt nicht! Das hängt von der Geisteshaltung ab, es hängt davon ab, ob wir in der

Schau der Natur der Dinge verweilen oder nicht. Das ist für viele von euch nicht neu, aber noch ein-

mal ganz wichtig zu sagen: Samsara gibt es nur dort, wo es Ichanhaften, als Subjekt-Objekt-

Beziehungen gibt. Dort kommt es zu dieser charakteristischen Spannung, zu dieser Anspannung

zwischen ‚Kontroletti’ und Erleben.

Im Rahmen dieser verschiedenen Daseinsformen, die wir durchlaufen, kommt es zu einer Menge von

Erfahrungen. Es sind unendlich viele Erfahrungen, denen wir jedes Mal Wirklichkeit zusprechen oder

von denen wir glauben, das ist es jetzt. Ein fixiertes Erleben. Das nennt man Täuschung, illusorische

Projektion. Das ist eine Projektion von Substanz und Existenz auf etwas, das nur vorübergehendes

Erleben ist. Diese illusorischen Projektionen, diese Welten, in denen wir da leben, sind unsere kar-

mischen Filme, die projiziert werden. Jeder von uns ist jetzt gerade in einem anderen Film. Die Filme

überlappen sich. Wir haben das Gefühl, im selben Raum zu sein, aber doch ist jeder in einem anderen

Film. Wenn wir uns umschauen, dann müssen wir zugeben, dass wir nicht wissen, was im anderen

vorgeht. Wir wissen es nicht, wie es sich für unseren Nachbarn, unsere Nachbarin anfühlt, jetzt gerade

hier im Raum zu sein, was da alles los ist. Wir haben keine Ahnung, welche Gedanken den anderen

beschäftigen, welche Gefühle da sind, welche Fragen, welche Zweifel, welches Glück, welche Freude,

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all das. Wir versuchen aus dem Blick des Anderen zu lesen. Ich denke dann z.B.: „Hm, vermutlich

geht es ihm gut.“ Ich habe so meine Vermutungen wie es jemandem geht, habe aber keine Ahnung.

Der Film ist individuell und zwar geprägt von all den karmischen Mustern, die wir durch unser

Denken, Sprechen und Handeln im gesamten Lauf der Existenzen bis jetzt aufgebaut haben. Das prägt

unser jetziges Fühlen, wie wir unsere Wahrnehmung interpretieren. Das nennt man also Täuschung

oder illusorische Projektion. Sie hält sich solange wie es Nicht-Gewahrsein gibt. Meist wird von

Unwissenheit gesprochen, aber Nicht-Gewahrsein oder mangelndes Gewahrsein ist der deutliche

bessere Ausdruck. Marigpa auf Tibetisch ist eigentlich ein zu geringes Maß an Gewahrsein, an Be-

wusstheit – mangelnde Bewusstheit. Wenn mehr Bewusstheit hineinkommt und die Bewusstheit

durchdringend wird, vollständig, dann können sich die karmischen Filme nicht mehr halten. Dann

werden die illusorischen Projektionen unseres Geistes als solche erkannt und haben keine Wirkung

mehr.

Wir üben uns schrittweise darin, diese Bewusstheit zu entwickeln. Wir beginnen mit einfacher Acht-

samkeit, Achtsamkeit auf den Körper, auf die anderen Sinneserfahrungen, auf Empfindungen,

Gefühle, Geisteszustände bis wir auch des grundlegenden Bewusstseins gewahr werden und der vielen

Abläufe, die in der Tiefe stattfinden, ganz subtil. Von grober Achtsamkeit kommen wir in eine immer

weitere Bewusstheit hinein, bis sich tatsächlich das zeitlose Gewahrsein eröffnet. Das ist eine Konti-

nuität der Gewahrseinsschulung. Wir können das alles Achtsamkeit nennen oder irgendeinen anderen

Begriff dafür benutzen. Es ist eine Kontinuität vom Gröberen zum Subtilen und wird immer

panoramischer, wird immer umfassender.

11. Vers

Geist ist nicht existent, denn selbst die Siegreichen sehen ihn nicht.

Er ist auch nicht nichtexistent, denn er ist die Basis von ganz Samsara-Nirwana.

Er ist weder beides zugleich, noch keines von beiden, sondern der Mittlere Weg der Einheit –

mögen wir, frei von Extremen, die wahre Natur des Geistes erkennen.

Ein ganz anspruchsvoller Vers, der in vier Zeilen das gesamte Madhyamaka darstellt, die Lehren des

mittleren Weges von Buddha Shakyamuni, wie wir sie insbesondere durch Nagarjuna kennen gelernt

haben.

Existent

Lasst uns einmal dieser Logik folgen. Das Ausgangsstadium ist zu denken, dass es einen Geist gibt,

dass der Geist existent ist. So denkt der Normalbürger einfach. „Das tut dem Geist nicht gut.“, „Das

tut dem Geist gut!“, so sprechen wir ja und das weist darauf hin, dass wir von der Existenz eines

Geistes ausgehen. Wenn wir ihn dann suchen, wie es schon in früheren Versen beschrieben wurde, ist

nichts fassbar.

Und dass nichts fassbar ist, ist sogar für die Buddhas so, für die Siegreichen. Von daher könnte man

sagen: Geist ist nicht existent, denn selbst die Buddhas sehen ihn nicht. Damit ist gemeint, dass alle,

die sich auf die Suche nach dem Geist begeben, ihn nicht finden können. Dass selbst diejenigen, die

die erste, die zweite, die dritte und die vierte Versenkungsstufe des Bereichs der Form gemeistert ha-

ben, keinen Geist finden können. Dass selbst diejenigen, die die erste, zweite, dritte und vierte Versen-

kungsstufe des Bereichs der Formlosigkeit gemeistert haben, keinen Geist finden können. Und dass

man selbst dann, wenn man darüber hinaus Mahamudra vollständig verwirklicht hat und völlige

Freiheit, völliges Erwachen erlangt hat, noch keinen Geist gefunden hat. Das ist mit diesem Ausdruck

gemeint, dass selbst die Buddhas keinen Geist finden. Es ist also nicht einfach der Verweis auf eine

Autorität, an die man glaubt, sondern es beinhaltet den Verweis auf alle Erfahrungszustände, die man

überhaupt machen kann, inklusive der subtilsten Meditationen und des am weitesten offenen Gewahr-

seins. Das ist damit eigentlich gemeint. Und das gibt zu denken. Es gibt zu denken, dass keiner der

Meditationsmeister, keiner der Erwachten je einen solchen Geist gefunden hat.

Nichtexistent

Dann könnte man ja vielleicht sagen, dass der Geist nicht existent ist. Zumindest nicht als ein Objekt,

das eine beschreibbare, auffindbare Existenz hat. Wenn das dann beginnt unsere Überzeugung zu sein,

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dann stehen wir vor dem Rätsel, ja aber wie kann ich denn sprechen, hören, denken, wie geht denn

das? Wie kann ich überhaupt erleben, wie ist es denn möglich, dass da überhaupt Erleben stattfindet?

Darum heißt es im zweiten Vers: Er ist auch nicht nichtexistent, denn er ist die Basis von ganz

Samsara-Nirwana. Samsara-Nirwana bedeutet, er ist die Basis von allem Erleben im dualistischen

Bereich und die Basis von allem Erleben im erwachten, im non-dualen Bereich, also sämtliches Erle-

ben. Er ist nicht nur die Basis von Samsara, er ist nicht nur die Basis von Nirwana, er ist die Basis von

allem Erleben, dem erwachten wie dem nicht erwachten. Wir müssen uns dem Dilemma stellen, dass

wir zwar keinen Geist finden können, aber dass doch Bewusstheit da ist, Erleben bei Erwachten wie

bei nicht Erwachten. Den Geist für nicht existent zu erklären, ist nicht haltbar. Es widerspricht der

Erfahrung sämtlicher Menschen, sämtlicher Lebewesen, die sich ausdrücken können.

Sowohl existent als auch nichtexistent

Jetzt sind wir im nächsten Dilemma. Wir haben den Geist nicht gefunden und aufgegeben daran zu

glauben, dass er existent ist. Wir können auch nicht behaupten, dass er nichtexistent ist, wir haben

aufgegeben an Nichtexistenz zu glauben. Es gibt ihn also offenbar, dann kommt unser nächster

Schluss, er muss ja sowohl existent wie nicht existent sein. Das drängt sich dann auf und es ist auch

genau das, was ich beobachte, wenn Praktizierende im Drei-Jahres-Retreat durch diese innere

Forschung gehen. Sie kommen irgendwann da an und sagen, „Der Geist ist sowohl existent wie nicht-

existent.“ Das hört sich erst einmal ganz gut an. Er ist existent, weil wir in seinen Auswirkungen

wahrnehmen können und zugleich ist er nichtexistent, weil er nicht auffindbar ist. Das ist doch

logisch, da kann man doch sagen, dass das ein guter Standpunkt ist. Das Problem ist, dass man zwei

unmögliche Standpunkte miteinander kombiniert. Wie kann etwas zugleich existent und nichtexistent

sein? Das sind doch absolute Gegensätze. Wie soll man die zusammenbringen? Es ist völlig unlogisch.

Dieser wunderbare Standpunkt ist nicht haltbar, weil jeder der beiden Unterkomponenten nicht haltbar

ist. Wenn man zwei unhaltbare Standpunkte zusammenbringt, entsteht kein haltbarer Standpunkt.

Nirgendwo in der Welt. Das ist ein Unding. Wir müssen auch diese Sichtweise verlassen. Uns muss

aber erst klar werden, dass das unvereinbar ist. Ich will jetzt nicht auf die Details eingehen, wie man

das dann macht, sondern einfach nur darauf hinweisen, dass es notwendig ist, das zu tun.

Weder existent noch nichtexistent

Der nächste Sprung, den wir dann tun, ist auch super, der ist völlig klar. Weder existent, noch nicht-

existent. Weil ja beide Standpunkte nicht haltbar sind – das haben wir ja nun begriffen – dann ist der

Geist weder existent, noch nichtexistent. Ja, aber was ist er denn dann? Dann könnten wir ja alles

behaupten. Dann können wir ja irgendetwas erfinden und von dem Erfundenen behaupten, „Naja, es

ist weder existent noch nichtexistent.“ Wir haben mit der Aussage, dass der Geist weder existent noch

nichtexistent ist, überhaupt nichts über den Geist ausgesagt. Das ist eine völlige Null-Behauptung, die

nichts hergibt, außer, dass verkehrte Standpunkte verneint werden. Aber Gehalt hat diese Aussage

nicht. Der Geist ist dadurch keineswegs erfasst, obwohl wir mit jedem dieser vier Schritte, die wir

gegangen sind, dem Geist ein wenig näher gekommen sind. Wir haben ein wenig besser verstanden,

was es mit diesem Phänomen auf sich hat, aber wir sind zu einer nichtigen Aussage gelangt, die man

über irgendwas treffen könnte. Setzt doch einfach einmal Gott ein. Das ist immer ein tolles Beispiel.

Oder es kommt jemand mit einer Psychose zu euch und ist völlig verliebt in eine Vorstellung von

einem Mann, einer Frau, die sein Idealpartner ist, und sagt: „Mein Idealpartner ist weder existent noch

nicht-existent.“ Wir können alles erfinden. In diese Formel lässt sich alles hineinpacken, egal was,

reine Vorstellung, Phantasie, alles lässt sich da rein packen. Merkt ihr, wie absurd das ist? Und doch

sind wir aufgrund von ganz logischen Überlegungen, über Hinschauen und Überprüfen zu dieser

Formulierung gekommen.

Das Problem ist, dass wir immer in Begriffen von existent und nichtexistent denken. Dass wir immer

fixieren wollen, immer festschreiben wollen und dabei sind, dem Geist eine irgendwie geartete Exis-

tenz zuzuschreiben. Dass wir ihn irgendwie mit diesen Begriffen einfangen wollen. Wir denken in

diesen dualen Begriffen und das entspricht nicht der Wirklichkeit.

Jenseits von Existenz und Nichtexistenz – ohne Bezugspunkte

Wir kommen dann, wenn uns das klar geworden ist – hoffentlich – zu einem fünften Schritt. Wir

lassen es fallen, in Begriffen von existent und nichtexistent zu denken. Wir gehen jenseits dieses

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Haftens, wo wir immer sagen, „Das ist!“ und „Das ist nicht!“ Dieses Haften durchzieht unser ganzes

Erleben. Wir sagen, „Da ist Angst!“, dann ist da Angst, und wenn wir hinschauen, finden wir auch nur

einen Strom des Erlebens. Dann denken wir, „Da ist also gar keine Angst!“, „Aber da war doch eben

Angst, ich spüre sie ja noch!“ So funktionieren wir, egal worum es geht, „Liebe ich!“, „Liebe ich

nicht!“, „Liebe ich!“, „Liebe ich nicht!“, … wir sind immer in diesem existiert – existiert nicht,

ständig, egal was wir tun. Und das eben auch in Bezug auf das grundlegendste Merkmal unserer

Existenz, dass wir gewahr sind, dass da Gewahrsein ist.

Der Schritt, der sich jetzt vollzieht, ist der grundlegend befreiende Schritt: zu lernen ohne Be-

zugspunkte zu leben, ohne Referenzen. Das kommt den meisten vor wie freier Fall. Das wird der

Mittlere Weg genannt. Der mittlere Weg ist jenseits aller Extreme. Er ist nicht zwischen Extremen

angesiedelt, er ist jenseits. Wir verlassen die Suche nach Standpunkten, wir verlassen die Suche nach

Definitionen. Wir öffnen uns dem Erleben, dem nicht-fassbaren und doch so klar erfahrenen Erleben

als solchem, ohne es in Schubladen, in Definitionen, in Begriffen einfangen zu wollen. Das ist dieser

entscheidende Schritt, der dann passiert, der ist absolut notwendig ist.

Immer, wenn wir wieder zurückfallen in „Gibt es!“ – „Gibt es nicht!“, sitzen wir wieder in der

Patsche. Wir werden das dann bei jedem Erleben feststellen, dass wir genau vor diesen Fragen stehen.

Gibt es den Dharmakaya oder gibt es keinen Dharmakaya? Gibt es Erwachen – gibt es kein Erwachen?

Gibt es Verdienste – gibt es keine Verdienste? Gibt es Wiedergeburt – gibt es keine Wiedergeburt?

Gibt es Karma – gibt es kein Karma? Gibt es Gedanken – gibt es keine? Gibt es heilsames Handeln –

gibt es keines? Egal was wir nehmen, immer stehen wir vor dieser grundlegenden Frage. Und diese

Frage wird uns Lehrern auch ständig gestellt. Gibt es da jemanden, der sich inkarniert, also

wiedergeboren wird oder gibt es ihn nicht? Gibt es jemanden, der hier im Raum sitzt und zuhört oder

gibt es ihn nicht? Gibt es jemanden, der stirbt oder gibt es da keinen? Alle existentiellen Fragen

hängen damit zusammen. Darum ist die Klärung dieser Frage auch so existentiell wichtig und bewirkt

eine existentielle Revolution, wenn sie geklärt ist.

Teilnehmer: Soweit kann man dem ja folgen, aber man könnte natürlich die Frage stellen wissen wir

denn alles? Wussten denn auch die Buddhas alles? Es kann ja sein, dass zwar so nichts gefunden

werden kann, aber dass die Erklärung, was da wirklich hinter steckt einfach noch nicht gefunden ist.

Das heißt, dass es außerhalb des Erlebens irgendwo noch eine Erklärung zu finden gäbe.

Naja, es gibt ja Erleben, also könnte es ja doch sein – auch wenn wir sie nicht gefunden haben – dass

es dennoch eine Erklärung dafür gibt, was es denn wäre.

Okay, könnte ja möglich sein, dann begib dich auf die Suche. Das ist die Suche. Es ist völlig legitim

zu sagen, „Für mich ist wenig relevant, dass die Praktizierenden der vergangenen Jahrhunderte keine

Antworten darauf gefunden haben. Ich muss mich selber auf die Suche begeben!“ Das es ist eine sehr

gute Haltung. Du kannst mit dieser Haltung starten und sagen: „Das will ich doch selbst überprüfen!“

Genau das führt dann zur Befreiung, wenn du es überprüfst. Es gibt natürlich auch den neurotischen

Zweifler, darauf muss man auch hinweisen, der der eigenen Erfahrung nicht traut und immer noch

meint, es gäbe da noch was anderes, und wenn das andere ins Leben tritt, dann wird alles klar. Das

gibt es. Es gibt einen Persönlichkeitstyp, der sich nicht ganz auf das eigene Erleben einlässt, sondern

immer noch meint, da gäbe es vielleicht noch eine andere Form von Erleben: „Da gibt es vielleicht

noch einen ganz anderen Zugang“, „Da gibt es vielleicht noch einen Gott“, „Da gibt es vielleicht noch

eine außerirdische Sichtweise“, „Da gibt es irgendwas, was das Ganze irgendwann mal total erhellen

wird“. Das sind Menschen, die zeitlebens Sucher genannt werden, die werden als Sucher sterben.

Solche Menschen können nicht finden. Es ist ihnen prinzipiell unmöglich zu finden und sie vertreten

Philosophien, dass man die Wahrheit nicht befriedigend ergründen kann. Das sind die Philosophien,

die von solchen Menschen verkündet werden. Skeptizismus ist der philosophische Ausdruck dafür.

Wenn man die Physik betrachtet. Früher gab es vier Elemente, dann hat man das Ganze ein bisschen

verfeinert und mittlerweile ist man natürlich an Punkten, wo man im Grunde auch nicht mehr sagen

kann, es gibt Materie oder es gibt nicht Materie, sondern man ist irgendwo in einem Zustand, der

schon dem ähnelt, worüber wir jetzt sprechen. Genau an der Stelle haben andere genauer hingeguckt

und sind zu Erkenntnissen gekommen, die für uns normale Menschen schon nicht mehr nachvoll-

ziehbar sind und trotzdem kommt man immer wieder an den Punkt, dass man sagt, aber die wirkliche

Definition haben wir immer noch nicht gefunden. Das sind immer noch Postulate.

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Richtig! Wie wäre es denn damit, wenn auch die ihre Suche nach der fixen Definition aufgeben

würden? Dann würden sie auch jenseits extremer Standpunkte finden. Wie wäre denn das? Die

kommen doch jetzt in dasselbe Dilemma wie wir in der Situation des vierten Dilemmas sind. Das

vierte Extrem, was ich eben dargestellt habe, ist eben zurzeit das Dilemma der modernen Physik. Die

stehen genau an dem Punkt, die sind zunächst von einer Existenz ausgegangen und dann haben sie

diese Schritte durchlaufen. Sie stehen jetzt am vierten Punkt. Das wäre nur ein Vorschlag.

Teilnehmer: Aber sie geben doch eine Antwort drauf. Ein Quantenfeld kann als Welle und als Teilchen

erscheinen.

Das ist das dritte Dilemma, sowohl als auch.

Aber sie akzeptieren es, dass es sowohl als auch ist.

Aber sie wissen gleichzeitig, dass das Quantenfeld weder Teilchen ist, noch Welle, dass das nur

Beschreibungsmodelle sind, das wissen sie auch. Das sind Wahrscheinlichkeitsfelder. Sie geben

Definitionen, von denen sie schon wissen, dass sie die Wirklichkeit nicht ausreichend beschreiben. Sie

sind zwar brauchbar, man kann mit ihnen arbeiten, genauso wie wir mit der Annahme, dass es einen

Geist gibt, arbeiten können. Man kann auch mit der Annahme, dass es den Geist gar nicht gibt,

weiterleben. All diese Annahmen, auch das Bohrsche Atommodell, alles war eigentlich ein guter

Schritt, man kann damit arbeiten und total viel bewirken. Aber die Forscher selber wissen, dass sie die

Wirklichkeit noch nicht beschrieben haben.

Teilnehmer: Ich verstehe den fünften. Schritt nicht.

Der fünfte Schritt ist der, der am schwierigsten zu verstehen ist, weil er unsere Suche nach dem Ab-

sicherungsseil betrifft, nach den festen Bezugspunkten. Und er rührt an der existenziellen Angst, die

aus der Getrenntheit entsteht, keine klare Definition dafür zu haben, wer ich bin und was die Wirk-

lichkeit ist. Es rührt genau an dieser Angst und es lässt sich auch verstehen, da will man auch nieman-

den hin zwingen. Nur, wer den Weg des Erwachens gehen möchte, wird damit konfrontiert werden.

Teilnehmer: Kann man nicht auch sagen, das Quantenfeld oder der Geist kann sowohl Welle oder

Teilchen sein? Ich nehme wahr, er ist aber auch nicht da. Ist das zu akzeptieren?

Nein, das ist immer noch das Festhalten an einer Vorstellung über die Wirklichkeit, die dir eine

Sicherheit gibt.

Teilnehmer: Wenn man die Welle und das Teilchen betrachtet, dann kannst du das Teilchen auch

wieder definieren, also Wellen und Teilchen existieren beide gleichzeitig, aber dann kommst du zu

einem Punkt, wo du letztendlich beide Definitionen noch weiter auftrennen kannst und dann bist du

wieder an einem Punkt, wo es nicht weiter geht und du musst Postulate machen. Du musst sagen, es

könnte so sein und kommst zu einem Feld, dass du einfach multidimensionale Welten hast, dass du in

der Welt, in der wir jetzt leben, eine bestimmte Wahrnehmung hast, dass aber gleichzeitig gesagt wird,

es gäbe parallele Welten, in denen derselbe Aspekt einfach eine andere Form hat.

Teilnehmer: Aber man braucht es doch nicht postulieren, man kann doch einfach akzeptieren, dass es

so ist?

Das machen auch die normalen Gläubigen. Sie akzeptieren einfach, dass es so ist. Wir haben doch

jetzt nicht die Kenntnisse über die Quantenphysik, deswegen werde ich darüber auch nicht weiter

diskutieren. Wir glauben denen das einfach, und ich habe in Schriften von Physikern gelesen, dass sie

genau wissen, dass diese Definitionen nicht hinreichend sind. Es sind Sowohl-als-auch- und Weder-

noch-Definitionen. Sie suchen nach weiteren, besseren Annäherungen an die Wirklichkeit, sie sind

nicht befriedigt von ihrem Ergebnis. Sie streiten sich, sie diskutieren miteinander und so geht das

Spielchen weiter. Genauso ist es auch mit den philosophischen Schulen. Sie behaupten dieses, sie

behaupten jenes, sowohl als auch, weder noch und das geht in unserem Geist auch vor sich. Mir geht

es jetzt nur darum, das Türchen zu öffnen und zu sagen, dass es eigentlich darum geht, diese

krankhafte Suche nach Standortbestimmung aufzugeben.

Diese Suche nach Standortbestimmung, nach Existenzbestimmung, „Wer bin ich?“, “Was bin ich?“ ist

die neurotische Suche des Menschen. Das ist die samsarische Suche und die gilt es letzten Endes,

nachdem wir das gründlich erforscht haben, loszulassen. Nicht in Unwissenheit, indem man sagt: „Da

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scher ich mich nicht drum, ich lebe einfach weiter.“ Dann lebe ich mit den unbewussten Annahmen,

dass es mich gibt, weiter und falle die ganze Zeit in meine emotionalen Reaktionen. Das ist nicht

gemeint. Es ist nicht gemeint zu sagen: „Ich verlasse alle Standpunkte, ich habe keine Philosophie!“,

„Ich bin ein Agnostiker!“, „Ich habe überhaupt nichts zu verteidigen!“ und dahinter ist das Ich, das

eben keine Standpunkte hat. Also ein neuer Standpunkt, das Nichtglauben, das Nicht-Stellung-

Beziehen wird zu meinem Standpunkt.

All das muss verlassen werden, und es ist schwer zu spüren, wohin es geht. Wo ist denn dann noch

eine Möglichkeit zu sein? Ja eben, da ist für das Ich dann keine Möglichkeit mehr, dann ist das Ich am

Ende. Diese Ichbezogenheit kann da nicht mehr weiter. Sie muss sich auflösen, um die Mitte, von der

das Madhyamaka spricht, erfahren zu können. Das ist das Erwachen. Das ist die Einfachheit. Das ist

dieses Gehen jenseits der Extreme.

Ich finde es toll, dass wir soweit miteinander sprechen können, dass es so weit klar wird. Ihr ahnt

damit, was mit diesem Ausdruck ‚Extrem’ gemeint ist. Er kam ja schon vorher vor, Extreme des

Zuschreibens und Leugnens. Immer ist dieser Prozess gemeint. Es ist immer das Suchen nach Stand-

punkten. Und es ist höchst verunsichernd, keine Standortbestimmung für das Ich vorzunehmen.

Unsere normale Standortbestimmung ist: „Ich bin Mann, ich bin also als Junge geboren. Ich habe

einen Vater, eine Mutter. Ich habe Geschwister. Ich habe einen Beruf. Ich lebe in einem bestimmten

Land. Ich habe diese und jene Anschauung, politische usw. Ich habe diese und jene Freunde. Ich habe

dieses Alter. … Wir nehmen multiple Standortbestimmungen vor. Das sind unsere Halteseile und wir

definieren uns als den Mittelpunkt dieser Halteseile. Wir sind das, was dadurch definiert ist, was wir

so über uns aussagen können. Und wenn wir jedes einzelne Element untersuchen, finden wir nichts

Festes. Wir finden nichts, was nicht einfach ein Prozess des Erlebens wäre. Das Erleben von Vater,

das Erleben Mutter, das Erleben von Mann sein, das Erleben von Frau sein, das Erleben von Ge-

schwistern, das Erleben von Beruf, das Erleben von in Rente gehen. All das ist im Wandel.

Alles, mit dem wir uns definieren, hat keine Festigkeit. Es ist, als ob wir Halteseile in glitschigen

Schlamm werfen und irgendwie zu verankern versuchen oder um einen brüchigen Baum zu schlingen

und bei der ersten Belastung kracht es schon. So sichern wir uns normalerweise ab, wir sind in einem

Netz von Bezügen und diese Bezüge geben uns einen Halt. Wir gehen davon aus, dass wir als konkre-

tes Etwas existieren und dass die Bezüge, das worauf wir uns beziehen, als etwas Verlässliches

existieren. Solange wir das tun, erleben wir immer wieder Enttäuschung. Wir sind immer wieder

überrascht, dass die Dinge anders kommen, dass nichts stabil ist. Dass die äußeren Objekte Zeichen

der Vergänglichkeit zeigen, dass die Beziehungen die Zeichen der Vergänglichkeit zeigen, dass über-

all Wandel ist und dass im einzelnen Erleben keine Stabilität ist, dass wir keinen einzigen Moment der

Freude festhalten können. Das ist einfach frustrierend, das ist enttäuschend. Wir haben uns getäuscht.

Wir finden uns dann irgendwo damit ab, dass es halt so ist, wir werden ein wenig weise, aber wir

korrigieren nicht in der Tiefe die falschen Annahmen. Und deswegen tappen wir immer wieder in neue

kleine Fallen. Zum Beispiel, dass wir in ein Dharmazentrum kommen und meinen: „Die sind jetzt alle

auf dem Weg des Erwachens, im Dharmazentrum geht es deswegen richtig gut zu. Das ist endlich ein

Ort, wo ich nur glücklich sein kann.“ – Bis wir aufwachen.

Teilnehmer: Verstehe ich es richtig, dass dieses Greifen, bevor man dann loslässt, dass das die

grundlegende Unwissenheit ist, von der dann immer gesprochen ist.

Ja, genau. Das ist so wie mit dem Halteseil. Wenn du dir bewusst wärst, dass es da, wo du dein

Halteseil anbringen möchtest, deinen Haken einschlagen möchtest, völlig brüchig ist und keinerlei

Halt gibt, dann würdest du es ja nicht tun. Das ist die Unwissenheit. Wir haken uns ein, ohne gewahr

zu sein, dass da gar kein Halt ist und wir meinen wir müssten etwas sichern, was wir das Ich nennen,

was gar keine Sicherung braucht. Und wenn wir keine Sicherung haben, haben wir das Gefühl, es ist

der freie Fall und wir werden irgendwann fürchterlich zerschellen. Alles Annahmen aufgrund einer

Idee von einem Selbst, die völlig überflüssig sind.

Aber manchmal brauche ich einen Grund damit ich an dieser Ursache arbeiten kann.

So ist das Leben. Äußere Bedingungen ermöglichen es, bestimmte Erfahrungen zu machen um sich

daran weiter zu entwickeln, und nichts von all dem ist stabil. Das heißt ja nicht, dass wir plötzlich

instabil werden. Es ist nur, dass wir die Instabilität der Dinge, wie sie halt sind, uns selber

eingeschlossen, voll wahrnehmen und dadurch viel aufmerksamer, viel wacher sein können. Wir

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gehen gar nicht davon aus, dass es immer so weiter geht wie es jetzt war. Wir gehen gar nicht mehr

davon aus. Wir verlassen irrige Standpunkte, irrige Annahmen und sind sehr viel weiser in unseren

Entscheidungen.

Teilnehmer: Eine Frage zu dem Weg zwischen diesen Fragen von Existenz und Nicht-Existenz. Es

kann ja eine nahe liegende Tendenz sein, gerade weil diese Fragen nicht schlüssig oder zufrieden

stellend beantwortet werden können, sie quasi zu vertagen und dann einen agnostizistischen

Standpunkt einzunehmen. Es gibt dazu ja auch viele Bücher, z.B. von Stephen Batchelor, die dann

sagen: „Karma und Wiedergeburt sind aus meinem heutigen Standpunkt nicht ein Erfahrungsbereich,

also frage ich gar nicht danach, ob es das gibt oder nicht gibt.“ Es fällt mir schwer, damit umzugehen

und ich frage mich, was steckt da dahinter? Ist es eine Verweigerung, sich damit auseinanderzusetzen

oder ist es möglicherweise eher klug, so etwas einfach einer spirituellen größeren Erkenntnis zu

überlassen?

Das ist einerseits sehr weise sich nicht mit Dingen zu befassen, von denen man keine direkte Kenntnis

hat, das ist sehr, sehr gut. Andererseits wird es vermutlich so sein, dass die Frage für ihn vielleicht

doch noch mal auftaucht.

Karma und Wiedergeburt sind aber doch recht grundlegende Fragen im Mahayana und auch im

Theravada-Buddhismus.

Nein, so grundlegend sind sie nicht, sie sind nicht so wichtig. Ich empfehle auch vielen Menschen,

diese Fragen zurückzustellen, denn Karma wird mit der Zeit verständlich, und um ein tiefes Verständ-

nis des Geistes zu entwickeln, braucht es einfach viele Jahre. Nur wenn der Geist zutiefst erfahren

wird, dann begreifen wir, was es mit der Wiedergeburt, mit dem Weitergehen des Geistes auf sich hat.

Ich verlange von niemandem, an Wiedergeburt zu glauben, um den Weg gehen zu können. Das ist

unnötig.

Ein Problem ist aber dann, dass dadurch bei manchen Zweifel am gesamten Buddhismus aufkommen,

wenn das nicht in einer bestimmten Weise zufrieden stellend greifbar wird.

Das wird es aber nie werden, weil es eben nicht der direkte Erfahrungsbereich ist. Wir müssen warten,

bis es in die direkte Erfahrung hinein kommt. Wir müssen warten, bis das passiert, bevor wir diese

Zweifel klären können. Ich finde es sehr, sehr gut, diese Fragen auf die Seite zu tun und zu sagen: „Da

kann ich aus der persönlichen Erfahrung gar nichts dazu sagen, ich höre was große Meister sagen. Ich

höre das, nehme es zur Kenntnis, streite es nicht ab, aber kann es auch nicht bestätigen.“ Und dann

gibt es andere, für die so ausschlaggebend ist, dass die Meister das sagen, da kann man dann vielleicht

sagen: „Es gibt auch viele andere Hinweise, ich gehe mal davon aus, dass es so ist, werde aber die

Augen offen halten ob es irgendwelche Hinweise gibt, dass es ein Irrtum ist.“ Das ist eigentlich sehr

sinnvoll, nur geht Stephen Batchelor vielleicht einen Schritt zu weit. Aber es ist eine notwendige

Gegenbewegung und was Stephen versucht, ist ein Ausgleichen von Gläubigkeit, die unter Buddhisten

so verbreitet ist. Man wird Buddhist und glaubt dann, ein ganzes Paket von Annahmen, die für uns

Annahmen sind, Aussagen von Meistern, die wir glauben müssen. Und dann kommt es sogar vor, dass

man als junger Student dieses Weges des Erwachens die Aussagen der Meister verteidigt gegenüber

anderen Aussagen. Da verteidigt man etwas, wozu man aus der eigenen Erfahrung überhaupt nichts

sagen kann. Das führt zu Dogmatismus, zu Spannungen, neue Identifikationen werden aufgebaut.

Deswegen ist es sinnvoll, dass jemand so Qualifiziertes wie Stephen eine Gegenposition einnimmt und

sagt: „Lasst doch mal diese ganzen Sachen auf der Seite! Kümmert euch erst um das, was wirklich

unmittelbares Erleben ist!“ Und damit bringt er viele Menschen auf eine viel sicherere Basis für ihren

Befreiungsweg, sich wirklich nur mit dem zu befassen, was direkt erfahrbar ist. Ich bin ihm eigentlich

sehr dankbar dafür, auch wenn die Formulierungen etwas provokativ sind. Aber ich finde es eigentlich

ganz gut, dass es diese Gegenposition gibt.

* * *

Es stellt sich immer wieder die Frage, gibt es da jemanden, wenn wir in den eigenen Geist schauen,

gibt es da jemanden? Ist da jemand zu Hause?

Mögen wir frei von Extremen die wahre Natur des Geistes erkennen.

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12. Vers

Man kann sie durch nichts zeigen und sagen: „Das ist sie“

und man kann sie durch nichts widerlegen und sagen: „Das ist sie nicht“.

Die wahre Natur ist nicht bedingt und jenseits von begrifflichem Erfassen.

Mögen wir Gewissheit in Bezug auf das wahre Letztendliche erlangen.

Es wird jetzt ein bisschen leichter. Der Geist, wie er wirklich ist – wir nennen das die wahre Natur des

Geistes. Aber auch diese wahre Natur, über die wir so viel sprechen, auch die hat keine Existenz als

solches, auch sie ist substanzlos. All die Aussagen, die wir über das Letztendliche treffen, sollen nicht

zu dem Glauben führen, dass es das Letztendliche als etwas gäbe, das man konkret, wie ein Objekt,

entdecken könnte. Wir können die Natur des Geistes nicht vorzeigen und sagen: „Das ist sie“. Wir

können aber auch nicht behaupten: „Das ist sie nicht“.

Als Gendün Rinpotsche uns das damals erklärte, sagte er: „Wenn jemand sagt: ‚Der Geist ist blau.’,

dann haben wir keinen Grund zu sagen: ‚Nein, er ist nicht blau.’ Wenn jemand sagt: ‚Der Geist ist

diese Tasse.’, dann haben wir keinen Grund zu sagen: ‚Er ist nicht die Tasse.’ Wenn das Erleben von

Tasse stattfindet, dann ist Geist Tasse und wenn das Erleben von Blau stattfindet, dann ist Geist blau.“

Wir können nichts ausschließen, wir können nicht sagen irgendetwas wäre es nicht und zugleich

können wir das, was wir mit dem Begriff Geist bezeichnen, nicht vorzeigen. Wenn ich jetzt sage: „Der

Geist ist dieses Glas.“, dann erzählt ihr zu Hause, Lhündrup hat gesagt, dass der Geist Glas ist und

obendrein ist er noch blau. Da würde man denken, der Lhündrup ist blau und hat zu tief ins Glas

geschaut. – So einfach kann man diesen Vers erklären. Es ist tatsächlich so, dass wir von nichts sagen

können, dass es nicht Geist ist und damit auch nicht die Natur des Geistes.

Doch diese Natur der Dinge, womit auch die Natur des Geistes gemeint ist, ist jenseits von begriff-

lichem Erfassen, nicht zusammengesetzt. Nicht zusammengesetzt bedeutet ‚nicht konstruiert’, nicht

aus Einzelteilen zusammengefügt. Es bedeutet auch ‚nicht bedingt’, da schwingt eine etwas andere

Bedeutung mit. Die Natur der Dinge ist nicht etwas, das noch aus etwas anderem besteht, kann nicht

von Begriffen erfasst werden, ist jenseits von begrifflichem Verstehen und doch die Grundlage allen

Verstehens.

Mit diesem Vers ist noch einmal das Paradoxon formuliert, unsere vermeintlich paradoxe Existenz,

dass es da offenkundig etwas gibt, was sich aber nicht finden lässt. Dieses vermeintliche Paradox ist

hier einfach noch einmal angesprochen und Karmapa gibt uns ein Trostpflaster und sagt: „Keine

Sorge, der Geist ist tatsächlich jenseits von begrifflichem Verstehen. Damit könnt ihr etwas Rauch

ablassen und sagen, es ging offenbar auch schon anderen so, dass sich das begrifflich nicht erfassen

ließ.“ Man kann das begriffliche Verstehen natürlich an seine Grenzen drängen, bis zu den Grenzen

ausschöpfen. Wenn man sich intensiv mit dem Thema beschäftigt, dann wird man das tun, dann wird

man das erleben, und es führt zu einem zunehmend feineren intellektuellen Verständnis, das leider

noch nicht befreiend wirkt. Aber es hilft schon einmal. Es bahnt hoffentlich auch den Weg für eine

Meditationspraxis, die dann auf diesem feineren intellektuellen Verständnis aufbaut.

Wenn man diese Arbeit an dem Thema korrekt macht, dann treibt man den Geist immer wieder in die

Enge. Dieses begriffliche Verstehen wird immer wieder in den Paradoxen gefangen werden und muss

nach Lösungen suchen. Das ist beabsichtigt, dass neue Lösungen entdeckt werden. Lösungen, die

jenseits des Paradoxes liegen. Karmapa macht weiter und sagt:

13. Vers

Ist dies nicht verwirklicht, kreisen wir im Ozean von Samsara.

Ist es verwirklicht, ist Buddha nicht woanders.

Alles ist das – nichts ist nicht das.

Mögen wir die wahre Natur erkennen, die versteckte Dimension der Basis von allem.

Die erste Zeile ist leicht zu verstehen. Solange wir noch im Irrglauben verfangen sind und nicht die

wahre Natur des Seins, die wahre Natur der Dinge, des Geistes, verstehen, bleiben wir in dualistischen

Projektionen und kreisen in dualistischen Welten. Wenn es verwirklicht ist, dann ist Buddha nicht

woanders, dann ist Buddha gerade da. Wo dieses Erkennen stattfindet, da ist Buddha, nicht woanders.

Buddha ist nur da, wo dieses wache Gewahrsein, dieses zeitlose Gewahrsein präsent ist.

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Ihr kennt vielleicht diesen Zen-Ausspruch: „Wenn du den Buddha triffst, töte ihn.“ Das bedeutet,

wenn du meinst, Buddha wäre irgendwo außerhalb deines eigenen Geistes zu finden, so ist das nicht

Buddha, das ist nur eine Projektion, die kannst du erledigen. Wenn du Buddha irgendwo in einem

fixen Standpunkt zu finden meinst, dann ist es nicht Buddha. Buddha ist das Erwachen des eigenen

Geistes. Ist es verwirklicht, ist Buddha nicht woanders.

Alles ist das – nichts ist nicht das. Dieses „das“ ist ein altes Mahamudra-Wort, schon Tilopa hat es

benutzt, Saraha auch. Wenn du ‚das’ verwirklichst, bist du Buddha. ‚Das’. Es ist ein nichtssagendes

Wort, das genommen wird, um das nicht Beschreibbare zu beschreiben, das Unfassbare, ‚das’. ‚Alles

ist das’, bedeutet, alles ist dieses Gewahrsein. Alles ist die Natur des Geistes, was einfach nur ein paar

Silben mehr sind und auch nur bedeutet, ‚das’. Es sind ja doch einfach nur Klänge, es ist ja nicht das

Beschriebene, es weist nur darauf hin, ‚das’. Alles ist das – nichts ist nicht das. Was damit aber

gemeint ist, ist, dass Samsara ‚das’ ist und Nirwana ist auch ‚das’. Verwirrung ist ‚das’ und Erwachen

ist ‚das’. Leid ist ‚das’ und Freude ist ‚das’. Also suche Buddha nicht woanders. ‚Das’ ist immer da.

‚Das’, alles ist ‚das’. Buddha ist ‚das’, jetzt gerade, alles ‚das’. Das ist die Aufforderung, die da

drinsteckt: Suche nicht woanders.

Mögen wir die wahre Natur erkennen, die versteckte Dimension der Basis von allem. Das sind

einige wichtige Begriffe, die aber auch wieder nur Synonyme sind. ‚Die Basis von allem’ bezieht sich

auf den dynamischen Aspekt des Geistes, der unaufhörlich die gesamte Welt der Erscheinungen

hervorbringt. Es ist auf Sanskrit der Begriff alaya, wobei nicht das Alayavijnana gemeint ist, das

dualistische Allgrund-Bewusstsein – Künshi namshe auf Tibetisch – sondern der erwachte Allgrund,

also das grundlegende Gewahrsein, bereinigt von allem Haften, bereinigt von aller Identifikation.

Dieser Allgrund, diese Basis von allem, ist uns normalerweise nicht so ohne weiteres zugänglich. Wir

kreisen in unseren dualistischen Wahrnehmungen und Projektionen, drum heißt es hier ‚versteckt’. Es

ist der geheime, versteckte Grund, die versteckte Dimension unseres Geistes, die es gilt zu entdecken.

Das ist bildlich gesprochen. Diese Basis ist nicht offenkundig, nicht offensichtlich. Deswegen

sprechen wir auch so lange darüber, denn wenn es so offensichtlich wäre, dann könnten wir ganz

schnell aufhören darüber zu sprechen, wir wären uns alle sofort einig, ihr hättet keine Fragen mehr. Es

ist das, was uns inne wohnt, aber nicht so offensichtlich ist. In dieser Basis von allem, in dieser

Dimension des Geistes, in der sich alles vollzieht, aufzugehen, ist das Erwachen. Das ist der geheime

Punkt, der versteckte Punkt von den Unterweisungen.

Das ist der Grund, warum der Dharma schwierig zu verstehen ist. Der Grund ist, dass es wir über

etwas nicht Offensichtliches sprechen, obwohl es für diejenigen, die den Punkt verstehen, auf den es

ankommt, offensichtlich ist. Wenn man es erst einmal sieht, dann ist es offensichtlich. Ihr kennt doch

diese visuellen Spielchen, Vexierbilder, bei denen man das versteckte Bild entweder sieht oder man

sieht es nicht. Sobald man es sieht – z.B. die alte Frau mit ihrer langen Nase – ist es ganz offenkundig.

Solange man aber in diese Art des Schauens noch nicht hineingefunden hat, sieht man es einfach nicht.

Es gibt da recht schwierige Vexierbilder und mit der Schau der Natur des Geistes verhält es sich

genauso. Ihr kennt die Verzweiflung, vor so einem Bild zu sitzen und eurer Partner sieht es schon und

sagt: „Schau doch, da!“, und man selber kriegt es nicht hin, man sieht es nicht.

So kommen wir uns auch in den Dharmaunterweisungen vor: „Schaut doch! Ist doch ganz offen-

kundig, ist doch euer eigener Geist!“ Wie soll ich denn noch schauen, um es zu sehen und wenn wir es

sehen, dann haut man sich vor den Kopf und fragt sich: „Wieso habe ich es nicht früher gesehen?“ Es

ist nicht zu begreifen, warum es nicht früher klar wurde. Im Nachhinein ist das nicht zu begreifen, dass

es so zäh war. Das sind diese zähen Muster, die uns in einer bestimmten Weise zu sehen, festhalten. Es

ist nur das, und diese zähen Muster, die uns in einer bestimmten Sichtweise festhalten, nennt man

Schleier. Und die untergraben wir jetzt, die gehen wir an. Wir sind da am Kratzen und am Machen, um

diese Sichtweisen, die das einfache Schauen verhindern, aufzulösen, damit es sich einstellt.

Teilnehmerin: Wenn da steht, ‚ist dies verwirklicht’, ist das dann gleichzusetzen mit Erfahrung, also

mit erfahren? Was bedeutet hier verwirklicht?

Erkannt. Damit ist tiefe Erkenntnis, die tiefe Seins-Erkenntnis gemeint. Ich habe das Wort ‚erkannt’

hier vermieden, weil das deutsche Wort erkennen, was hier normalerweise für tog benutzt wird, hat

noch eine stärkere dualistische Konnotation als das Wort verwirklichen. Mit verwirklichen ist gemeint,

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dass wir wirklich drin ankommen. In diese Bedeutung kann man sich vielleicht besser hineinfinden,

aber gemeint ist, dass es nicht mehr nur eine dualistische Erfahrung ist, sondern ein non-duales

Aufgehen in diesem Gewahrsein. Das ist damit gemeint. Jeder hat so seine Worte, man könnte es auch

anders ausdrücken, also: ist dies erkannt, ist dies verwirklicht, verinnerlicht. Begreifst du das?

Teilnehmerin: Eine Frage zu dem Wort ‚Basis’. Es war ja schon im sechsten Vers, dann kommt es im

achten Vers vor und am Ende des neunten Verses, wo ich es nicht verstanden habe, wo es heißt,

‚welche die Basis ist’.

Das habe ich euch kurz erklärt, das ist die Basis der Verwirrung. Das tibetische Wort ist dasselbe, aber

es ist eine andere Basis. Man kann eigentlich sagen, mal ist es die Basis von Verwirrung und mal ist es

die Basis von erwachtem Erleben. Es ist die Basis von allem Erleben, aber das tibetische Wort ist

dasselbe.

Teilnehmer: Bei ‚versteckte Dimension’ hast du gemeint, man könnte auch Punkt sagen.

Der versteckte Punkt, dieses Wort tshang, bereitet uns große Schwierigkeiten. Man muss darauf hin-

weisen, was damit gemeint ist. Wobei, wenn du nach einem Punkt suchst, dann bist du immer auf der

Suche nach einem Punkt, einem Objekt.

Das ist alles so schwammig.

Das soll schwammig sein, extra! Der schwammigste Begriff gehört hierhin. Der Punkt ist: Du suchst

wie nach einer Stecknadel im Heuhaufen. Ich habe es ja gesagt, versteckter Punkt, versteckte Dimen-

sion, den Knackpunkt halt, ja? Die andere Sichtweise. Diejenigen, die Punkt lieber mögen, schreiben

sich Punkt hin, das ist vollkommen in Ordnung. Das Wort tshang heißt weder Punkt noch Dimension,

es bedeutet etwas Wichtiges, das versteckt ist.

14. Vers

Erscheinen ist Geist und Leersein ist auch Geist,

Erkennen ist Geist, aber auch Verwirrtsein ist unser Geist,

Entstehen ist Geist und Vergehen ist Geist –

mögen alle Zuschreibungen im Geist durchtrennt werden.

Eigentlich ist in dem Vers nichts Neues drin, eigentlich, außer dass es noch einmal richtig auf den

Punkt gebracht wird, dass die Gegensatzpaare allesamt Geist sind.

Teilnehmerin: Warum hast du bei verwirrt sein, ‚unser’ Geist geschrieben?

Weil es so im Tibetischen steht, rang gyi sem. Das hat schon manchem Kopfzerbrechen bereitet. Ich

könnte auch ganz frech das rang wieder als spontan übersetzen, aber es ist in der Konstruktion eher

unwahrscheinlich, dass das meint. Unser Geist, da haben wir uns doch dran gewöhnt, oder? Unser

vertrauter Geist, unser ganz gewöhnlicher Geist. Manchmal fehlen im Tibetischen einfach Silben, um

das Versmaß zu füllen, dann füllt man einfach einen fast nichts bedeutenden Begriff ein, der einfach

dann, hier in dem Fall, zwei Silben zusätzlich gibt, um das Versmaß wieder zu haben. Da muss man

sich nicht immer einen Knoten draus machen. In den anderen Zeilen steht nur Geist und hier steht es

plötzlich drin. Da ich nicht behaupten konnte, es wäre wirklich nur ein Versmaßfüller, habe ich es

einfach mit übersetzt. Ich habe es auch schon mal weggelassen, aber man muss korrekt sein.

Der Begriff Zuschreibungen ist jetzt auch klar geworden. Es ist ja ein ungewöhnliches deutsches Wort,

aber damit ist das Zuschreiben von Existenz, von Definitionen gemeint. Etwas draufkleben, Etiketten

z.B. Das alles ist damit gemeint.

Ich denke wir meditieren jetzt ein bisschen, denn mit diesem Vers sind wir an das Ende der Passage

gekommen, wo es um die Sichtweisen geht. Ab dem nächsten Vers geht es um Meditation. Es ist ein

Themenwechsel innerhalb dieses Gebetes.

Meditation

Wir sitzen entspannt. – Entspannt und zugleich gerade und spüren wie lebendig alles ist. – Erleben im

Körper, physisches Erleben, Hörerleben, visuelles Erleben, riechen, schmecken – und die

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Verarbeitung all dieser Eindrücke, zusätzlich mit Eindrücken, Erleben, das einfach im Denken

aufsteigt. Volles Erleben. –

Was immer wir an Angenehmen erfahren, an Unangenehmen, alles ist Erleben. –

Jetzt ist das Erleben schon wieder anders, als gerade eben noch. –

Was geschieht mit den einzelnen Momenten des Erlebens? Das Erleben von jetzt gerade, geht es

irgendwo hin? Geht es irgendwo hin? – Das Erleben, das noch nicht ist, aber jetzt gleich sein wird, wo

kommt es her? Kommt es irgendwo her? –

Falls sich irgendwo im Körper Fixierungen eingeschlichen haben, löst sie bitte. Versucht nicht, irgend-

etwas festzuhalten.

Wenn wir bemerken, dass wir versuchen, im Geist etwas zu halten, etwas zu erzeugen, etwas anderes

zu vermeiden, dann lockern wir auch das. Wir erlauben dem nächsten Erleben, sich ungehindert zu

manifestieren.

* * *

Eigentlich wollen wir doch nur unseren Frieden. Warum tun wir uns das an? All diese Unter-

weisungen? Weil der Frieden nicht lange dauert. Um wirklich mit den Herausforderungen des Lebens

umgehen zu können, müssen wir etwas tiefer schauen, deswegen.

Buchempfehlung

Ich möchte euch noch ein Buch zeigen. Ich habe mich allerdings hier nicht so direkt darauf bezogen.

Es ist der ins Englische übersetzte Kommentar des 8. Situ Rinpotsche Tschökyi Djungnä zum Maha-

mudra-Gebet. Dieses Buch heißt „Mahamudra Teachings of the Supreme Siddhas“. Es kann sein, dass

der Titel der neuen Auflage etwas anders lautet. Ich glaube, die neue Auflage ist unter dem Titel

„Mahamudra Prayer“ erschienen, damit leichter erkennbar ist, dass es sich hierbei um den Kommentar

des 8. Situ Rinpotsche handelt. Er hat im 18. Jahrhundert gelebt, und alle, die dieses Gebet unter-

richten, beziehen sich auf seinen Kommentar. Der Kommentar geht aber in den Ausführungen viel

weiter, als das, was wir hier besprechen. Er geht oft in die Vajrayana-Praxis hinein, nimmt oft Bezug

zu Verständnisebenen, wo es z.B. um die vier oder fünf Kayas geht, die einiges voraussetzen. Er er-

klärt in Begriffen, für die man schon relativ gut studiert haben muss, um wirklichen Nutzen daraus zu

ziehen. Für diejenigen, die gerne studieren und gerne diese Hintergrundinformation haben möchten, ist

das ein gutes Buch.

Es gibt auch ein ganz einfaches, mit abgetippten Unterweisungen zum Mahamudragebet von Tschökyi

Nyima Rinpotsche, auch auf Englisch. Es heißt „The Prayer of Karmapa“.

Meditation

15. Vers

Unverdorben durch die Anstrengungen absichtsvollen Meditierens

und nicht vom Wirbel gewöhnlicher Beschäftigungen aufgewühlt,

mögen wir es lernen, ungekünstelt in natürlicher Gelöstheit zu ruhen

und geschickt die Praxis des Geistes zu wahren, so wie er wirklich ist.

Das ist die grundlegende Instruktion für die Meditation, es kommt hier der Grundzug der Mahamudra-

Meditation sofort zur Sprache. Es wird nicht mit Absicht meditiert. Es gibt keinerlei Form von

Manipulation in der Mahamudra-Praxis, wir verfolgen keine Ziele. Wir erzeugen keine Geistes-

zustände. Wir lassen also das absichtsvolle, anstrengungsgeprägte Meditieren, wo der Intellekt sich

seine Meditation fabriziert, sein. Die Fabrikationen des Intellekts können in der Meditation nur zu

einer Verfälschung führen. Es ist ganz wichtig, das zu verstehen. Wir nehmen in der Mahamudra-

Praxis immer das, was gerade ist, als unsere Praxis, und das wandelt sich. Es gibt in der Mahamudra-

Praxis z.B. keine Meditation über die Leerheit. Das gibt es nicht. Wir meditieren nicht die Leerheit.

Jetzt schauen mich einige ganz entgeistert an.

Das ist ein wichtiger Punkt. Wenn es der Intellekt ist, der sich davon zu überzeugen sucht, dass jetzt

alles leer ist, dann sind wir schon auf dem falschen Dampfer. Wir erzeugen keine künstliche Medita-

tion, schon gar nicht eine, wo alles leer erscheint. Es ist vielleicht der schwierigste Punkt für uns, nicht

in Anstrengungen zu verfallen, während wir etwas am jetzigen Geisteszustand ändern wollen, denn

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unbewusst meditieren wir ja, damit es uns besser geht. Darum sind wir beim Meditieren auch oft in

Versuchung, so ein bisschen an unserem gegenwärtigen Erleben zu drehen, um es in eine Richtung zu

kriegen, damit es uns besser geht.

Einfach nur das zu erleben, was ist, ist vielleicht ein bisschen unbefriedigend für den suchenden Geist,

der ja glücklich sein will. Deswegen möchte man eine glückliche Meditation erzeugen. Dass wir dabei

in solche Anstrengungen verfallen, ist normal. Es geht jedem so, ich habe es auch jahrelang gemacht.

Es ist Ausdruck unseres Unverständnisses von dem, wie der Geist funktioniert. Wenn wir das, was

jetzt gerade ist, erleben, ohne uns dagegen aufzulehnen, ohne es verlängern oder wegdrücken zu wol-

len, dann ist es genau diese Haltung des Geistes, die bewirkt, dass das jetzige Erleben in sich Quelle

von Glück ist. Der Geist entspannt sich und wird aufgrund der Entspannung zufrieden und glücklich.

Das kann mitten im Schmerz sein, dass kann mitten in traurigen Begebenheiten in unserem Leben

sein, in ganz herausfordernden Situationen. Ganz mit dem zu sein, was gerade ist, in einer offenen

Geisteshaltung, das ist genau der Weg, um den es jetzt geht. Es geht also darum, die Meditation nicht

durch irgendwelche Fabrikationen zu verderben, oder irgendwie einen Geisteszustand herzustellen zu

wollen. Das wäre eine künstliche Meditation.

Das bedeutet aber nicht, dass wir abdriften, dass wir mit unserem Geist einfach auf Tagträume, auf

Reisen gehen, sondern wir bleiben dabei unaufgewühlt, unabgelenkt. Nicht abgelenkt zu sein, bedeutet

in erster Linie nicht vom Wirbel gewöhnlicher Beschäftigungen aufgewühlt zu sein. Du-dzi auf

Tibetisch bedeutet hier all die Geschäftigkeit, all das, mit dem wir uns normalerweise beschäftigen.

Unsere Projekte, unsere Anliegen, unsere Aufgaben, unsere Beziehungen, Vergangenheit, Gegenwart,

Zukunft, alles was wir da so vorhaben oder was wir aufzuarbeiten haben, all das. Das ist mit der welt-

lichen Geschäftigkeit gemeint.

Ich kann mich noch gut an ein zehntägiges Vipassana-Retreat erinnern, in dem ich innerlich meine

Küche gebaut habe. Als ich aus dem Retreat kam, wusste ich genau, wie ich diese wunderbaren

Bohlen zusäge, wo ich sie mit dem Stechbeitel ausstemme, wo die Schrauben hinkommen, damit man

sie nicht sieht und der ganze Unterbau. – Du-dzi, weltliche Anliegen, weltliche Geschäftigkeit,

Aufgewühlt sein. Dafür sind Meditations-Retreats einfach ideal, da kann man so richtig alles

vorbereiten. … Das ist es noch nicht, darum habe ich auch in dem Retreat noch nicht viel verstanden,

außer dass ich sehr gut beobachten konnte, dass mein Geist immer zu dem hinging, was mir wichtig

war. Was mir offenbar wichtiger war, als gerade hier zu sein.

Darum geht es: Wir schaffen uns, wenn wir meditieren, einen Rahmen, indem wir sagen. „Wenn ich

mich hinsetze, hört hier die Beschäftigung mit den täglichen Angelegenheiten auf und wenn ich

wieder aufstehe, dann fängt sie wieder an!“ oder „Innerhalb der Sitzperiode gebe ich meinen Ange-

legenheiten einen Raum, wo ich gezielt nachdenke.“ Das kann man auch machen. Meditieren bedeutet,

dass wir uns eben nicht in die üblichen Beschäftigungen hinein ziehen lassen und dass wir uns nicht

wie ein Blatt im Wind hin und her treiben lassen von all den Dingen, die da auftauchen. Wir lassen

was auch immer auftaucht los. Es ist das Erleben, aber es gibt kein Greifen. Der Wind kann durch-

ziehen, es gibt niemanden der nach ihm greift. Es ist dadurch eine Ruhe im Geist, auch wenn Aktivität

da sein mag, wir sind nicht aufgewühlt, weil es niemanden gibt, der nach Aktivität greift. Es findet

kein Greifen mehr statt. Das ist die Ruhe trotz aller Dynamik. Es ist vielleicht noch nicht die Geistes-

ruhe mit nur ganz wenigen Gedanken oder ohne Gedanken, aber es ist eine Haltung der Gelöstheit.

Gelöst von all den Sorgen, Hoffnungen, die uns sonst so umtreiben.

Mögen wir es lernen, ungekünstelt in natürlicher Gelöstheit zu ruhen. ‚Ungekünstelt’ bezieht sich

auf die erste Zeile, das ist dieses Unverdorbensein durch die Anstrengungen absichtsvollen Meditie-

rens. ‚Natürliche Gelöstheit’ bedeutet, nicht von den karmischen Winden aufgewühlt zu sein. Kar-

mische Winde sind die Winde unserer gedanklichen und sonstigen Aktivitäten.

Geschickt die Praxis des Geistes zu wahren, so wie er wirklich ist. Darum geht es in der Mahamudra-

Meditation. Das Wort ‚natürlich’ ist ganz wichtig im Mahamudra, es ist eins der charakteristischen

Worte. Es ist natürliche Meditation, ungekünstelt. Ungekünstelt und gelöst, also natürlich, aber frei

von Anhaftung. Gelöst bedeutet, völlige Annahme dessen was ist. Wir nehmen es an, und wir wissen

auch, dass wir nichts zu tun brauchen, um irgendetwas aufzulösen, wir brauchen es nicht zu tun. Wir

brauchen die Dinge, die da passieren nicht wegzuschicken, sie lösen sich von selber auf. Wir können

einfach gelöst verweilen. Und weil wir nicht in Reaktionen verstrickt sind von Habenwollen und

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Nicht-Habenwollen, ist es möglich, dass sich unser dualistisches Bewusstsein so entspannt, dass es

eins mit dem Erleben wird. Darum geht es in der Mahamudra-Meditation. Wenn wir noch reagieren

würden, wenn wir einsteigen mit Kommentaren, mit Habenwollen und Nicht-Habenwollen, dann

kommt es nie zu einer Einheit mit dem Erleben. Zu einer Einheit mit dem Erleben kann es nur

kommen, wenn wir dieses Kommentieren und Bewerten sein lassen. Dann kommen wir in natürliche

Gelöstheit und die natürliche Gelöstheit führt zu einem Erleben von einfachem Sein.

Jetzt schauen wir uns mal an, wie das Schritt für Schritt geht. Der nächste Vers ist über die Praxis der

Geistesruhe, Shinä, Shamatha.

16. Vers – Geistige Ruhe

Die Wellen der groben und feinen Gedanken kommen in sich selbst zur Ruhe

und der Strom des unaufgewühlten Geistes sammelt sich natürlicherweise.

Frei vom trübenden Schlamm der Dumpfheit und Trägheit

möge der Ozean geistiger Ruhe unbewegt und stabil verweilen.

Die Praxis der Geistesruhe ist das womit wir anfangen. Wir sprechen jetzt über Geistesruhe, aus der

Sicht des Mahamudra. Aus der Erfahrung eines Mahamudra-Praktizierenden gibt es nichts zu tun, um

den Geist zur Ruhe zu bringen, denn die Gedanken werden durch das Haften genährt. Der Motor

hinter den Gedanken ist der Grad an Wichtigkeit, den wir bestimmten Bereichen in unserem Leben

geben. Solange wir bestimmten Bereichen in unserem Leben eine Wichtigkeit zumessen, werden aus

diesen Bereichen Gedanken kommen und wir werden ihnen folgen, weil sie für uns diese Wichtigkeit

haben. Wenn wir sie in ihrer, illusorischen Natur – man kann fast sagen in ihrer durchsichtigen, trans-

parenten Natur – erkennen, dann beruhigen sie sich von selbst. Wir brauchen nur in der Schau ihrer

vergänglichen Natur des Entstehens und Vergehens zu bleiben und sie werden nicht mehr genährt. Es

tauchen immer weniger neue Gedanken auf und alle lösen sich von selbst in sich selbst auf. Das ist die

Entdeckung des Praktizierenden, dass es nichts braucht, um Gedanken aufzulösen. Sie lösen sich in

sich selbst und von selbst auf. Es ist ihre Natur, dass sie nicht bleiben können. Das ist ihr Wesen. Es

geht gar nicht anders, ein Gedanke kann nicht bleiben.

Versucht mal, dass ein Gedanke bleibt. Ihr wisst doch was das für eine Anstrengung ist, dass man

einen Gedanken wach hält. Immer wieder müssen wir ihn aktivieren, immer wieder müssen wir ihn

erzeugen. Ein Gedanke ist nicht etwas, das von sich aus bleiben würde und wenn es da kein Greifen

gibt, umso weniger.

Wir beobachten diesen Prozess mit den groben Gedanken, das sind die stärkeren Gedanken, die

emotional beladenen Gedanken. Wir lernen es mit feineren Gedanken, das sind die vielen kleinen

Fische, die kommentierenden Gedanken, die unbewussten Gedanken, die wir zunächst gar nicht be-

merken. Wenn wir zu meditieren beginnen, sehen wir erst einmal nur die groben Gedanken. Da gibt es

auch noch einen interessanten Bereich zu erforschen, denn so mancher Mensch meint, wir würden

immer nur begrifflich denken. Das ist dieses Formulieren von Sätzen in unserem eigenen Geist. Das

kennen wir. Wir sagen uns: „Ach, jetzt gehe ich mal nach rechts.“, „Jetzt mache ich mal das.“, „Ach,

jetzt muss ich die Wäsche aufhängen.“ … Aber das sind nur die groben Gedanken, das sind nur die

Gedanken, die ausformuliert werden. Die sind relativ langsam und wenn wir genau hinschauen, dann

formulieren wir diese Gedanken oft gar nicht bis zum Ende durch im eigenen Geist. Manche reden

auch so. – Es tut mir leid, wenn ich das manchmal tue. – Wir formulieren die Gedanken gar nicht

durch, denn schon mit dem ersten Wort ist der Gedanke zu Ende gedacht. Es braucht die Ausformu-

lierung gar nicht, das ist bloß, weil wir mit uns im Geschwätz sind. Wir führen einen inneren Dialog,

um uns zu beweisen, dass wir existieren.

Die meisten Gedanken nehmen gar nicht diese Struktur eines begrifflichen Satzes an, sie sind viel, viel

schneller. Wenn ich mich z.B. in einem Raum umschaue, um mich zu orientieren, wie jetzt gerade,

dann schaue ich, mit welchem Objekt ich das veranschaulichen kann, was ich zeigen will. Es braucht

dafür nichts als eine Idee und darauf folgt das Umsetzen der Idee. Ich brauche mir innerlich nicht zu

sagen: Jetzt nehme ich die Tasse und all das… Es geschieht fast von selbst, so flott und einfach geht

eine Handlung, wenn man eine Idee hat. Etwas wird einfach ausführt, obwohl natürlich eine Wahl

stattgefunden hat, denn ich habe nicht den Gong genommen, sondern die Tasse. Es findet durchaus

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eine Wahl statt und eine Orientierung im Raum. Das alles wird nicht begrifflich kommentiert, es findet

aber statt.

Ich war mir bewusst, als ich mich umgewendet habe, dass ich verschiedene Objekte zur Auswahl

habe. Dazu gab es Gedanken, aber die habe sich im Geist nicht zu Sätzen ausformuliert. Dann

bräuchte ich ja ewig, um die Handlung auszuführen. Also: Diese ausformulierten Gedanken im Geist,

die wir normalerweise als das Denken wahrnehmen, sind nur ein ganz kleiner Teil des Denkens. Es ist

das Denken, was uns speziell bewusst wird. Manche kriegen auch das nicht mit, weil sie mit sich

selbst so rumschwätzen, dass sie oft nicht einmal das mitkriegen. Und dahinter und darunter und

dazwischen sind so viele kleine Gedanken und ganz wichtige. Da sind Impulse, die nie ausformuliert

werden. Annahmen, Ängste, das schießt ein. Das passiert einfach und das sind die kleineren und noch

kleineren gedanklichen Bewegungen, bis es zu ganz feinen kommt.

Wenn man das beschreiben möchte, fehlen einem manchmal die Worte. Ich nenne das manchmal

vorbegriffliches Denken. Denken, bevor die Begriffe geformt werden. Wenn ich z.B. unterrichte, habe

ich ja ein Bild, ein Gefühl von dem, was ich kommunizieren möchte. Dieses Gefühl ist da, es ist nicht

prägnant im Raum, es sucht sich dann die Worte. Ich weiß genau, was ich ausdrücken möchte, obwohl

ich es mir innerlich gar nicht vorformuliert habe. Also da sind ganz präzise, feine Geistesbewegungen,

mit inneren Bildern, mit Einfällen, die dann in die Sprache hineindrängen und sprachlich formuliert

werden, auch innerlich, nur für uns. Wie wenn wir die Gedanken, die uns wichtig sind, dann auch

noch im Tagebuch aufschreiben. Es gibt Einfälle, die bewusst werden und sprachlich ausgedrückt

werden können. Aber es gibt so vieles, was tak tak tak… in unserem Geist geht und wozu es eine ganz

geschulte Achtsamkeit braucht, um es wahrzunehmen, aber das ist auch Denken. Das ist auch namtog

auf Tibetisch, das gehört mit zu den Prozessen, die wir als Gedanken beschreiben.

Teilnehmer: Vielleicht gibt es so innere Sprache, eine Sprache des Geistes, es gibt ja Linguisten und

Forscher, die so was annehmen.

Richtig, das ist auch meine Beobachtung. Egal in welchem Land ich bin, welche Sprache gerade ge-

sprochen wird, dieses Vorverbale funktioniert immer gleich. Zu was für Ausformulierungen es kommt

– sei es im Traum, wo manchmal in einer Sprache gesprochen wird, sei es im Alltag, mit einem selbst,

mit anderen – das kann dann gesteuert werden. Das ist manchmal x-beliebig, manchmal wird es ge-

steuert. Ich kann natürlich nicht sagen, wie es bei anderen ist, aber ich habe eine innere Sprache, die

gar nicht in Worte gefasst ist. Das ist eine innere Verständnisebene, die noch keine Worte hat. Ich

merke ganz oft im Gespräch mit Meditierenden, dass sie keine Begriffe haben für das, was sie erleben.

Ein Teil des Dharma-Unterrichts besteht darin, Begriffe anzubieten, um subtile Erfahrungen formulie-

ren zu können, um sie bewusster zu machen.

Als Gendün Rinpotsche zu uns ins Retreat kam, ich denke vor allen Dingen an die Zeit, als ich im

Wald in Dhagpo im Retreat war, da war es mir manchmal auch nicht möglich, meine Meditations-

erfahrungen zu Ende zu erzählen. Gendün Rinpotsche hat für mich weitererzählt. Aufgrund seiner

Hellsichtigkeit, aufgrund seines Gespürs, wusste er exakt, was ich erfahren habe und er hat es für mich

beschrieben. Manchmal hat er dann über Minuten hinweg das beschrieben, was ich durchgemacht

habe, was ich nicht formulieren konnte. Das zeigt, dass z.B. ein anderer Mensch, der speziell offen ist,

sogar auf dieser Ebene mitbekommen kann, was unser Erleben ist – ein Erleben, das noch gar nicht

formuliert wurde, noch gar nicht formulierbar war – und der es dann sogar für uns formulieren kann.

Bei dem, was wir Gedanken nennen, gibt es die groben Geistesbewegungen, dann gibt es feinere

Geistesbewegungen und noch feinere, und dann gibt es Unausdrückbares, von dem wir aber genau

wissen, dass es wahr ist und dass es so erlebt wurde und nicht anders. Aber selbst wenn wir hin-

schauen und selbst wenn wir es jemandem gegenüber ausdrücken wollen, finden wir nicht so Recht

die Worte dafür. All das fasst man so unter diesem Begriff Denken, Gedanken zusammen. Es sind

einfach Geistesbewegungen. Geistesbewegungen ist ein ganz gutes Wort, weil es uns davor bewahrt,

nur an dieses verbale Denken zu denken. Das ist also der Sinn hinter dem Ausdruck ‚grobe und feine

Gedanken’. Normalerweise reagieren wir, ohne dass wir es beabsichtigen. Wir kommen einfach in

eine Reaktion, weil es unser Muster ist, aber wenn Bewusstheit da ist und Gedanken in dieser

Bewusstheit bemerkt werden, dann sind wir all diesen Regungen nicht mehr unbewusst ausgeliefert,

wir haben dann auch die Wahl, nicht zu reagieren. Und dadurch kommt es, dass sich die geistigen

Bewegungen in sich selbst beruhigen können, weil sie nicht mehr weiter verfolgt werden, weil es eben

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nicht mehr ohne Gewahrsein zugeht. Dadurch klärt sich der Schlamm unseres Geistes. Wir sind wie

ein aufgewühlter Teich, in dem das Wasser aufgrund der enormen Aktivität undurchsichtig geworden

ist.

Indem wir zur Ruhe kommen – wir gehen in einen Raum, wo uns all die Beschäftigungen nicht mehr

aufwühlen, wo wir uns nicht mit unseren Identifikationen, mit unseren Rollen, Beziehungen etc. be-

fassen und nehmen eine Körperhaltung ein, die den Geist zur Ruhe kommen lässt – entspannen sich all

die aufwühlenden Konzepte und unser Geist klärt sich. Das ist wie ein Teich, an dem kein Wind mehr

bläst und in dem auch keine Fische mehr sind, die den Schlamm aufwühlen. Alles kommt allmählich

zur Ruhe.

Gendün Rinpotsche hat seine Erklärungen dazu gerne unterstrichen, indem er ein Glas Wasser in die

Hand nahm und schüttelte. Er sagte dazu: „Ihr wollt, dass euer Geist zur Ruhe kommt? Dann hört

doch auf, das Glas zu schütteln. Hört einfach auf. Ihr seid das, die euren Geist so aufwühlt! Es kommt

nicht von außen. Hört auf, euer Glas, euer Gefäß immer zu schütteln. Wenn ihr nicht zur Ruhe kommt,

so ist das, weil ihr ständig allem Möglichen hinterher lauft. So könnt ihr nicht zur Ruhe kommen! Hört

auf, hinterher zu laufen und hört auf, wegzulaufen. Bleibt! Bleibt im Erleben, frei von Bewertungen.“

Das ist ja auch ein berühmtes Zitat von Buddha Shakyamuni. Angulimala, der Mörder, verfolgt ihn

und ruft dem Buddha nach: „Halt doch einmal an, was läufst du denn eigentlich?“ Und der Buddha

dreht sich um und sagt: „Ich habe schon längst aufgehört zu rennen, du rennst!“ Angulimala ver-

langsamt und in dem Maße verlangsamt auch der Buddha, bis sie sich gegenüberstehen. Daher kommt

diese Formulierung: „Hör auf zu rennen, hör doch endlich auf zu laufen.“ Ein Erwachter hat aufgehört,

wegzulaufen und hinzulaufen. Er ist im Erleben, jetzt gerade. Er läuft weder in die Vergangenheit

zurück noch läuft er in die Zukunft voraus, er läuft nicht vor einem Erleben innerlich weg, er geht

nicht hin zu einem anderen Erleben, was ihm angenehmer wäre. Er ist einfach da. Präsenz, völlige

Präsenz.

Dadurch kommt der Geist zur Ruhe. Dumpfheit, Trägheit, genauso wie die Agitation, die Aufge-

wühltheit, von der ich jetzt gesprochen habe, kommen allesamt zur Ruhe. Und was passiert? Der

Geist, immer noch mit einem gewissen Beobachter, enthüllt sich als klar, zufrieden, freudig, ange-

nehm und frei von Gedankenketten. Auch die einzelnen Gedanken werden weniger. Einfachheit

kommt zum Vorschein, Klarheit. Wir nennen die drei typischen Erfahrungen Freude, Klarheit und

Nicht-Denken. Das sind die drei typischen Erfahrungen die da zum Vorschein kommen. Zu denen

kommen noch.

Möge der Ozean geistiger Ruhe unbewegt und stabil verweilen. Wenn wir im Ozean geistiger Ruhe

ankommen, dann haben wir in unserer Praxis schon eine gewisse Reise hinter uns. Zunächst war der

Geist sehr aufgewühlt, dann war er so wie ein Wasserfall, wo wir eine gewisse Distanz haben und uns

nicht fortreißen lassen. Dann klärt sich allmählich der Strom unseres Geistes, wie ein Fluss, wo sich

die Sedimente allmählich setzen, und dann kommen wir in einem klaren, windstillen Ozean an. Er ist

spiegelglatt, wie die Meeresoberfläche mittags bei strahlender Sonne ohne Wind. Das ist das Beispiel

des Ozeans für das Eintreten in die vier Versenkungszustände, die Dhyanas. Wenn wir von Ozean

sprechen, dann treten wir in diesen Bereich des Verweilens ein, der von Nicht-Begrifflichkeit geprägt

ist. Es gibt noch kleine Geistesregungen, die wir Beobachter nennen können, also eine gewisse

beobachtende Funktion ist noch da, aber auch die wird ganz leise. Es ist, als würden wir am Computer

den Lautsprecher von hundert auf fünf herunter regulieren. Eine kleine Hintergrundstimme ist noch da,

die so ein bisschen bemerkt: „Ach, was für eine Ruhe.“ Und dann schweigen. Dann ist der Beobachter

schweigend dabei, wie alles still ist und hält endlich auch mal die Klappe. Aber die Tendenz zum

Beobachten ist noch nicht vorbei, die ist immer noch da. Aber das wird dann der Ozean der Geistes-

ruhe genannt.

Ich werde jetzt nicht auf die einzelnen Abstufungen eingehen. Wichtig ist, dass wir das Prinzip

verstehen, dass all dies geschieht, weil wir keine Absichten verfolgen. Weil wir das, was gerade ist,

ganz und gar als unser Erleben annehmen und nirgends woanders hingehen. Dadurch und indem wir

frei von Anhaftung und Ablehnen in dem bleiben, was jetzt gerade ist, entsteht Geistesruhe. Durch

dieses Freibleiben von Reaktionen auf das was ist, vollzieht sich der ganze Prozess.

Die drei wichtigsten Hindernisse für die Praxis der Geistesruhe sind Wildheit des Geistes, also

Aufgewühltsein, Dumpfheit und Trägheit, Schläfrigkeit. Dazu noch ein Beispiel: Wir kommen in

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unser Zimmer und da herrscht totales Chaos, alles ist durcheinander. Wir finden nichts mehr, nichts ist

mehr am Platz, es ist völliges Durcheinander. Wir können zwar klar sehen, aber es ist alles total

aufgewühlt. Das entspricht der Wildheit des Geistes. Was mit Dumpfheit gemeint ist, ist ein nebliger

Geisteszustand. Es ist, als wäre Rauch im Zimmer, es ist verschleiert, neblig, wir sehen nicht klar im

Geist. Es ist eine enorme Unschärfe, wir kriegen keinen Fokus hin, wir können die einzelnen

Geistesmomente nicht klar erkennen. Und Schläfrigkeit ist Dunkelheit. Das Zimmer ist dunkel,

vielleicht ist es ja gut aufgeräumt, aber es ist dunkel und wir können nichts sehen. Das Gewahrsein

driftet weg, wir sind kurz davor einzuschlafen. Das sind die drei großen geistigen Hindernisse. Ich

kann mich nicht mehr genau erinnern, ob das Beispiel von Shamar Rinpotsche oder von Gendün

Rinpotsche ist.

Teilnehmerin: Manchmal gibt es bei mir eine Form von Gedanken oder Erleben, wo ich in dem

Moment das Gefühl habe dabei zu sein, aber wenn ich mich kurz darauf erinnern will, was ich jetzt

gedacht habe, was es war, dann weiß ich es nicht. Ist das Dumpfheit?

Nicht unbedingt. Das kann ich jetzt so nicht sagen. Aber es gibt verschiedene Möglichkeiten. Es ist

möglich, dass wir etwas voll erleben und uns trotzdem nachher nicht dran erinnern, weil die Funktion

des sich Erinnerns entscheidend damit zusammenhängt, wie stark wir uns identifiziert haben, welche

Bedeutung wir einem Ereignis beigemessen haben. Es muss nicht sein, dass wir uns erinnern können.

Normalerweise ist beim dualistischen Erleben, wenn es einigermaßen intensiv ist, eine Erinnerungs-

spur vorhanden. Es kann sein, dass du in der Meditation ganz und gar bei deinem Atem bist und

deinen Atem verfolgst. Ausatmen – einatmen … Du kriegst ganz viele Nuancen dieses Erlebens mit,

aber nachher – du hast vielleicht eine halbe Stunde meditiert – kannst du keinen Bericht über diese

Phase des Meditierens abgeben. Das ist die eine Möglichkeit.

Die andere Möglichkeit ist, dass wir uns tatsächlich täuschen. Wir praktizieren Meditation der

Geistesruhe, sind zunächst präsent, finden in einen Zustand hinein, wo wir wenig greifen, auch nicht

kämpfen mit dem was ist. Im Grunde genommen richten wir uns aber in einer nebulösen Präsenz ein,

in der unglaublich viel Zeit vergehen kann, ohne dass etwas Spezielles geschieht. Wir fühlen uns ganz

wohl, es ist nicht weiter anstrengend, wir können lange so verbringen, und haben nachher tatsächlich

nichts, an das wir uns erinnern können. Diese zweite Form nannte Gendün Rinpotsche Schafs-Shinä,

das Shinä der Schafe, die einfach so wohlig dahindösen. Ich habe selber etwa sieben Monate da drin

verbracht und war schockiert, als Gendün Rinpotsche mich darauf aufmerksam machte. Ich dachte, ich

würde klare Geistesruhe praktizieren, hatte es mir aber tatsächlich gemütlich eingerichtet. Ich war

nicht mehr im Forschen drin. Ich habe nicht mehr an der Feineinstellung der Achtsamkeit gearbeitet,

sondern einfach den Körper abgelegt, abgestellt. Der war in Ordnung. Geist abgestellt, der war auch in

Ordnung. Tja, und ich habe gedacht, ich praktiziere Shinä. Das nennt man auch manchmal schwarzes

Shinä. Ich muss es dir überlassen zu schauen, was es bei dir ist, aber es gibt diese beiden Möglich-

keiten.

Teilnehmer: Ist es das, was andere „weiße Wand“ nennen?

„Weiße Wand“, den Ausdruck habe ich auch schon gehört, der kommt aus dem Zen.

Den verwendet Lama Ole immer.

Ja, es kann gut sein, dass dasselbe gemeint ist. Wir sagen auf Englisch Blackout, das hier ist eher ein

‚Whiteout’, weil man nämlich im Grunde genommen das Gefühl hat, man würde in einer inneren

Helligkeit verweilen. Man fühlt sich nicht schwarz, aber es ist nebulös und man kann das eine weiße

Wand nennen.

Teilnehmer: Was macht man dann? Braucht man einen Lehrer der einen da wieder hinausführt?

Ja, man braucht ein bisschen Mut, in unbequemere Bereiche des Geistes vorzudringen. Dabei passiert

nämlich unbewusst, dass man sich fernhält von Bereichen, in denen es schmerzhaft ist, in denen es ein

bisschen unangenehmer ist. Man hält es für etwas ermüdend, sich dem ständig neuen Erleben zu

öffnen. – Es reicht mir auch das neue Erleben.

Es ist eine der wichtigsten Instruktionen überhaupt, immer wieder frisch, jetzt im neuen Erleben zu

sein. Darauf haben wir zunächst eigentlich gar keine Lust. Es ist ja doch so viel bequemer, in unseren

vertrauten Projektionen zu sein. Wir haben z.B. jemanden kennen gelernt und immer wenn wir an

denjenigen denken, sagen wir innerlich: „Der ist so!“, statt neu hinzuschauen. Uns selber kennen wir

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ja auch. „Ich bin so, bin ganz toll.“ Da schauen wir auch nicht genauer hin. Es ist viel bequemer. Ich

sitze in meinem Zimmer und mein Zimmer ist mein Zimmer, das war schon immer so. Da tut sich

auch nichts mehr. Das ist unsere normale Tendenz. Um in die Frische zu finden, muss ich diese

Trägheit, diese Bequemlichkeit überwinden. Es ist nicht so, dass es bequemer wäre, immer in der

Frische zu sein. In der Frische müssen wir immer im Fluss bleiben, da können wir es uns nicht ein-

richten. Im scheinbar Vertrauten richten wir es uns ein, dass kommt unserer grundlegenden Faulheit

ganz entgegen.

17. Vers – Intuitive Einsicht

Immer wieder in den nicht zu sehenden Geist schauend

Kommt es zu dem Intuitiven Sehen, dass – so wie es ist – nichts zu sehen ist,

und durchtrennt alle Zweifel darüber, was ist oder nicht ist.

Frei von Verwirrung, möge unsere ureigene Natur sich selbst erkennen.

Da kommen wir an einen weiteren wichtigen Punkt. Das Sehen ist ein Prozess, es geht nicht um

Einsicht, um etwas, das einmal gemacht wird, sondern es geht um Einsehen. Wir etablieren nicht eine

Sicht, sondern wir müssen schauen, wir müssen in die Schau gehen. Das ist ein aktiver Prozess. Wir

schauen, es schaut in diesen Geist. – Damit haben wir uns heute Morgen schon herumgeschlagen. Da

ist Gewahrsein, da ist Erleben und wir schauen und bleiben in dem Erahnen. Wir spüren, dass es da

nichts Fassbares gibt, aber die Qualitäten des Geistes sind zugleich völlig präsent. Einen Geist als

solchen können wir nicht finden, aber die Qualität der Präsenz ist total spürbar. Wir schauen und in

diesem inneren Schauen geben wir auf, etwas sehen zu wollen. Das ist so, wie ihr in der Meditation

mit den Augen schaut. Der Blick wird nach vorne irgendwo ausgerichtet, und wir sind dann nicht

mehr dabei, einen Tisch zu sehen, eine Person, ein Buch, einen Pullover, ein Hemd. Das alles hört auf,

der Blick ruht. Er sieht nicht Einzelheiten, er sucht auch nicht mehr nach Einzelheiten, es ist einfache

Schau.

Mit dem inneren Schauen ist es ebenso. Der Blick richtet sich nach innen, das suchende Gewahrsein

sucht sich selbst. Wir sind uns darüber im Klaren, dass das Gewahrsein sich seiner selbst gewahr wird.

Es kann sich als solches nicht als Objekt erfassen, weil es ja nun schließlich seiner selbst gewahr wird.

Und in dieser Schau dessen, was nicht zu sehen ist, entspannen wir uns. Da ist einfach Präsenz, wo es

kein sichtbares Objekt gibt, was man einen Geist nennen könnte. Und darin zu verweilend tut sich

unser Geist auf, da öffnet er sich. Das nennt man Lhagtong oder Vipassana. Das ist das intuitive

Sehen. Es ist intuitiv. – Das ist eine Wortprägung von Henrik und Walli, die mir recht gut gefällt.

Eigentlich heißt Lhagtong klares, helles oder auch tiefgründiges Sehen. Aber das Wort intuitiv verbin-

det uns sehr gut mit dieser Ebene des nicht Greifbaren. Es ist ein Sehen von innen her, in dem es eher

um ein Spüren, um ein Ahnen geht, als um ein Sehen.

Wir sehen und verstehen in dem Moment, dass – so wie die Dinge sind, so wie es ist –, nichts zu sehen

ist und es auch nie etwas zu sehen geben wird. Der Moment, wo uns Lhagtong wirklich aufgeht, ist

der Moment, in dem endgültig klar wird, dass es nie etwas zu entdecken geben wird. Dass es in der

Natur der Dinge liegt, dass es gar nicht anders sein kann. Wenn Gewahrsein in sich selbst ruht, quasi

nach sich selber schaut, dann ist nicht zu erwarten, dass es je sich selbst als Objekt entdecken könnte,

denn es kann zu sich selbst keine Distanz aufbauen. Wenn wir das zulassen, dann sind wir in der

direkten Schau, ohne Distanz aufzubauen. Volles Gewahrsein, ohne innere Distanz zum Geschehen.

Dabei wird klar, dass so wie es ist, nichts zu sehen ist und das durchtrennt alle Zweifel darüber, was

ist oder nicht ist. Zweifel, das sind die Fragen, das ist die Unsicherheit, die ihr vielleicht heute Morgen

gespürt habt, als wir über diese vier Extreme und den mittleren Weg gesprochen haben. Da habt ihr

vielleicht gespürt, dass hier und da einiges noch nicht geklärt ist. Dass wir nicht mit völliger

Gewissheit und Sicherheit Aussagen machen können zu diesen verschiedenen Fragen, die ich da

angesprochen habe. – Stirbt da jemand,? Wird da wieder jemand geboren? Was ist das Ich? Gibt es

den Geist? Gibt es keinen Geist? usw. – Echtes Lhagtong ist der Moment der Erkenntnis, wo sich

diese Zweifel auflösen. Es ist nicht nur ein Moment, es sind wiederholte Momente. Es kommt heutzu-

tage selten vor, dass sich das in einer Meditationssitzung vollkommen vollzieht, dass sich Lhagtong in

einem Erkenntnisprozess vollzieht. Es ist eher so wie das allmähliche Aufgehen der Sonne. Schon

beim ersten Strahl der Sonne wissen wir: „Das ist sie!“ Aber sie hat sich noch nicht ganz gezeigt und

zeigt sich dann mehr und mehr durch wiederholte Schau. Es ist heute bei fast allen Praktizierenden so,

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dass sich Lhagtong allmählich einstellt und nicht so sehr in einer großen, überwältigenden Erfahrung,

die alle Zweifel beseitigt. Wenn die Erfahrung aber vollständig wird, dann sind alle Zweifel durch-

trennt. Das ist stabile Erkenntnis, das ist Gewissheit, Ende der Zweifel.

Zum Abschluss dieses Verses der Wunsch: Frei von Verwirrung, möge unsere eigene Natur sich

selbst erkennen. Das bedeutet nicht, dass ich bewirken kann, dass das Gewahrsein seine eigene Natur

erkennt. Darin liegt die Schwierigkeit: „Ich, der ich so gern erwachen möchte, ich, der so gern das

alles verstehen möchte, ich, der sich schon so lange anstrengt mit der Meditation und schon so viele

Stunden auf dem Kissen verbracht hat, ich möchte das jetzt endlich verstehen. Ich möchte, dass mein

Gewahrsein sich jetzt endlich selbst erkennt.“ Unmöglich! Das geht nicht. Das ist wie eine Wand –

keine weiße Wand, sondern eher eine harte Wand. Es ist die Wand, gegen die wir immer wieder laufen

und an der wir verzweifeln. Wir verzweifeln und die Verzweiflung ist genau der Spiegel für unsere

verkehrten Anstrengungen. Wenn wir verzweifelt sind, bedeutet das, dass wir uns anstrengen. Da wir

uns anstrengen, können wir die Natur des Geistes nicht erkennen, weil wir alles immer wieder ver-

derben. Wir – diese Ichs – erzeugen die Verwirrung. Deswegen geht es darum, anstrengungslos zu me-

ditieren und sich zu gar nichts zu zwingen und kein Programm zu haben, wann wir zu erwachen

haben. Nichts von all dem! Bis wir das aufgeben, müssen sich die meisten von uns gründlich den Kopf

eingerannt haben, gegen diese Wand. Immer wieder, immer wieder versuchen, mit allen möglichen

Techniken werden wir es versuchen, zur Erkenntnis zu kommen. Das ist unsere normale Strategie im

Leben, die wir immer verfolgen, sobald wir ein Ziel vor Augen haben. Hier klappt es nicht, ist es nicht

möglich.

Diese Erkenntnis, diese Schau offenbart sich erst, wenn wir uns selbst vergessen. Wenn irgendetwas

bewirkt, dass wir aus diesen ichbezogenen Mustern aussteigen. Ihr habt ja alle schon einiges gelesen.

Da gibt es ein paar schöne Geschichten, von einer Sandale auf dem Kopf z.B., von einem Steinchen,

das beim Fegen des Hofes im Zen-Kloster vom Besen an die Holzbegrenzung geschleudert wird,

dieser Klang durchdringt plötzlich die normalen Muster und es entsteht ein Verstehen. Es gibt so viele

Momente, wo es passieren könnte, dass wir uns vergessen. Das Meditieren ist die Vorbereitung dafür,

immer entspannter zu werden, sodass es auch möglich ist, dass wir uns mal vergessen. Jemand, der

immer in der Kontrolle ist, der immer in diesen Kontroll-Mechanismen lebt, dem wird es auch nicht

passieren, dass er sich einfach vergisst.

Das kann einmal passieren, es kann. Es gibt Menschen, denen das einfach passiert, ohne dass sie

vorher meditiert haben. Das sollten wir auch nicht bezweifeln. Das gibt es, aber es ist sehr selten. Und

wir wissen nicht, warum es diesen Menschen passiert. Sie brauchen dann nach dieser Erkenntnis

Begleitung, um das alles zu integrieren und müssen dann im Nachhinein noch lernen, ihren Geist zu

stabilisieren. Sie leiden darunter, dass sie große Mühe haben, in diese spontane Schau wieder zurück-

zufinden. Sie kennen den Weg gar nicht, es ist ihnen passiert. Sie konstruieren sich dann vielleicht

etwas, was dieser Schau ähnelt, aber das ist es gar nicht mehr. Die brauchen also genau die Begleitung

und das Training, was wir anderen machen, bevor wir diese Schau haben. Dieses Training im Los-

lassen, in Geistesruhe, in Nichthaften, Nichtwegrennen, Nichthinrennen, all das. Das bleibt nieman-

dem erspart, wir müssen aus diesen Mustern aussteigen. Bei gemachter Erkenntnis ist es ein bisschen

leichter, aber wir bereiten das Feld.

Unterweisungen wie hier bereiten das Feld, so dass das, wenn es passiert, richtig verstanden wird. Es

gibt Menschen, die aufgrund von solch einer Schau, die sich ihnen offenbart hat, jahrelang bei Thera-

peuten, bei Psychiatern und Psychotherapeuten in Behandlung gewesen sind, weil sie selber und ihre

Therapeuten, nicht verstanden haben, was da eigentlich passiert ist. Das gibt es. Die fühlten sich

plötzlich so anders. Das Ich-Gefühl konnte nicht mehr wie sonst, wie gewohnt, entstehen. Das ist aus

Sicht von Therapeuten äußerst bedrohlich.

Also diese Schau, dieses Schauen, dieses Verstehen entsteht irgendwann. Voraussetzung ist, dass wir

uns vergessen. Es kann auch mal so in unserem Leben passieren. In einem Moment, wo halt die

Kontrollmechanismen nicht greifen. Und wie immer es auch ist, ob vorher oder nachher, ohnehin

unser ganzes Leben, dient dem Entwickeln von entspanntem, gelöstem Gewahrsein. Da gibt es keine

Abkürzungen. Abkürzung ist nur das Vertrauen, es möglichst kontinuierlich umzusetzen, das ist die

einzige Abkürzung. Es möglichst kontinuierlich umzusetzen, das ist der schnellste Weg. Frei von

Verwirrung, möge unsere eigene Natur sich selbst erkennen.

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18. Vers

In die Objekte schauend, gibt es keine Objekte – sie werden als Geist erkannt.

In den Geist schauend, ist da kein Geist – er ist von Natur aus leer.

In beides schauend, befreit sich dualistisches Haften in sich selbst.

Mögen wir den Geist verwirklichen wie er wirklich ist: Erhellende Klarheit.

Was mit Objekten gemeint ist, haben wir schon besprochen. Es sind die Inhalte unseres Erlebens. Das,

was wir erleben, was gerade da ist, wird Objekt genannt. Der gegenwärtige Gedanke, die gegenwärtige

Bewegung im Geist, kann eine Sinneserfahrung sein, oder ein Bild, das von innen. Es ist ein Objekt

der Wahrnehmung, ein vermeintliches Objekt. Habt ihr gerade eins? Gibt es das welche?

Wollen wir mit einem Klang arbeiten, mit Geräuschen? Da sind gerade Vögel, die zwitschern. Wenn

wir so ganz bewusst hinhören, dann geht unsere ganze Aufmerksamkeit in den Hörsinn, wir versuchen

auch feine Geräusche zu hören. Wie ist es denn mit diesem Hörsinn, mit dem Bewusstsein des Hörens,

wenn gerade kein Geräusch ist? – Oder ist da immer Geräusch? Wenn ein Geräusch aufhört, bevor das

nächste identifiziert wird, was geschieht mit unserem Hörbewusstsein? – Erlebt ihr das auch so, dass

wir in Hörbereitschaft bleiben? Wir bleiben in Hörbereitschaft, das Bewusstsein ist weiterhin im Hör-

sinn, und es braucht eine Weile bis wir das nächste wahrnehmen.

Ein Beispiel: [Lama Tilmann klopft mehrmals in verschiedenen Abständen mit einem Holz auf den

Tisch.] – Ich möchte euch damit etwas demonstrieren: Wir sind gewahr, wir hören mehr oder weniger

deutliche Geräusche. Das Gewahrsein bleibt auch, wenn kein Klang erklingt, dann hören wir keinen

Klang, kein Geräusch. Wenn der Klang auftaucht und wir nicht im Haften sind – [klopft wieder] –

ändert sich eigentlich gar nichts im Gewahrsein. Es bleibt einfach gewahr. Das ist doch interessant! Da

ist eine grundlegende Qualität von Präsenz im Hören, eine Bereitschaft zu hören, und wenn kein

Greifen stattfindet, dann hinterlassen die Geräusche keine weiteren Spuren, sie führen zu nichts weiter.

Gehört – vorbei – nächster Klang. Es braucht einen gewissen Moment des Umstellens, wenn ein

Geräusch wegfällt, das sehr prägnant war, und dann suchen wir nach einem anderen identifizierbaren

Geräusch. Es ist wie ein Zoom: „Wo ist denn das?“ Dieser Prozess findet in allen Sinnesfeldern statt.

Beim Hören lässt sich besonders gut demonstrieren, wie dieser Prozess stattfindet. Er findet aber auch

beim Sehen statt.

Teilnehmer: Dieses Suchen, das dann da stattfindet, wenn kein Geräusch zu hören ist, dann ist es ja so

ein Suchen nach einem nächsten leiseren Geräusch, vielleicht. Ist das dann auch eine Form von

Anhaftung?

Was würdest du sagen?

Ja, ich habe schon den Eindruck.

Wir könnten auch verweilen ohne zu suchen, das wäre auch möglich. Es geht, doch, es geht. Wir

könnten verweilen, ohne zu suchen.

Teilnehmer: Ist das nicht genau der Unterschied? In dem Moment wo ich das verbinde mit

irgendetwas oder wo ich da gezielt hindenke, kann ich sagen, dass ich etwas höre. Ansonsten ist da

nur irgendetwas, und ich kann das eben nicht sagen.

Genau, das ist der Unterschied zwischen schauen und sehen. Wir sind ständig unseres Körpers ge-

wahr, aber es ist ganz selten, dass wir Körperempfindungen identifizieren. Normalerweise erst, wenn

sie unangenehm werden. Ihr sitzt hier stundenlang und hört zu. Da ist ganz wenig, was bewusst wird,

und trotzdem ist da ständige Körperbewusstheit. Da besteht also ein großer Unterschied zwischen

einer identifizierten Sinneswahrnehmung und der Sinneswahrnehmung, die einfach so stattfindet und

zum Teil sogar von sich aus Korrekturen im Körper, in der Haltung zum Beispiel auslöst.

Teilnehmerin: Ich habe es so erlebt, dass ich mich ständig mit irgendetwas beschäftigen wollte. Da

war der Klang, aber der Klang wurde dann langweilig, wo eben keiner war. Dann schaute ich mir

Blumen an, dann habe ich wieder etwas aufgenommen und dann merkte ich, dass es mich mit dem

Blick wieder zum Thangka hinführte. Es war also wechselnd zwischen hören und sehen.

Der Buddha nannte das Durst, Durst nach der nächsten Sinneserfahrung. Wenn wir nicht ausreichend

beschäftigt sind, dann suchen wir. Wir sind dann durstig nach dem nächsten interessanten Erleben.

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Der 9. Karmapa spricht vom Durst zu denken, dem Durst nach Gedanken. Was ich eben mit dem

Klopfen gezeigt habe, findet auch im mentalen Sinn statt: Es taucht ein Gedanke auf, und wenn wir

nichts machen, kann eine Pause sein. Wenn wir so ruhig verweilen, ohne ins Suchen zu gehen, wie wir

das mit dem Hörsinn können, dann entstehen echte Pausen zwischen Gedanken. Wir nehmen diese

Pausen normalerweise gar nicht wahr, weil wir so stark im Suchen nach dem Lückenfüller sind. Wir

füllen die Lücken, immer wieder versuchen wir es. Du hast das gerade so toll beschrieben: Als in der

Hörwahrnehmung nichts war, bist du in die visuelle Wahrnehmung gewechselt, einfach um die Lücke

zu füllen. Du warst immer noch bereit zu hören, aber die Lücke ist schon einmal gefüllt.

Eine nicht gefüllte Lücke ist unbequem. – Weil wir nicht sicher sind, ob wir existieren, wenn da eine

Lücke ist. Dazu der berühmte Spruch von Descartes: „Cogito ergo sum“ – „Ich denke, also bin ich.“

Wo ist denn das Ich, wenn ich nicht denke? Das ist tatsächlich die Frage, und er hat den Nagel auf

dem Kopf getroffen, denn wir sind nicht, weil wir denken. Er hat einfach nicht gemerkt, dass es

vielleicht auch Phasen gibt, wo wir nicht denken. – Jedenfalls nicht so, wie es gemeint ist. Das ist

spannend. Wenn wir tatsächlich nur existierten, wenn wir denken, dann würden wir in dem Moment,

wo wir nicht denken, wegfallen. Dann gäbe es uns nicht. Das entspricht aber nicht unserem Erleben.

Nun geht bei einem Philosophen normalerweise das Denken rund um die Uhr. Darum liegt es nahe,

sich über das Denken zu definieren.

Was ist zwischen den Gedanken? Wir nennen das Geistesruhe. Das ist ruhiger Geist, der Geist

zwischen den Gedanken. Dann, wenn es denkt, wenn Wahrnehmung ist, nennen wir es bewegter

Geist, aktiver Geist. Ist da wirklich ein Unterschied zwischen dem Geist, wenn er ruhig ist, nicht denkt

und dem Geist wenn er denkt? Ist da ein wesentlicher Unterschied? Das ist eine der wichtigen Fragen.

In die Objekte schauend, also wenn wir in die Wahrnehmung schauen, entdecken wir: Das ist Geist,

das ist Gewahrsein. In das Gewahrsein selbst schauend, schauen wir zunächst einmal nicht mehr in

die Objekte, wir schauen einfach in das Gewahrsein. Das ist sehr interessant, auch in das Gewahrsein

zu schauen: Wie ist eigentlich der Geist, wenn er gerade nicht mit Objekten beschäftigt ist?

Teilnehmer: Manchmal gibt es ganz offensichtlich Dinge, die man hört und sich darauf fokussiert oder

man hört sie zumindest bewusst. Aber wenn man dann vermeintlich still ist, hört man ja trotzdem

noch. Manchmal ist bei mir mit Gedanken genau das Gleiche. Manchmal sind die Gedanken sehr

präsent, aber es sind auch Phasen dazwischen, wo ich den Eindruck habe, dass da unterschwellig

Gedanken sind. So ähnlich wie beim Hören auch.

Ja, das ist wie das Hintergrundrauschen unseres Denkprozesses. Auch das kann sich noch beruhigen.

Auch das Hintergrundrauschen, diese kleinen Fische, auch die können sich noch beruhigen. Das wird

jetzt noch sehr viel präziser, denn ich meine tatsächlich auch die Lücken zwischen den ganz kleinen

Fischen. Wenn die Bewegungen, die unterschwellig laufen, an die Oberfläche, also ins Bewusstsein

kommen, so gibt es auch da noch Zwischenräume. Das zu entdecken, ist ganz faszinierend und je

entspannter der Geist wird, desto länger werden diese Zwischenräume. Aber da ist immer noch

Gewahrsein. Das Gewahrsein setzt sich fort, da ist immer noch Präsenz. Das ist ganz interessant.

Diese Beobachtungen gehören dazu, wenn wir den Geist erforschen. Das ist Lhagtong – den ruhigen

Geist erforschen, den aktiven Geist erforschen, die beiden vergleichen.

Wenn es dann heißt, In den Geist schauend, ist da kein Geist – er ist von Natur aus leer, so bedeutet

das, sowohl in den aktiven als auch in den ruhigen Geist zu schauen. In beiden Fällen finden wir keine

Substanz. Leer bedeutet substanzlos, ohne Wesenskern.

In beides – Subjekt und Objekt – schauend, befreit sich dualistisches Haften in sich selbst. Weder

das Subjekt hat einen Wesenskern noch das Objekt. Immer wieder schauen wir hinein, bis wir es

wirklich gesehen haben. Wenn sich dualistisches Haften in sich selbst befreit – es löst sich auf, denn

es ist einfach nur eine Geistesbewegung, es befreit sich in sich selbst wie alle anderen

Geistesbewegungen – dann erscheint die erhellende Klarheit. Früher haben wir dafür den Begriff

‚klares Licht’ verwendet. Aber es geht uns kein Licht auf. Es ist nicht so, dass wir da ein Licht

erfahren, sondern es ist die Fähigkeit des Geistes zu erkennen, gewahr zu sein. Das ist mit ‚klarem

Licht’ bzw. ‚erhellender Klarheit’ gemeint. Es ist tatsächlich eine Erfahrung von solcher Präsenz, dass

man von Abwesenheit aller Dunkelheit sprechen kann, aber es gibt keine Lichtquelle. Es ist alles von

diesem Gewahrsein durchdrungen. Es gibt kein Zentrum, von dem ein Licht ausgeht. Das hat der

Buddha mit selbst leuchtendem Geist gemeint.

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Was wird erhellt? Die Dunkelheit der Zweifel, der Fragen. All das wird erhellt, es gibt keine Zweifel,

keine unklaren Bereiche mehr. Das ist die erhellende Klarheit des Geistes. Diese erhellende Klarheit

ist zugleich Geist, wie er wirklich ist. Wenn wir in dieser erhellenden Klarheit aufgehen, ist es das-

selbe wie in der Natur des Geistes zu verweilen. Wenn wir Zugang zu dieser Erfahrung von mittel-

punktsloser, heller Klarheit finden, dann ist das Mahamudra. Das ist die Erfahrung von Mahamudra,

die sich einstellt und damit fährt Karmapa im nächsten Vers fort:

19. Vers – Erfahrung von Mahamudra

Frei von geistigem Erschaffen ist dies das Große Siegel (Mahamudra),

frei von Extremen ist es der Große Mittlere Weg (Maha-Madhyamaka),

dies alles vereinend wird er auch Große Vollendung genannt (Maha-Ati).

Eines erkannt, ist der Sinn von allen verwirklicht – mögen wir darin Gewissheit erlangen.

Mahamudra ist das Große Siegel, das Siegel der Leerheit aller Phänomene. Das ist die Definition von

Mahamudra. Der springende Punkt ist hier frei von geistigem Erschaffen, frei von irgendwelchem

Erzeugen, so wie es natürlich ist. Geistiges Erschaffen ist all dieses Erzeugen und Erzeugenwollen, das

von einem dualistischen Geist ausgeht. Wir erschaffen ständig unsere Welt, es ist die Welt unserer

Projektionen. Wenn all das, dieses Erzeugen von Zusätzlichem, diese ganze Aktivität der Filter

aufhört, das nennen wir Mahamudra. Mahamudra ist frei von geistigem Erschaffen. Es ist nicht

erzeugt, da ist nichts Künstliches mehr. Der Mahamudra-Zustand ist seinerseits ebenfalls nicht

erzeugt. Alles Erzeugen, alles Hervorbringen, alles Schaffen aufgrund von Hoffnung und Furcht, von

Wollen und Nichtwollen hat aufgehört.

Dieselbe Verwirklichung, Erfahrung, Erkenntnis wird auch der Große Mittlere Weg genannt, alle

Extreme sind aufgegeben. Wenn der Geist frei von Extremen ist, dann ist es der Große Mittlere Weg.

Extreme sind Standpunkte. Es sind Fixierungen, Positionen. Das tibetische Wort tag steht für Extrem

und bedeutet auch Grenze. Extreme sind Begrenzungen. Wenn wir in einer extremen Anschauung

sind, dann sind wir zugleich in einer Enge. Wir sind nicht in völliger Offenheit, wir sind fixiert. Wir

nehmen einen Standpunkt ein und sind in diesem Standpunkt gefangen. Das Gewahrsein ist gefangen.

Ein Extrem ist also zugleich eine Gefangenschaft. Das geht so weit, dass selbst die beste Sichtweise

zum Gefängnis werden kann. Wenn wir uns z.B. die Sichtweise des Madhyamaka intellektuell beige-

bracht haben, sie uns aber nicht durchdrungen hat und wir sie zu unserem Standpunkt machen, ist es

wieder ein Gefängnis. Wir sind wieder in einer Sicht gelandet, wo wir sagen: „Nur so ist es und nicht

anders!“ Das kann bei der besten Sichtweise passieren. Der Weg des Buddhas geht jenseits aller

Sichtweisen. Und auch die reine Sicht, die edle Sicht, die wir Dharma-Sicht nennen, all die Dharma-

Sichtweisen müssen auch hinter uns gelassen werden, denn sie sind nur begriffliche Formulierungen

von einem Verstehen, einem Erkennen, das nicht durch Begriffe erfasst werden kann. Wenn wir die

Begriffe selber, die Anschauung für die Sicht halten, dann hat sich etwas verschoben. Wir halten den

Finger, der auf den Mond weist, für den Mond. Das kann es ja nicht sein, denn es sind doch nur

Worte, eine Aneinanderreihung von Klängen, mit denen bestimmte Assoziationen ausgelöst werden

sollen, damit in die richtige Richtung geschaut wird, genau wie der Finger, der auf den Mond zeigt.

Teilnehmer: Auch wenn die Natur des Geistes leer ist, heißt es ja nicht, dass nicht wahrgenommen

wird. Nur das Benennen oder das etwas daraus machen, das ist das Problem, oder?

Ja, genau!

Erleben – was du Wahrnehmen nennst – ist nicht das Problem. Bewusstes Erleben ist kein Problem. Es

ist nicht einmal ein Problem, wenn dieses Erleben mit Begriffen kommuniziert wird. Aber die Begriffe

für das Erleben zu halten, das ist ein Problem. Begriffe sind nur mickrige Versuche, das vielschichtige

Sein zu beschreiben, das da erlebbar geworden ist. Worte sind im Vergleich zur Subtilität unseres

Erlebens so grob, sie erfassen immer nur einen Aspekt. Das Erleben ist so fein und hat so viele

Aspekte, die sich in ihrer Feinheit den Worten entziehen. – Habt ihr schon einmal versucht, eine

Person wirklich zu beschreiben? Versucht es doch einmal mit eurer Mutter. ‚Meine Mutter.’ Das

Erleben ‚meine Mutter’ ist nicht in Worte zu fassen. Man müsste Shakespeare oder Goethe sein und

ein Stück drüber schreiben, um eine Ahnung von dem geben zu können, was vielleicht ‚meine Mutter’

ist. Selbst mit dem Besten vom Besten aus Dichtung und Malkunst zusammen mit der besten Musik

wird man all das, was wir als unsere Mutter erleben, nicht erfassen können.

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Es kommen zum Beispiel Patienten zum Arzt und sollen ihre Schmerzen beschreiben, mit denen sie

schon tagelang herumlaufen, oder noch länger. Wisst ihr, wie schwer das ist, Schmerzen zu

beschreiben? Für einen Homöopathen ist ganz wichtig, dass Schmerzen gut beschrieben werden, aber

wie schwierig ist das. So ein kleines Erleben, das nicht so komplex ist wie unsere Mutter, ist wirklich

schwer in Worte zu fassen. Die Worte dann für das Erleben zu halten, ist wirklich völlig daneben.

Wenn die Dharmaunterweisung hier für das Erleben gehalten würde und wenn das dann die Sicht-

weise wäre, dann wäre das völlig daneben. Das ist nicht die Schau, es sind nur Hinweise auf die

Schau. Hinweise, die in eine Richtung führen sollen.

Das hat der Buddha anhand des Beispiels mit dem Floß ganz deutlich beschrieben. Wenn wir mit Hilfe

des Floßes den Strom des Leidens überquert haben, also mit Hilfe der Dharmaunterweisungen am

anderen Ufer der Befreiung angekommen sind, dann tragen wir doch nicht das Floß auf dem Rücken

mit uns. Das bleibt da, wo es eben nicht mehr gebraucht wird, und der Weg geht weiter. Ein Erwachter

ist also aufgrund seiner Schau nicht mehr an die Worte gebunden, die ihm zu dieser Schau verholfen

haben. Er wird vielleicht anderen empfehlen, sich ebenso ein Floß zu bauen oder sich eines solchen

Floßes zu bedienen, weil es ihm geholfen hat. Aber das Floß, das zum anderen Ufer geführt hat, ist

nicht das andere Ufer. Und es dürfen durchaus auch neue Flöße gebaut werden. Es gibt auch neue

Möglichkeiten, die Erfahrungen des Erwachens zu beschreiben, und solchen anderen Ansetzen

begegnen wir. Wir begegnen ihnen z.B. innerhalb verschiedener buddhistischer Traditionen. Da wer-

den Begriffe unterschiedlich benutzt. Wir begegnen auch außerhalb des Buddha-Dharma Traditionen,

die offenbar etwas ganz Ähnliches beschreiben. Die Worte sind aber sehr unterschiedlich. Es gibt

sogar Traditionen, die das Wort Gott benutzen, die aber doch – nach allem inneren Erahnen und

Vergleichen –offenbar dasselbe zu beschreiben versuchen. Aber ganz anders. Es hat sich eine Sprache

entwickelt, innerhalb derer etwas verständlich wird, weil sich die Menschen, die diese Sprache

benutzen, daran gewöhnt haben. Aber für denjenigen, der aus einem anderen Sprachfeld kommt,

einem buddhistischen Sprachfeld z.B., ist diese Art der Beschreibung fast unverständlich. Es braucht

eine große Anstrengung um über die Begriffe hinweg, hinter den Begriffen, das zu erspüren, was

gemeint ist. Das sollten wir uns immer klar machen. Wir benutzen jetzt eine Auswahl von Begriffen,

auf die wir uns einlassen, mit denen wir hier vertraut werden. Es könnte aber auch ganz anders

dargestellt werden.

Teilnehmerin: Das macht es manchmal so schwierig sich zu unterhalten. Wenn es so eng wird und um

ein Wort geht. Ein Wort kann manchmal so verletzend sein. Das ist doch auch völlig neurotisch, oder?

Das ist sehr anstrengend.

Ja, stimmt, es ist wahnsinnig anstrengend. Es kommt dann Rechthaberei dazu. Recht haben hat eben

auch was mit der rechten Anschauung zu tun. – Die rechte Anschauung, die rechte Parteilinie. – Da

werden dann solche, die nicht an die Wiedergeburt glauben, vielleicht schon gar nicht mehr Buddhis-

ten genannt, weil sie nicht die rechte Anschauung haben. Das meint dann jemand. Es ist aber gar nicht

gesagt. Sie glauben halt nicht, die anderen glauben. Ob sie es aus eigener Erfahrung wissen, ist völlig

offen, aber mit Worten sprechen sie eine Anschauung aus, die den einen gefällig ist und die anderen

sprechen mit ihren Worten ihre Zweifel aus oder ihren Nicht-Glauben, ihren Unglauben. Vielleicht ist

der Zweite viel ehrlicher als der Erste?

Ist es dann besser sich raus zu halten, also das Spiel nicht mehr mitzuspielen?

Raushalten ist immer gut. Lass sie es selber treiben, alleine für sich. Machen wir was Gescheiteres.

Wenn wir uns um Begriffe bemühen, dann nur, weil wir es noch klarer, noch einfacher erklären

wollen, damit es noch leichter zu verstehen ist. Begriffe sind nicht dafür da, die Dinge schwieriger zu

machen, sondern um es leichter zu machen, das ist ihre Aufgabe.

Teilnehmer: Mir scheint es so, als sollten die Begriffe die Erfahrung zeigen, dass man sich fragt,

warum darüber so viel geredet wird. Ist es so, dass wir das unbewusst machen und nicht so richtig

merken?

Ja, in dem Moment wo wir z.B. einen Ärger ausdrücken, also mit Worten belegen, bekommt er immer

mehr an Gewicht, er wird immer substanzieller. So kann es passieren, dass man z.B., mit dem Wort

Dharmakaya, das auf das Letztendliche hinweist, so umgeht, dass der Dharmakaya wie zu einem Ding

wird. Dann streitet man sich darüber, was denn nun der Dharmakaya ist und was er nicht ist. Wie man

diesen Ausdruck benutzen darf und wie nicht. Das passiert aufgrund dieser unbewussten Ver-

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wechslung. Eigentlich sollten es alle wissen, und doch landen wir immer wieder darin. Wir vergessen

die eigentliche Aufgabe von Worten, von Begriffen, von Kommunikation, das Verstehen leichter zu

machen. Das ist die Aufgabe von Kommunikation. Sich zu verstehen, andere zu verstehen, die Welt zu

verstehen. Es geht darum, das leichter zu machen. Wenn das nicht mehr der Fall ist, dann sollte man

lieber still sein, sich raushalten und lieber etwas tun, was direkt heilsam ist, direkt dazu beiträgt, den

Geist zu öffnen.

Teilnehmer: Das geht aber auch ohne Sprache. Es gibt es ja auch, wo es noch nicht begrifflich ist,

jede Menge Formen, an denen man hängen bleibt oder mit dem Geist verstrickt bleibt. Wo man aus

dem Erlebensprozess rausgeht und dann ist es passiert.

Ja, genau. Es passiert ja nicht nur in Begriffen, es passiert in Bildern, es passiert in Erinnerungen, die

eine Bedeutung bekommen. Auch ein kleines Kind, das noch nicht sprechen gelernt hat, lebt in

Fixierungen. Die ersten eineinhalb bis zwei Jahre des kindlichen Erlebens sind ja total prägend. Da

finden so starke Fixierungen und Strukturierungen statt, dass man da von einem nicht-begrifflichen

Fixierungsprozess sprechen muss. Das Sprechen verstärkt das einfach noch, aber es ist nicht schuld

daran, es ist nicht das Eigentliche was das Sprechen bewirkt. Es ist das Wichtignehmen dieser Worte,

das verstärkt das Ganze dann noch. Wir können mit Worten nämlich auch Komplikationen auflösen.

Es kommt darauf an, wie wir Worte benutzen. Wir können uns mit Worten helfen uns zu verstehen,

dafür sind sie eigentlich da.

Der Buddha hat gezögert zu unterrichten. Er hat es dann aber getan und hat den Versuch gemacht, das

nicht Fassbare über Worte zu kommunizieren. Er hat Menschen dadurch erreichen können, sie haben

den Fingerzeig verstanden. Es hat innerlich gefunkt und sie haben das, was hinter den Worten gemeint

war, verstanden. Wir versuchen das auch. Es gibt Lehrer, die ganz wenig sprechen und es gibt Lehrer,

die ganz viel sprechen. Jeder auf seine Art.

Der zweite Teil des Verses: Dies alles vereinend wird er auch Große Vollendung genannt (Maha-

Ati). Die Praxis der großen Vollendung ist Dzogchen, Maha-Ati. Im Ansatz des Dzogchen, des Maha-

Ati, wird Wert darauf gelegt aufzuzeigen, dass jeder einzelne Moment der Erfahrung in sich vollendet

ist. Vollkommen oder vollendet in dem Sinn, dass jeder einzelne Moment des Erfahrens alles beinha-

ltet, um zu erwachen. Jeder Moment des Erlebens ist in sich vollendet. Es braucht nichts hinzugefügt

zu werden und es braucht nichts weggenommen zu werden. So wie der Moment des Erlebens jetzt

gerade ist, ist das Erwachen präsent. In diesem Zusammenhang wird der Begriff rigpa gebraucht: das

zeitlose Gewahrsein als Natur jeder einzelnen dieser Erfahrungen oder Bewusstheit. Jedem Moment

des Erlebens wohnt Bewusstheit inne. Um in Bewusstheit aufzugehen, brauchen wir nichts am Erleben

zu ändern. Es ist in sich vollkommen, vollendet. Das Gewahrsein ist dasjenige, das alles vereint. Es ist

da, wo alles zusammenkommt. Wo alle Faktoren des Erwachens präsent sind, wo alle Faktoren der

Verwirrung präsent sind. – Aber hier geht es um das Erwachen.

Dies sind drei Aussagen über den Geist selbst. Der Geist frei von geistigem Erschaffen wird Großes

Siegel genannt. Der Geist frei von Extremen wird der Große Mittlere Weg genannt und der Geist, der

alles in sich vereint, wird Große Vollendung genannt. Es ist nicht etwa, dass die Dzogchen-Praxis

Mahamudra und Madhyamaka in sich vereint und dadurch zur Vollendung wird, sondern es ist

wiederum eine neue, eine dritte Sicht, wie man den Geist beschreiben kann. Das Gewahrsein, jeder

Moment des Erlebens, vereint alles in sich und ist deswegen vollkommen und vollendet.

Diese drei großen Praxisströme haben Tibet und die tibetischen Schulen geprägt. Diese drei Ansätze

sind einfach unterschiedliche Fingerzeige auf die Natur des Geistes. Der Geist ist jenseits von

Extremen, Madhyamaka-Ansatz bzw. Prajnaparamita-Ansatz. Der findet sich auch wieder in dem

Ansatz von Mahamudra, in dem Großen Siegel der Leerheit aller Erscheinungen, dem natürlichen

Sosein und in dem Ansatz jeden Erlebnismoment als vollendet, als vollkommen zu betrachten.

Im Zusammenhang mit Dzogchen, der Großen Vollendung, besteht die Gefahr, die Unterweisungen

grundlegend falsch zu verstehen. Wenn man hört, dass alles in sich perfekt ist, könnte man meinen,

dass man dann nichts mehr zu tun hat. Ihr kennt es ja vielleicht aus Milarepas Lebensgeschichte.

Milarepa hat sich hingesetzt, und nach einer Woche war er immer noch nicht erwacht. Er fragte seinen

Meister, wie denn das kommt. Der Meister hat Milarepa zu Marpa weitergeschickt. Er hat erkannt,

dass Milarepa diese Art von Unterweisung nicht so gut verstanden hat, dass er einen anderen Lehrer,

einen anderen Ansatz brauchte. Aber in Dzogchen-Retreats muss genauso am Geist, an der Achtsam-

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keit, am Gewahrsein geübt werden, damit man in diese Entspannung hineinfinden kann. Die Praxis

beinhaltet dieselbe Arbeit, die auch in der Mahamudra-Praxis oder am Weg des Madhyamaka auszu-

führen ist.

Eines erkannt, ist der Sinn von allen verwirklicht – mögen wir darin Gewissheit erlangen. ‚Eines

erkannt’ hat hier doppelten Sinn. Es kann sich auf eine dieser Praktiken, die jetzt gerade angeführt

wurden, beziehen. Wenn es uns gelingt, über eine dieser Formen von Erklärungen, Zugang zu finden

und das zu erkennen, dann ist der Sinn von allen verwirklicht. Es kann aber auch bedeuten, dass wenn

eins erkannt wird – z.B. dass der Geist nicht fassbar ist, leer ist, jenseits von Extremen, alles in sich

vereinend, in jedem Moment der Erfahrung vollendet – dann ist der Sinn, die wahre Bedeutung von

allem Erleben, von allem Sein erkannt. Das ist der tiefste Sinn.

Die Verwirklichung dessen, worum es im Leben wirklich geht, was die Natur des Seins ausmacht,

kann über verschiedene Zugänge geschehen. Welcher Zugang auch immer uns das Tor öffnet, das ist

der eine Zugang, das ist das eine Verstehen, das sich als Erstes einstellt. Und das eröffnet das Ver-

stehen für all die anderen Zugänge. Die werden dann auch verstanden, die werden dann auch klar.

Teilnehmer: Wenn ich jetzt einen Aspekt erkenne, also welcher kann das sein.

Ich habe ja bei meinen Unterweisungen oft den Aspekt des Unfassbaren, des Nicht-Fassbaren betont,

dass man merkt, dass es nichts Fassbares im Erleben gibt, was auch Leerheit genannt wird. Leerheit ist

eine der Eintrittspforten in die Erkenntnis des Geistes. Wenn ich die Leerheit verstehe, wenn ich

wirklich, verstehe was damit gemeint ist, verstehe ich auch, dass jeder Moment des Erlebens vollendet

ist. Ich verstehe in dem Moment auch, dass der Geist und alle Erscheinungen jenseits von Extremen

sind. Aber meine Eintrittspforte war, diese Form des Erlebens, also diese Art hinzuschauen.

Teilnehmer: Was wäre jetzt noch eine andere Eintrittspforte, Mitgefühl?

Diese Eintrittspforte wäre die Einheit von Weisheit und Mitgefühl oder Methode und Leerheit.

Klassisch spricht man von drei Eintrittspforten: Leerheit, Merkmalslosigkeit und Wunschlosigkeit.

Das sind die drei klassischen Tore zur Erkenntnis. Leerheit steht für ohne Wesenskern, nicht-fassbar.

Merkmalslosigkeit steht für nicht-beschreibbar, keine Merkmale zu finden, keine Charakteristika.

Wunschlosigkeit steht für jenseits von Hoffnung und Furcht, kein Anliegen. Es gibt aber viele weitere

Eintrittspforten, zu denen Liebe und Mitgefühl gehören, also das Sich-selbst-Vergessen im starken

Mitgefühl, in der Liebe. Es gibt viele Eintrittspforten, aber hier ging es Karmapa um die Eintritts-

pforten des Verständnisses, wo wir durch das Verstehen von einem sich das Verständnis vom ganzen

Rest des Dharmas eröffnet. Egal wie wir in die Schau der Wirklichkeit hinein gekommen sind, wenn

sich uns die Schau der Wirklichkeit eröffnet, und wir dann einen Dharmatext lesen, verstehen wir ihn,

auch wenn der Dharma anders dargestellt wird. Dann enthüllt sich uns das Verständnis.

Teilnehmer: Ist es so, dass in jedem von diesen dreien – Leerheit, Merkmalslosigkeit und

Wunschlosigkeit – die beiden anderen enthalten sind?

Ja, mit unterschiedlichen Gewichtungen. In Wunschlosigkeit, jenseits von Hoffnung und Furcht,

besonders Mahamudra, in Leerheit stärker Madhyamaka. Aus den Dzogchen-Übertragungen die ich

bekommen habe, weiß ich, dass vor allen Dingen auf die Frische Wert gelegt wird, auf das frische

Erleben, in das vollkommene Erleben des jeweiligen Momentes hinein zu gehen. Da sind Mahamudra

und Dzogchen sich sehr ähnlich, während der Madhyamaka-Weg stärker über die Analyse geht und

auch die Merkmalslosigkeit sehr stark mit einbezieht. Da würde ich jetzt nicht denken, dass man diese

drei Tore den einzelnen Praktiken zuordnen müsste, aber sie schwingen überall mit, denn sie sind allen

bekannt. Diese drei Tore wurden schon benannt, bevor es zur Ausformung dieser Schulen kam. Es

ging ihnen voraus, sie sind in allen drei Schulen bekannt.

Teilnehmer: Könnte man denn auf einer absoluten Ebenen sagen, es gibt eigentlich gar keine

Mahamudra-Meditation? Also es gibt keinen Pfad des Strebens, es gibt eigentlich nur den Geistes-

strom selber oder das Erleben selber. Trotzdem gibt es die Mahamudra-Meditation als Pforte darin.

Ja! Ich merke, du beginnst den Geschmack dieser Unterweisung zu kriegen. Ja, so kannst du es

ausdrücken.

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Teilnehmer: Es werden hier diese drei Richtungen als drei Wege beschrieben. Es ist so, dass ich

gehört habe und gesagt bekommen habe, dass es gut ist auch die Madhyamaka-Lehren zu studieren,

obwohl ich jetzt auf dem Mahamudra-Weg bin, d. h. man kann es auch unterstützend machen.

Oh, selbstverständlich. Dzogchen und Mahamudra sind aus dem Madhyamaka hervorgegangen, das ist

ihre gemeinsame Basis. Um wirklich Mahamudra zu verstehen, müssen wir auch Madhyamaka

verstehen, das ergänzt sich. Es sind verschiedene Arten, sich heranzutasten. Wer wirklich sehr viel

positive Kraft mit sich bringt, eine große Kraft des Vertrauens, der wird durch das Segensband zum

Meister und das Hören dieser Unterweisung in die Erfahrung, in die Schau von Mahamudra

hineinfinden ohne je Madhyamaka studiert zu haben. Das ist möglich. Für diejenigen von uns, wo das

nicht der Fall ist, ist es gut, Madhyamaka zu studieren.

Wir wissen nicht, wann genau Dzogchen entstanden ist, aber es gab schon Dzogchen-Unterweisungen

in Tibet, bevor Guru Rinpotsche kam. Da waren sie schon in Tibet angekommen. Man weiß heute,

dass es bereits in der damaligen Bön-Tradition tatsächlich zirkulierende Dzogchen-Texte gab. Es gab

Übertragungen, die das Land irgendwie erreicht haben. Es ist anzunehmen, dass diese Übertragungen

so wie Mahamudra im 4. Jahrhundert n. Chr. schon etabliert waren. Es ist anzunehmen, dass es so weit

zurückgeht. Es kann auch sein, dass es bis in das 2. Jahrhundert n. Chr. zurückgeht. Nagarjuna, der das

Madhyamaka so bekannt gemacht hat, siedelt man im 2. Jahrhundert an. Wir müssen annehmen, dass

die frühen Meister aus der Dzogchen- und der Mahamudra-Tradition mit dem Madhyamaka vertraut

waren. Sie benutzten eine etwas andere Terminologie, nahmen aber gelegentlich darauf Bezug.

Nagarjuna und Saraha könnten zeitgleich gelebt haben. Es kann sich aber auch um einen anderen

Saraha handeln, der in Nagarjunas Biographie auftaucht. Vermutlich ist Nagarjuna mit seinen

Madhyamaka-Lehren sowohl dem Mahamudra vorausgegangen, wie auch dem Dzogchen. Und so

lange diese noch gleichzeitig in Indien praktiziert wurden, hat auch Austausch stattgefunden.

In meinen persönlichen Studien habe ich versucht, die Wurzeln des Mahamudra noch weiter zurück-

zuverfolgen. Dabei bin ich auf das Satipatthana-Sutta aus dem Pali-Kanon von Buddha Shakyamuni

gestoßen. In der einführenden Passage und im Refrain, der sechzehn Mal wiederholt wird, wird im

Grunde genommen bereits die Grundhaltung des Mahamudra beschrieben. Das ist recht spannend,

wenn man merkt, dass unter Umständen die Mahayana-Meister einfach bestimmte Aspekte aus den

ganz frühen buddhistischen Unterweisungen stärker betont haben, stärker herausgearbeitet haben und

sich daraus dann eine Schule entwickelt hat.

Wenn man Nagarjuna untersucht, merkt man, dass er eigentlich nur Buddha Shakyamuni wiederholt

und klarstellt, was Buddha Shakyamuni eigentlich sagen wollte. Ich habe die Namen der Sutras jetzt

gerade nicht präsent, obwohl ich sie letzten Monat mit einem Lehrer aus dem Triratna-Orden studiert

habe, aber diese vier Extreme, von denen wir heute Morgen gesprochen haben, sind darin bereits

beschrieben. Diese vier Extreme sind nicht etwa eine Erfindung von Nagarjuna. Sie werden von ihm

nur richtig klar gemacht, damit sie nicht in Vergessenheit geraten. Nagarjuna konnte in seiner Zeit die

Tendenz zu Dogmatismus und Ideologisierung des Buddha-Dharma beobachten und wollte dieser

Tendenz entgegensteuern. Er wollte der Vergegenständlichung von Buddhas Worten und Begriffen

und Lehrreden entgegensteuern und hat sich dazu auf Buddha selbst bezogen und nicht nur auf die

Prajnaparamita-Sutras, die damals in Umlauf kamen. Das sind ganz wichtige Brücken des Verständ-

nisses, die sich jetzt beginnen abzuzeichnen. Man kann darüber vielleicht in einigen Jahren noch deut-

licher Auskunft geben.

Wir befinden uns in einer Tradition, wo jetzt diese drei, die jetzt hier genannt werden, ganz eindeutig

mit Buddha Shakyamunis ursprünglichen Lehren einen Bezug haben und in der Kontinuität dieser

Unterweisungen stehen. Darüber besteht überhaupt kein Zweifel.

* * *

Wir lesen gemeinsam das Gebet. Natürlich kann man in der Gruppe nicht so lesen, wie man es für sich

machen würde. Man würde gerne innehalten und pausieren, den einen oder anderen Vers ein zweites

Mal lesen. Wenn wir als Gruppe lesen, tun wir das sehr langsam, aber in einem durch.

Rezitation des Gebetes

Wo immer wir Anspannung verspüren, da ist unsere Praxis. Da geht der Weg weiter. Da, wo wir

schon gelöst sind, brauchen wir nichts zu tun, das können wir einfach so lassen. Wenn wir bemerken,

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dass wir irgendwo angespannt sind, dass subtile oder deutlich spürbare Formen von Leid entstehen,

dann ist es genau dort, wo wir unsere Praxis finden. Dies beschreibt auch den Weg der Shinä-Praxis,

der Praxis der Geistesruhe, ins eigentliche Mahamudra. Wir spüren die restlichen Spannungen auf, die

noch da sind, auch in der Geistesruhe. Dabei verwandeln sich auch nochmals die drei großen Gruppen

von Erfahrungen, die auf der Ebene von Geistesruhe aufgetaucht sind – Freude, Klarheit und

Nichtdenken –, die sich ganz natürlich einfach zeigen. Geist und Körper fühlen sich gut an, immer

freier, immer entspannter. Der Geist wird klar und wir verstricken uns nicht mehr in Gedankenketten.

Die Gedanken, die von selbst auftauchen, lösen keine Reaktionen mehr aus. Das ist die Erfahrung von

Geistesruhe, die – wenn sie tief wird – von manchen sogar schon für Erwachen gehalten wird. Das ist

es aber nicht, denn es bestehen noch Restspannungen. Richtige Spannungen, die im Grunde genom-

men aus der Spannung zwischen Beobachter und Beobachtetem resultieren. Wenn diese Spannungen

aufgelöst werden, dann trifft der nächste Vers zu:

20. Vers

Frei von Verlangen ist Große Freude ununterbrochen,

frei von Haften an Merkmalen ist Erhellende Klarheit unverhüllt,

jenseits vom Intellekt ist Nichtdenken spontan gegenwärtig –

frei von Anstrengung mögen diese Erfahrungen unaufhörlich sein.

Das Wohlgefühl, die Freude, die wir in der Geistesruhe erleben, wird immer noch von jemandem

erlebt und sie löst ein Verlangen aus, sie erneut zu erleben. Dieses Verlangen, dieses Haften bewirkt,

dass sich diese Geisteszustände des Wohlbefindens nicht in ein non-duales Gewahrsein hinein auf-

lösen, sondern immer dual bleiben. Solange diese Faszination, dieses Haften, dieses Verlangen da

sind, bleibt die Freude eine Subjekt-Objekt-Erfahrung. Wenn sich das Verlangen auflöst, dann wird

Freude zur Großen Freude – dewa tschenpo bzw. mahasukha. Es ist die Große Freude des non-dualen

Geistes. Freude löst ja eigentlich systematisch ein gewisses Haften aus. Immer wenn es uns gut geht,

dann finden wir das super, und weil es uns gefällt, ist das Haften schon da. Das bedeutet für den

Praktizierenden, dass wir sowohl den Erfahrungen von Freude, wie natürlich auch den Erfahrungen

von Leid gegenüber, völlig gleichmütig werden müssen. Damit wir ihre Natur durchschauen und sie

alle als geistige Bewegung, als Erfahrung, als Erleben durchschauen in ihrer grundlegenden Natur,

ohne jegliche Substanz. Nur dann kann Freude zur Großen Freude werden. Das ist also hier die

Aufgabe, die sich in diesem Vers versteckt.

Eine ganz ähnliche Aufgabe gilt es in Bezug auf die Klarheit zu lösen, wenn unser Geist klar wird.

Klar bedeutet hier auch flexibel, der Geist lässt sich für alle Aufgaben gut einsetzen, dann entsteht eine

gewisse Faszination mit der Klarheit. Im klaren Geist ist die Fähigkeit, Merkmale zu unterscheiden,

besonders gut entwickelt. Und genau dieses Haften an Merkmalen verhindert, dass die Klarheit mittel-

punktslos werden kann. Diese Klarheit ist ebenso wie das, was wir eben bei der Freude gesehen haben,

noch eine Subjekt-Objekt-Erfahrung. Ein Subjekt interessiert sich für all die so klar wahrgenommenen

Erfahrungsmomente, Aspekte des Dharmas, Einsichten. Eine Identifikation ist sichtbar. Diese

Identifikation, diese Trennung von Subjekt und Objekt im Klarheitsaspekt des Geistes muss sich auch

noch auflösen, damit sich Mahamudra einstellen kann. Wir nennen das, dass Haften an Merkmalen –

tshän dsin. Dieser tibetische Ausdruck bedeutet, dass den Merkmalen eine Bedeutung zugemessen

wird und wir darüber die Natur der Erscheinungen vergessen. Also ein Haften an Inhalten bei

gleichzeitigem Vergessen der Natur der Erscheinungen. Das muss sich auflösen.

Es ist nicht so, dass danach keine Merkmale mehr wahrgenommen werden, aber es gibt kein Haften an

den Merkmalen. Wir unterscheiden die Merkmale von Menschen, von Situationen, von Objekten usw.,

das wird alles ganz präzise wahrgenommen, aber es gibt kein Haften mehr daran, weil wir zugleich der

leeren, substanzlosen Natur der Erscheinungen gewahr sind. Die Merkmale von etwas Substanzlosem

lösen kein Haften mehr aus. Solange wir noch an die Wirklichkeit der Erscheinungen glauben, lösen

die Merkmale dieser Erfahrungen – Sinneserfahrungen, emotionaler Erfahrungen – ein Haften aus. Mit

Haften ist ein Reagieren gemeint, es kann auch ein Ablehnen sein.

Die Erfahrungen der Klarheit des Geistes lösen also zunächst noch eine gewisse Identifikation, eine

Faszination aus. Sie sind an sich noch keine Zeichen dafür, dass wir im Erwachen angekommen sind,

denn ganz subtil ist noch ein Haften an der Wirklichkeit dieser Erfahrungen vorhanden und deswegen

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haften wir an Merkmalen. Dieses Haften an Merkmalen bewirkt auch z.B. dass wir die äußere Welt für

real halten, bei Nicht-Gewahrsein der wahren Natur dessen, was wir äußere Welt nennen.

Einer von euch fragte nach dem Unterschied zwischen Arhats und Bodhisattvas, dem Weg der Arhats

und Bodhisattvas, so wie er aus tibetischer Sicht dargestellt wird. Der Unterschied besteht in diesem

tshän dsin, dem Haften an Merkmalen, ob es vollständig aufgelöst wurde oder nicht. Wie weit gibt es

noch ein feines Haften an der Wirklichkeit der äußeren Welt und der Wirklichkeit der Merkmale von

Objekten. Darin scheint der Unterschied zu liegen. Egal wie man es damit hält, jeder Praktizierende

wird neue Freiheitsräume entdecken, wenn sich dieses Haften an Merkmalen auflöst. Wohlgemerkt,

nicht das Wahrnehmen der Merkmale, sondern nur das Haften daran.

Beim Nichtdenken ist ein ähnlicher Prozess wahrnehmbar, dass eine Faszination mit gedankenfreien

Zuständen in der Geistesruhe entsteht. Diese Faszination mag schon bei euch entstehen, wenn ihr nur

darüber hört, dass es sie gibt. Dann würdet ihr sie gerne erleben. Das ist die beste Voraussetzung

dafür, dass dann, wenn ihr sie erlebt, ihr auch sicher anhaftet. Geistige Ruhe ist natürlich sehr

erholsam. Es stellt sich ein Gefühl ein, als wäre wirkliche Entspannung, wirkliche Ruhe und erholsa-

mes Sein nur möglich, wenn die Gedanken weg bleiben, wenn wir in diesen tiefen Versenkungen

verweilen, in denen wir von Gedanken verschont sind. Praktizierende, die zum ersten Mal diese wirk-

liche Geistesruhe in den Vertiefungen erleben, haben einen Drang danach sie wieder zu erfahren. Das

ist auch okay, aber es ist nicht das Ende des Weges.

In dieser Erfahrung von Geistesruhe kommt es zu einer Spaltung zwischen denkendem, aktivem Geist

und ruhigem Geist. Wir sind in unserer Haltung gespalten. Es kommt zu Haltungen in denen wir den

Intellekt, das Denken ablehnen, wo wir die Aktivität des Geistes nicht mehr wollen. Dabei ver-

wechseln wir was. Wir verwechseln den Prozess des Denkens mit Anspannung, weil wir bis dahin

nicht gelernt hatten zu denken, ohne in Anspannung zu verfallen. Das ist logisch, es ist völlig

einleuchtend. Wenn wir jenseits des Intellekts gehen, so wie Karmapa das hier ausdrückt, – Intellekt

steht hier für das dualistische Denken mit Anhaftung – dann ist geistige Aktivität möglich, ohne

Anspannung auszulösen, weil sie nicht von Haften begleitet ist.

Erwachte Meister denken, sonst könnten sie uns keine Unterweisung geben. Dieses Denken ist aber

nicht mehr mit Anhaften verbunden, es ist im Grunde genommen aus der Sicht des normalen Denkens

ein Nichtdenken. Das ist ein Spiel mit Begriffen. Sie denken dabei nicht selber: „Ich denke jetzt

darüber nach.“ Die Gedanken entstehen als Antwort auf die Situation und werden oft auch verbal

ausgedrückt oder führen zu Handlungen, mit denen sie in der Situation aktiv werden und danach ist

wieder Pause. Es besteht keine Notwendigkeit mehr, weiter darüber nachzudenken. Es gibt vorher

keine Absicht, kein Vordenken, kein sich Hinein-Projizieren in die nächste Situation und es gibt

nachher keine Notwendigkeit, die Situation zu verdauen. Sie ist wie sie ist, es wurde spontan und frei

auf die Situation eingegangen, und damit hat es sich. Der Geist geht nicht mehr zurück, weil dort keine

emotionale Beteiligung war. Es war kein Haften, keine Identifikation.

Das nennen wir das Nichtdenken der Erwachten. Die Erwachten denken nicht im üblichen Sinne, weil

sie nicht von einem Ich motiviert denken. Es denkt. Es ist spontan gewahr und natürlich sind da

Geistesregungen, aus denen heraus sich dann eine Handlung vollzieht. Im Satipatthana-Sutta hören

wir, dass der Buddha ankündigt, dass er diese Unterweisung einen Monat später in Shravasti geben

wird. Er gibt einen Treffpunkt an, d.h. er hat Gedanken über die Zukunft, er drückt sie aus. Er war in

einer Situation, wo er merkte, dass die Mönche und Nonnen diese Erklärungen brauchen. Er wollte,

dass sie alle da sind, darum musste er die Unterweisungen ankündigen. Das war also planendes

Denken. Gleichzeitig war aber kein Haften eines Ichs bei diesem Denken. Die Situation brauchte das,

die Situation wird gestaltet und damit hat sich’s. Situationsbezogenes Denken bedeutet etwa nicht,

dass die Gedanken im Jetzt kreisen, sondern die Situation von jetzt bedarf einer Antwort. Die kann in

der Zukunft stattfinden, und die kann auch vorbereitet werden. Aber ansonsten gibt es keinen

emotionalen Film, der sich darum aufbaut. Es gibt keine Identifikation, es belastet nicht. Es ist getan,

es ist gedacht, es ist geschehen, fertig.

Während des ganzen Prozesses des Denkens taucht in einem Erwachten nie ein Moment des Glaubens

auf, wirklich zu sein oder dass andere wirklich seien. Wirklich existent in dem Sinne von etwas

Konkretem, Solidem, Abgegrenztem. Erwachte wissen, dass Denken, Sprechen, Handeln Kräfte sind,

mit denen in dieses Feld wechselseitiger Bedingtheit, hineingewirkt wird. All die Wechselbe-

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ziehungen, in denen z.B. Menschen und auch andere Lebewesen leben. Sie wirken in dieses Feld

hinein und keine einzige Person wird als statisch wahrgenommen. Alles wird als im Fluss verstanden,

als eine Dynamik. In diese Dynamik wirken sie spontan hinein ohne persönliche Absichten, ohne

Identifikation. Das nennt man auch Nichtdenken. Man könnte es auch einfach erwachtes Denken

nennen.

Jenseits vom Intellekt ist erwachtes Denken – diese Form des Nichtdenkens – spontan gegenwärtig,

d.h. es sind erwachte Geistesbewegungen. Sie werden etwas anders erlebt, als wie wir unsere Gedan-

ken erleben. Wir denken immer in Trennungen, Ich und meine Gedanken. „Was denke ich jetzt schon

wieder?“, „Darüber müsste ich doch mal nachdenken, wie war das noch einmal?“ Es ist immer

verknüpft mit einer Ichbezogenheit. Das Denken geht sehr viel schneller und sehr viel einfacher in

einem freien Geist.

Darum sagen wir dann auch: Frei von Anstrengung, mögen diese Erfahrungen unaufhörlich sein.

Dieser Wechsel von Freude, Klarheit, Nichtdenken auf der Ebene von Geistesruhe in Mahamudra

hinein bedeutet, dass keine Anstrengung mehr notwendig ist. Das ist dann anstrengungslos. Diese

Mahamudra-Erfahrungen sind anstrengungslose Erfahrungen, während in der Geistesruhe immer noch

eine kleine Anspannung da ist. – Mehr oder weniger klein.

Teilnehmer: Was ist denn dann mit Intuition gemeint? Es gibt ja Momente, wo ich das Gefühl habe,

aus dem Raum heraus einfach zu handeln oder zu sprechen. Ist das hier nur ein anderes Wort für

Intuition?

Intuition geht schon ein bisschen in die Richtung wie das, was wir hier beschreiben, setzt sich aber bei

uns normalerweise aus drei Aspekten zusammen. Wenn du behandelst und deine Hände fühlen, was

der Patient braucht, dann ist das, was du intuitiv spürst, eine Kombination aus deinem Wissen, aus

deiner Erfahrung und einer spontanen Komponente. Und obendrein erlebst du es. Die Intuition, die in

deinem Geist aufsteigt, wird in einem dualen Verhältnis Subjekt-Objekt erfahren, hat eine spontane

Komponente und ist aber auch verbunden mit all den Erfahrungen, die du schon mit Patienten hattest

und all dem Wissen, das du über Behandlung schon aufgebaut hast. Das spielt in unsere Intuition

hinein. Auch wenn ich als Homöopath intuitiv ein Mittel verschreibe, dann spielen meine Erfahrung

und mein Wissen hinein, wie ich den Menschen einschätze, und dann kommt eine spontane

Eingebung. Die ist aber so spontan gar nicht, sie schöpft nur aus einem noch tieferen Fundus, einem

noch tieferen Spüren. Da liegt eine Chance. Wenn wir lernen, intuitiver zu sein, dann gibt es auch die

Möglichkeit, dass wir tatsächlich dadurch in weite, offene Geistesräume kommen. Je weniger wir uns

damit identifizieren.

Aber wir müssen in dem Übungsprozess intuitiven Handelns erst einmal ganz sicher sein, was für eine

Motivation unseren Geist bewegt. Wenn wir wirklich ganz in einer heilsamen, uneigennützigen Moti-

vation sind, dann werden unsere Intuitionen das auch spiegeln. Wir können aber auch emotionale

Intuitionen haben, die fürchterlich sind und die einen richtigen Salat anrichten, wenn wir ihnen folgen.

„Ich habe die Intuition, dass meine Frau mich betrügt. Ich habe so ein Bauchgefühl.“ Das kann dann

schlimme Konsequenzen haben. Intuition und Intuition muss man wirklich unterscheiden, zunächst

mal nach der Motivation, in die sie eingebettet ist.

Bei all diesen Vorbehalten muss man trotzdem sagen, dass Intuition schon ein Weg ist, in immer

freiere, offene Geisteszustände hineinzufinden. Wir hatten uns ja darüber unterhalten, was deine

Arbeit angeht. Es ist vollkommen in Ordnung, dieser dualistischen Intuition zu folgen und dich dabei

immer mehr zu entspannen, immer mehr zu öffnen, ohne persönliche Ziele zu verfolgen. Dann entsteht

ein inniger Kontakt mit den Menschen und du kannst dann abchecken, ob es notwendig ist nach-

zufragen, wenn du dir nicht sicher bist: „Würde dir das jetzt gut tun?“ Aber wenn du dir ganz sicher

bist, kannst du handeln.

Bei Menschen, die für Gespräche zu mir kommen, habe ich auch manchmal Intuitionen. Die checke

ich aber doch ab. Wenn ich Intuitionen habe über den Geisteszustand eines Menschen – z.B. das

Gefühl, dass da doch eine Menge Angst im Spiel ist. Ich spüre, dass meine Angstrezeptoren angehen –

dann sage ich nicht: „Weil ich das spüre, muss es so sein!“ Ich versuche, das zu erkunden und lasse

die Intuition eine Führerin sein im Gespräch, im Austausch, um in diesem Bereich etwas weiter zu

forschen. Aber ich vertraue nicht meiner Intuition mehr als dem, was der andere mir dann sagt. Wenn

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der andere dann wirklich hinschaut und mir sagt: „Nein, da liegst du falsch!“ oder „Nein, das kann ich

nicht spüren.“, dann bestehe ich nicht darauf, dass meine Intuition die Wahrheit ist.

Teilnehmer: Wenn ich das richtig verstanden habe, ist beim Denken das Problem, dass wir versuchen,

zu pressen wie eine Zitrone, weil wir persönlich bezogene Ziele haben und aus den Gedanken etwas

herauspressen wollen, persönliche Ziele oder was man erreichen will. Das hat jemand, der erwacht

ist, nicht. Der denkt auch zukunftsbezogen, presst aber nicht daran herum, weil er keine persönlich

bezogenen Ziele hat, weil er es aber als sinnvoll erachtet. Habe ich das so richtig verstanden?

Ja, ich denke du kannst es so ausdrücken. Es geht bei diesem Pressen um Manipulation. Die

Intentionen eines Erwachten werden nicht manipulativ durchgesetzt. Er verfolgt keine persönlichen

Absichten und arbeitet nicht mit den normalen Druckmitteln, die man sonst hat – weder bei sich selbst,

noch bei anderen. Es sei denn die Situation verlangt es, dass ganz energisch eingeschritten wird, dann

kann das Handeln eines Erwachten auch mal heftig sein. Aber was ihn selber angeht, tut er dem

eigenen Geist keinen Zwang an und auch anderen nicht. Da ist totaler Respekt für alle Lebewesen.

21. Vers

Wir gehen ein Stückchen weiter. Wir beschäftigen uns im nächsten Vers weiter damit, was den Unter-

schied zwischen einem herkömmlichen Meditierenden ausmacht und einem, der wirklich im

Mahamudra angekommen ist.

Das Festhalten an begehrten ‚guten‘ Erfahrungen befreit sich in sich selbst

und Verwirrung über ‚schlechte‘ Gedanken klärt sich in der Weite ihrer eigenen Natur:

Gewöhnlicher Geist ist frei von Aufgeben und Kultivieren, Vermeiden und Erlangen –

mögen wir die Freiheit von Vorstellungen verwirklichen, die wahre Natur der Dinge.

In herkömmlichen Meditierenden finden wir immer noch subtile oder ganz grobe Einstufungen des

eigenen Erlebens in Richtung gute Erfahrung, schlechte Erfahrung. Wir halten fest an dem, was wir

unsere ‚guten’ Erfahrungen in der Meditation und auch sonst im Alltag nennen. Das möchten wir

kultivieren. Festhalten an begehrten, ‚guten’ Erfahrungen befreit sich in sich selbst. Gute Erfahrun-

gen bleiben keinen Moment länger, wenn wir an ihnen festhalten. Festhalten verkürzt jede gute

Erfahrung, Identifikation bringt immer und sehr schnell das Ende guter Erfahrungen herbei. Das ist ein

zuverlässiges Mittel, um gute Erfahrungen abzukürzen. Wenn wir sehen, wie illusorisch die gute

Erfahrung ist, wie illusorisch derjenige ist, der daran festhalten möchte, wie illusorisch auch dieses

Festhalten selbst ist, dann lassen wir das alles sich in sich selbst befreien. Das ist der offene

Geisteszustand, der es ermöglicht, dass sich tatsächlich ganz viel Freude und Offenheit ausbreitet, aber

unabhängig von Umständen. Diese Gelöstheit, diese Heiterkeit des Geistes hängt nicht mehr von

bestimmten Erfahrungen ab.

So war Gendün Rinpotsche mitten in ziemlich heftigen körperlichen Symptomen völlig heiter,

gelassen und offenen Geistes, unbeeinträchtigt von seiner Gesichtslähmung oder von den starken

Schmerzen im Rücken, den Schmerzen in den Gelenken oder den Verdauungsbeschwerden usw. Der

Geist war davon völlig unbeeinträchtigt. Das ist schön zu sehen. Das wäre jetzt schon der nächste

Punkt: Auch Verwirrung über ‚schlechte’ Gedanken, klärt sich in der Weite ihrer eigenen Natur.

Wir sind manchmal so verwirrt, wenn wieder ein emotionaler Gedanke auftaucht. Dieser emotionale

Gedanke ist ein schlechter Gedanke! Schon war wieder so einer da! Ob es nun ein heftiger war oder

ein subtiler, jedenfalls möchte der Meditierende frei sein von all diesen ichbezogenen Gedanken und

von all diesem Schrott, der so durch den Geist geht. Ob es nun richtig heftiger Schrott ist oder einfach

der Alltagschrott von stolzen Gedanken, von Abneigungen und Begehren, all das möchten wir ja nicht

haben. Und auch da zeigt sich, dass wir voll im Unterscheiden sind, im Bewerten. Wenn wir an guten

Erfahrungen festhalten, dann halten wir auch immer im Gegenteil schlechte Erfahrungen für nicht

erstrebenswert. Das eine geht nicht ohne das andere. Wir können nicht irgendetwas wegstoßen, wie

z.B. unsere Sexualität oder unsere Aggressivität. Wir können das nicht schlecht bewerten, ohne dass

wir zugleich etwas anderes positiv, gut bewerten. Das nicht haben wollen, aber das andere haben

wollen. Das sind Paare, die immer miteinander einhergehen, wir können nicht das eine ohne das

andere haben.

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Unsere Verwirrung über schlechte Gedanken ist einfach Ausdruck des Für-wirklich-Haltens dieser

Erfahrung, des Für-wirklich-Haltens des Subjektes, das vermeintlich diese Erfahrung macht, das sich

mit seiner Vergangenheit, seiner Gegenwart und seiner Zukunft identifiziert, und das eine Idealvor-

stellung davon hat, wie ‚ich als großer Bodhisattva zu sein habe.’ Diese schlechten Gedanken passen

einfach nicht zu dieser Vorstellung. Das ist ein Problem, das mit Identifikation einhergeht.

Doch es braucht gar nichts gemacht zu werden, wir können diese Gedanken einfach lassen wie sie

sind. Auch die Verwirrung, die über solche Erfahrungen, solche Gedanken entsteht ist geistige Aktivi-

tät. Auch diese Gedanken, in denen wir in unserer Verwirrung sind, können wir wieder loslassen, denn

auch die lösen sich von selbst auf. Wir brauchen also weder die Verwirrung über die so genannten

schlechten Gedanken fortzuscheuchen, noch die schlechten Gedanken selber. All das löst sich von

selber auf. Wir sind in tiefer Gleichmut, wir brauchen nicht mehr korrigierend einzugreifen. Wenn wir

merken, „Oh, jetzt hafte ich aber gerade an, an meiner Meditation!“ in dem Moment schon gibt es gar

nichts mehr zu tun. Wir merken es, und …„Okay!“. Wir brauchen die Meditation nicht abzubrechen,

wir brauchen nicht nach was anderem zu suchen. Es ist bewusst geworden und wir geben ihm keine

Bedeutung mehr. Wir bleiben einfach im Sein.

Der gewöhnliche Geist ist der Geist von gerade jetzt. Das ist ein Hinweis darauf, dass das Gewahrsein

der Erwachten unserem ganz normalen Geist innewohnt. Gewöhnlicher Geist, thamal gyi shepa auf

Tibetisch, ist ein Mahamudra-Begriff für das erwachte Gewahrsein, will aber besagen, dass es nichts

Außerordentliches ist, sondern auch der Geist der gewöhnlichen Menschen. Die thamalpas sind

gewöhnliche Bürger und das gewöhnliche Bewusstsein ist ihr Geist, dem alles innewohnt um zu

erwachen. Diesen Geist kann man nicht erlangen, er ist schon da, man kann ihn nur freilegen. Wenn

wir im gewöhnlichen Bewusstsein sind, dann ist damit in der Mahamudra-Sprache gemeint, dass wir

im erwachten Bewusstsein sind. Alles andere ist das verrückte Bewusstsein. Wenn wir ins

gewöhnliche Bewusstsein eintreten, dann sind wir endlich gesund.

22. Vers

Die Natur der Lebewesen war immer schon Buddha,

doch weil sie dies nicht erkennen, irren sie endlos in Samsara.

Möge für die Lebewesen in ihrem endlosen Leid

unerträgliches Mitgefühl in diesem Seinsstrom entstehen!

Es sind alle Lebewesen gemeint, Schmetterlinge und andere. Sie alle haben einen Geist, ein Gewahr-

sein, ein Bewusstsein, und die Natur dieses Bewusstseins ist dieselbe wie die von unserem eigenen

Geist. Wir erkennen diese Form von Geist, was citta oder sem genannt wird, daran, dass ein solches

Lebewesen Entscheidungen treffen kann. Der Schmetterling kann dorthin fliegen oder dorthin. Er

kann sich da hinsetzen und dort ein bisschen lecken und dann woanders hinfliegen. Das sind die Ent-

scheidungen. Wenn eine Ameise an eine Pfütze kommt, dann geht sie woanders hin. Diese Fähigkeit,

den eigenen Weg zu ändern in Auswahl verschiedener Optionen, zeigt uns, dass dieses Lebewesen

einen Geist besitzt. Das ist die grundlegende Fähigkeit. All diese Lebewesen haben dieselbe Geistes-

natur wie wir selber. Darum heißt es, sie waren schon immer Buddha, sie haben die Buddhanatur als

Geistesnatur.

Doch weil sie dies nicht erkennen, irren sie endlos in Samsara, in Verwirrung, in dualistischem

Haften und haben Angst. Angst ist das Grundmerkmal von mangelndem Gewahrsein, von

Unwissenheit. Alle diese Lebewesen haben Angst – mehr oder weniger bewusst. Bei Tieren können

wir das sehr gut beobachten. Dieser Schmetterling hätte jetzt sehr Angst, wenn ich ihn fangen und

hinaustragen würde. Das wären angstvolle Momente. Wir können bei allen Lebewesen beobachten,

dass sie Angst haben. Auch Götter, Lebewesen in tiefen Versenkungen, haben Angst. Sie haben Angst

vor dem Ende der Versenkung und erleben das Herausfallen aus dieser Versenkung als schmerzhaft.

Das ist das Zeichen von mangelndem Gewahrsein.

Ihr habt euch vielleicht schon mal gefragt, was denn das emotionale Pendant für Unwissenheit ist. Bei

den anderen emotionalen Belastungen ist es ja ganz offenkundig. Wir wissen, wie sich Begierde

anfühlt, wie sich dieses und jenes anfühlt. Immer wenn mangelndes Gewahrsein vorherrscht, dann ist

eine Unsicherheit im Geist. Es ist es ein Nicht-Kennen, ein Nicht-Gewahrsein, ein sich Nicht-Ausken-

nen. Diese Unsicherheit – das ist ja eine ichbezogene Empfindung – ist das Anzeichen von Nicht-

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wissen, von mangelndem Gewahrsein. Das ist das, was spürbar wird. Dann gibt es noch andere Aus-

prägungen, aber es ist vielleicht ganz gut zu wissen, dass das damit gemeint ist. Es ist eigentlich ein

mangelndes Gewahrsein über die Natur des eigenen Geistes. Man ist sich nicht gewahr, dass diese

Geistesnatur gar nicht sterben kann, dass es da niemanden zu verteidigen gibt.

Teilnehmer: Ist es nicht mit anderen Emotionen genauso?

Alle Emotionen sind aus Unwissenheit geboren und allen wohnt Angst inne. Die Angst der Begierde,

nicht das zu bekommen was ich möchte. Die Angst des Ärgers, mit dem konfrontiert zu sein, was ich

nicht möchte. Die Angst des Stolzes, nicht respektiert zu werden. Die Angst der Eifersucht, nicht

glücklich zu sein, dass mir etwas weggenommen wird. Überall ist Angst im Spiel und deswegen

nennen wir Unwissenheit, mangelndes Gewahrsein auch die Wurzel aller anderen Emotionen.

Teilnehmerin: In dem Buch von Lama Gendün Rinpotsche „Der Pfau“ habe ich über die Emotion

Verblendung gelesen, ist es das was du jetzt meinst?

Ja, genau, Verblendung.

Wenn wir uns bewusst werden, wie enorm die Freiheit ist, und wie eng der Geist von normalen

Lebewesen ist, dann entsteht Mitgefühl. Dieses Mitgefühl ist so stark, dass es uns motiviert, dann auch

zum Wohl der Lebewesen zu handeln. Ihr könnt euch vielleicht an die Unterweisungen über Mitgefühl

und Liebe erinnern, dass Mitgefühl und Liebe in drei Formen unterschieden werden. Hier sind wir bei

der zweiten Form von Mitgefühl. Die zweite Form wird aus der Erkenntnis der Natur der Dinge

geboren. Aus der Erfahrung der Natur des Geistes und aller Dinge entsteht ein Mitgefühl für alle

Lebewesen. Es ist noch nicht das Mitgefühl ohne Bezugspunkt, es ist die zweite Form von Mitgefühl,

die aus dem eigenen Erkennen der Natur des Geistes entsteht und dann merkt, dass die anderen nicht

in dieser Freiheit sind. Dass sie im Haften verweilen, in engen Geisteszuständen. Dieses Mitgefühl ist

die Wurzel der Bodhisattva-Aktivität.

Um es einfach auszudrücken: Dieses Mitgefühl entsteht aus der Erfahrung von Kontrast. Kontrast

zwischen der Freiheit, die jemand jetzt erlebt, im Vergleich zu der Unfreiheit, die derselbe Mensch

vorher erlebt hat und von der er weiß, dass die anderen genau darin leben. Aus diesem Kontrast

entsteht diese Form des Mitgefühls. Es ist unerträglich, daran zu denken, dass andere diese so einfache

Form zu sein, dieses erwachte Sein nicht kennen, obwohl es doch so einfach ist und eigentlich so

direkt zugänglich. Da entsteht der Wunsch anderen zu helfen in dieses einfache Sosein hineinzufinden.

In diesem unerträglichen Mitgefühl werden auch im eigenen Geist weitere Barrieren der Ichbezogen-

heit aufgelöst. Dieses Mitgefühl schwemmt die noch bestehende Ichbezogenheit aus. Der Bodhisattva

hätte an dem Punkt auch die Möglichkeit einfach zu sagen, „Jetzt ist mein Ziel erreicht. So ist es,

einfaches So-Sein.“ Aber im Gewahrsein dessen, dass es für andere nicht so ist, ist etwas Unerträg-

liches und der Bodhisattva lässt auch noch die letzte Zurückhaltung los, sich in Samsara zu engagie-

ren. Er lässt es los, sich in irgendeiner Form zu schützen, in irgendeiner Form Raum aufzubauen, in

dem er oder sie unberührt bleiben von dem Leiden in Samsara. Das ist der Weg, wo dann allmählich

die Unterscheidung zwischen Samsara und Nirwana aufgelöst wird. Sich wirklich einzulassen und

damit zu arbeiten, was Lebewesen so an Situationen mit sich bringen, das ist Zeichen dafür, dass es

den Praktizierenden nicht mehr um ihren persönlichen Frieden geht und dass sie nicht mehr im Haften

an Merkmalen verweilen. Denn die Merkmale von Samsara sind nicht besonders attraktiv. Bodhisatt-

vas gehen aus Mitgefühl in die Situationen hinein, wo sie ganz sicher mit Schwierigkeiten konfrontiert

werden. Das ist nur aufgrund der Hinwendung zu Lebewesen und dem Erfahren dieses Kontrastes zu

erklären.

23. Vers

Da unerträgliches Mitgefühl voller Kraft und ohne Schranken ist,

zeigt sich in Momenten solcher Liebe unverhüllt die Bedeutung der leeren Natur.

Mögen wir diesen unfehlbaren, höchsten Weg der Einheit [von Mitgefühl und Weisheit]

Tag und Nacht üben, ohne ihn je zu verlassen.

Liebe ist die Kraft, die die Ichbezogenheit ausräumt, auflöst. Liebe ist das, was das Denken an das

eigene Wohl so trivial erscheinen lässt, es ist völlig unerheblich. Mitgefühl und Liebe werden hier von

Karmapa synonym verwendet. Er spricht von unerträglichem Mitgefühl und sagt im nächsten Vers in

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Momenten solcher Liebe. Für ihn ist es dasselbe. Mitgefühl bezieht sich darauf, die Lebewesen aus

Leid zu befreien und Liebe bezieht sich darauf, sie ins Erwachen zu führen. Das gehört zusammen.

Die Intensität dieses Mitgefühls und dieser Liebe ist anders, als wenn wir von intensivem Mitgefühl

und intensiver Liebe im normalen Erleben sprechen. Wenn wir von intensivem Mitgefühl sprechen,

dann meinen wir ein emotionales Erleben von Mitgefühl – Tränen fließen, das Herz ist schwer und am

Zerreißen, man kann nachts nicht mehr schlafen und man muss unbedingt diesen Menschen helfen.

Das Mitgefühl, von dem hier die Rede ist, ist kein emotionales Erleben. Es ist ein Sehen, das so klar

ist, nicht geleugnet werden kann und uns so tief im Herzen berührt, dass das nächste Handeln, das sich

daraus ergibt, ganz von selber ein Handeln zum Wohl der Lebewesen ist. Es bewirkt keine

Verwirrung. Es bewirkt, dass sich der Geistesstrom auf das Wohl der Lebewesen ausrichtet, und dass

er dabei gleichmütig bleibt, aber dennoch betroffen ist.

Wie können wir gleichzeitig betroffen und gleichmütig sein? Das ist schwer zu verstehen. Zum Glück

konnte ich das – und ihr natürlich auch – bei Gendün Rinpotsche erleben. Wenn Menschen ihm katas-

trophale Lebenssituationen erzählten, sah ich bei Gendün Rinpotsche Tränen die Wange herunter

laufen und zugleich hat er ihnen völlig gelöst und offen und heiter Rat gegeben. Da kam es mehrfach

vor, dass Menschen mit schwersten Verlusten ins Gespräch gingen und eine Viertelstunde später heiter

und gelöst wieder aus dem Raum heraus gingen.

Eine Situation war mit einem Mann, der nach einem Autounfall gekommen ist, bei dem er der einzige

Überlebende war. Frau und Kinder waren gestorben. Da war Gendün Rinpotsche so berührt, und als

der Mann herausging hatte er wieder Lebensfreude. Er konnte wieder lachen und sah, was jetzt der

Sinn seines Lebens sein könnte. Das war Rinpotsches Kraft präsent zu bleiben, gleichmütig zu

bleiben, Rat zu wissen und doch total betroffen zu sein, so dass man es auch spürt. Für mich war das

natürlich ein Rätsel, aber dadurch, dass ich es erlebt habe, weiß ich, dass es geht. Es ist nicht eine

Emotion, es ist auch nicht etwas, das so ein Meister oder so einen Praktizierenden im Nachhinein

beschäftigt. Der Strom des Geistes geht weiter in die Richtung und immer weiter in die Richtung den

Lebewesen zu helfen, in jeder Form.

Das Mitgefühl eines Bodhisattvas drückt sich nicht in Emotionen aus, sondern im Handeln mit Körper,

Rede und Geist. Und wenn man nicht äußerlich handeln kann, dann werden Wunschgebete gemacht,

dann denkt man positiv, dann wenden sich die Gedanken in diese Richtung, dass Unterstützung in

diese Situation kommt, wo jetzt gerade nichts konkret zu tun ist.

Teilnehmer: Es war ja so, als Gendün Rinpotsche dann schon mehr krank war, habe ich die Botschaft

erhalten, wir sollten nicht mehr mit unseren großen Problemen zu Gendün Rinpotsche kommen.

Ähnlich war es auch bei Jigme Rinpotsche, als er so krank war, dass es auch hieß Leute mit

schwierigen Problemen sollten nicht mehr zu Jigme Rinpotsche gehen, das würde ihn zu sehr belasten.

Jetzt weiß ich nicht, wie ich das zusammenkriege, mit dem was du jetzt sagst.

Was Jigme Rinpotsche angeht, kann ich nicht antworten, den kenne ich zu wenig, aber Gendün

Rinpotsche habe ich gerade in der Phase, die du ansprichst mehrfach die Woche, manchmal täglich,

gesehen. Ich war in dieser Zeit auch sein Arzt. Von ihm selber ging das nicht aus, er hat sich nicht

gewünscht, dass man ihn in Ruhe lässt. Aber er war froh, wenn die Leute nicht unnötig lange bei ihm

blieben, weil ihn das Reden anstrengte. Aber immer wenn authentische Begegnung stattfand, war er

voll präsent, war er auch in der Lage längere Begegnungen zu leben und durchzustehen. Zwischen

Lebenskraft und dem, was sich im Geist abspielt, sind am Ende des Lebens doch manchmal ziemliche

Unterschiede. Der Geist kann völlig gelöst und frei sein und doch ist das Sprechen und Eingehen auf

andere und auch das Geben von Übertragungen doch auch anstrengend. Wenn man die Lebenskraft

schonen will, dann lässt man die Lehrer etwas mehr in ihren Meditationen, in einem Gleichmaß, wo

sie nicht allzu sehr ins konkrete Handeln gehen müssen, damit die Lebenskraft sich wieder aufbaut.

Das Erholsamste ist immer das Aufgehen im zeitlosen Gewahrsein. In zeitlosem Gewahrsein sind die

Meister zu Hause und da erholen sie sich. Wenn man ihnen diese Möglichkeit gibt, ist das wunderbar.

Mögen wir diesen unfehlbaren, höchsten Weg der Einheit Tag und Nacht üben, ohne ihn je zu ver-

lassen. Die Einheit, von der hier die Rede ist, ist die Einheit von Mitgefühl und Weisheit. Das Mit-

gefühl haben wir eben beschrieben. Die Weisheit ist in dem unverhüllten Sehen der leeren Natur zu

finden. Das ist der Weisheits-Aspekt. Mitgefühl und Liebe helfen, den Übergang in noch offenere

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Schau des Seins zu vollziehen und die offene Schau des Seins stimuliert das Mitgefühl. Das ist ganz

von selbst so, und deswegen sprechen wir von einer Einheit.

Wir sprechen in vielerlei Hinsicht von Einheit: Die Einheit der relativen und der letztendlichen Ebene,

wobei Mitgefühl hier für die relative Ebene stehen würde und Weisheit für die letztendliche. Wir

sprechen über die Einheit von Erscheinungen und Leerheit, wobei Leerheit für Weisheit steht und

Erscheinungen für den relativen Bereich, in dem das Mitgefühl aktiv ist. Wir sprechen über Freude

und Leerheit, Klarheit und Leerheit. Immer wieder ist dabei Weisheit die Kraft, die alles Erleben

durchdringt. Im Grunde genommen die Einheit von Erleben und dem Erkennen ihrer wahren Natur.

Diesen Weg der Einheit, mögen wir ihn Tag und Nacht praktizieren, die Einheit von Erleben und

direkter Schau.

24. Vers

Mögen kraft unserer Meditation die Augen und höheren Wahrnehmungen entstehen

und mögen wir die Lebewesen zur Reife führen, Buddhagefilde kultivieren

und die Pfade des Strebens zum Verwirklichen aller Buddha-Dharmas vollenden.

Mögen durch das zu Ende Bringen von Reifen, Kultivieren und Vollenden alle zur Buddhaschaft

erwachen.

Die Kraft der Meditation, die Kraft des Kultivierens von Gewahrsein führt dazu, dass uns die Augen

aufgehen. Die Augen, von denen hier die Rede ist, sind fünf Arten von Augen. Dazu zählen unsere

gewöhnlichen Augen, das göttliche Auge, also Hellsicht, die Fähigkeit Dinge sehen zu können, die uns

sonst nicht sichtbar sind, das Dharma-Auge und das Weisheitsauge und das fünfte ist mir entfallen.

Jedenfalls ist mit Auge die Fähigkeit gemeint, immer subtilere Wahrheiten zu sehen und zu verstehen.

Ich erinnere mich noch, dass die höchste Form des Auges das Auge des zeitlosen Gewahrseins ist, also

das Weisheitsauge, das die Natur der Dinge erkennt. Es ist also im symbolischen Bereich gesprochen

und damit ist schon zumindest eine der höheren Wahrnehmungen genannt.

Es gibt unter den höheren Wahrnehmungen noch weitere, nicht nur die Hellsichtigkeit: Hellhörigkeit,

zu hören was weit entfernt gesprochen wird. Die Fähigkeit, Gedanken zu lesen, also wahrzunehmen,

was im Geist anderer vor sich geht. In diesem Zusammenhang kommt am Ende des Bodhisattva-

Weges auch die Kraft hinzu, Karma, also die Disposition von Menschen, erkennen zu können. Es

gehört die Fähigkeit hinzu, Wunder vollbringen zu können, Transformation von Objekten und der-

gleichen. Das alles gehört zu den höheren Wahrnehmungen. Wer darüber mehr wissen möchte, kann

unter den sechs weltlichen Siddhis (Verwirklichungen) nachlesen. Ich habe jetzt gerade die komplette

Liste auch nicht so parat. Wir machen einfach den Wunsch, dass wir mit möglichst umfassendem

Verständnis und möglichst umfassenden Kräften in dieser Welt wirken können, um Lebewesen zu

helfen. Durch diesen Wunsch, dass sich auch weltliche Siddhis einstellen, unterscheidet sich die

Mahayana-Tradition von der Theravada-Tradition.

Die Fähigkeiten, die wir entwickeln, um anderen tatkräftig helfen zu können, sind natürlich auch eine

große Versuchung. Wenn sich auf unserem Weg besondere Fähigkeiten zeigen, die andere nicht im

gleichen Maße besitzen, entsteht die größte Identifikation. Dann identifizieren wir uns fast zwangs-

läufig damit. Darum haben auch viele Praktizierende Wünsche gemacht, dass solche Fähigkeiten nicht

auftauchen, bevor sie damit umgehen können. Es ist eine ziemliche Herausforderung zu sehen, zu

spüren, was andere nicht sehen und spüren. Man hält sich dann für etwas Besonderes, ist aber inner-

lich, emotional und im Verstehen der Natur der Dinge keinen Schritt weiter als andere auch auf dem

Weg. Während man noch alles durcharbeiten muss, haben sich schon Fähigkeiten eingestellt, die

etwas ungewöhnlich sind. Schön ist es, wenn diese Fähigkeiten völlig uneigennützig in den Dienst der

anderen gestellt werden. Der wichtigste Hinweis zum Umgang mit diesen Fähigkeiten ist, nie dafür

Geld zu nehmen, also keine Bezahlung anzunehmen, daraus keinen Lebenserwerb zu machen. Sonst

beginnt man sich noch mehr damit zu identifizieren und man ist nicht mehr frei im Ausüben dieser

Qualitäten. Manchmal sieht man vielleicht nicht und muss dann aufgrund der Bezahlung so tun, als ob

man was sehen würde. Es hat viele Konsequenzen, wenn man beginnt, dafür Geld zu verlangen. Das

bedeutet nicht, dass man nicht Spenden annehmen könnte.

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Wir machen den Wunsch, dass wir solche Fähigkeiten tatsächlich auch erlangen und sie in den Dienst

der Bodhisattva-Aktivität stellen können. Diese Bodhisattva-Aktivität wird jetzt beschrieben. Wir

machen den Wunsch, dass wir Lebewesen zur Reife führen können. Zur Reife führen bedeutet, dass

ihr Verständnis und ihre innere Entwicklung mit dem Dharma genährt wird und dass wir auch

Situationen schaffen – z.B. wie hier in Möhra –, eine Lebenssituation, in der einige sogar hier wohnen

und sich an einer Situation beteiligen können, die sehr förderlich ist für die innere Entwicklung. Dabei

werden Unterweisungen gegeben. Es wird gesagt, dass speziell das Geben von mündlichen, von

direkten Anleitungen sehr zur inneren Reifung der Lebewesen beiträgt. Lebewesen zur Reifung führen

beinhaltet, sich um sie mit Rat und Tat zu kümmern.

Wenn es dann heißt Buddhagefilde kultivieren, dann müssen wir uns keineswegs gegen Westen auf-

machen, um in Dewatschen die Felder zu bestellen, sondern der Geist eines jeden Wesens wird als

Buddhagefilde betrachtet. Das Kultivieren von Buddhagefilden ist das Kultivieren der reinen Sicht-

weise der Lebewesen, mit denen wir es zu tun haben, sodass schlussendlich der Geist eines jeden

Wesens zu einem Buddhagefilde wird. Also irrige Anschauungen auflösen und reine, korrektere

Sichtweisen kultivieren, bis schließlich sogar alle Sichtweisen, alle Standpunkte verlassen werden.

Das nennt man das Kultivieren von Buddhagefilden, Praktizierende schrittweise in die Schau der

Natur der Dinge hineinzuführen. Wenn die Meister Buddhagefilde kultivieren, dann tun sie das z.B.,

indem sie Ermächtigungen geben, natürlich auch indem sie Erklärungen geben, indem sie Instruktio-

nen zur Praxis erteilen, indem sie über die Natur des Geistes aufklären, die Natur des Geistes zugäng-

lich machen. All das gehört zum Kultivieren von Buddhagefilden.

Die dritte Form der Aktivität ist, die Pfade des Strebens zum Verwirklichen aller Buddha-Dharmas

zu vollenden. Die chös oder „Dharmas“ der Buddhas sind hier nicht die Wahrheiten oder Lehrreden

aller Buddhas, sondern all die Qualitäten, um die es beim Erwachen geht. Das ist eine zusätzliche

Bedeutung des Wortes ‚Dharma’, die seltener benutzt wird. Man könnte diesen Satz auch so

übersetzten: Alle Qualitäten der Buddhas zu verwirklichen. Aber das wäre doch eine Einschränkung

der Bedeutung. Denn es ist hier auch gemeint, alle Anliegen der Buddhas zu verwirklichen. Alle

Wunschgebete, alles was sie je an Wünschen, an Pfaden des Strebens gesprochen haben, all die

Aktivitäten, die sie zum Wohle der Wesen ausführen möchten. Es ist also der Wunsch, all das umzu-

setzen und zu vollenden, sodass alle Qualitäten der Buddhas in uns entstehen, dass all ihre Wünsche

umgesetzt werden, dass all ihre Lehren verwirklicht werden.

All das gehört dazu, wenn wir vom Vollenden aller Buddha-Dharmas sprechen. Deswegen steht da

dieses Fremdwort, weil es sehr viel umfassender ist als jedes deutsche Wort, das wir hier nehmen

könnten. Es würde die Bedeutung eher einschränken. Alle Buddha-Dharmas zu verwirklichen, bedeu-

tet im Grunde genommen, alles zu verwirklichen, was je im Geist der Erwachten zum Wohle der

Wesen gedacht, gesagt wurde. All diese Qualitäten zu verwirklichen, die damit zum Vorschein

kommen.

Von daher ist dieser Wunsch für das zu Ende Bringen von Reifen, Kultivieren und Vollenden gleich-

bedeutend mit dem Wunsch, alle Lebewesen zur vollkommenen Buddhaschaft zu führen über diese

Aktivitäten des Heranreifen-Lassens, des Kultivierens und Vollendens aller Buddha-Dharmas. Das ist

der Wunsch, der alle anderen Wünsche mit einschließt. Kein einziges Anliegen der Erwachten ist

ausgeschlossen, alles ist einbezogen. Es ist der umfassendste Wunsch, den man sich vorstellen kann.

Widmung

25. Vers

Durch das Mitgefühl der Buddhas und ihrer Erben in den zehn Richtungen

und durch die Kraft alles wirklich Heilsamen, das es gibt,

mögen die reinen Pfade des Strebens von mir und allen Lebewesen

genauso verwirklicht werden, wie sie gemeint sind.

Das ist leicht zu verstehen. Wir bitten nochmals um die Aufmerksamkeit aller Erwachten, dass sich

ihre Wünsche mit unseren Wünschen vereinen. Und dass die Kraft alles Reinen und Heilsamen, alles,

was je in allen Universen an Positivem und Heilsamem gedacht, gesprochen und getan wurde, sich

verbindet und dazu führt, dass das Anliegen, das in diesem Gebet zum Ausdruck kommt, tatsächlich

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verwirklicht wird. Das ist sehr, sehr kraftvoll. Wir können davon ausgehen, dass es tatsächlich in

Erfüllung gehen wird, wenn wir dieses Gebet regelmäßig praktizieren und uns zu Herzen nehmen. Das

ist die Kraft der inneren Ausrichtung.

Wir haben jetzt den Bogen geschlossen. Ihr merkt vielleicht, dass der letzte Vers sehr ähnlich ist wie

der erste Vers. Wir haben den Bogen wieder geschlossen und sind wieder bei der Ausrichtung, dieses

Mal in Form einer Widmung. Wir dürfen die Kraft solch einer inneren Ausrichtung und solcher

Wünsche nicht unterschätzen. Es ist immens, was das in diesem Leben noch bewirken kann. Wir

denken vielleicht, „Naja, dann vielleicht im nächsten Leben“, aber wenn wir das intensiv praktizieren,

beginnt sich unser Geist auszurichten und offen und empfänglich zu werden für das Gewahrsein der

Erwachten, das ja auch in uns ist. Da tun sich die inneren Tore auf und obwohl wir es nie für möglich

gehalten hätten, kommt es zu einem Verständnis der verschiedenen Aspekte, die hier beschrieben

werden.

Die Frage war ja gestern schon im Raum: Wie können wir das jetzt praktizieren?

Praxis des Gebetes

Klassisch, im traditionellen Rahmen würde ein tibetischer Praktizierender dieses Gebet an seine Praxis

anhängen. Er würde erst seine andere Praxis ausführen, z.B. die Tschenresi-Meditation, was auch

immer, und dieses Gebet dann als eine ausführliche Widmung anhängen. Gendün Rinpotsche hat

begonnen, das mit uns anders zu praktizieren. Es war zwar auch ein Anhang in unserer Praxis, aber er

hat uns speziell in dem Jahr ans Herz gelegt, dieses Gebet zu praktizieren, in dem wir auch die sechs

Yogas praktizierten, die sechs Dharmas von Naropa. Wir hatten sehr viel Zeit, uns mit diesem Gebet

zu befassen und uns darauf einzulassen. Dabei wurde auch klar, dass dieses Gebet sehr viel Zeit

braucht. Um es wirklich praktizieren zu können, braucht es im Grunde genommen Phasen des stillen

Kontemplierens von jedem Wort, nicht nur von jeder Zeile. Jedes Wort, jede Aussage muss kon-

templiert werden, und dafür braucht es Zeit.

Als ich dieses Gebet entdeckt habe, habe ich es in den ersten Wochen nicht geschafft, das Gebet bis

zum Ende durchzulesen. Ganz einfach, weil schon unterwegs, mein Geist immer wieder in Meditation

hineinfand. Die Unterweisungen sind so kraftvoll, dass sie den Geist öffnen und dann brauchen wir

nicht weiter zu lesen, dann weilen wir in dieser Öffnung. Wenn der Intellekt wieder zu arbeiten

beginnt, dann lesen wir eventuell den letzten Vers noch einmal oder den nächsten Vers, kontemplieren

über die Bedeutung und wieder öffnet sich unser Geist in die Bedeutung des Gelesenen hinein. So

kann ich nicht einmal sagen, macht dieses Gebet ein Mal pro Tag von Anfang bis Ende. Das wird

nicht immer klappen und es würde dazu führen, dass ihr den einzelnen Passagen zu wenig Zeit

widmet. Nehmt euch vielleicht vor, jeden Tag einen Vers zu machen oder euch immer wieder hinzu-

setzen und einfach so weit in dem Gebet zu gehen, wie es euch trägt, bevor euer Geist anhält. Er hält

quasi inne und öffnet sich, die Meditation tut sich auf und dann ist es das einfach. Wenn ihr mehr Zeit

habt, dann könnt ihr noch ein Stück weiter lesen und wieder eine neue kleine Meditationsphase

anschließen.

Es gibt für die Praxis dieses Gebetes also eine große Spannbreite: Die tägliche Rezitation, wo das

Gebet einfach durchgebetet wird. Man öffnet sich dem Segen und versteht das Gebet als ein

Widmungsgebet. Man kann das Gebet als eine Basis des Studiums verstehen, also mit Hilfe der

Kommentare und Erklärungen alles noch einmal durchgehen und den Sinn auch mit dem Verstand

durchdringen. Dann ist es natürlich Grundlage der Kontemplation. Wir gehen jedes Wort durch und

fragen, „Was hat das mit mir zu tun?“, „Wie soll ich das denn umsetzten, wie könnte ich das um-

setzten?“ Und dann geht es darum, das auch zu tun, also sich mit dem, was die Kontemplation an

Möglichkeiten hervorbringt, tiefer zu verbinden und es auch tatsächlich umzusetzen. Wenn wir es

umsetzten, dann kommen wir, wenn wir wieder mit derselben Passage Kontakt aufnehmen, zu neuen

Erkenntnissen. Solange wir die gemachten Erkenntnisse nicht umgesetzt haben, kommt es nicht zu

neuen Erkenntnissen.

Das ist noch ein wichtiger Hinweis, den ich euch mit auf den Weg geben möchte: Nicht umgesetztes

Verständnis blockiert alles weitere Verständnis. Weisheit, die nicht gelebt wird, macht uns

dumm. Nicht gelebte Weisheit bedeutet, dass wir das, was wir schon erkannt haben, nicht anwenden

und deswegen nicht die Erfahrung machen können, was das Anwenden dieses Verständnisses

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bedeutet, was es mit sich bringt. Dann kann sich der nächste Schritt nicht vollziehen. Wir brauchen die

Rückmeldung aus der angewandten Weisheit, aus dem angewandten Verständnis. Wir brauchen diese

Rückmeldung. Wenn wir das nicht im Erleben umsetzten, dann bleiben wir bei einem trockenen

Verständnis und dann schreiten wir nicht fort, weil es die gemachte Erfahrung braucht. Je schneller

wir etwas umsetzen, desto schneller haben wir neue Erfahrungen mit dem frischen Verständnis und

kommen schon wieder zu neuen Einsichten. Wenn wir das konsequent tun, immer das, was wir

verstanden haben, umzusetzen, dann finden wir ganz schnell heraus, was sich bewährt und was sich

nicht bewährt und können das, was sich nicht bewährt erneut untersuchen. Wo liegt der Fehler? Was

habe ich nicht verstanden? Und damit klären wir das Verständnis von vorher, was nur ein

Teilverständnis war und offenbar nicht ganz die erwünschten Auswirkungen hat. Schnelles Umsetzten,

sofortiges Umsetzen von Erkanntem, von Verstandenem führt zur Beschleunigung des Weges. Ihr

wollt doch immer Abkürzungen, oder? Das ist jetzt eine. Die ist keine, aber es ist die einzige, die es

gibt! Sofort umsetzen, was ihr verstanden habt. So schnell wie möglich und nicht warten damit.

Diese Zauderer, die immer meinen: „Morgen, morgen nur nicht heute.“ Das ist die Methode, um

seinen Weg möglichst lang zu machen, zu sagen: „Morgen!“, „Übermorgen!“, „Nächstes Jahr!“,

„Wenn ich mal in Rente bin!“, „Wenn ich mal meine Kinder groß gezogen habe!“ Einiges müssen wir

aufschieben, weil es unsere Lebenssituation nicht ermöglicht, diesen Bereich zu ändern. Aber was die

Anwendung auf das eigene Bewusstsein angeht, auf unsere Sicht der Welt, wie wir mit unseren Emo-

tionen umgehen, wo wir unsere freie Zeit hinlenken, da gibt es keinen Aufschub. Da kann uns nie-

mand reinreden. Wir können mit unserem Geist machen was wir wollen. Das ist unser Zuhause, da

sind nur wir zu Hause. Wenn wir Tag und Nacht diese Praxis üben wollen, dann können wir das. Wir

haben die Möglichkeiten dazu. Wir brauchen nicht zu warten bis wir irgendwann in Rente gehen und

dann in Retreat gehen können, und dann machen wir das.

Wenn wir so funktionieren, wird es auch im Retreat in der Rente nicht klappen, weil es vorher nicht

geklappt hat. Der Beweis, dass es dann nicht klappen wird, ist, dass die Kraft nicht groß genug ist, es

jetzt umzusetzen. Diejenigen die die Dinge wirklich umsetzen, die sie verstanden haben, die machen

Fortschritte. Wer es nicht umsetzt, macht keine Fortschritte und da hilft auch nicht, zu vielen Unter-

weisungen zu kommen. Das hilft nichts.

Was das Umsetzten angeht, so geht es keineswegs darum, Mönch oder Nonne zu werden und sich

irgendwo im Wald hinzusetzen, sondern zu schauen, was realistisch jetzt machbar ist. Ich kann z.B. in

jeder Situation achtsam sein. Ja, wir können das üben. Wir können es uns zu einer Übung machen,

rund um die Uhr stets achtsam zu sein, mitzubekommen was unser Erleben ist. Wie sieht das Erleben

aus? Was ist seine wahre Natur? Wie kommt es dazu, dass das jetzt im Geist auftaucht? Was für

Ursache-Wirkungs-Beziehungen bestehen da? Wie ist es, dass sich das alles auflöst? All diese Dinge,

die wir besprochen haben, können wir jetzt anwenden. Es gibt keine Ausrede, außer unserer Faulheit.

Es ist die einzige Ausrede, egal in welcher Lebenssituation ihr seid. Ob ihr Vater von zehn Kindern

seid, ob ihr krebskrank seid, ob ihr meint total dumm zu sein, ob ihr meint total schlau zu sein, es gibt

keine Ausrede. Es gibt keine Ausrede, das umzusetzen, was ihr verstanden habt.

Teilnehmer: Wenn man was verstanden hat, hat man auch das Bedürfnis das umzusetzen?

Ja, das Bedürfnis hat man und dann trinkt man Kaffee und dann quatscht man mit jemand anders und

dann wird man eingeladen dieses und jenes zu tun und dann kommt abends ein guter Film im

Fernsehen und dann hat es sich damit. Da war einmal ein Bedürfnis. Da war einmal ein Bedürfnis und

irgendwann erinnert man sich daran. Das ist, wenn die Reue entsteht über die verflossenen Jahre, die

wir nicht gut genug genutzt haben. Dann bereuen wir das und müssen dem Tod begegnen, ohne das

umgesetzt zu haben, was wir schon einmal verstanden hatten. Das Bedürfnis es umzusetzen, ist

eigentlich immer da, aber es wach zu halten und dann tatsächlich zu handeln, gelingt nur wenigen. Das

macht den Unterschied zwischen Praktizierenden, die tatsächlich Fortschritte machen, und anderen,

die sie halt nicht machen.

Die Bedingungen stehen hier drin. Ihr wisst, vierter Vers: Vertrauen, Energie, freudevolles Umsetzen

des Verstandenen, freudevolle Ausdauer, Weisheit. Lehrern folgen, hören was sie sagen, ausprobieren

was sie uns unterrichten. Dann Rückmeldung, „Habe ich das jetzt so richtig verstanden?“, sich auf

diesen Prozess einlassen, mit lebenden Lehrern zu arbeiten. Das alles ist hier beschrieben. –Auch

wenn es nicht im Detail beschrieben ist, aber es ist alles da. Das verändert ein Leben und führt dazu,

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dass Menschen erwachen, dass sie sich befreien. Das ist tatsächlich so, denn was hier beschrieben ist,

funktioniert. Es ist tatsächlich der Weg der Befreiung, es ist der Weg des Erwachens.

Ich denke, es ist notwendig, euch zum Abschluss dieser Unterweisungen noch einmal ein bisschen

einzuheizen. Es wäre zu schade, wenn ihr – egal was ihr hier verstanden habt – es nicht umsetzen

würdet. Wenn ihr das Verstandene heute umsetzt, habt ihr morgen schon neue Fragen. Unmittelbar

nach dem Umsetzen tauchen neue Aspekte des Erlebens auf, die ihr vorher nicht gesehen habt.

Unmittelbar danach oder währenddessen. – Weil ihr es tut, weil ihr es probiert, tauchen neue Fragen

auf und im Lösen dieser Fragen entstehen neue Erkenntnisse.

Wenn ich z.B. den Wunsch in mir habe, irgendwann einmal so wie der Yogi Milarepa in Zurückgezo-

genheit zu leben, dann kann ich ein Leben mit dieser Idealvorstellung verbringen und mit dieser

Idealvorstellung sterben. Es hat nicht geklappt. Wenn ich es aber umsetze, dann sehe ich sofort die

Herausforderung, ich komme an die Grenzen meiner Möglichkeiten und muss meinen Plan etwas

anpassen. Das ist Weisheit! Weil ich es versuche, gerate ich an Grenzen oder auch nicht, und dadurch

ergibt sich etwas Neues. Wer sich heute etwas vornimmt, es aber nicht heute oder morgen umsetzt,

dessen Vorsatz ist nichts wert. Dieser Vorsatz kommt in den Sack nicht umgesetzter Vorsätze, nicht

umgesetzter Entscheidungen. Auf diese Weise schleppen wir enormen Ballast mit uns herum. All das,

was wir nicht umgesetzt haben.

Die meisten allgemeinen Dharmabelehrungen sind so, dass die Zuhörer sagen, „Ja, das habe ich doch

eigentlich immer schon gedacht! Das ist doch eigentlich offenkundig!“ Das heißt, der Dharma nimmt

meistens Bezug auf etwas, das wir ohnehin schon verstanden haben. Das war vielleicht beim Erklären

der Mahamudra-Sichtweise nicht so stark der Fall, aber wenn wir Lodjong unterrichten, dann haben

die meisten Menschen das Gefühl, „Doch, klar, das macht total Sinn! Das korrespondiert mit dem, was

ich auch schon verstanden habe.“ Aber mit dem Umsetzen hapert es, und darum geht es jetzt.

Ich denke, wir können jetzt eine Viertelstunde stillsitzen. Aber ihr habt dabei den Stift in der Hand und

überlegt einmal ganz für euch, welche Verständnisse ihr umsetzten möchtet. Erst einmal so als

Probeentwurf. Die Unterschrift setzt ihr dann drunter, wenn ihr euch das noch einmal angeschaut habt.

– Das war jetzt ein Scherz, ihr braucht keine Unterschrift unter so etwas zu setzten. – Nehmt euch Zeit,

legt ein Blatt Papier vor euch, das eure etwas unsortierten Gedanken einfach aufnehmen kann. Sie

brauchen nicht total ausgefeilt zu sein. Schreibt einfach auf, was ihr gerne umsetzen würdet. Schaut

euch das dann später an, aber jetzt einfach einmal frei weg, frisch vom Herzen: „Was würde ich in

diesem Leben gerne umsetzen?“ Ihr könnt die Verse zu Hilfe nehmen und wenn ich nach einer

Viertelstunde merke, dass es für euch noch viel zu kurz ist, dann gebe ich euch noch viel mehr Zeit.

Teilnehmer: Es muss nicht nur bezogen auf den Dharma gehen, oder?

Auf dein ganzes Leben, was du von deinem Verständnis her umsetzen möchtest. Wenn du das Gefühl

hast, du möchtest der Oma von nebenan einen Blumenstrauß schenken, dann schreibst du das auf.

Egal, was es ist.

Denkt zunächst nicht allzu sehr daran, wie sehr euch eure jetzige Lebenssituation einengt, macht nicht

schon die Kompromisse mit eurer jetzigen Lebenssituation, sondern schreibt einfach auf, was ihr

gerne umsetzen würdet und welches Verständnis ihr kultivieren möchtet. Es geht vor allen Dingen

auch um das Kultivieren von Verständnis. Zaudert nicht mit dem Aufschreiben, ihr könnt immer noch

durchstreichen, korrigieren, Neues schreiben. Es ist gut, wenn ihr eure Gedanken in diesem Moment

nicht zu sehr zensiert. Es ist ein Brainstorming für euch selber. Schreibt einfach einmal auf, was eure

Herzensanliegen sein könnten. Falls ihr Widerstände bemerkt, könnt ihr auch aufschreiben: „Ich

sträube mich gegen die Erkenntnis, dass…“ Das könnt ihr auch. Das gibt es, und es ist manchmal

schwierig, sich überhaupt einzugestehen, dass man etwas schon verstanden hat, es aber nicht umsetzen

kann oder wie auch immer.

Viele von euch haben jetzt den ersten Schwung aufgeschrieben. Wenn ihr jetzt einfach merkt, wie ihr

da hineingefunden habt, dann könnt ihr euch in den kommenden Tagen immer wieder hinsetzten und

diesen Prozess für euch weiterführen und auch zu einem vorübergehenden Abschluss bringen. Ihr

könnt immer wieder auf Dharmatexte Bezug nehmen und schauen, was sie mit euch machen. Das ist

kontemplieren, und wie ihr es dann umsetzt, das ist der Prozess von pranidhana. Ihr seid jetzt in dem

wirklichen Prozess von mönlam, pranidhana angekommen, was wir Pfade des Strebens nennen. Ihr

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erinnert euch, dass es bei einem Wunschgebet im buddhistischen Sinne immer um die Verpflichtung

zur Umsetzung geht? Ihr seid jetzt gerade dabei, euren Pfad des Strebens zu formulieren, euer prani-

dhana, in Anlehnung an den Dharma. Daran, was durch den Dharma an Verständnis geweckt wurde

und ihr seid dabei, den Dharma in euer Leben hinein zu holen, so dass er praktisch umsetzbar wird.

„Wo sind die nächsten Schritte?“, um das dann umzusetzen, was jetzt bei euch auf dem Blatt steht

oder was ihr spürt. Es geht ganz konkret darum, aus dem Allgemeinen – was uns inspiriert, wo wir

hinwollen – dann konkretere Aspirationen werden zu lassen, woraus sich dann konkrete Schritte

ergeben. Das wäre dann der letzte Schritt dieses Kontemplierens, diese Schritte im Handeln umsetzen.

Da führen Kontemplation und Meditation ins Handeln.

Was ihr jetzt in dieser Viertelstunde erlebt habt, ist der Prozess des Kontemplierens, der ins Umsetzen,

ins Handeln führt. Das verändert Menschen, das könnt ihr spüren. Wenn ihr tatsächlich beginnt, das,

was euch klar geworden ist, umzusetzen, dann verändert sich euer Leben, weil ihr anders handelt,

anders an Situationen herangeht, anders mit eurem eigenen Geist praktiziert. Weil ihr noch genauer

wisst, welche Themen ihr in der Kontemplation, Meditation oder auch im Studium angehen wollt. All

das verändert Menschen, und das führt dazu, dass sie schlussendlich erwachen. Wenn wir immer

unserer Weisheit folgen, unserem Verständnis, dann verstehen wir immer mehr, bis es vollständig

wird. Egal wie lange das dauern mag.

Teilnehmer: Ich habe noch eine Frage zu den sechs Sinnen, die fünf bekannten sind ja relativ einfach

zu beobachten, wenn man sich bemüht, ist man ja sehr konzentriert und kann auch bestimmte Dinge

wahrnehmen, soweit wir sie unterscheiden können. Mit dem sechsten Sinn, mit dem Denk-Sinn ist das

ja ein bisschen anders, den können wir ja nun sehr schlecht beobachten. Ist der Denk-Sinn

gleichzusetzen mit dem Geist oder sind es letztendlich zwei unterschiedliche?

Er ist Teil dessen, was wir Geist nennen und ist die wichtigste Funktion des Geistes, denn die anderen

fünf Sinne münden in den sechsten Sinn. Sie machen nur Sinn, wenn sie in dem sechsten Sinn

zusammengeführt werden. Nur dort können wir den Sinneseindrücken einen Sinn geben. Es heißt

Geist sind all diese sechs Aspekte des Bewusstseins, die man auch noch weiter untergliedern kann,

aber das spielt jetzt keine Rolle, wobei das mentale Bewusstsein natürlich das wichtigste ist. Dort

finden die ganzen Verknüpfungen statt, die Interpretationen usw.

Es ist so vielfältig, es ist so unüberschaubar. Die anderen fünf Sinne sind so leicht überschaubar. Es

handelt sich um eine klar abgegrenzte Kategorie. Wenn wir in den Geist, in das mentale Bewusstsein

als solches, schauen, dann haben wir mit allen zu tun. Alles taucht auf. Es tauchen sowohl Sinnes-

wahrnehmungen auf, wie auch deren Interpretationen. Und es tauchen auch Geistesinhalte auf, die gar

nicht von den fünf äußeren Sinnen kommen, sondern von innen heraus, aus Erinnerungen oder aus

Überlegungen. Da ist das konzeptuelle Denken, das abstrakte Denken findet darin statt. Es ist ein so

weites Feld, mit so vielen verschiedenen Formen des Erlebens, dass wir gut tun, uns erst mit den fünf

äußeren Sinnen zu üben, um zu lernen wie das geht, gewahr zu sein. Und dann bemerken wir immer

mehr, was im Mentalen stattfindet. Das einfachste ist, den Atem als kontinuierliches Meditations-

objekt zu nehmen und während wir auf den Atem als eine Körperwahrnehmung ausgerichtet sind,

merken wir schon, was im Hintergrund im Geist abläuft. Wir kommen immer wieder zum Atem

zurück, das gibt uns eine gewisse Klarheit und Ausrichtung. Immer offenkundiger merken wir, was im

Geist stattfindet und dank der Atemmeditation lassen wir das, was an Gedanken kommt, auch relativ

schnell los, weil wir ja immer zum Atem zurückkehren. Wir lernen dadurch den Prozess des

Loslassens. Der Geist öffnet sich und lässt los, weil er ja wieder zum Atem zurückkehrt. Wir lernen,

diese Bewegung im Geist zu machen. Da ist ein Gedanke, der fasziniert uns und wir lassen los und in

dem Moment sind wir wieder beim Atem.

Wenn wir das gelernt haben, dann kann der Atem etwas weniger wichtig werden, er kann zurück-

treten, weil wir auch ohne zu einem anderen Objekt zurückzukehren, diese Bewegung vollziehen

können. Ohne den Geist auf etwas anderes zu richten, können wir loslassen. Zu Anfang brauchen wir

etwas, zu dem wir hingehen, damit wir das andere loslassen können. Wenn wir gelernt haben

loszulassen, lassen wir los und brauchen nichts anderes zu ergreifen. Normalerweise halten wir etwas

fest, dann hat der Geist davon Besitz ergriffen, und wenn er etwas anderes festhalten möchte, dann

muss er loslassen, weil er das nächste festhalten möchte. Er kann nicht zwei Dinge zur gleichen Zeit

festhalten. Es würde aber ausreichen zu lernen, loszulassen und offen zu bleiben und nicht gleich das

nächste zu ergreifen. Das lernen wir mit den fünf äußeren Sinnen. Es ist viel leichter, dort zu lernen.

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Und wir setzen es dann weiter um im mentalen Sinn. Wenn wir das können, dann wird das

Beobachten der geistigen Abläufe einfach, weil wir uns nicht mehr verheddern.

Teilnehmer: Ich schlafe da in der Hütte und da habe ich heute Morgen aus der Hütte rausgeguckt und

sah was, so eine Schubkarre. Der Begriff Schubkarre der war aber nicht da. Ich sah was und dann

irgendwann kam der Begriff und dann habe ich es benannt und dann habe ich die Schubkarre erlebt.

Meine Frage ist jetzt, bevor mir der Begriff einfiel und ich es benannt habe, habe ich dann Farbe und

Form erlebt oder was habe ich dann erlebt?

Das weiß ich ja nicht, was du erlebt hast. – Ja sicher hast du Farbe und Form erlebt, aber es kann sein,

dass du eigentlich genau wusstest, dass es sich um eine Schubkarre handelt, nur den Ausdruck nicht

gefunden hast. Denn offenbar hast du in deinen Erinnerungen nach vergleichbaren Objekten gesucht

und warst dir dann sicher, das ist eine Schubkarre, nur fiel dir der Ausdruck nicht ein. Manchmal geht

es uns ja so, dass wir nach bestimmten Leuten gefragt werden: „Wie heißt denn der Typ da im roten T-

Shirt?“ Ich habe ein ganz klares Bild von dem, ich erlebe ihn, ich sehe ihn innerlich, aber der Name

fällt mir nicht ein. So kann es mit allen Dingen gehen, dass wir zwar ganz klar ein inneres Abbild

haben von dem, was wir entweder durch die äußeren Sinne sehen oder mit dem mentalen Sinn erleben,

aber der Begriff bildet sich noch nicht, er ist noch nicht gefunden.

Teilnehmer: Alles ist Manifestation des Geistes, jetzt auf den Text bezogen. Ist die Schubkarre eine

Manifestation des Geistes in dem Moment, wo ich „Ah, Schubkarre“ sage und sie benannt habe, oder

ist die Schubkarre eine Manifestation meines Geistes, bevor ich „Ah, Schubkarre“ gesagt habe?

In beiden Fällen ist es eine Manifestation des Geistes, auch vorher schon. Wir sprechen nicht über die

Schubkarre, wir sprechen über das Erleben der Schubkarre.

Habe ich eine Schubkarre erlebt, bevor ich sie benannt habe?

Jaja, auf jeden Fall, du hast dieses „Irgendetwas“ erlebt. Die Schubkarre ist dann das Erleben des

Begriffes Schubkarre. Verstehst du? Zunächst erlebst du das Objekt, d.h. deine Sinneswahrnehmung

ist klar, aber du kannst es noch nicht einordnen. Du hast die Erfahrung eines Sinneseindruckes, der

soundso ausschaut und die und die Merkmale hat, aber noch in keiner Schublade untergebracht ist.

Und du suchst nach dieser Schublade. „Was verflixt ist jetzt diese Sinneserfahrung, wo gehört die hin,

in welche Kategorie?“ Und dann, „Aha, das ist eine Schubkarre, jetzt fällt mir auch der Begriff ein.“

Damit haben wir die Sinneserfahrung in ihrer Schublade verstaut und haben das Erlebnis, sie endlich

benannt zu haben. Das ist noch einmal ein weiteres Erleben, es ist nicht nur das Erleben von der

Sinneserfahrung, sondern das Erleben, sie endlich benannt zu haben. All diese verschiedenen Etappen

im Erleben, all das ist Geist, all das ist Erleben im Geist, was immer sich da manifestiert, ist Geist.

Teilnehmer: Du hast ja gestern von zwei verschiedenen Formen gesprochen, in der Praxis einerseits

das Objekt wie so einen Anker zu benutzen und nur so zu 20 oder 30 Prozent dabei zu bleiben und

wieder zurückzukehren, dass man halt nicht völlig abgleitet und andererseits dass man sich in der

vollkommenen Absorption des Objektes befindet. Ist dieser letzte Fall nicht irgendwie hinderlich bei

dem, was wir zuletzt besprochen haben, diesen gewöhnlichen Geist zu entwickeln?

Ja, das ist richtig. Die vollständige Absorption geht gewöhnlich mit einer Fixierung einher. Es werden

Kräfte im Geist genutzt, um den Geist dabei zu halten und auszurichten, dabei verlieren wir das

panoramische Gewahrsein. Während wir uns aber so konzentrieren, aktivieren wir zugleich Kräfte, die

alles andere, was uns sonst noch wichtig erscheinen könnte, loslassen. Und das ist das Interessante: In

der Ausschließlichkeit der Meditation auf ein Objekt muss alles andere vorübergehend zurücktreten

und hat keine Bedeutung mehr. Es ist wichtig, dass wir diese Fähigkeit haben, dass wir uns nicht

immer mit allem beschäftigen, für alles offen sind, sondern auch einmal ganz ausgerichtet sein können

und anderes auf der Seite bleiben muss. Diese Fähigkeit wird da geübt.

Aber wenn es um das Mahamudra-Gewahrsein geht, das ist in sich ruhig, d.h. es ist nicht von unseren

Anhaftungen aufgewühlt, es geht nicht hin und her und meint nicht, alles im kontrollierenden Blick

haben zu müssen. Es ist offen und gewahr, bleibt auch ruhig bei dem, was zu tun ist und ist zugleich

oder sofort, wenn die Aufgabe erledigt ist, aller anderen Situationen gewahr. Der Weg geht in diese

Öffnung bei gleichzeitiger Fähigkeit, präzise zu sein. Konzentration auf ein Objekt übt diese Präzision

und damit die Fähigkeit, alles andere loszulassen, was nicht wichtig ist. Das ist eine Form des Übens.

Für einen Mahamudra-Praktizierenden gibt es eigentlich keinen Anlass mehr, sich ein Objekt

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auszusuchen und darauf zu meditieren, weil der Geist von sich aus ruhig ist. Wenn z.B. einer unserer

Meister eine Segnung ausführt oder ein Ritual, dann ist er in diesem Moment nur dabei und bei nichts

anderem. Die Meister lassen sich ganz darauf ein, ihr Geist ist nur dabei. Diese Fähigkeit wurde

geschult, z.B. durch eine Jidam-Praxis.

Teilnehmer: Ich habe bei dem Text gemerkt, als du sagtest ‚da stehen bleiben und darüber medi-

tieren’, dass ich auch öfter, wenn ich inspirierende Bücher lese, kontempliere, aber auch immer

wieder meditiere, also so eine Mischung mache. Ich weiß nicht, ob das korrekt und gut ist?

Ja, ich kann es dir nachempfinden. Es ist gut, wenn wir uns bewusst sind, was wir gerade tun. Jede

Kontemplation, die tief durchgeführt wird, führt zu dieser inneren Gelöstheit und dann schließt sich

Meditation an. Es ist der natürliche Prozess. In dieser Meditation brauchen wir nichts weiter zu tun.

Wir bleiben in der natürlichen Gelöstheit und gehen nicht wieder zurück und meinen, wir müssten

jetzt noch weiter lesen. Solange dieser gelöste Zustand anhält, bleiben wir in diesem wachen Gewahr-

sein. Von daher sind es zwei Phasen, die aufeinander folgen, also keine Vermischung, sondern einfach

nur zwei Phasen, die einander bedingen. Wenn du aber z.B. eine Leseratte bist und einen interessanten

Dharmatext liest, dann liest du zuerst, kontemplierst dann, meditierst ein bisschen und schon führt

dich deine Neugier wieder zurück zum Text, und du bist wieder beim Lesen und Kontemplieren. Das

ist ein Vermischen. So wird es nicht dazu kommen, dass du die Meditation wirklich voll entwickeln

wirst. Wir müssen die Meditation lassen wie sie ist und ihr erlauben, sich zu vertiefen, sich auszudeh-

nen, wenn sie sich einstellt. Dann gehen wir nicht wieder aus kleinen Anhaftungen, die auftauchen,

zurück: „Ach! Wie geht es jetzt weiter? Was sagt er jetzt?“ und unterbrechen gleich wieder. Das kann

man dann nicht wirkliche Meditation nennen, das ist dann nur eine kleine Denkpause. Das sind zwar

Momente von Meditation, aber es entsteht ein Gefühl von Vermischung, weil wir nicht genug Raum

geben, dass sich die Meditation entfalten kann.

Manchmal, wenn ich dann in der Meditation bin, fällt mir wieder was ein, was ich gelesen habe. Das

soll ich dann fallen lassen?

Das kommt darauf an, was du für Prioritäten hast. Wenn deine Priorität ist, dein Verständnis durch

Kontemplieren zu durchdringen, dann ist dieser Einfall total willkommen. Mit diesem Einfall setzt du

deine Kontemplation fort und der ist in der Folge von all dem, was du vorher schon kontemplierend

durchdrungen hast, der nächste Schritt. Der gehört mit dazu und die Kontemplation geht weiter. Das

braucht man überhaupt nicht zu unterbrechen, das ist sehr sinnvoll. – Wenn ich z.B. einen Vortrag

vorbereite, so besteht die Vorbereitung genau darin. Ich kontempliere den Sinn dessen, was ich

kommunizieren möchte. Es kommen Gedanken, die ich festhalte, dann ist der Geist für eine Weile

einfach im stillen Verweilen, es denkt gerade nichts. Dann kommt wieder ein Einfall, ich schreibe ihn

auf, schaue wie es weitergeht, dann ist vielleicht wieder einmal nichts, dann warte ich wieder einen

Moment. Die Priorität liegt bei der Kontemplation. – Wenn deine Priorität aber auf das Meditieren

gerichtet ist, dann lässt du diesen Einfall los, ohne ihm Bedeutung beizumessen, und wenn es dir

möglich ist, gehst du zurück in das einfache Verweilen, ohne den Intellekt weiter zu nähren, ohne

seine Regungen für wichtig zu nehmen. Es ist also eine Frage der inneren Einstellung. Was mache ich

jetzt eigentlich gerade? Was ist sinnvoll?

Teilnehmer: Ich habe noch eine Frage zum Begriff Kontemplation. Wie viel Anstrengung brauche ich

dabei oder ist sinnvoll? Du sagst ja man stellt sich Fragen, z.B. „Was hat das mit mir zu tun?“ Ich

habe die Frage: „Mit wie viel Anstrengung gehe ich daran und wie viel lasse ich einfach quasi

kommen?“ Oder ist das egal?

Mach doch mal so, mal so. Schau einfach hin. Es brauchen dir keine Schweißperlen auf der Stirn

auszubrechen. Es ist allerdings so, dass Kontemplation Verständnis bewirken soll. Wir bleiben am

Ball, und es kann als Anstrengung erlebt werden, dass wir am Ball bleiben und das Thema wirklich

ergründen. Es ist sehr spürbar, dass es Anstrengung braucht um immer wieder zum Thema zurückzu-

kehren und damit in die Tiefe zu gehen, wenn sich mehrere Menschen zusammentun und gemeinsam

kontemplieren und sich darüber austauschen. Die Anstrengung ist diese Fähigkeit der Achtsamkeit,

sati auf Pali und drenpa auf Tibetisch, was bedeutet, sich zurückholen, sich immer wieder erinnern.

Genau diese Achtsamkeit spielt auch beim Kontemplieren eine Rolle. Wir kehren immer wieder

zurück und kontemplieren tiefer.

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Wenn ich eine Unterweisung vorbereite, setze ich mir den Titel der Unterweisung in die Mitte des

Blattes und dann: „Was bedeutet das eigentlich?“ Dann kommen mir Ideen, die schreibe ich auf und

kehre wieder zum Titel zurück und frage bis sich das erschöpft hat, bis da nichts mehr kommt. Bis das

Thema abgerundet ist und sich von all dem die innere Logik offenbart hat. Das ist konstruktives

Kontemplieren. Es muss konstruktiv sein, sonst ist es doch wieder nur eine Form abschweifenden

Denkens. Die Fähigkeit, die es konstruktiv macht, ist die Fähigkeit, immer wieder zum entscheidenden

Punkt zurückzukehren

Teilnehmer: Das war eben für mich eine totale Hilfe, das eben einfach auch mal aufzuschreiben, weil

so kannte ich das Kontemplieren überhaupt nicht. Man ist ja dann so in Gedanken und irgendwann

raucht der Kopf. So kommt das automatisch ins Fließen und dann kann man es auch einfach loslassen,

also auch die Gedanken einfach loslassen. Das kann man so mit den einzelnen Textstellen letztendlich

dann auch machen.

Ich möchte noch was ergänzen. Ich habe eben gesagt, ich kehre immer wieder zum zentralen Begriff

zurück. Das stimmt natürlich gar nicht, denn neben dem zentralen Begriff kommen andere Dinge, die

ich aufschreibe. Auch zu denen kann ich zurückkehren und auch dort kann ich den Weg weiterver-

folgen. Also ich kann auch ganze Ketten verfolgen und Unterpunkte entwickeln. Das Kontemplieren

zeigt mir, was alles zusammenhängt und ich kann durch die Kraft der Achtsamkeit dort entlang gehen,

wo ich meine, das muss jetzt aber noch tiefer erkundet werden.

Teilnehmer: Ich bin noch mal über die beiden Wahrheiten gestolpert und zwar wird ja immer

zwischen relativer und absoluter Wahrheit unterschieden. Ist es eigentlich wirklich so oder ist

letztendlich die relative Wahrheit nur eine Untermenge der absoluten Wahrheit?

Das hatte ich glaube ich schon erklärt, genauso ist es. Das ist eigentlich nur eine Wahrheit. Die wahre

Natur der relativen Wahrheit ist die letztendliche, und die letztendliche drückt sich immer in Form

dieser relativen Manifestation aus. Aufgrund seiner Dynamik drückt sich das immer in Erscheinungen

aus und diese Erscheinungen nennen wir die relative Ebene. Ursache und Wirkung, die Tatsache, dass

sich Dinge verändern, Vergänglichkeit, all das kann überhaupt nur stattfinden, weil die Phänomene

keine Substanz haben. Im Grunde genommen bedingen die sich gegenseitig. Erscheinen ist nur mög-

lich aufgrund von Leerheit. Leerheit ist dynamisch und wird immer zu Erscheinungen führen.

Teilnehmer: Magst du noch ein paar Worte sagen, wie es in den nächsten Jahren weitergeht?

Wir haben Nägel mit Köpfen gemacht oder den Pflock eingeschlagen. Es wird hier in Möhra in den

nächsten Jahren immer zu Pfingsten einen Pfingstkurs zum Thema Mahamudra geben, den ich

unterrichten werde. Das geht sicherlich die nächsten fünf Jahre. Wir werden uns einen kleinen Text

des 9. Karmapa anschauen, auf Tibetisch marig münsel auf Deutsch „Das Dunkels mangelnden

Gewahrseins auflösen.“ Ich habe diesen Text ein bisschen bearbeitet und kann sicherlich bis zum

nächsten Mal den ersten Teil auch schon übersetzt haben. Es gibt den Text als deutsche Übersetzung

aus Österreich und es gibt ihn als englische Übersetzung mit Erklärungen von Alexander Berzin,

allerdings aus den siebziger Jahren, wo der Text in Bodhgaya unterrichtet wurde.

Diesen Text des 9. Karmapa werden wir uns über fünf Jahre vornehmen. Es sind nur fünfunddreißig

Seiten, aber über fünf Jahre hinweg werden wir den studieren, weil er uns direkt in die Meditation

führt. Es ist ein Text für Meditierende und ist eine Kurzfassung des „Ozean des Wahren Sinnes“, den

Walli hier die letzten sieben Jahre unterrichtet hat. Es ist ein Kurzfassung, wo auf alle Zitate verzichtet

wird. Es geht nur um die Arbeit mit dem meditativen Erleben und die Vorbereitungen, die wir jetzt

gemacht haben, die kommen uns da sehr zu Gute. So geht es die nächsten Jahre weiter.

ENDE