erkundung und erforschung2-1 - bpb.de · 2 er 30 jahre alt war. er führte seine zweite, nicht so...

15
1 Erkundung und Erforschung Die Einheit von Reisen und Forschen als Alexander von Humboldts Wissenschaftsprogramm Eberhard Knobloch Zusammenfassung Am 5. Juni 1799 verließ der Forscher und Wissenschaftler Alexander von Humboldt La Coruña in Spanien, um nach Cumaná in Venezuela zu segeln. Am 3. August 1804 kehrte er nach Bordeaux in Frankreich zurück. Der Aufsatz beschäftigt sich mit fünf Aspekten dieser berühmten Reise: der Route der amerikanischen Reise, den wissenschaftlichen Zielen: Humboldts Reisen und wissenschaftliche Aktivitäten waren zwei Seiten derselben Medaille; der Methodologie: Humboldt erklärte ausführlich seine positivistische, wissenschaftliche Methodologie in seiner Abhandlung „Über die isothermen Linien und die Wärmeverteilung auf der Erde“ (1817); den Errungenschaften und Ergebnissen: der alte Humboldt beanspruchte nur drei Verdienste: die Pflanzengeographie, die Theorie der isothermen Linien und den Geomagnetismus; den Isothermen als einer Fallstudie: Humboldt sprach umfangreich über Fehler, Grenzen und Vorteile der Methode der Mittelwerte. 1. Einleitung Alexander von Humboldt war sozusagen ein „global player“, der es vorzog, in Paris zu leben, und der 1827 nur widerwillig nach Berlin zurückkehrte, wo er geboren wurde. Als er noch sehr jung war, wollte er reisen. Sein Wunsch blieb nachhaltig bis zum Ende seines Lebens. Seine Pariser Bekannte Elisabeth de Pommard nannte dies seine „maladie centrifugue“, seine „zentrifugale Krankheit“ (Moheit 1993, 246; Moheit 1999, 182). Er begann seine erste berühmte Reise durch die Neue Welt, als

Upload: others

Post on 29-Aug-2019

2 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Page 1: Erkundung und Erforschung2-1 - bpb.de · 2 er 30 Jahre alt war. Er führte seine zweite, nicht so berühmte Reise durch Russland durch, das heißt durch die Alte Welt, als er 60 Jahre

1

Erkundung und Erforschung

Die Einheit von Reisen und Forschen als Alexander von Humboldts

Wissenschaftsprogramm

Eberhard Knobloch

Zusammenfassung

Am 5. Juni 1799 verließ der Forscher und Wissenschaftler Alexander von Humboldt

La Coruña in Spanien, um nach Cumaná in Venezuela zu segeln. Am 3. August

1804 kehrte er nach Bordeaux in Frankreich zurück. Der Aufsatz beschäftigt sich mit

fünf Aspekten dieser berühmten Reise: der Route der amerikanischen Reise, den

wissenschaftlichen Zielen: Humboldts Reisen und wissenschaftliche Aktivitäten

waren zwei Seiten derselben Medaille; der Methodologie: Humboldt erklärte

ausführlich seine positivistische, wissenschaftliche Methodologie in seiner

Abhandlung „Über die isothermen Linien und die Wärmeverteilung auf der Erde“

(1817); den Errungenschaften und Ergebnissen: der alte Humboldt beanspruchte nur

drei Verdienste: die Pflanzengeographie, die Theorie der isothermen Linien und den

Geomagnetismus; den Isothermen als einer Fallstudie: Humboldt sprach

umfangreich über Fehler, Grenzen und Vorteile der Methode der Mittelwerte.

1. Einleitung

Alexander von Humboldt war sozusagen ein „global player“, der es vorzog, in Paris

zu leben, und der 1827 nur widerwillig nach Berlin zurückkehrte, wo er geboren

wurde. Als er noch sehr jung war, wollte er reisen. Sein Wunsch blieb nachhaltig bis

zum Ende seines Lebens. Seine Pariser Bekannte Elisabeth de Pommard nannte

dies seine „maladie centrifugue“, seine „zentrifugale Krankheit“ (Moheit 1993, 246;

Moheit 1999, 182). Er begann seine erste berühmte Reise durch die Neue Welt, als

Page 2: Erkundung und Erforschung2-1 - bpb.de · 2 er 30 Jahre alt war. Er führte seine zweite, nicht so berühmte Reise durch Russland durch, das heißt durch die Alte Welt, als er 60 Jahre

2

er 30 Jahre alt war. Er führte seine zweite, nicht so berühmte Reise durch Russland

durch, das heißt durch die Alte Welt, als er 60 Jahre alt war. Er arbeitete noch an

seinem Werk Kosmos, in dem er seine weltweiten Erfahrungen beschrieb und

interpretierte, als er 90 Jahre alt war.

2. Die Route von Humboldts amerikanischer Reise

Humboldts Reiseroute war das Ergebnis einer fortwährenden Improvisation. Am 5.

Juni 1799 verließ er La Coruña in Spanien, um nach Cumaná in Venezuela zu

segeln, wo er am 16. Juli 1799 ankam. Mehr als fünf Jahre war er von Europa fort.

Abb. 1

Während dieser Zeit reiste er nach Kuba, Kolumbien (das damals Neu-Granada

hieß), Ecuador, Peru, Ecuador (zum zweiten Mal), Mexico (das damals Neu-Spanien

Page 3: Erkundung und Erforschung2-1 - bpb.de · 2 er 30 Jahre alt war. Er führte seine zweite, nicht so berühmte Reise durch Russland durch, das heißt durch die Alte Welt, als er 60 Jahre

3

hieß), Kuba (zum zweiten Mal) und die USA. Am 30. Juni 1804 verließ er Newcastle

in den USA und erreichte Bordeaux in Frankreich am 3. August.

Ursprünglich plante er, zwei oder drei Jahre zu verreisen: von La Coruña zu den

Kanarischen Inseln, nach Havanna, Mexico, Ecuador (Quito), Panama und zurück

nach Spanien (Humboldt 2003b, 176). Weder Venezuela noch Kolumbien oder Peru

waren ursprünglich einbezogen. In Venezuela verließ er das Schiff wegen einer

Epidemie. Erst daraufhin beschloss er, das Gebiet des Orinoco und Casiquiare zu

erforschen (Humboldt 1814-1825 I, 217). Um von Venezuela nach Panama zu

gelangen, wollte er ursprünglich über Land reisen. Seine Reise auf dem Rio

Magdalena, über die Anden war nicht geplant.

Seine völlige Unabhängigkeit von finanzieller Hilfe ermöglichten ihm, seine

Reiseroute entsprechend den jeweiligen Umständen zu wählen. Darin lag ein

entscheidender Unterschied zwischen seiner eigenen Reise und derjenigen seiner

Vorgänger La Condamine, Bouguer, Malaspina, Cook und Bougainville. Während er

die gesamte Reiseroute improvisierte, wurde sein Forschungsprogramm sorgfältig

geplant und verwirklicht. Man nehme eine beliebige Seite aus seinem Journal de

route, das die Messdaten seiner Kreuzfahrt von Spanien nach Venezuela aufzählt.

Page 4: Erkundung und Erforschung2-1 - bpb.de · 2 er 30 Jahre alt war. Er führte seine zweite, nicht so berühmte Reise durch Russland durch, das heißt durch die Alte Welt, als er 60 Jahre

4

Abb. 2

Humboldts Daten belegen, dass er Tag und Nacht maß, was immer gemessen

werden konnte, die Temperatur von Luft und Meer, die Feuchtigkeit der Luft, die

Bläue des Himmels, die magnetische Inklination usf.

3. Wissenschaftliche Ziele

Page 5: Erkundung und Erforschung2-1 - bpb.de · 2 er 30 Jahre alt war. Er führte seine zweite, nicht so berühmte Reise durch Russland durch, das heißt durch die Alte Welt, als er 60 Jahre

5

Humboldt verfolgte ausdrücklich ein doppeltes Ziel: über die besuchten Länder zu

berichten und Fakten zu sammeln, um die physikalische Geographie zu verbessern

(Humboldt 1814-1825 I, 2f.). Für ihn waren Reisen und Forschen zwei Seiten

derselben Medaille. Bereits Kepler (1609, 33) hatte astronomische Forschung mit

einer Reise um die Welt gleich gesetzt:

Qui vero hebetior est, quam ut Astronomicam scientiam capere possit, vel infirmior,

quam ut inoffensa pietate Copernico credat, ei suadeo, ut ab hac peregrinatione

mundana desistens, domum ad agellum suum excolendum se recipiat.

Wer aber zu schwach ist, um die astronomische Wissenschaft verstehen zu können

oder zu kleinmütig, um Copernicus zu glauben, ohne Schaden an seiner Frömmigkeit

zu nehmen, dem rate ich, von dieser Weltreise abzusehen und sich nach Hause

zurückzuziehen, um sein kleines Landgut zu pflegen.

War Kepler Theoretiker, so war Humboldt Empiriker, der Daten, Fakten sammelte.

Was war sein Ziel? Er teilte es seinen Briefpartnern mit. Am 5. Juni 1799 schrieb er

an Karl Ehrenbert von Moll (Jahn und Lange 1973, 682):

Ich werde Pflanzen und Foßilien sammeln, mit vortreflichen Sextanten von Ramsden,

einen Quadrant von Bird, und einen Chronometer von Louis Berthoud werde ich

nüzliche astronomische Beobachtungen machen können; ich werde die Luft

chemisch zerlegen,- dieß alles ist aber nicht Hauptzwek meiner Reise. Auf das

Zusammenwirken der Kräfte, den Einfluß der unbelebten Schöpfung auf die belebte

Thier- und Pflanzenwelt, auf diese Harmonie sollen stäts meine Augen gerichtet

seyn.

Für das Zusammenwirken der Kräfte diente Laplace (1835, 377) als Modell:

Page 6: Erkundung und Erforschung2-1 - bpb.de · 2 er 30 Jahre alt war. Er führte seine zweite, nicht so berühmte Reise durch Russland durch, das heißt durch die Alte Welt, als er 60 Jahre

6

Tout est lié dans la nature, et ses lois générales enchaînent les uns aux autres, les

phénomènes qui semblent les plus disparates.

Alles ist in der Natur untereinander verbunden, und ihre allgemeinen Gesetze

verketten wechselseitig die scheinbar ungleichsten Phänomene miteinander.

Laplace gründete seine Überzeugung auf Newtons universelles Gravitationsgesetz. Kein

Wunder, dass Humboldt seine Relation historique dem französischen Mathematiker

widmete. Er übertrug sogar die Überzeugung von den natürlichen Phänomenen auf die

Naturwissenschaft selbst (Humboldt 1814-1825 I, 3):

Les sciences physiques se tiennent par ces mêmes liens qui unissent tous les phénomènes de la nature. Die Naturwissenschaften halten sich durch dieselben Verbindungen, die alle Phänomene der Natur vereinigen.

Seine Reise nach Amerika war das ideale Experimentierfeld. Das Ziel seiner Reise, seine

Überzeugungen, Methoden und Forschungsprogramme bedingten einander wechselseitig.

Mathematisierung war nicht sein Ziel, er war sich seiner begrenzten mathematischen

Kompetenz wohl bewusst.

An Jean Baptiste Delambre schrieb er am 24. November 1800 (Moheit 1993, 118; Moheit

1999, 82f.):

... les instrumens que j’ai (des sextans de Ramsden et Troughton, un quart de cercle de Bird,

un horizon de Carochez, ... vous savez que je ne suis pas très-savant en mathématiques, et

que l’astronomie n’est pas le but de mon voyage; cependant avec du zèle et de l’application,

et en maniant journellement les mêmes instrumens, on parvient à faire quelque chose et à le

faire moins mal.

„… die Instrumente, die ich habe (Sextanten von Ramsden und Troughton, ein Quadrant von

Bird, ein Horizont von Caroché, ..., Sie wissen, dass ich in der Mathematik nicht sehr gelehrt

bin, und dass die Astronomie nicht der Zweck meiner Reise ist; aber mit Eifer und Fleiß und

Page 7: Erkundung und Erforschung2-1 - bpb.de · 2 er 30 Jahre alt war. Er führte seine zweite, nicht so berühmte Reise durch Russland durch, das heißt durch die Alte Welt, als er 60 Jahre

7

durch tägliche Handhabung derselben Instrumente gelangt man dazu, etwas zu tun und es

weniger schlecht zu tun.“

Am 27. Januar 1804 schrieb Humboldt aus Puebla, Mexico, an Juan José Oteyza (Moheit

1993, 267; Moheit 1999, 202):

Usted sabe que nadie admira más que yo los profundos conocimièntos matemáticos de los

cuales usted está adornado y tendré motivos de elogiarlos públicamente.

Sie wissen, dass niemand mehr als ich die tiefen mathematischen Kenntnisse, deren Sie

sich rühmen können, bewundert und ich habe Gründe, diese öffentlich zu preisen.

Humboldt weinte über seine Dummheit (stupidité), die ihm vom Verständnis der

Laplaceschen Himmelsmechanik fernhielt, obwohl er den Autor wie das Werk bewunderte

(Moheit 1993, 205f.; Moheit 1999, 148).

4. Methodologie

„J’ai la fureur des chiffres exactes“, schrieb Humboldt an Johann Gotthilf Fischer von

Waldheim am 20. März 1837, „ich bin ganz wild auf genaue Zahlen“ (Handschrift: Archiv der

Russischen Akademie der Wissenschaften F. 260, op. 2, Nr. 50, l. 11). Er maß, was immer

er messen konnte. Auf seine Instrumente war er besonders stolz. Bevor er Deutschland

verließ, lernte er, diese zu handhaben.

Page 8: Erkundung und Erforschung2-1 - bpb.de · 2 er 30 Jahre alt war. Er führte seine zweite, nicht so berühmte Reise durch Russland durch, das heißt durch die Alte Welt, als er 60 Jahre

8

Abb, 3

Das berühmte Bild von Friedrich Georg Weitsch aus dem Jahre 1810 zeigt ihn mit einem

Indianer, der einen Sextanten trägt, in der Ebene von Tapi am Fuße des Chimborazo.

Seine Methodologie kann als eine Reduktion der Phänomene auf empirische Gesetze

beschrieben werden, die aus drei Schritten bestand:

Zunächst sammelte er Beobachtungen, das heißt Messdaten.

Auf diese Weise erhielt er numerische Elemente, die er zweitens visualisieren konnte.

So hoffte er, drittens, empirische Daten zu entdecken, wobei er sich streng auf

Tatsachenfeststellungen beschränkte.

Jabbo Oltmanns arbeitete den astronomischen Teil von Humboldts Reisebericht aus. Sie

widmeten dessen deutsche Version Franz Baron von Zach und Carl Friedrich Gauss. Und

sie fügten ein Zitat aus Zachs Schrift „De vera longitudine et latitudine Erfordiae“, „Über die

wahre Länge und Breite Erfurts“, hinzu (Humboldt und Oltmanns 1810, Erster Theil,

Titelseite):

Quantum ad geographiae et astronomiae incrementum intersit, veras locorum positiones

geographicas nosse, neminem latere potest nisi eum qui, quem scientiae illae cum populi et

patriae, emolumento nexum habeant, plane ignorat.

Page 9: Erkundung und Erforschung2-1 - bpb.de · 2 er 30 Jahre alt war. Er führte seine zweite, nicht so berühmte Reise durch Russland durch, das heißt durch die Alte Welt, als er 60 Jahre

9

„Wie sehr es im Interesse des Fortschritts von Geographie und Astronomie ist, die wahren

geographischen Ortspositionen zu kennen, kann nur dem verborgen sein, der nicht die

geringste Ahnung davon hat, welche Verbindung jene Wissenschaften mit dem Wohlergehen

von Volk und Vaterland haben.“

Humboldt wurde von einem unstillbaren Wissensdurst angetrieben, von einer

unbeschreiblichen geistigen Wissbegierde, wie er sie nannte (curiosité). Sie spielte in seinem

Verhalten eine entscheidende Rolle und wurde nicht immer von seinen Gastgebern gut

verstanden.

Ein aufdringlicher Missionar von San Fernando frage ihn nach dem wahren Zweck seiner

Reise, die ihm gefährlich und jedenfalls sehr nutzlos zu sein schien (Humboldt 1814-1825 I,

374). Er zog gutes Fleisch von Kühen vor, für ihn waren die Reisenden nur bedauernswerte

Narren.

5. Errungenschaften und Ergebnisse

Vor einigen Jahren boten Fritscher und Urbani (2000) einen Überblick über Humboldts

bedeutende geologische Leistungen – Pieper (2006) hat vor kurzem ein Heft über Humboldts

Geognosie der Vulkane veröffentlicht – : vulkanische Phänomene (Vulkane, heiße Quellen,

Geysire, Dampf- und Gasausdünstungen), ein vergleichender geologischer und

mineralogischer Überblick über Südamerika, Erdölgeologie, Paläontologie und Mineralogie

von Südamerika.

Der alte, selbstkritische Humboldt beanspruchte freilich nur drei Verdienste. Am 31. Oktober

1854 schrieb er an seinen Verleger Georg von Cotta (Biermann 1971, 95):

Der wichtigsten und eigentümlichsten Arbeiten von mir gibt es nur drei:

die Geographie der Pflanzen und das damit verbundene Naturgemälde der Tropenwelt,

die Theorie der isothermen Linien

und die Beobachtungen über den Geomagnetismus, welche die über den ganzen Planeten

auf meine Veranlassung verbreiteten magnetischen Stationen zur Folge gehabt haben.

Page 10: Erkundung und Erforschung2-1 - bpb.de · 2 er 30 Jahre alt war. Er führte seine zweite, nicht so berühmte Reise durch Russland durch, das heißt durch die Alte Welt, als er 60 Jahre

10

Seine geophysikalischen Ergebnisse waren also in seinen Augen seine bedeutendsten

Errungenschaften. Deshalb habe ich seine Erfindung der Isothermen als ein Beispiel

ausgewählt, um seine wissenschaftlichen Aktivitäten zu veranschaulichen.

Gegenüber demselben Cotta beklagte er sich über das unbefriedigende Schicksal seines

Reiseberichtes in Deutschland am 20. September 1847 (Leitner 1995, 20):

Das beste, was ich in meiner amerikanischen Reise geliefert, hat nie Leben in Deutschland

gehabt, weil ich leider nicht deutsch geschrieben, schlecht übersezt worden bin und weil die

lebendige Naturbeschreibung nicht von rein wissenschaftlichen und langweilig statistischen

Elementen getrennt worden ist.

Was immer Humboldt und Bonpland leisteten, sie leisteten es unter Inkaufnahme vieler

Risiken, wobei sie beständig von Moskitos gequält wurden. Mehrere Male war Humboldt in

Lebensgefahr: Humboldt konnte nicht schwimmen, als das Schiff auf dem Orinoco

umzukippen drohte. Er wurde von wilden Tieren bedroht, einmal auch von einem

Eingeborenen (Humboldt 2000, 249, 258; Humboldt 1814-1825 I, 508f.). Die Moskitos

stellten die normale Situation dar. In dieser Hinsicht erzählte Humboldt eine charakteristische

Geschichte (Humboldt 1814-1825 II, 581f.). 1795 waren plötzlich alle Moskitos für 20

Minuten in Esmeralda am oberen Orinoco verschwunden. Aber anstatt sich über diese

ungewöhnliche Situation zu freuen, befürchteten die Einwohner das Ende der Welt und

waren überzeugt, dass sie sich auf das Schlimmste gefasst machen mussten.

In den Jahren 1805-1807 veröffentlichte Humboldt den ersten Teil seines Reiseberichtes in

Paris, das heißt seinen Essai sur la géographie des plantes. Die deutsche Version erschien

1807 (Humboldt 1807). Im Februar 1803 schrieb er den ersten Entwurf seines Buches in

Guayaquil nieder. Etliches fügte er am Fuße des Chimborazo hinzu. Sein Naturgemälde

umfasste die Hauptergebnisse der von ihm beobachteten Erscheinungen in einem

Page 11: Erkundung und Erforschung2-1 - bpb.de · 2 er 30 Jahre alt war. Er führte seine zweite, nicht so berühmte Reise durch Russland durch, das heißt durch die Alte Welt, als er 60 Jahre

11

allgemeinen Bild. Es sollte nur allgemeine Ansichten, bestimmte faktische Feststellungen

niederlegen, die durch Zahlen ausgedrückt werden konnten: die optische Metapher ist bei

Humboldt allgegenwärtig (Knobloch 2004, 14; Knobloch 2005, 13).

Sein Naturgemälde der tropischen Länder umfasst alle natürlichen Erscheinungen der

Erdoberfläche und der Atmosphäre zwischen dem 10. nördlichen und 10. südlichen

Breitengrad.

Abb. 4

Es war ein Schnitt durch die Anden von West nach Ost. Alle Erscheinungen waren auf die

Idee von Messung und Höhe bezogen: Lufttemperatur, Luftdruck, chemische

Zusammensetzung der Atmosphäre, Höhe des ewigen Schnees, Siedepunkt von Wasser,

geognostische Ansicht der tropischen Welt, Abschwächung der Lichtstrahlen, horizontale

Strahlenbrechung, Bodenbedingungen usf.

6. Fallstudie: Die Isothermen

Page 12: Erkundung und Erforschung2-1 - bpb.de · 2 er 30 Jahre alt war. Er führte seine zweite, nicht so berühmte Reise durch Russland durch, das heißt durch die Alte Welt, als er 60 Jahre

12

Humboldts Theorie der isothermen Linien war auf der sorgfältig angewandten Methode von

Mittelwerten gegründet. Viele Einflüsse steuerten zur gemessenen Temperatur der Luft bei:

Winde, die eine Mischung von Temperaturen aus verschiedenen Breiten verursachten, die

Nähe von Seen oder Meeren, die Neigung, chemische Qualität, Farbe, Strahlung und

Ausdünstung des Bodens und die Richtung der Berghänge.

Die Messungen offenbaren nicht die Anteile der verschiedenen Ursachen: Unter den

möglichen verschiedenen Methoden, Mittelwerte zu berechnen, bevorzugte Humboldt

diejenige, dass man täglich zwei Beobachtungen macht: das Minimum und das Maximum,

von denen angenommen wird, dass sie bei Sonnenaufgang und um 2 Uhr nachmittags

auftreten. Auf diese Weise hat man 730 Wärmebeobachtungen im Laufe eines Jahres zu

kombinieren. Humboldt verwandte das einfache arithmetische Mittel, ohne irgendeine

Hypothese über das Verhalten der Zahlenverhältnisse vorauszusetzen.

Abb. 5

Die Karte überdeckt den größeren Teil der nördlichen Hemisphäre, von Amerika bis China

reichend.

In seinen „De distributione geographica plantarum secundum coeli temperiem et altitudinem

montium, prolegomena“, seinen „Einführenden Bemerkungen über die geographische

Page 13: Erkundung und Erforschung2-1 - bpb.de · 2 er 30 Jahre alt war. Er führte seine zweite, nicht so berühmte Reise durch Russland durch, das heißt durch die Alte Welt, als er 60 Jahre

13

Verteilung der Pflanzen gemäß dem Wetter des Klimas und der Höhe der Berge“

kommentierte er (Humboldt 1817b, 70):

Ita videmus circulos aequalis coloris annui sive, ut novo vocabulo utamur, isothermos, haud

aequatori parallelos esse sed, ut lineas magneticas, angulo variabili parallelos geographicos

transversim intersecare.

So sehen wir, dass die Kreise jährlicher gleicher Wärme oder, um eine neue Bezeichnung zu

verwenden, Isothermen, nicht zum Äquator parallel sind, sondern wie die magnetischen

Linien die geographischen (Breiten-)Parallelen unter wechselndem Winkel schräg schneiden.

Abb. 6

Humboldts zweite kleinere Figur bezog die Höhen der Kordilleren auf die geographischen

Breiten. Die Kurven stellen Längsschnitte durch die Erde oder die Atmosphäre dar und

verbinden Punkte mit derselben jährlichen mittleren Temperatur.

Ist eine spezielle Temperatur gegeben, so nimmt die Breite ab, wenn die Höhe zunimmt.

7. Epilog

Page 14: Erkundung und Erforschung2-1 - bpb.de · 2 er 30 Jahre alt war. Er führte seine zweite, nicht so berühmte Reise durch Russland durch, das heißt durch die Alte Welt, als er 60 Jahre

14

Abb. 7

1829, als Humboldt 60 Jahre alt war, unternahm er seine zweite ausgedehnte Reise, dieses

Mal durch Russland. Man könnte glauben, dass es in seinem Leben ein Moment der

Beschleunigung gab. Während seine Lebenszeit ablief, reiste er neun Monate – statt 5 Jahre

– mehr als 15.000 km durch Russland. Eine freundliche Karikatur von Herbert König aus

dem Jahre 1853 zeigte Humboldt nicht groß und schlank, sondern eher als klein und

untersetzt. Dies war tatsächlich der Fall (Humboldt 2003a, 92):

Page 15: Erkundung und Erforschung2-1 - bpb.de · 2 er 30 Jahre alt war. Er führte seine zweite, nicht so berühmte Reise durch Russland durch, das heißt durch die Alte Welt, als er 60 Jahre

15

Abb. 8

Politicus in dem Salon,

Kosmopolit, mais de bon ton.

Zählt er zu Deutschlands Helden.

Wir seh’n ihn fest am Throne steh’n,

Noch fester auf des Erdballs Höh’n,

als Bürger beider Welten.

Humboldt steht auf der Alten Welt mit seinem linken Bein und auf der Neuen Welt mit seinem

rechten Bein. 150 Jahre später, am 28. April 1997, schrieb die British Library an Alexander

von Humboldt (Knobloch 2004, 15; Knobloch 2005, 15):

Dear Alexander von Humboldt,

Thank you for your inquiry received 26/03/97, details of which are listed below usf.

Es gibt zwei mögliche Schlussfolgerungen, die man aus diesem Brief ziehen kann (er wird

von der Alexander-von-Humboldt-Forschungsstelle der Berlin-Brandenburgischen Akademie

der Wissenschaften aufbewahrt):

entweder ist das Vertrauen in Humboldts Langlebigkeit unbegrenzt oder „sic transit gloria

mundi“, „so vergeht der Ruhm der Welt.“