energetische quartier- und stadtsanierung am beispiel der stadt riedstadt - ein forschungsbericht

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DOI: 10.1002/bapi.201410038 266 © Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin · Bauphysik 36 (2014), Heft 5 Berichte Die Bemühungen und Aktivitäten rund um den Klimaschutz haben ihren Hintergrund längst nicht nur in der Minderung des Aussto- ßes umweltschädlicher Gase. Versorgungssicherheit und -unab- hängigkeit sowie Ressourcenknappheit sind viel stärker in den Fokus der politischen Handlungen wie auch der öffentlichen ge- sellschaftlichen Debatte gerückt. Der Sektor Gebäude nimmt bei den diesbezüglichen Gesetzgebun- gen, Initiativen und der Forschungsförderung eine Schlüsselrolle ein. Insbesondere im Gebäudebestand liegen hohe Potentiale der Energieeinsparung und CO 2 -Minderung. Ihre Erschließung ver- läuft u. a. aus Gründen der Ökonomie, des im Grundgesetz veran- kerten Bestandsschutzes und der demographischen Struktur bis- weilen eher schleppend. Verlässt man die herkömmliche Betrachtungsgrenze „Gebäude“, bieten Ansätze auf der kommunalen und städtischen Ebene neue Handlungsoptionen, die eben auch den Bestand mit einzubezie- hen. Herkömmliche (kaum realisierbare) Sanierungsmaßnahmen an den Gebäuden selbst können so durch energieversorgungs- technische Maßnahmen auf der Ebene von Quartier und Stadtteil ersetzt bzw. ergänzt werden. Die Betrachtungsweise auf der Stadtteil- oder kommunalen Ebene (die zugleich auch soziale Bindeglieder sind) bietet zudem eine gezielte fachliche Bürger- beteiligung an. Der vorliegende Artikel berichtet über ausgewählte Ergebnisse des abgeschlossenen Projektes Klimaschutzkonzept für die Stadt Riedstadt. Das Projekt wurde im Rahmen der Klimaschutzinitiative der Bundesregierung finanziell gefördert. Ziel des Projektes war die Entwicklung eines integrierten Klimaschutzkonzeptes, um nachhaltig Energie einzusparen und CO 2 -Emissionen zu mindern. Die Aufgabenstellung seitens des Auftraggebers fokussierte den Gebäudebestand und die Energieinfrastruktur. Der Sektor Verkehr wurde anderweitig in einem übergeordneten Projekt des Land- kreises Groß-Gerau mit einbezogen. Renovating districts and urban areas to improve energy perfor- mance, a research report based on the town of Riedstadt, Hes- sen. Climate protection activity and efforts are no longer targeted solely at reducing emissions of harmful gases. Policy, implemen- tation and public debate all now focus much more on security of supply, self-sufficiency in energy, and the scarcity of resources. The building sector plays a key role in shaping legislation, initia- tives and support for research in this area. In particular, the exist- ing building stock holds great potential for saving energy and re- ducing CO 2 . Progress made on harnessing this potential has so far been slow, for reasons including economics and the country’s demographic structure. The ‘grandfathering’ set out in the Ger- man constitution also prevents new legislation applying retro- spectively to existing buildings. Yet if we look beyond the traditional limits of addressing individual buildings, district or city-wide approaches provide new opportu- nities for action which encompass the existing housing stock. Thus conventional (hardly practicable) renovation measures on individual buildings can be replaced or enhanced with measures relating to construction and/or energy supply technology at dis- trict level. Since the built fabric also creates social cohesion, this approach (at district level) also provides a means by which build- ing professionals can achieve targeted public involvement. The present article reports selected results from the finished pro- ject ‘Climate protection concept for the town of Riedstadt’. This project received financial support from the federal government’s Climate Initiative. The project aimed to develop an integrated cli- mate protection concept for saving energy sustainably and re- ducing CO 2 emissions. The town’s task list focused on the building stock and energy infrastructure. The transport sector has also been the subject of an overarching project managed by the Groß- Gerau district. 1 Die Rolle der Kommunen bei Energieeffizienz und Klimaschutz Es steht außer Diskussion, dass der Sektor Bauen einen zentralen Bestandsteil nationaler Strategien rund um Ener- gie- und Umwelteffizienz darstellt. Während der Neubau eine untergeordnete Rolle spielt (mit hier 3 % Neubaurate pro Jahr), steht der Baubestand für ca. 90 % des gebäude- bezogenen CO 2-Äqu -Ausstoßes. Gleichzeitig verläuft der Sanierungsmarkt eher schleppend. Bestands- und Denk- malschutz, Rentabilitätsfragen, demographische Struktur etc. sind nur einige - nachvollziehbare - Gründe oder Hemmnisse gegenüber baulichen wie apparativen und energietechnischen Sanierungsmaßnahmen im Gebäude- bestand, insb. im privaten. Das Fokussieren der energeti- schen Bestandssanierung rein aus energie- und umweltpo- litischen Gründen greift trotzdem zu kurz. Planen und Bauen im Bestand muss auf gesellschaftliche Veränderun- gen in einer alternden Gesellschaft, auf schrumpfende Be- völkerung ländlicher Gebiete und wachsende Städte re- agieren. So ist es notwendig, nach anderen Systemgrenzen und Handlungsfeldern zu suchen. Ein über die Bauwerks- grenzen hinaus reichender Ansatz ist gefragt, der sich regi- onaler Ressourcen und Gegebenheiten bedient. Verlässt man die herkömmliche Betrachtungsgrenze „Gebäude“, bieten Ansätze auf der kommunalen und städtischen Ebene neue Handlungsoptionen wie auch größere Handlungsfel- der. Die Kommune als strukturelles Bindeglied aller Sekto- Energetische Quartier- und Stadtsanierung am Beispiel der Stadt Riedstadt – Ein Forschungsbericht Lamia Messari-Becker

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Page 1: Energetische Quartier- und Stadtsanierung am Beispiel der Stadt Riedstadt - Ein Forschungsbericht

DOI: 10.1002/bapi.201410038

266 © Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin · Bauphysik 36 (2014), Heft 5

Berichte

Die Bemühungen und Aktivitäten rund um den Klimaschutz haben ihren Hintergrund längst nicht nur in der Minderung des Aussto-ßes umweltschädlicher Gase. Versorgungssicherheit und -unab-hängigkeit sowie Ressourcenknappheit sind viel stärker in den Fokus der politischen Handlungen wie auch der öffentlichen ge-sellschaftlichen Debatte gerückt. Der Sektor Gebäude nimmt bei den diesbezüglichen Gesetzgebun-gen, Initiativen und der Forschungsförderung eine Schlüsselrolle ein. Insbesondere im Gebäudebestand liegen hohe Poten tiale der Energieeinsparung und CO2-Minderung. Ihre Erschließung ver-läuft u. a. aus Gründen der Ökonomie, des im Grundgesetz veran-kerten Bestandsschutzes und der demographischen Struktur bis-weilen eher schleppend.Verlässt man die herkömmliche Betrachtungsgrenze „Gebäude“, bieten Ansätze auf der kommunalen und städtischen Ebene neue Handlungsoptionen, die eben auch den Bestand mit einzubezie-hen. Herkömmliche (kaum realisierbare) Sanierungsmaßnahmen an den Gebäuden selbst können so durch energieversorgungs-technische Maßnahmen auf der Ebene von Quartier und Stadtteil ersetzt bzw. ergänzt werden. Die Betrachtungsweise auf der Stadtteil- oder kommunalen Ebene (die zugleich auch soziale Bindeglieder sind) bietet zudem eine gezielte fachliche Bürger-beteiligung an.Der vorliegende Artikel berichtet über ausgewählte Ergebnisse des abgeschlossenen Projektes Klimaschutzkonzept für die Stadt Riedstadt. Das Projekt wurde im Rahmen der Klimaschutzinitiative der Bundesregierung finanziell gefördert. Ziel des Projektes war die Entwicklung eines integrierten Klimaschutzkonzeptes, um nachhaltig Energie einzusparen und CO2-Emissionen zu mindern. Die Aufgabenstellung seitens des Auftraggebers fokussierte den Gebäudebestand und die Energieinfrastruktur. Der Sektor Verkehr wurde anderweitig in einem übergeordneten Projekt des Land-kreises Groß-Gerau mit einbezogen.

Renovating districts and urban areas to improve energy perfor-mance, a research report based on the town of Riedstadt, Hes-sen. Climate protection activity and efforts are no longer targeted solely at reducing emissions of harmful gases. Policy, implemen-tation and public debate all now focus much more on security of supply, self-sufficiency in energy, and the scarcity of resources.The building sector plays a key role in shaping legislation, initia-tives and support for research in this area. In particular, the exist-ing building stock holds great potential for saving energy and re-ducing CO2. Progress made on harnessing this potential has so far been slow, for reasons including economics and the country’s demographic structure. The ‘grandfathering’ set out in the Ger-man constitution also prevents new legislation applying retro-spectively to existing buildings.

Yet if we look beyond the traditional limits of addressing individual buildings, district or city-wide approaches provide new opportu-nities for action which encompass the existing housing stock. Thus conventional (hardly practicable) renovation measures on individual buildings can be replaced or enhanced with measures relating to construction and/or energy supply technology at dis-trict level. Since the built fabric also creates social cohesion, this approach (at district level) also provides a means by which build-ing professionals can achieve targeted public involvement. The present article reports selected results from the finished pro-ject ‘Climate protection concept for the town of Riedstadt’. This project received financial support from the federal government’s Climate Initiative. The project aimed to develop an integrated cli-mate protection concept for saving energy sustainably and re-ducing CO2 emissions. The town’s task list focused on the building stock and energy infrastructure. The transport sector has also been the subject of an overarching project managed by the Groß-Gerau district.

1 Die Rolle der Kommunen bei Energieeffizienz und Klimaschutz

Es steht außer Diskussion, dass der Sektor Bauen einen zentralen Bestandsteil nationaler Strategien rund um Ener-gie- und Umwelteffizienz darstellt. Während der Neubau eine untergeordnete Rolle spielt (mit hier 3 % Neubaurate pro Jahr), steht der Baubestand für ca. 90 % des gebäude-bezogenen CO2-Äqu-Ausstoßes. Gleichzeitig verläuft der Sanierungsmarkt eher schleppend. Bestands- und Denk-malschutz, Rentabilitätsfragen, demographische Struktur etc. sind nur einige - nachvollziehbare - Gründe oder Hemmnisse gegenüber baulichen wie apparativen und energietechnischen Sanierungsmaßnahmen im Gebäude-bestand, insb. im privaten. Das Fokussieren der energeti-schen Bestands sanierung rein aus energie- und umweltpo-litischen Gründen greift trotzdem zu kurz. Planen und Bauen im Bestand muss auf gesellschaftliche Veränderun-gen in einer alternden Gesellschaft, auf schrumpfende Be-völkerung ländlicher Gebiete und wachsende Städte re-agieren. So ist es notwendig, nach anderen Systemgrenzen und Handlungsfeldern zu suchen. Ein über die Bauwerks-grenzen hinaus reichender Ansatz ist gefragt, der sich regi-onaler Ressourcen und Gegebenheiten bedient. Verlässt man die herkömmliche Betrachtungsgrenze „Gebäude“, bieten Ansätze auf der kommunalen und städtischen Ebene neue Handlungsoptionen wie auch größere Handlungsfel-der. Die Kommune als strukturelles Bindeglied aller Sekto-

Energetische Quartier- und Stadtsanierung am Beispiel der Stadt Riedstadt – Ein Forschungsbericht Lamia Messari-Becker

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ren kann gezielt Strategien bündeln, um bestimmte Nach-haltigkeitsziele zu erreichen.

Durch die Entwicklung und die Umsetzung von sog. kommunalen Klimaschutzkonzepten können (an den Ge-bäuden selbst) kaum realisierbare Maßnahmen durch sol-che auf der Ebene von Quartier und Stadtteil ersetzt oder ergänzt werden. Gleichzeitig bieten Kommunen in ihrer Eigenschaft als soziales Bindeglied eine geeignete Plattform der Bürgerbeteiligung an. Eine gezielte fachliche Bürgerbe-teiligung baut Hemmnisse ab und aktiviert vorhandene Potentiale. Zudem sorgt sie bei erfolgreicher Beteiligung für eine langfristig soziale Akzeptanz und damit für die Nachhaltigkeit kommunaler Konzepte. Teil der nationalen Strategie für eine nachhaltige Stadtentwicklung ist die Kli-maschutzinitiative des Bundes [1]. Ihr Vorläufer auf euro-päischer Ebene ist u. a. die Aalborg-Charta [2] (Charta der Europäischen Städte und Gemeinden auf dem Weg zur Zukunftsbeständigkeit - Charter of European Cities & Towns Towards Sustainability), die am 27. Mai 1994 auf der Europäischen Konferenz über zukunftsbeständige Städte und Gemeinden in der dänischen Stadt Aalborg ver-abschiedet wurde. Teil III der Charta betrifft die Lokale-Agenda 21 und adressiert kommunale Handlungspro-gramme für die Zukunftsbeständigkeit. Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass die Zukunftsbeständigkeit einer Kommune keinesfalls nur in ihrer Energieeffi zienz oder ihrem Beitrag zum Klimaschutz liegt, sondern in ihrer Wettbewerbsfähigkeit, ihrer sozialen Stabilität und der ho-hen Lebensqualität für ihre Bürger. Bauen, Energie und Umwelt gehören dazu und bestimmen einige Rahmenbe-dingungen. Baukosten, Wohnangebot, Infrastruktur, Mobi-lität, Außenraum- und Umweltqualität, Lärmsituation, so-ziale Mischstruktur sind nur einige Aspekte. Nachfolgend wird der Begriff der umweltschädlichen Gase, wie üblich, durch CO2-Äquivalente (CO2-Äqu.) widergegeben.

2 Das Klimaschutzkonzept für die Stadt Riedstadt

Die Stadt Riedstadt liegt ca. 40 km südlich von Frankfurt/Main (Tabelle 1). Für das Mitglied des Klima-Bündnisses in Hessen wurde ein Klimaschutzkonzept erarbeitet. Das Projekt [3] wurde vom Bundesministerium für Umwelt,

Naturschutz und Reaktorsicherheit gefördert. Ziel des Pro-jektes ist eine langfristige Energieeinsparung und CO2-Minderung, wobei die Schwerpunkte in den Bereichen Gebäudebestand und Energieinfrastruktur gesetzt wurden. Der Sektor Verkehr wurde im Rahmen eines Projektes des Landkreises anderweitig mitbetrachtet. Die vorliegenden Ergebnisse entstammen dem Abschlussbericht [3]. In [17] wurden bereits ausgewählte Aspekte veröffentlicht. In den folgenden Abschnitten (3 und 4) werden (zugunsten des Verzichtes auf Nachschlagen und zum besseren Verständ-nis) Erläuterungen zu Ansatz und Methodik wiederholt und Bild 1 nochmals verwendet.

Riedstadt hat fünf Stadtteile, die geographisch nicht zusammenhängen (Crumstadt, Erfelden, Goddelau, Lee-heim und Wolfskehlen), mit unterschiedlichen baulichen und infrastrukturellen Strukturen.

3 Ansatz und Methodik3.1 Begriffe

Als Sektoren werden Bereiche beschrieben, die Energie ver-brauchen (Verbraucher) bzw. Emissionen verursachen (Verursacher), z. B. Gebäude, Gewerbe, Handel und Dienst-leistung (GHD), Industrie, Verkehr. Mit den jeweiligen Sek-toren lassen sich auch Tätigkeiten verbinden, z. B. Wohnen, Arbeiten und Mobilität. Sektoren und Tätigkeiten rufen Energieformen (z. B. Wärme, Strom, Treibstoffe) in unter-schiedlichen Intensitäten ab. Der Sektor Haushalte (Tätig-keit: Wohnen) ruft die Energieform Wärme verstärkt ab, während im Sektor Verkehr (Tätigkeit: Mobilität) überwie-gend die Energieform Treibstoffe abgerufen wird.

Die Betrachtungsgrenze im Sektor Gebäudebestand wird von Gebäude über Gebäudecluster zu Stadträumen gezogen. Zur Analyse des Gebäudebestands werden sog. energetische und raumtypische Gebäudetypologien heran-gezogen. Gebäudetypologien sind eine Art Katalogisierung von Gebäudeeigenschaften, Bauzeit, Nutzung etc. im Zu-sammenhang mit energetischen Daten.

Die fünf Stadtteile wurden entsprechend ihrem Ener-gieverbrauch und CO2-Ausstoß sowie ihren unterschiedli-chen Potentialen zur regenerativen Energieerzeugung und zur CO2-Bindung einbezogen. Dabei werden Stadtteile oder -quartiere zu sog. Energiehomogenen zusammenge-fasst. Diese weisen ein ähnliches Wärme‐ und Stromver-brauchsverhalten auf und haben gleichzeitig Fähigkeiten (geographische Begabungen), erneuerbare Energien zu erzeugen (Beispiele: Dachflächen können bei Eignung zur solaren Stromerzeugung beitragen, während Waldgebiete CO2-Ausstoß wieder binden und evtl. Biomasse liefern). Mithilfe sog. Geo-Informationssysteme (GIS) werden diese Eigenschaften erfasst.

Durch eine projektbegleitende und fachliche Bürger-beteiligung werden Riedstädter in Arbeitsgruppen fachlich miteinbezogen. Relevante Nutzerfragen und energietechni-sche Positionen werden in einer Fragebogen-Aktion erfragt und erhoben.

Im ersten Schritt wurde eine Bestandsaufnahme zu Energieverbrauch, CO2-Ausstoß, Verteilung etc. durchge-führt. Dabei wurde u. a. auf Daten der Stadt Riedstadt, das Geo-Portal [4], hessische Werte und Erhebungen zurückge-griffen sowie durch eine Befragungsaktion in den privaten Haushalten der Ist-Zustand im Gebäudebestand festgehal-

Riedstadt im Überblick Basisdaten (Stand 2010)

ha %

Fläche gesamt2 7.376 100

Anteil Siedlungsfläche2 376 5

Anteil Landwirtschaftsfläche2 4.796 66

Anteil Waldfläche2 565 11

Anteil öffentliche Einrichtungen u. Gewerbe-/Industriefläche2

155 2

Anteil Verkehrsfläche1 393 5

Einwohnerzahl gesamt 20101/Prognose 20502 21.478/22.736

Einwohnerdichte (2010)2 ca. 290 EW/km2

1 Hessische Gemeindestatistik 2011; 2 prognostiziert)

Tabelle 1. Kenndaten der Stadt RiedstadtTable 1. Base data of the city of Riedstadt

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ten und der weiteren Analyse zugänglich gemacht. An-schließend erfolgte die Ermittlung der Energieverbrauchs-werte, die Nutzung erneuerbarer Energien und des CO2-Ausstoßes. In einem weiteren Schritt wurden diese Daten der jeweiligen Riedstädter Stadt- und Landschaftsräume mithilfe o. g. GIS-fähigen Daten ihren Potenzialen zur Er-zeugung regenerativer Energien gegenübergestellt.

Zwei grundsätzliche Szenarien (Grund- und Exzel-lenzszenario) wurden untersucht. Die zukünftige Entwick-lung des Energiebedarfs und dessen regenerative Deckung werden prognostiziert gegenüber gestellt sowie ihre Klima-schutzwirkung ermittelt. Abschließend werden Handlungs-optionen empfohlen und ihre Auswirkungen hinsichtlich Kosten und Wertschöpfung abgeschätzt.

3.2 Energetische Homogenbereiche, Stadt- und Landschaftsräume

Die Stadt Riedstadt wurde in die o. g. Energiehomogene eingeteilt. Es handelt sich um prototypische Siedlungs- und Freiräume, die vergleichbar hinsichtlich ihres Energiebe-darfs, aber auch ihrer Begabung sind, selbst Energie zu erzeugen. Diese Vorgehensweise geht auf die Studie „Leit-bilder und Potenziale eines solaren Städtebaus“ [5] (vgl. [6], [7], [8]) zurück. Die Unterteilung folgt städtebaulichen Leitbildern, die für eine bestimmte Bauepoche prägend waren und damit den Baustandard definierten. Städtebau-liche Räume unterliegen den zur Zeit ihrer Entstehung geltenden Baubestimmungen und Wärmeschutzverord-nungen, die wiederum u. a. Aussagen über ihren energeti-schen Zustand zulassen (vgl. [9])

Die Homogenbereiche werden mit hinterlegten Da-ten visualisiert (Bild 1). Anschließend werden der Ist-

Stand und mögliche Zukunftsszenarien unter Nutzung GIS-fähiger Daten mithilfe des Space-Time-Energy-Model [10] aufgestellt. Stadtraumtypen werden Sektoren zuge-ordnet: Dem Sektor Haushalte werden die Stadtraumty-pen I bis IX, den Sektoren GHD und Industrie (GHDI) die Stadtraumtypen X und XM, dem Sektor Mobilität die Verkehrsflächen (Straßen, Parkflächen, Schienen) zuge-ordnet.

Als Teil der Siedlungsflächen gehen für den Sektor Gebäude bzw. die Tätigkeit Wohnen Daten aus den nach-folgend dargestellten Gebäudetypologien der privaten Haushalte ein.

3.3 Typologien und Cluster als Teil von Energiehomogenen

Im Projekt wurden sog. Gebäudetypologien der Ried-städter Stadtteile ([11], [12] vgl. [13]) genutzt. Gebäude-typologien sind wie oben erläutert eine Art Katalogisie-rung von Gebäudeeigenschaften, Bauzeit, Nutzung (vgl. [14]). Aussagen über energetische Qualitäten der be-trachteten Gebäude, inkl. der einzelnen Bauteile, sind damit möglich. Technische und/oder wirtschaftliche Einsparpotenziale sind ermittelbar. Gebäudetypologien bilden daher eine wichtige Grundlage für Bilanzerstel-lung, Szenarien und daraus abgeleitete Einsparpotenzi-ale im Gebäudesektor. Sie lassen sich zu Gebäudeclus-tern zusammenfassen. Auch die Einordnung in ein Ge-samtkonzept, hier Klimaschutzkonzept, wird durch die Kenntnisse um die Cluster möglich. Bild 2 zeigt die Gebäudetypologie des Stadtteils Crumstadt. Ergänzt um die Eigenschaften der Frei- und Landschaftsräume lässt sie sich zur Energiehomogene vervollständigen (Bild 3).

Bild 1. Riedstädter Energiehomo-gene vgl. [17]: Ziffer zwecks Verfei-nerung, Methode nach [8]Fig. 1. Energetically homogeneous areas Riedstadt, comp. [17], digits for detailing, method acc. [8]

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Bild 2. Gebäudetypologie des Riedstädter Stadtteils Crum-stadt [11]Fig. 2. Building topology of the districts of Riedstadt Crum-stadt [11]

4 Ausgewählte Ergebnisse4.1 Stand und Ziele – Riedstädter Energie- und Klimabilanz

Im Modellraum Riedstadt vertritt „Wohnen“ 26 % des ge-samten Endenergieverbrauchs, gefolgt von 36 % durch Ar-beiten und 38 % durch Mobilität. Die Energieform Wärme stellt mit 47 % die am stärksten abgerufene Energieform dar, gefolgt von Treibstoffen mit 36 % und Strom mit 17 % (Bild 4). Zu 90 % entstammen die Energieträger in Ried-

stadt fossilen, zu 10 % erneuerbaren Energiequellen. Letz-tere werden nur zu 3 % in Riedstadt erzeugt. 7 % werden importiert.

Als Mitglied im Klima-Bündnis (KB) strebt die Stadt Riedstadt langfristig eine Verminderung ihrer Treibhausga-semissionen auf ein Niveau von 2,5 t CO2-Äqu pro Einwoh-ner und Jahr (kurz Ew · a) an. Alle 5 Jahre wäre der CO2-Ausstoß um 10 % zu reduzieren und bis zum Jahr 2030, bezogen auf 1990 zu halbieren.

Zur Riedstädter KlimabilanzBei der Ermittlung der CO2-Emissionen wird grundsätz-lich zwischen zwei wissenschaftlichen Methoden unter-schieden: Life-Cycle-Assessment (LCA)-Methode und die Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC)-Me-thode. Die LCA-Methode erfasst den gesamten Lebenszy-klus des Bilanzierungsgegenstands „Energie“, d. h. auch Energie, die in den vorgelagerten Prozessen, z. B. Rohstoff-abbau, Transport etc. sowie Produktion der Anlagen zur Energieerzeugung im Betrieb und der Nutzung bis zum Abbruch verbraucht wird. Das Ergebnis sind ermittelte CO2-Äquivalente unter Erfassung aller Vorketten und aller klimaschädlichen Gase. Das Ergebnis beschreibt folgerich-tig den Anteil Riedstadts an der globalen Erderwärmung. Die IPCC-Methode berücksichtigt dagegen nur direkte CO2-Emissionen, erfasst den reinen CO2-Ausstoß ohne an-dere klimaschädliche Gase und ohne Vorketten. Hier ist die Bilanz auf Riedstadt beschränkt, die unmittelbar mit den Handlungsoptionen der Stadt zusammenhängt. Die Erklärung des Klima-Bündnisses nutzt verschiedene Be-griffe: Treibhausgase, CO2-Ausstoß und CO2-Äquivalente. Für die Beschlüsse der Stadt können beide Methoden her-angezogen werden. herangezogen werden.

Die Ermittlung der CO2-Emissionen basiert auf End-energiewerte und erfolgt innerhalb Riedstadt als System-grenze (Ermittlung nach [15]). Der Energieverbrauch in-nerhalb Riedstadt wurde ermittelt und über energieträger-

Bild 3. Energiehomogene von Crumstadt inkl. Gebäudety-pologie [3], [11], Legende mit zusätzlichen Ziffern zwecks Verfeinerung, Methode nach [8]Fig. 3. Energetically homoge-neous of Crumstadt incl. ty-pology, [3], [11], digits for de-tailing, method acc. [8]

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spezifische Emissionsfaktoren in CO2-Emissionen umgerechnet. Nach der LCA-Methode wurden in Ried-stadt in 2010 ca. 8 t CO2-Äqu/(Ew · a) ausgestoßen. Der Bundesdurchschnitt liegt bei 9,4 t CO2-Äqu/(Ew · a). Für Riedstadt bedeuten die Klimabündnis-Ziele eine Halbierung auf 4,35 t CO2-Äqu/(Ew · a) (bezogen auf Werte im Jahr 1990 nach LCA-Methode: 8,7 t CO2-Äqu/(Ew · a)). Das langfris-tige Ziel (2,5 t CO2-Äqu/(Ew · a)) bedeutet eine Reduzierung um ca. 70 %.

4.2 Szenarien – Energiebedarf und Energieerzeugung

Aufgrund des langen Bilanzierungszeitraumes und unab-sehbarer Entwicklungen (z. B. Energiewende) können die Ergebnisse zukünftig vom heutigen Stand stark abweichen. Sie müssen folgerichtig einer Fortschreibung unterliegen und dienen heute zur Orientierung. Die o. g. Grund- und Exzellenzszenarios unterscheiden sich u. a. in der Intensi-tät der Maßnahmen in Bezug auf die Sanierungsrate im Gebäudebestand und den Ausbau erneuerbarer Energien. Während im Grundszenario eine Sanierungsrate im Ge-bäudebestand von nur 1 % zugrunde gelegt wird, beträgt diese im Exzellenzszenario 3 %. Die Ausschöpfung des Erschließungspotentials erneuerbarer Energien wird im Grundszenario mit 25 %, maximal mit 50 % angesetzt. Das Exzellenzszenario geht teilweise von einer 100 %-tigen Ausschöpfung aus. Annahmen zu technologischen Ent-wicklungen, zum Nutzerverhalten etc. basieren auf der Studie der Prognos AG und des Öko-Instituts. In den Bil-dern 5 und 6 wird zwischen Bedarf und regenerativer Er-zeugung (Wärme und Strom) verglichen.

Durch Einsparungs- und Sanierungsmaßnahmen kann der Wärmebedarf (Raumwärme und Warmwasser) gesenkt werden, hier von 253 auf 172 GWh/a. Für den Strombedarf wird dagegen eine Zunahme prognostiziert, die insbesondere auf die zunehmende Nutzung elektri-scher Geräte (z. B. für Telekommunikation) und des fort-schreitenden Lebensstandards zurückzuführen ist. Wind-anlagen werden nur im Exzellenzszenario betrachtet. Po-tentiale der Wasserkraft sind in Riedstadt nicht vorhanden. Grundsätzlich werden auch Möglichkeiten der erneuerba-ren Energieerzeugung außerhalb Riedstadt betrachtet. Dazu zählen u. a. PV-Anlagen entlang von Bahnstrecken oder Windanlagen außerhalb der Gemarkungsgrenze Riedstadts.

Es wird deutlich, dass im Grundszenario keine 100 %-ige Abdeckung des Energiebedarfs aus erneuerba-ren Energiequellen sowohl im Wärme- als auch im Strom-bereich möglich ist. Im Exzellenzszenario ist dies, betrach-tet man Wärme und Strom zusammen, theoretisch mög-lich. Hier werden allerdings eine 3 %-tige Sanierungsrate sowie eine langfristige und ambitionierte Erschließung der Potentiale für Wärme und Strom vorausgesetzt (Biomasse, Wind, Sonnenkollektoren, PV-Anlagen, oberflächennahe Geothermie und Umgebungswärme).

Bei den Szenarien wird dem leitenden Ansatz der Stadtraumtypen und Energiehomogene Rechnung getra-gen. Im Wärmebereich werden z. B. für die Sonnenkollek-toren nur geeigneten Dachflächen der unterschiedlichen Gebäudetypen in den Stadtteilen unter Beachtung dorti-ger Möglichkeiten, Ausrichtung, Lage, Wirkungsfaktoren etc. angesetzt. Potentiale der Abwasserwärmenutzung

Bild 4. Startbilanz und Vertei-lung der Energieversorgung in Riedstadt [3], vgl. [17], April 2013Fig. 4. Status quo of energy supply in Riedstadt [3], comp. [17], April 2013

Bild 5. Wärmebedarf und erneuerbare Wärmeerzeugung im Grund- (re.) und Exzellenzszenario (li.), [3]Fig. 5. Heat demand and renewable heat gain, base and excellence szenario, [3]

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Der CO2-Äqu-Ausstoß kann im Grundszenario bis 2030 um ca. 19 % auf ca. 6,5 t CO2-Äqu/(Ew · a) und bis zum 2050 um 37 % auf 4,97 t CO2-Äqu/(Ew · a) reduziert werden. Im Vergleich dazu, im Exzellenzszenario: Reduzierung um 44 % bzw. 62 %.

Für die Klimabündnis-Ziele in Riedstadt ist der CO2-

Äqu-Ausstoß bis zum Jahr 2030 auf 4,35 bzw. langfristig bis zum Jahr 2050 auf 3,4 t CO2-Äqu/(Ew · a) zu reduzieren. Die Analysen zeigen, dass ohne höhere Anstrengungen als diese im Grundszenario, zwar CO2-Minderung zu ver-zeichnen sind, die Klima-Bündnis-Ziele aber verfehlt wer-den. Im Exzellenzszenario werden die Ziele für 2030 und 2050 erreicht. Eine hohe Sanierungsrate (3 %) und hohe Ausschöpfung des Potentials zur erneuerbaren Energieer-zeugung werden aber vorausgesetzt.

werden nur in verdichteten Gebieten angesetzt, um die technische und die wirtschaftliche Machbarkeit zu ge-währleisten (Mindestmengen, Hygiene etc.). Bilder 7 und 8 stellen den Endenergiebedarf und das Potential er-neuerbarer Energieerzeugung für den Wärmebereich dar. Stadtraumtypen sind entsprechend ihrem Beitrag farblich unterschiedlich.

4.3 Prognosen zur Klimaschutzwirkung

Nachfolgend sind die CO2-Emissionen der einzelnen Sze-narien zusammengefasst (Bild 9) und den Zielen in Ried-stadt gegenüber gestellt. Bei der Bilanzierung wird wie er-wähnt die LCA-Methode angewandt, inkl. Erfassung der Äquivalente der Treibhausgase und vorgelagerter Ketten.

Bild 6. Strombedarf und erneuerbare Stromerzeugung, Grund- (re.) und Exzellenzszenario (li.), [3]Fig. 6. Electricity demand and renewable electricity gain, base and excellence szenario, [3]

Bild 7. Prognose Riedstäd-ter Wärmebedarf 2050, [3]Fig. 7. Forecast of heat de-mand in Riedstadt in 2050, [3]

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nen und Modelle sich Riedstädter vorstellen können. Mit Unterstützung der Arbeitsgruppen-Mitglieder und der Stadt-verwaltung, die die Erstellung des Klimaschutzkonzepts be-gleitet haben, wurde eine groß angelegte Fragebogenaktion in den Riedstädter privaten Haushalten durchgeführt. Die Erkenntnisse fanden in der Erstellung der Szenarien Be-rücksichtigung. Der Fragebogen zur energetischen Erfas-sung des Riedstädter Gebäudebestands mit 16 Fragen wurde an 8369 Riedstädter Haushalte verteilt. Unter anderm wur-den die Eckdaten der Gebäude (Baujahr, Haustyp, Keller/Dach, Anzahl Vollgeschosse und Wohnungen) abgefragt, um eine Einordnung des Gebäudes in eine energetische Klasse gemäß Baujahr, Nutzung, Form und beheiztem Volu-men etc. vornehmen zu können. Informationen über Sanie-rungsaktivitäten, Heizungsarten, Energieträger, Wärme- und Stromverbrauch, PV- und solarthermische Anlagen, ihre

5 Exkurs: Erkenntnisse aus der Fragebogenaktion

Der Bereich Wohnen verantwortet ca. 26 % des Endenergie-verbrauchs in Riedstadt, Arbeiten ca. 38 %. Beide hängen direkt mit dem Gebäudesektor zusammen, wobei der Be-reich Wohnen ausschließlich auf private Haushalte geht, während der Bereich Arbeiten auf Gewerbe, Dienstleistun-gen, Handel inkl. Zweckbauten und öffentliche Liegenschaf-ten zurückgeht. Eine wichtige Grundlage der Erschließung der Potentiale zur Energieeinsparung und CO2-Minderung in den Haushalten bilden auf der einen Seite die Kenntnis um die Energieanteile, die energetische Qualität, der Anteil der jeweiligen Gebäudetypen, die bereits erfolgten und an-stehende Sanierungsmaßnahmen, mögliche Hemmnisse und Prioritäten der Bewohner. Auf der anderen Seite war ebenfalls von Bedeutung zu erfahren, welche Kooperatio-

Bild 8. Prognose Ried-städter Erneuerbarer Wärmeertrag 2050, [3] vgl. [18]/Stand 2012Fig. 8. Forecast of renewa-ble heat gain in Riedstadt in 2050, [3] comp. [18]/state 2012

Bild 9. Klimaschutzwirkung in den Sektoren Strom, Wärme und Treibstoffe, Grund- und Exzellenzszenario, [3] aktualisiert im April 2013Fig. 9. Basic scenario and exellence scenario of climate protection from sectors electricity, heat supply, fuel acc. [3], updated April 2013

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Diese Gebäude wurden gebaut, als es noch keine Wärme-schutz- und Energieeinsparverordnung gab und weisen daher unsaniert einen hohen Energiebedarf auf, der über 250 kWh/m2a liegen kann.

Bild 12 zeigt die Verteilung der Energieträger in den Haushalten von Riedstadt. Zu 53 % wird Gas, zu 32 % wird Öl genutzt. Die Versorgung auf der Basis einer Wärme-pumpe stellt weniger als 3 % dar. In Riedstadt werden in der Wärmeversorgung von Haushalten kaum regenerative Energien genutzt: Fernwärme zu 2 %, Wärmepumpe zu ca. 3 %, Holzhackschnitzel zu weniger als1 % (Bild 12). Gleichzeitig heizen in Riedstadt immer noch ca. 7 % der Haushalte mit Strom. Das erscheint zwar gering, der Anteil fällt jedoch aufgrund der primärenergetischen Verluste von Strom (Faktor 2 bis 3) stark ins Gewicht. Diese Stromhei-zungen sollten abgebaut werden, solange sie nicht erneuer-bar versorgt werden.

Die Auswertung ergab weiter, dass gesamt betrachtet in Riedstadt die am häufigsten durchgeführten Sanierungs-maßnahmen in den letzten 10 Jahren die folgenden sind: Heizungsaustausch (ca. 27 %), Fensterneuerung (ca. 23 %), Dachdämmung (ca. 22 %), Dämmung der Heizungsrohre (19 %) und Fassadendämmung (ca. 10 %). Am seltensten wurde die Sanierungsmaßnahme Fassadendämmung mit knapp 10 % geführt (Bild 13). Die Potentiale zur Energie-einsparung und CO2-Minderung sind hier noch nicht aus-geschöpft.

Scheinbar werden die Komponenten Heizung und Fenster erst nach Ablauf der Lebensdauer ersetzt, das Dach beim Neudecken gleich gedämmt, während ur-sprünglich ungedämmte Außenwände oft lange unge-dämmt bleiben. Die Gespräche innerhalb den Arbeitsgrup-pen legten diese Erklärung nahe. Die Befragten bestätigten

Flächen und Deckungs-/Einspeisungsanteil wurden erbeten. Die Bereitschaft der Riedstädter wurde erfragt, Kooperatio-nen mit Energiegenossenschaften zu unterstützen.

5.1 Rücklauf der Fragebogenaktion

Der Rücklauf der Fragebogenaktion belief sich auf ca. 1000 von 8369 verteilten Fragebögen und entspricht damit einer Rücklaufquote von ca. 12 %. Dabei verteilten sich die Rückläufe relativ gleichmäßig auf alle Stadtteile. Nur 2 % des Rücklaufs konnte keinem der Stadteile zugeordnet werden, da keine Adressen angegeben wurden (Bild 10).

Bild 10. Verteilung des Rücklaufs der Befragung, [3]Fig. 10. Distribution of the return of the Enquiry, [3]

5.2 Ausgewähltes zur Riedstädter Situation

Der Anteil des Altbaus in Riedstadt wurde ermittelt. Die Verteilung (Bild 11) zeigt, dass vor 1978 errichtete Ge-bäude ca. 54 % des Riedstädter Wohnbestands ausmachen.

Bild 11. Verteilung des Riedstädter Altbaus (vor und nach 1978), [3]Fig. 11. Distribution of old buil-dings of Riedstadt (before and after 1978), [3]

Bild 12. Energieträger in den Ried-städter Haushalten: kaum regene-rative Quellen und noch bis zu 12 % Stromheizungen, [3]Fig. 12. Energy sources in private households of Riedstadt: scarce usage of renewable energy and even up to 12 % electric heating, [3]

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L. Messari-Becker · Energetische Quartier- und Stadtsanierung am Beispiel der Stadt Riedstadt – Ein Forschungsbericht

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zeugungsarbeit ab. Lokale Energiegenossenschaften sind weniger Gewinnzielen verpflichtet, sondern lokalen Ent-wicklungsprozessen. Das dürfte die Akzeptanz erhöhen.

6 Zusammenfassung und Ausblick

Bislang fokussieren die Bemühungen um Energieeffizienz und Klimaschutz sowohl bei den Maßnahmen als auch bei der Förderpolitik oft nur bestimmte Verursachersektoren. Spätestens die Energiewende verlangt nach einer ganzheit-lichen Vorgehensweise unter Einbindung der Beiträge aller Sektoren und Akteure. Dies liegt nicht nur an der Komple-xität der Aufgabe „Energiewende“ an sich, sondern auch und insbesondere an der Unzugänglichkeit bestimmter Sektoren für Energieeinsparpotentiale. Dass das größte Einsparpotential des Gebäudesektors im Bestand liegt, die-ses aber nicht ohne Weiteres rentabel und grundgesetzkon-form erschließbar ist, macht klar, dass vernetzte Energie-versorgung und Lösungen jenseits der Systemgrenze „Ge-bäude“ und mit Ausgleichpotential innerhalb einer größeren geographischen Systemgrenze (Gebäudecluster, Stadtquartier bis hin zur Stadt oder regionale Zusammen-schlüsse) unumgänglich sind. Die Klimaschutzinitiative des Bundes fördert bei der Erstellung integrierter Klima-schutzkonzepte diese ganzheitliche Betrachtungsweise. Der Ansatz der stadtteiltypen bezogenen Betrachtungs-weise unter Berücksichtigung regionaler Gegebenheiten

weitere Gründe gegen energetische Sanierungsmaßnah-men. Insgesamt betrachtet werden zu 34 % „bereits sa-niert“ angeführt, gefolgt von „Finanzielles“ mit 26 % ange-geben. „Altersbedingt“ ist 21 % ein weiterer Grund (Bild 14). Die Erhebungen überraschen mit dem Ergebnis, dass es kaum an fehlenden Informationen und Beratung mangelt (nur 2,7 %) oder dass es andere finanzielle Anla-gen gäbe (1,2 %).

In Riedstadt besteht eine Eigentümerrate von über 90 %, „kein Eigentum“ als Grund gegen Sanierungsmaß-nahmen wird zu nur 2,6 % angegeben. Das sog. Eigentü-mer-Nutzer-Dilemma besteht in Riedstadt also kaum. Er-reicht man die Nutzer, sind sie meist auch die Eigentümer.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die we-sentlichen Hemmnisse gegenüber Sanierungsmaßnahmen finanzieller und demographischer Natur sind. Förderpoli-tisch wäre es hilfreich, energetische Sanierungen und Um-bau zwecks Barrierefreiheit zu verbinden. Auch Sanie-rungsangebote, Informationsveranstaltungen und Energie-beratung müssen diese Gruppe der Hauseigentümer stärker als bisher adressieren und spezifisch einbinden. Hierbei können Kooperationen und Contracting-Modelle einen Beitrag leisten. Fragen zur Bereitschaft zu einer Koopera-tion mit Energiegenossenschaften, um z. B. Sanierungsmaß-nahmen durchzuführen, sind wie folgt ausgefallen: 45 % antworteten mit Nein, 26 % mit Ja bzw. 28 % mit Ja, unter Umständen. Daraus leitet sich ein hoher Bedarf an Über-

Bild 13. Die häufigsten Sanierungsmaßnahmen in den letzten 5 bis 10 Jahren, [3]Fig. 13. The most common renovation measures in the last 5 to 10 years, [3]

Bild 14. Hemmnisse gegenüber Sanierungsaktivitäten, ohne Angabe: Zuordnung nicht möglich, [3]Fig. 14. Barriers towards renovation activities, not specified: mapping not possible, [3]

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[2] Charter of European Cities & Towns Towards Sustainability. Aalborg/Dänemark, 1994.

[3] Messari-Becker, L.: Klimaschutz für Riedstadt, 2013. Ab-schlussbericht, April 2013.

[4] Geoportal der Stadt Riedstadt, http://www.riedstadt.de/stadt/plaene/geoportal. html

[5] Leitbilder und Potenziale eines solaren Städtebaus. Köln, Aachen: Ecofys GmbH Köln, RWTH Aachen, FH Köln, 2004.

[6] Everding, D. (Ed.): Solarer Städtebau: Vom Pilotprojekt zum planerischen Leitbild. Stuttgart: W. Kohlhammer 2007.

[7] Genske, D., Henning-Jacob, J., Joedecke, T., Ruff, A.: Ener-gieatlas Zukunftskonzept Erneuerbares Wilhelmsburg (Kapi-tel: Methodik und Strategieentwicklung/Zukunftsszenarien für Wilhelmsburg). Internationale Bauausstellung IBA Ham-burg. Berlin: Jovis 2010, S. 43–66, S. 79–119.

[8] Genske D., Ruff, A., Joedecke, T.: BBR/BBSR & BMVBS: Nutzung städtischer ‚Freiflächen für erneuerbare Energien. Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR), Bun-desministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, S. 140, Bonn, Berlin, 2009.

[9] Genske D., Messari-Becker, L.: Energetische Stadtsanierung und Klimaschutz. In: Fouad, N. A. (Hrsg.): Bauphysik-Kalen-der 2013. Berlin: Ernst und Sohn 2013.

[10] STEM, Space-Time-Energy-Model, Software Energie- und Klimaplanung, EKP GmbH Nordhausen.

[11] Krampl A., Lang, S.: Gebäudetypologie und Energieein-sparpotential des Wohnsektors in der Gemeinde Riedstadt. Diplomarbeit, TU Darmstadt, 2004.

[12] Schwickert, S.: Energetische Sanierung des Baubestands, Möglichkeiten der Umsetzung dargestellt an Wohngebäuden der Gemeinde Riedstadt/Leeheim. D 17, TU Darmstadt 2001.

[13] Schwickert, S.: Energieeinsparpotential im ländlich gepräg-ten Wohngebäudebestand. Bauphysik 25 (2003), H. 4, S. 204–216.

[14] Basisdaten für Hochrechnungen mit der Deutschen Gebäude typologie. Institut Wohnen und Umwelt, Diefenbach, D., Loga, L., Darmstadt, 2011.

[15] Die Lösung zur effizienten Energie- und Treibhausgasbilan-zierung für Städte und Gemeinden. ECOREGION, Eco-speed AG.

[16] Modell Deutschland, Klimaschutz bis 2050: Vom Ziel her denken, (A. Kirchner, F. C. Matthes et al.), im Auftrag des WWF Deutschland. Basel/Freiburg: Prognos AG & Ökoinsti-tut, 2009, S. 495.

[17] Messari-Becker, L.: Gebäude – Gebäudecluster – Stadt-räume. Elemente eines Klimaschutzkonzeptes am Beispiel der Stadt Riedstadt. Bauingenieur (2014), Ausgabe 7/8.

[18] Detail Engineering 3: Bollinger + Grohmann, Kapitel Ener-getische Planung und Nachhaltigkeit, Detail, 2013.

Autorin dieses Beitrages:Univ.-Prof. Dr.-Ing. Lamia Messari-BeckerUniversität Siegen/Department ArchitekturLehrgebiet Gebäudetechnologie und BauphysikPaul-Bonatz-Straße 9–1157068 Siegenmessari-becker@architektur. uni-siegen. de

trägt dem Rechnung und macht integrierte kommunenge-rechte Lösungen möglich: Stadt- und Landschaftsraumty-pen werden zusammen betrachtet, in ihrem Energiebedarf und ihrem Erzeugungspotential. Räume mit Besonderhei-ten, z. B. hohem Anteil an Denkmalschutz, oder mit gerin-gem Potential zur Erzeugung erneuerbarer Energien kön-nen dennoch in die gesamten Betrachtung integriert, ihr geringer Beitrag anderswo ausgeglichen werden. Innerhalb dieser Betrachtungsweise können auf dem Maßstab Ge-bäude und Gebäudecluster nach wie vor gebäudespezifi-sche Daten und Bestandsaufnahmen, auch in aller Tiefe berücksichtigt werden.

Das hier vorgestellte Projekt konnte in seiner Dimen-sion durch wissenschaftlich etablierte wie auch neue Me-thoden durchgeführt werden. Das gilt gleichermaßen für technische wie soziologische Fragen. Die Vorgehensweise, sich vom (engen) Handlungsfeld Gebäude zu lösen und systematisch größere Handlungsfelder zu betrachten (Ge-bäudecluster und Stadträume) bedient sich GIS-fähiger Daten und Kenntnisse um Typologien. Letztere wurden u. a. durch die fachliche Bürgerbeteiligung im privat ge-prägten Gebäudesektor ermöglicht.

Die Maßnahmen zur Erreichung eines kommunalen Klimaschutzziels betreffen zum einen die Bedarfsseite und haben dabei die Senkung des Energiebedarfs zum Ziel. Hier stehen die Aktivierung des Sanierungsmarktes und effiziente Wärmenutzung im Mittelpunkt. Zum anderen betreffen die Maßnahmen den Ausbau Erneuerbarer Ener-gien gemäß den regionalen Ressourcen. Um sowohl den trägen Sanierungsmarkt zu bewegen als auch die Kosten bei der Erschließung erneuerbarer Energien bei schwieri-gen kommunalen Haushaltskassen erträglich zu halten, eignen sich lokale und regionale Energiegenossenschaften für Kooperationen mit Akteuren. Sie können im Rahmen von sog. Contracting Sanierungsmaßnahmen für Haushalte vorfinanzieren, im Gegenzug dazu können sie Dachflächen zur solaren Stromerzeugung „mieten“. So können Bürger auch Energielieferanten werden und einen Beitrag leisten.

Die Untersuchungen zeigen, dass Riedstadt langfristig hohe Senkungen des Energiebedarfs wie auch Minderun-gen des CO2-Ausstoßes erreichen wird. Dass diese Ziele theoretisch hinter den Zielen des Klima-Bündnisses blei-ben und erst in einem ambitionierten Szenario erreicht werden, ist eher Anlass, Klimabündnis-Ziele fortzuschrei-ben und auf Projektergebnisse zu reagieren. Unabhängig davon müssen Klimaschutzkonzepte nach der Erstellung umgesetzt werden. Kommunen benötigen dazu Personal-stellen, die für die Verankerung innerhalb der Verwaltung sorgen sowie die Umsetzung begleiten und fortschreiben. Fördermittel für Personalstellen für maximal drei Jahre er-scheinen unzureichend.

Literatur

[1] Klimaschutzinitiative des Bundes. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, thtp://www.klimaschutz. de/, abgerufen 31. 07. 13.