dreyer/finkenzeller: auf geht's, auf d'wiesn. ein spaziergang über das oktoberfest

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Hereinspaziert!! Lassen Sie sich mitnehmen in den Flohzirkus und zum Toboggan, oder doch lieber in Schichtls Illusionstheater? Nehmen Sie Platz auf ein Weißbier in der Krinoline, oder darf’s gar ein bisschen wilder sein und Sie wagen eine Fahrt mit dem Olympia-Looping? Aber nicht nur die traditionellen Schaustellergeschäfte der Wiesn und ihre Geschichte haben es Carmen Finkenzeller und Angelika Dreyer angetan. Fundiert und mit großer Freude am Detail und am »Typischen« nehmen sie mit auf einen kurzweiligen Streifzug durch 200 Jahre Oktoberfestgeschichte. Wir begegnen Schaukelburschen und Drei-Quartl-Fuchsern, dem »Wirte-Napoleon« und der »Steilwand-Kitty«, Baumsteigern, Kellnerinnen und der »Wiesn-Prominenz«. Dabei bleiben die beiden Autorinnen aber nicht im Nostalgischen stecken, sondern lenken durchaus auch den Blick auf die problematische Seite der Wiesn.

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Münchner STATTreisen • Band 4

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Angelika Dreyer & Carmen Finkenzeller

Auf geht’s, auf d’Wiesn!Ein Spaziergang über das Oktoberfest

Allitera Verlag

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Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unter:www.allitera.de

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet zu finden unter:http://dnb.ddb.de

August 2010Allitera VerlagEin Verlag der Buch&media GmbH, München© 2010 Buch&media GmbH, MünchenRedaktion: Dietlind Pedarnig, MünchenUmschlaggestaltung: Dietlind Pedarnig & Alexander Strathern, MünchenLayout: Kay Fretwurst, FreienbrinkGestaltung Plan Oktoberfestwiese: Victoria Keller, MünchenHerstellung: Kessler Druck + Medien GmbH & Co. KG, BobingenKG, BobingenPrinted in GermanyISBN 978-3-86906-101-6

Page 7: Dreyer/Finkenzeller: Auf geht's, auf d'Wiesn. Ein Spaziergang über das Oktoberfest

Inhalt

»Zu Münchens schönsten Paradiesen zählt ohne Zweifel seine Wiesen« 7

Manege frei für Blutsauger: die Faszination der Abnormitäten . . . . . 13

»… bei mir is auf alle Fäll der Schwindel reell!« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

Geschwindigkeitsrausch der 20er-Jahre: Krinoline und »Russenrad« . . . 27

Mit Kind und Kegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

Bitte anschnallen – hier geht’s rund! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

Von der Holzrutsche zur Riesen-Auto-Luft-Bahn oder Nunter geht’s alleweil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

Viecher und Urviecher auf der Wiesn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

Männlichkeitsbeweise – auch für Frauen attraktiv . . . . . . . . . . . . . . . . 57

Eine Riesendame und andere Wiesnbräute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

Die Kehrseite der Wiesn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73

Hopfen und Malz – Gott erhalt’s! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

Wegen Überfüllung geschlossen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

Was ein Wiesnwirt »verdient« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

»Bratwurst, Bier und Steckerlfisch halten Leib und Seele frisch« . . . . 102

Auskehr – Was von der Wiesn übrig bleibt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115Literatur (Auswahl) · Bildlegende · Bildnachweis · Dank

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Wer will schon dieser euphorischen Feststellung des Schriftstellers Eugen Roth widersprechen, wenn es um das Oktoberfest, das größte Volksfest der Welt, geht? Dabei hatte es, gemessen an den heutigen Dimensionen, rela-tiv bescheiden begonnen … Im Oktober 1810 feierte ganz Mün-chen die Vermählung zwischen dem jungen bayerischen Kronprinzen Ludwig und der Prinzessin Therese Charlotte Louise Friederike Amalie von Sachsen-Hildburghausen. Die Wahl der Braut war weniger eine Entscheidung des Herzens als poli-tisches Kalkül und entsprang einer Vereinbarung zwischen dem Vater von Ludwig, König Max I., und dem vom Kronprinzen leidenschaftlich gehassten Napoleon. Wen wundert es daher, dass Ludwig seiner Braut noch während der Verlobungszeit schrieb, dass er auch fortan seine gewohnte Lebensweise beizubehalten beabsich-tige. Diese wenig rücksichtsvolle und

leicht unterkühlte Einstellung gegen-über der 18-jährigen Therese blieb in ihrer Ehe leider wegweisend. Den Wittelsbachern kamen die Hoch-zeitsfeierlichkeiten überaus gelegen, denn die bayerischen Untertanen hatten seit dem Regierungsantritt von Max I. elf Jahre zuvor vieles hinnehmen und bewältigen müssen: Kriege, die der unpopulären Verei-nigung mit Frankreich geschuldet waren, die Härte der Säkularisation, mit der vielen Katholiken auch die persönliche Frömmigkeitsausübung erschwert wurde, und die unfreiwil-lige Anbindung weiterer Gebiete in Franken und Schwaben an Bayern. Das Königshaus benötigte dringend Popularitätszuwachs und die Hoch-zeit erwies sich als eine willkom-mene Gelegenheit dazu. Am 12. Oktober fand in der Hofka-pelle die Trauung statt, begleitet von Glockengeläut und Kanonenschüssen. Am Abend darauf erstrahlte Mün-

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TheresienwieStandpunkt 1 • U-Bahnstation Theresienwiese

»Zu Münchens schönsten Paradiesen zählt ohne Zweifel seine Wiesen«

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chen in einer großen Festbeleuchtung, bei der die prächtig ausstaffierten Fassaden öffentlicher und privater Gebäude illuminiert und mit zahl-reichen »transparenten Gemälden« geschmückt waren. Die Stadt ver-wandelte sich in ein einziges großes Volksfest mit zahlreichen Tischen und Bänken, wo reichlich zu essen und trinken angeboten wurde. Allein 80 Zentner gebratenes Schaffleisch, 8120 Cervelat-Würste und 13 300 Paar geselchte Würste verzehrten die Münchner zu rund 232 Hektolitern Bier und vier Hektolitern österrei-chischem Weißwein.Die eigentliche Geburtsstunde des Münchner Oktoberfests schlug aber erst fünf Tage später, als die »Kaval-lerie Division des Bürger-Militärs in München« am 17. Oktober zu Ehren der Frischvermählten ein Pferderen-nen veranstaltete. Dazu stand »vor dem Sendlinger Thore, seitwärts der Straße, die nach Italien führt« eine weite, unbebaute Wiese zur Verfü-

gung, begrenzt vom Sendlinger Berg, der zugleich als natürlich vorhandene Tribüne genutzt werden konnte. Das Bürgermilitär griff mit diesem Hochzeitsgeschenk auf eine gute alte Tradition zurück, denn bereits im Jahr 1436 war ein prächtiges Pfer-derennen im Anschluss an die Ver-mählung Herzog Albrechts III. von Baiern mit der herzoglich braun-schweigischen Prinzessin Anna in München veranstaltet worden.

Als der Heimatschriftsteller Anton Baumgartner zum zehnjährigen Fest-jubiläum auf dieses Ereignis zurück-blickte, schrieb er bereits ausdrücklich vom »Oktober-Feste auf der Theresi-en-Wiese« und von einem »Natio-nal-Fest«. Ulrich von Destouches er-wähnte 1827 in seinem »Wegweiser von München«, dass von den übrigen Volksfesten »das Octoberfest als ein eigenes bayerisches Volksfest das aus-gezeichnetste« sei. Beide nennen da-

Königin Therese von Bayern im Krönungsornat, Ölgemälde von Karl Stieler, 1827

Köng Ludwig I . im Krönungsornat, Ölgemälde von Karl Stieler, 1826

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mit zwei entscheidende Funktionen des Oktoberfests: zum einen sollte die Inszenierung des Fests inklusive Pferderennen das bayerische Königs-haus stärken und die politische Ein-heit der Nation der Bayern mit ihren neuen und nicht unbedingt freiwillig hinzugekommenen Gebieten unter-streichen. Zum anderen sollte es ein Fest für das Volk sein – und als sol-ches wurde es von diesem auch von Anfang an und aus tiefster Seele em-pfundenen. Entsprechend dieser Zielsetzung bil-dete im 19. Jahrhundert das Königs-zelt den Mittelpunkt des Festgesche-hens. Das weiß-blaue Zeltdach, ein Beutestück des barocken Kurfürsten Max Emanuel aus den Türkenkriegen, war bewusst gewählt worden, konnte doch mit solch kleinen Gesten auf die Kontinuität des Hauses Wittelsbach in Bayern verwiesen werden.Stadtkommandant Felix von Li-powsky inszenierte zur Hochzeit die Huldigungen an das Königshaus, in-dem er 16 Buben und Mädchen aus angesehenen Münchner Familien

paarweise vor das Königszelt treten ließ. In verschiedene Landestrachten gekleidet und damit die neun Kreise des Königreichs symbolisierend, über-reichten sie Früchte und regionalty-pische Produkte. Inzwischen ist aus diesen 16 Kin-derpaaren ein jährlich zu Beginn des Oktoberfests durchgeführter, etwa sieben Kilometer langer Trachten- und Schützenumzug durch München geworden, der seit 1948 stattfindet. Insgesamt rund 9000 Trachten- und Musikgruppen, Spielmanns- und Fan-farenzüge sowie Schützenkompanien ziehen, zusammen mit den Pracht-gespannen der Münchner Brauerein, von der Maximilianstraße durch die Stadt und weiter zur Oktoberfestwie-se. Entsprechend unserer inzwischen demokratisch gewordenen Staatsform defilieren der Münchner Oberbür-germeister mit seinen Stadträten und als Ehrengast der bayerische Minis-terpräsident nebst Gemahlin an den Münchner Bürgern vorbei. Ange-führt wird der Zug vom Münchner Kindl höchstpersönlich.

Das weiß-blaue Königszelt vor dem gerade die königliche Kutsche eintrifft, dahinter der Glückshafen, Ansichtskarte 1913

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Wie wenig die ursprünglich poli-tische Intention des Oktoberfests, nämlich die neu zu Bayern hinzuge-kommenen Gebiete in Schwaben und Franken an das bayerische Stamm-gebiet anzubinden, an Brisanz verlo-ren hat, zeigte sich erst in jüngster Vergangenheit wieder. Als die aus Franken stammende Gemahlin von Ministerpräsident Günther Beck-stein im Jahr 2008 anstatt im Dirndl im schlichten Trachtenkostüm am Festzug teilnahm, beschäftigte die-ser »Affront« die Münchner Boule-vardpresse über Wochen hinweg.

Bald nach den Hochzeitsfeierlich-keiten von Kronprinz Ludwig und Prinzessin Therese wurde die Ent-scheidung getroffen, dieses Fest auf dem (inzwischen zu Ehren der Braut »Theresienwiese« genannten) Areal alljährlich zu wiederholen.Die »Wiesn« entwickelte sich rasch zu einem Volksfest und schon ein Jahr später, 1811, begann mit der Landwirtschaftsausstellung die Geschichte des Zentral-Landwirt-schaftsfests. Acht Jahre nach der Hochzeit ging die erste Lizenz für ein Karussell an einen gewissen Anton Gruber. Zum zehnjährigen Jubiläum veranstalteten die inzwi-schen etablierten Wiesnwirte auf

eigene Kosten ein »Sacklaufen, Ho-senrennen und Baumklettern«. Bei dieser Attraktion kam es dann auch zur ersten quellenmäßig überliefer-ten Wiesnrauferei: Die Rennbuben gerieten sich derart in die Haare, dass man die Preise zurück ins Rathaus trug, um sie erst dort zu verteilen. Fast schon vertraut klingt eine Be-schreibung aus dem Jahr 1821: »In der schnell entstandenen bretternen Stadt waltet reger Lebensgenuß, in allen Ecken ertönt muntere Musik. Große Vogel- und Scheibenschießen, Stoß- und Kegelbahnen, Tanz und Gesang, knisternde Bratwürste, wür-ziges Bier, Pfälzerwein, Glühwein und Punsch vereinen, zum Genusse der verschiedensten Art einladend. Amor hat so viele Geschäfte, dass er sich die Schwindsucht an den Hals rennen könnte.« Schon damals waren Vergnügungen der heutigen Schau-steller- und der Wirtsbudenstraße in vielfältiger Weise vertreten.In der 200-jährigen Geschichte des Münchner Oktoberfests gab es ins-gesamt 24 Ausfälle, sodass im Jahr 2010 erst das 177. Oktoberfest gefei-ert werden kann. Zum ersten Mal gab es kein Oktoberfest, als Bayern 1813 dem Bund der Großmächte ge-gen Napoleon und damit dem Krieg beitrat. Kriege verhinderten das

Historischer Huldigungsfestzug zur Jahrhundertfeier des Oktoberfests am 25 . September 1910, Gouache von Hermann Stockmann, dem künstlerischen Leiter des Zugs

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Volksfest auch in den Jahren 1866 (preußisch-österreichischer Krieg), 1870 (deutsch-französischer Krieg) und in den Jahren zwischen 1914 und 1918 (Erster Weltkrieg) sowie 1939 bis 1945 (Zweiter Weltkrieg). Die mi-serable wirtschaftliche Situation nach den Kriegen führte 1919 und 1920 und 1946 bis 1948 zur Durchführung von Ersatzfesten, den sogenannten Herbstfesten. Eine Spätfolge des Er-sten Weltkrieges waren die inflations-bedingten Festabsagen des Magistrats in den Jahren 1923 und 1924. Zuvor hatten in den Jahren 1854 und 1874 die fürchterlichen Cholera-Epide-mien ebenfalls den Ausfall des Fests erzwungen.Wenn die Jubiläumswiesn 2010 um einen Tag verlängert wird, greift die Stadt München auch hier in zwei-facher Hinsicht auf alte Traditionen zurück, auf die der Jubilarfeiern und die der Fest-Verlängerungen. 1850, 1871, 1883 und 1884 erfolgten Verlän-gerungen des Volksfests aufgrund des schlechten Wetters, »der abnormen Kälte« und des »sumpfartigen Zu-stands des Platzes«. Das Wetter war auch der Grund, warum der Termin des Fests im Lauf der Zeit immer mehr in den Monat September hineinwan-derte. Seit der Wiederver-einigung Deutschlands wird gerne der Deutsche Nationalfeiertag am 3. Oktober in das Fest inte-griert. Die lange Reihe der feierlichen Wiesnjubiläen begann nach zehn Jahren,

als die erfahrene Aeronautin Wil-helmine Reichard aus diesem Anlass mit einem Gasballon über der Fest-wiese aufstieg. Um den Charakter des Nationalfests nicht durch eine derartige Attraktion in den Hinter-grund geraten zu lassen, sorgte der Vorstand des Renngerichts dafür, dass Madame Reichard hierfür eine altbayerische Nationaltracht ange-fertigt wurde. Die ihr zur Luftfahrt überreichte Fahne trug das Münch-ner Stadtwappen und eine Widmung der »Bürger von München an die geprüfte und muthvolle Luftschiffe-rin«. Als diese in Zorneding landete, musste sie Ballon und Fahne glei-chermaßen gegen wartende Souve-nirjäger verteidigen. Die Silberhochzeit des Königspaars, aber auch die Feiern zum 100., 150. und 175. Geburtstag des Oktoberfests hat die Stadt immer gerne aufgegrif-fen, um prächtige Festschriften her-auszugeben sowie Ausstellungen zu initiieren. Diese Tradition wird auch zum 200-jährigen Jubiläum einge-halten: Im Münchner Stadtmuse-um findet eine große Ausstellung über die Geschichte des Oktober-fests statt, die von einer prächtigen Festschrift der Landeshauptstadt

begleitet wird – und mit der Wiederholung des historischen Pferderen-nens dürfen die Münch-ner noch einmal ganz zu den Anfängen des Fests zurückkehren.

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Ausstellungsplakat, 2010, Entwurf: BÜRO ALBA, Foto: Birgitt Schlauderer

»Das Oktoberfest 1810–2010« . Eine Ausstellung des Münchner

Stadtmuseums

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Gleich in der Nähe der U-Bahnstati-on Theresienwiese, in Richtung der Schaustellerstraße, steht die kleine, bunte Bude des Flohzirkus, eines der wenigen nostalgischen Über-bleibsel aus der langen Tradition der Schaustellerei. Seit über 150 Jahren übt die Familie des aus Nürnberg stammenden Zirkusdirektors Johann Mathes die ehrwürdige Kunst der Flohdressur aus, inzwischen zusam-men mit dem Flohdompteur Roland Birk. Seine Vorfahren reisten noch ganzjährig mit einem Handkoffer quer durch Europa und traten sogar vor dem Papst und dem Zaren auf. Auf dem Oktoberfest ist die Familie Mathes erst seit dem Herbstfest im Jahr 1948 zu finden. Mathes, der au-ßerhalb der Wiesn als Brunnenbauer arbeitet, opfert noch heute seinen Ur-laub dafür, um als einer der weltweit letzten Vertreter seiner Zunft diese Form der Schaustellerei zu pflegen.Immer schwieriger erweist sich da-

bei die Beschaffung von Flöhen. Während seine Vorfahren noch selbstverständlich und ohne Schwie-rigkeiten mit Menschenflöhen ar-beiten konnten, gestaltet sich heute selbst die Beschaffung von Hunde-flöhen äußerst aufwendig: Trotz guter Kontakte zum Tierheim war letztes Jahr sogar ein Aufruf an alle Hundebesitzer im Rundfunk und in einer Tageszeitung von Nöten! Was die Flohdressur so attraktiv macht, ist das ungeheuerliche Lei-stungsvermögen der kleinsten un-ter den Artisten. Die nur 0,2 Milli-gramm schweren Parasiten können Fußball spielen, beim Kutschenren-nen wie Pferde galoppieren und ein Karussell ziehen, das mit 32 Gramm immerhin 20 000 Mal so schwer ist wie sie selbst. Verwendet werden übrigens nur weibliche Flöhe, denn diese sind einfach etwas größer. Die Dressur erfolgt mit Schall und Licht und bei einer von Flöhen bevor-

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Standpunkt 2 • Flohzirkus, Straße 1, Platz Nr . 11

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zugten Temperatur um die 34 Grad. Gefüttert werden sie mit Menschen-blut am dafür eigens rasierten Arm des Dompteurs.Natürlich können so kleine Tiere nie-mals in einer Massenvorstellung ge-zeigt werden – der Zuschauerkreis in der kleinen Bude ist daher auf maxi-mal 20 Personen begrenzt. Was aber den Vorteil hat, dass in dieser intimen Atmosphäre der immerhin 20-minü-tigen Vorführung gerne auch Fragen gestellt werden können.

Vor 100 Jahren war das »Zurschau-stellen« von Tieren, aber auch von

Artisten der Superlative

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Menschen eine der großen Attrak-tionen auf dem Oktoberfest und untrennbar mit dem Namen Carl Gabriel verbunden. Gabriel stammte ursprünglich aus einer Schausteller-familie aus Bernstadt in Schlesien, wo er 1857 zur Welt kam. »Ich bin sozu-sagen im Löwenkäfig geboren«, sagte er gerne von sich. Allerdings wollten ihn seine Eltern vor dem mühevollen Geschäft der Schausteller bewahren und verlangten, dass er eine Aus-bildung als Mechaniker und Kunst-schlosser absolvierte. Aber Gabriel ging seinen Weg, heiratete mit Mar-garethe Elisabeth Meisel eine Frau,

die ebenfalls aus einer Schausteller-familie stammte, und war ab 1892, als er mit dem väterlichen Wachska-binett auf dem Oktoberfest erschien, von diesem nicht mehr wegzuden-ken. Carl Gabriel zeichnete gleich für mehrere Klassiker unter den Wiesnattraktionen verantwortlich: das Hippodrom (1902), die erste Ach-terbahn (1908), das Teufelsrad (1910) und die erste Steilwand (1930).1901 veranstaltete Gabriel seine erste, gleich im ganz großen Stil angelegte »Völkerschau«: Auf der unglaublichen Fläche von 10 000 Quadratmetern zeigte er ein großes »Beduinen-Lager« mit 70 Männern, Frauen und Kindern samt arabischen Pferden, Dromedaren und Eseln. Das Zurschaustellen frem-der Menschengruppen war zu diesem Zeitpunkt äußerst populär und hatte sich in den vorangegangenen 25 Jah-ren, seit der Ausstellung der »Ersten Lappländer Polarmenschen« 1876, so fest in der Publikumsgunst etabliert, dass Gabriel zugleich gegen eine »Ne-gertruppe Dahomey« und Steiners »Afrikanisches Theater« konkurrie-ren musste – und dies, obwohl die Stadt noch weiteren sieben Gruppen bereits eine Absage erteilt hatte. Langfristig setzte sich aber Gabriel auf dem Oktoberfest durch, trotz-dem sein direkter Konkurrent Stei-ner sein »Afrikanisches Theater« reißerisch-werbewirksam in Szene zu setzen verstand. Unter anderem kündigte er »Gorilla-Neger vom Congo« mit exotischen Tänzen, Ge-sängen, Überfällen, Keulen-, Lan-zen- und Schwerterspielen an, bei denen an »glühenden Eisen geleckt« und von diesen »mit den Zähnen« ab-gebissen werde. Zur Jubiläumswiesn von 1910 beschwerte sich Gabriel, dass seine »Samoaner« Konkurrenz erhielten und das, wo er doch die un-