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Gymnasium 122,2015 389 THEMENTAG „PLINIUS' BRIEFE: TRADITION - REZEPTION - DIDAKTIK" AM 7.12.2013 AN DER LUDWIG-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT MÜNCHEN SiEFANO ROCCHI MÜNCHEN Plinius, Brief 8,17: Eine Überschwemmung des Tiber und des Aniene Text, Textkritik und Intertextualität Abstract Der Beitrag nimmt mit Plin. epist. 8,17 einen Brief zum Ausgangspunkt, der bislang trotz der in den letzten Jahren zunehmenden Forschung zur Korrespondenz des jün- geren Plinius nur gelegentlich Aufmerksamkeit erhalten hat.1 Nach einer kurzen Dar- stellung des Briefinhalts und einigen Überlegungen zur Makrostruktur des Buches VIII wird ein bisher ungelöstes textkritisches Problem besprochen. Dabei sind mögli- che intertextuelle Bezüge der Epistel (auf Ovid, Seneca den Jüngeren und Cicero) zu diskutieren. 1. Einleitung Vermutlich kurz nachdem er sein Amt als curator alvei Tiberis et ripa- rum et cloacarum urbis niedergelegt hat (106/107 n. Chr.?),2 nämlich im Herbst des Jahres 107 bzw. 108, 3 schreibt ein besorgter Plinius seinem Freund Macrinus,4 um ihm mitzuteilen, dass zwei Flüsse Latiums, der Siehe Kukula 1909, 82-83; Guillemin 1929,120-121; Lehmann-Hartlebcn 1936,14- 15; Tanzer 1936, 192-193 (nur Text); Sherwin-White 1966, 16-17, 467-468; Bütler 1970, 102; Trisoglio 1973, 834-836; Gamberini 1983, 297, 375 Anm. 2; Hoffer 1999, 89 Anm. 74; Lefevre 2009, 252 (= Id. 1988, 238, 246); Keay-Millett-Whitton 2005, 321-322 (nur Text); Zehnacker 2012,152-153. Siehe Sherwin-White 1966, 79, 467. Dies kann man aufgrund der chronologischen Analyse der Briefe des Buches VIII von Sherwin-White 1966, 39 vermuten; Syme 1985, 182 hält hingegen den Winter 108/109 für wahrscheinlicher. Die Tatsache aber, dass in 8,17,4 die Pflüge auf den Feldern sind, spricht eher für einen herbstlichen Zeitpunkt (Sherwin-White 1966, 467-468). Unabhängig von der tatsächlichen Chronologie ist es möglich, dass der aufmerksame Leser nach der Sommerreise des Plinius von 8,1 und nach den in 8,2 und 8,15 erwähnten Weinlesen gewissermaßen eine jahreszeitliche Progression in- nerhalb des Buches wahrnahm. Ein Macrinus ist der Empfänger von weiteren Briefen (2,7 Vestricius Spurinna; 3,4 Prozess von Classicus; 7,6 und 7,10 Prozess von Varenus; 9,4 eine „Karte", die eine

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Gymnasium 122,2015 389

THEMENTAG „PLINIUS' BRIEFE: TRADITION - REZEPTION - DIDAKTIK"

AM 7.12.2013 AN DER LUDWIG-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT MÜNCHEN

SiEFANO ROCCHI • MÜNCHEN

Plinius, Brief 8,17:Eine Überschwemmung des Tiber und des Aniene

Text, Textkritik und Intertextualität

Abstract

Der Beitrag nimmt mit Plin. epist. 8,17 einen Brief zum Ausgangspunkt, der bislangtrotz der in den letzten Jahren zunehmenden Forschung zur Korrespondenz des jün-geren Plinius nur gelegentlich Aufmerksamkeit erhalten hat.1 Nach einer kurzen Dar-stellung des Briefinhalts und einigen Überlegungen zur Makrostruktur des BuchesVIII wird ein bisher ungelöstes textkritisches Problem besprochen. Dabei sind mögli-che intertextuelle Bezüge der Epistel (auf Ovid, Seneca den Jüngeren und Cicero) zudiskutieren.

1. Einleitung

Vermutlich kurz nachdem er sein Amt als curator alvei Tiberis et ripa-rum et cloacarum urbis niedergelegt hat (106/107 n. Chr.?),2 nämlich imHerbst des Jahres 107 bzw. 108,3 schreibt ein besorgter Plinius seinemFreund Macrinus,4 um ihm mitzuteilen, dass zwei Flüsse Latiums, der

Siehe Kukula 1909, 82-83; Guillemin 1929,120-121; Lehmann-Hartlebcn 1936,14-15; Tanzer 1936, 192-193 (nur Text); Sherwin-White 1966, 16-17, 467-468; Bütler1970, 102; Trisoglio 1973, 834-836; Gamberini 1983, 297, 375 Anm. 2; Hoffer 1999,89 Anm. 74; Lefevre 2009, 252 (= Id. 1988, 238, 246); Keay-Millett-Whitton 2005,321-322 (nur Text); Zehnacker 2012,152-153.Siehe Sherwin-White 1966, 79, 467.Dies kann man aufgrund der chronologischen Analyse der Briefe des Buches VIIIvon Sherwin-White 1966, 39 vermuten; Syme 1985, 182 hält hingegen den Winter108/109 für wahrscheinlicher. Die Tatsache aber, dass in 8,17,4 die Pflüge auf denFeldern sind, spricht eher für einen herbstlichen Zeitpunkt (Sherwin-White 1966,467-468). Unabhängig von der tatsächlichen Chronologie ist es möglich, dass deraufmerksame Leser nach der Sommerreise des Plinius von 8,1 und nach den in 8,2und 8,15 erwähnten Weinlesen gewissermaßen eine jahreszeitliche Progression in-nerhalb des Buches wahrnahm.Ein Macrinus ist der Empfänger von weiteren Briefen (2,7 Vestricius Spurinna; 3,4Prozess von Classicus; 7,6 und 7,10 Prozess von Varenus; 9,4 eine „Karte", die eine

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Tiberis und der Anio, wegen des stürmischen und regnerischen Wettersmit katastrophalen Konsequenzen für die Menschen und ihre Güter überdie Ufer getreten sind. Außerdem ersucht Plinius seinen Korrespondenz-partner um Informationen über die eigene Situation. Denn er befürchtet,dass auch Macrinus in großer Gefahr sein könnte.

C. PLINl VS MACRINO SVO S.

(i) Num istic quoque immite et turbidum caelum? Hie adsiduae tempestateset crebra diluvia. Tiberis alveum excessit et demissioribus ripis alte superfun-ditur; (2) quamquam fossa quam providentissimus Imperator j'ecit exhaustus,premit volles, innatat campis, quaque planum solum, pro solo cernitur. Indequae solet flumina accipere et permixta devehere, velut obvius retro cogit,atque ita alienis aquis operit agros, quos ipse non tangit. (3) Anio, delicatissi-mus amnium ideoque adiacentibus villis velut invitatus retentusque, magna exparte nemora quibus inumbratur fregit et rapuit; subruit montes, et deciden-tium mole pluribus locis clausus, dum amissum iter quaerit, impulit tecta acse super ruinös eiecit atque extulit. (4) Viderunt quos excelsioribus terris illatempestas deprehendit, alibi divitum adparatus et gravem supellectilem, alibiinstrumenta ruris, ibi boves aratra rectores, hicsoluta et libera armenta, atqueinter haec arborum truncos aut viüarum trabes atque culmina varie latequefluitantia. (5) Ac ne illa quidem malo vacaverunt, ad quae non ascendit am-nis. Nam pro amne imber adsiduus et deiecti nubibus turbines, proruta operaquibus pretiosa rura cinguntur, quassata atque etiam decussa monu.rn.enta.Multi eius modi casibus debilitati obruti obtriti, et aucta luctibus damna. (6)Ne quid simile istic, pro mensurapericuli vereor, teque rogo, si nihil täte, quammaturissime sollicitudini meae consulas, sed etsi tale, id quoque nunties. Namparvolum differt, patiaris adversa an exspectes; nisi quod tarnen est dolendimodus, non est timendi. Doleas enim quantum scias accidisse, timeas quan-tum possit accidere. Vale.

C. Plinius grüßt seinen Macrinus

(1) Ist etwa auch bei Euch so unfreundliches, stürmisches Wetter? Hier habenwir dauernd Sturm und häufig Überschwemmungen. Der Tiber ist aus seinemBett getreten und setzt an niederen Stellen seine Ufer tief unter Wasser. (2) Ob-

Rede des Plinius begleitet); die Epistel 3,4 ist an einen Caecilius Macrinus adressiert.mit dem die moderne Sekundärliteratur den Empfänger all dieser Briefe mit hoherWahrscheinlichkeit identifiziert (siehe Sherwin-White 1966,467; Syme 1968,146 undSyme f 985,181 Anm. 44, der eine Identifikation mit T. Caecilius Macrinus aus Mai-land vorschlägt; Birley 2000,43,73; Whitton 2013,129,186). Dieser könnte auch derMacrinus sein, von dem in 8,5,1 gesagt wird, dass er vor kurzem seine Frau verlorenhabe. In 1,14,4-5 ist aber die Rede von einem Minicius Macrinus, eques aus Brescia,der als möglicher Empfänger eines oder mehrerer Briefe im Grunde genommen nichtkomplett ausgeschlossen werden kann (wie Whitton 2013, 129 behutsam bemerkt;an ihn denken auch Kukula 1909, 82-83 und Lehmann-Hartleben 1936, 14-15). Wirkönnen auf jeden Fall annehmen, dass der Macrinus aus 8,17 sich weit entfernt vonRom aufhält, da Plinius ihn über das Unwetter der Umgebung informiert und umInformationen über die Wetterlage an dessen Aufenthaltsort bittet.

Plinius, Brief 8,17: Eine Überschwemmung des Tiber und des Aniene 391

wohl abgeleitet durch den Kanal, den der Kaiser in weiser Voraussicht hat gra-ben lassen, steht er in den Niederungen, überflutet die Felder, und wo der Bodeneben ist, sieht man statt des Bodens eine Wasserfläche. Infolgedessen stemmter sich gewissermaßen gegen die Gewässer, die er sonst aufnimmt und mit sichvereint zum Meere führt, zwingt sie, sich zurückzustauen, und bedeckt so Äcker,die er selbst nicht berührt, mit fremden Wassern. (3) Der Anio, der reizendstealler Flüsse, den deshalb die anliegenden Landhäuser gleichsam zum Verweileneinladen und festhalten, hat die Waldungen, die ihn beschatten, zum großen Teilniedergelegt und fortgerissen; er hat die Berge unterspült, hat, an mehreren Stel-len durch den herabstürzenden Schutt abgedämmt, auf der Suche nach dem ver-sperrten Wege Häuser umgerissen und die Ruinen reißend fortgewälzt. (4) Wendas Unheil an höher gelegenen Stellen überraschte, der sah hier den Hausratund das massive Geschirr der Wohlhabenden, dort landwirtschaftliche Gerät-schaften, Stiere und Pflüge mitsamt ihren Führern, hier losgerissenes, sich selbstüberlassenes Vieh, dazwischen Baumstämme oder Balken und Dächer vonLandhäusern weit und breit wahllos dahintreiben. (5) Aber auch die Örtlichkei-ten, bis zu denen der Fluß nicht emporstieg, blieben nicht verschont, denn stattdes Flusses gab es hier Dauerregen und Wolkenbrüche. Die Einfriedigungenwertvoller Ländereien wurden umgerissen, Grabdenkmäler beschädigt oder garumgestürzt. Viele Menschen sind bei derartigen Unglücksfällen verletzt, ver-schüttet oder zerquetscht worden, und zu dem materiellen Verlust gesellte sichdie Trauer. (6) Angesichts des Ausmaßes der Gefahr befürchte ich, dass es beiEuch ähnlich aussieht, und ich bitte Dich, wenn es nicht der Fall ist, schnellstensmeiner Besorgnis abzuhelfen, ist es aber doch so, mir auch davon Nachricht zugeben. Denn es ist ziemlich einerlei, ob man ein Unglück erleidet oder erwartet,nur dass der Schmerz seine Grenze hat, die Furcht aber nicht. Denn man be-dauert nur so viel, wie man weiß, dass es geschehen ist, fürchtet aber alles, wasgeschehen kann. Leb' wohl! [übers, von H. Kasten]

2. Bemerkungen zur Struktur des Briefes und dessen Positioninnerhalb des Buches VIII

Einem Einstieg in medias res, der in der Eile der Frage über die Wetter-situation bei seinem Freund (l num istic ... caelum?) die Sorgen, die sichPlinius macht, widerspiegelt, wird strukturell der Bericht des Unwettersin der unmittelbaren Nähe von Rom5 (l hie adsiduae tempestates ... di-luvia) entgegengestellt. Auf diesen folgt die ausführliche Mitteilung vomHochwasser des Tiber trotz eines von Trajan neu erbauten Kanals, derden Fluss bei Starkregen hätte entlasten sollen (Tiberis alveum ... fecitexhaustus).6 Daran schließen sich eine elaborierte Schilderung der Über-

5 Allerdings war die Hauptstadt selbst, wie es scheint, nicht betroffen.* Es ist sehr wichtig, dass die Erwähnung des Kaisers eine so prominente Position be-

kommt, weil ein princeps, besonders wenn er als providentissimus (siehe Gamberini1983,375 Anm. 2; Hoffer 1999,89 Anm. 74) und optimus dargestellt wird (bzw. werdenwill), jegliche Maßnahme unternehmen sollte, um Katastrophen zu vermeiden (oder

392 Stefano Rocchi Plinius, Brief 8,17: Eine Überschwemmung des Tiber und des Aniene 393

flutungen des Tiber selbst (premit valles ... non tangit) und des Aniene(3 Anio delicatissimus ... atque extulit) sowie der Bericht der vom Hoch-wasser verursachten Schäden an. Sie werden aus der Perspektive von aufhöhere Orte geflüchteten Menschen vorgetragen (4 viderunt quos ... late-que fluitantia).7 Dazu wird - von einem noch höheren Standort aus - dasSchicksal der Menschen und der Dinge, die vom Hochwasser verschontworden sind, detailliert erzählt (5 ac ne lila quidem ... lucübus damna).

Schließlich bittet Plinius seinen Freund um rasche Informationen überdessen Situation, unabhängig davon, ob sie gut oder schlecht sei (6 nequid simile ... id quoque nunties), und beendet seinen Brief mit einemsentcnziösen und antithetisch artikulierten Gedanken über das Verhält-nis von dolor angesichts eines eingetretenen Übels und timor in der Er-wartung eines befürchteten Übels (6 nam parvolum differl ... quantumpossit accidere)*

Plinius ist ein Meister der Ekphrasis und besonders der Beschreibungder loca amoena sowie der loca horrido.? Daher bietet die Ekphrasis die-

um den von einem unvermeidlichen Unglück betroffenen Bürgern zu helfen). Ist Pli-nius als curator alvei Tiberis in irgendeiner Form an diesem kaiserlichen Projekt betei-ligt gewesen? In diesem Fall gälte die Erwähnung des Kaisers auch als eine Andeutungzu seiner vor kurzem (?) niedergelegten Würde. Man darf nicht vergessen, dass un-gefähr zur selben Zeit auch die gigantischen Bauarbeiten bei Portus stattfanden (Plin.epist. 6,31,15-17) und dass die hier erwähnte fossa einer der bislang identifiziertenKanäle sein könnte, vielleicht sogar die sogenannte fossa Traiana (siehe CIL 14,88'l'ra[ianus ...] Dac[icus ...}fossam [fecit q\ua inun[dationes Tiberis a]dsidue u[rbemvexantes rivo] peren[ni instituto arcerentur]; Sherwin-White 1966, 468; Verduchi 2001.133_134 und Anm. 5; Zevi 2005, 36-37). Im selben Buch war Trajan schon einmal ineinem Brief indirekt zitiert worden: In 8,4 lobt Plinius seinen Freund Caninius undmuntert ihn auf, weil dieser vorhat, ein Epos über die dakischen Kriege zu verfassen.Genau in diesem Brief werden unter den Wundern der Feldzüge hydraulische Maß-nahmen des Kaisers gepriesen, die vermutlich mit der Ausgrabung neuer Kanäle bzw.Wasserwege zu tun gehabt haben (8,4,2): immissa terris nova flumina (dazu sieheSherwin-White 1966,451; Settis 1988,253; Coarelli 1999, 28; Hass 2006, ! 13). Schließ-lich muss man hier noch darauf verweisen, dass derselbe Plinius als legatus Augustiin Bithynien (10,41-42 und 61-62) mit dem Projekt einer fossa für die Verbesserungdes Warentransports beschäftigt sein wird (siehe Lehmann-Hartlebcn 1936, 19-22:Sherwin-White 1966 ad loc.).

1 Über die Perspektive von oben in den plinianischen Beschreibungen siehe Lefevre2009, 259, 269-270 (= Id. 1988, 249, 259); Lefevre 2009, 232-233 (= Id. 1977, 535-536). und infra § 4.

s Zu diesem und ähnlichen Schlüssen siehe Bütler 1970, 102 und Gamberini 1983,297; im Allgemeinen mit den plinianischen sententiae befassen sich Vielberg 2003und Whitton 2013, 26-28. Mit besonderer Berücksichtigung von gnomischen Aus-sagen siehe in Buch VIII z.B.: 2,2; 5,2; 5,3; 9,2; 12.2; 14,10; 16,1; 16,2; 16,4; 16,5; 18,1;18,12; 19,1; 20,1; 21,1; 21,6; 22,2: 22,3; 22,4; 24,6; 24.9; 24,10.

9 Außerhalb von Buch VI11 seien hier z.B. die Beschreibungen der Villen (1,3: Villavon Caninius; 2,17; 5,6; 9,7) und die des Vesuvausbruches (6,16 und 6,20) kurz er-

ses Briefs ein Indiz für eine sorgfältige Komposition des Buchs, das dieSchilderungen von Naturphänomenen und „Wundern" überlegt platzicrt.Werfen wir einen kurzen Blick auf die Buchstruktur: Wenn das Buchals literarische (sowie materielle) Einheit angesehen wird,10 kommen inderselben Buchrolle noch die Beschreibungen der Quellen des FlussesClitumnus (8,8) und die des lacus Vadimo (8,20) vor.11 Drei von den ins-gesamt 24 Briefen des volumen enthalten also Berichte über naturwis-senschaftliche, wasserbezogene Phänomene (8,8; 8,17; 8,20), welche dieanderen Themen des Buches12 unterteilen und variieren. Die Position derFluss-Thematik innerhalb des Buches scheint einem Streben nach Sym-metrie geschuldet: Sieben Briefe nach dem Anfang findet die idyllischeDarstellung des Clitumnus Platz, sieben Briefe vor dem Ende der Berichtder katastrophalen Überschwemmung des Tiber und des Aniene. Diezwei Briefe erweisen sich schließlich als elegante korrespondierende Stü-cke, in denen eine fluviale Landschaft in ihrer potentiell dichotomischenNatur von locus amoenus und locus horridus dargestellt wird.

3. Ein textkritisches Problem

Von den Punkten, auf die sich die plinianische Textkritik in diesem Briefkonzentriert hat, scheint insbesondere einer noch nicht abschließend ge-klärt zu sein, und zwar die syntaktische Integrierung von atque culminaam Ende von 8,17,4.

Die Überlieferungssituation dieses Satzteils ist problematisch. DerCodex Laurentianus Mediceus, plut. 47, 36 (der sogenannte M), der bes-te Codex13 der Handschriftenfamilie, welche die ersten 9 Bücher (alsodie private Korrespondenz des Plinius) enthält, tradiert nämlich: inte rhaec arborum truncos aut villarum trabes varie lateque fluitantia. DieSituation der zweiten Familie, der Sammlung der 10 Bücher, die auch den

wähnt (um einen ersten Einblick in die umfangreiche Sekundärliteratur zu diesenThemen zu bekommen, siehe Gibson-Morello 2012, 306-307).

10 Siehe Gibson-Morello 2012,36-73, die in einer Analyse von Buch VI symmetrischeStrukturen in der Anordnung der Briefe erkennen (insb. 39-45) und thematischeKernaussagen hervorheben. Der Ansatz ist besonders interessant und lädt dazuein, dieselbe Herangehensweise auf die übrigen Bücher anzuwenden, um themati-sche und strukturelle Verbindungen innerhalb derselben Einheit zu entdecken.

11 Zu diesen zwei Briefen siehe Lefevre 2009, 257-272 (= Id. 1988, 246-264).12 Dazu siehe Whitton 2010, insb. 118-120, 134-139, der in seiner detaillierten Ana-

lyse der zentralen Briefe 13, 14 und 15 zeigt, inwiefern Sklaverei ein Leitmotiv desachten Buches ist.

13 Das ist auch der einzige Codex dieser Familie, der den Brief 8.17 überhaupt über-liefert.

394 Stefane Rocchi

Briefwechsel mit Kaiser Trajan überliefert und aus einer einzigen spät-antiken Handschrift, dem heutigen Fragmentum Neo-Eboracense Mor-gan M 462 (bezeichnet als H) abstammt, ist komplizierter und verlangteine knapp zusammenfassende Vorbemerkung.14 Da jene Handschrift,die zu Beginn des 16. Jahrhunderts noch vollständig in Paris aufbewahrtwar, später größtenteils verlorengegangen ist und ihre ältesten Abkömm-linge nur die Briefe 1,1 bis 5,6 überliefern, ist diese Familie für Epistel8,17 nur durch Textzeugen repräsentiert, die man umsichtig prüfen muss:und zwar erstens durch die aus diesem Codex abgeschriebenen Seiten (I)eines Kopisten des Guillaume Bude, der seine zwei lückenhaften Dru-cke mit den fehlenden Briefen vervollständigen15 und später zusammenbinden ließ (der heutige Band Oxford, Bodleian Library, Auct. L. 4. 3);zweitens durch die Randnotizen des Kopisten sowie Budes16 persönlichzu den eben genannten Drucken, die aus derselben alten Quelle stammensollen;17 drittens durch die Ausgabe des Aldus Manutius (1508), der sichwenige Jahre nach Bude des gleichen Codex (H) bedienen konnte.

In dem vom Kopisten Budes handgeschriebenen Text (I)1S ist villarumtrabes varietateq(ue) zu lesen. Der Fehler varietateq(ue) wird aber mit ei-ner Integration am Rand auf folgende Weise korrigiert: atq(ue) culmina/varie lateq(ue). Darüber hinaus steht atque culmina in der Ausgabe desAldus.

Da es unwahrscheinlich ist, dass beide, der Kopist Budes und Aldus,jeweils für sich atque culmina konjiziert haben oder dass eine so kompli-zierte und unnötige Einfügung überhaupt eine Konjunktur sein kann,19

Eine ausführliche Darstellung der Überlieferungsgeschichte Plinius' des Jüngerenbieten das Vorwort der mustergültigen Ausgabe von Mynors 19662 sowie Reynolds1983,316-322.Der Kopist fügte die Briefe 8,8,3-8,18,11, die in der Ausgabe des Beroaldus (sowiein den Handschriften der Familie der 9 Bücher außer M) fehlten, und 10,1-40, wel-che nicht Teil der Ausgabe des Avantius waren, hinzu.Neben den Varianten am Rand hatte Bude auch den bisher unbekannten Brief 9,16selbst eingefügt.Zu dem von Bude zusammengestellten Plinius siehe Merrill 1907; Rand 1923,133-134, insbes. 158-160; Stout 1954, 58-59; Mynors 19662, xviii-xix; Reynolds 1983,319-320.Dieser Text stammte vermutlich in einer ersten Fassung (vor der Reinschrift) voneiner dem Codex M ähnlichen Textgestalt ab (so Rand 1923, 170-175,178,179).Die Beweislast liegt dabei auf Seiten desjenigen, der diese Lösung favorisiert. Carls-son 1922,56 Anm. l nahm an, es handele sich um eine Konjektur von Aldus, die derKopist von Bude aus der Aldina aufgenommen habe (er glaubte also, dass der vonBude beauftragte Abschreiber erst nach der Erscheinung der Aldina, im Jahr 1508,gearbeitet hatte); Stout 1962, ad loc. Anm. 105 ist seinerseits der Meinung, atqueculmina sei „a conjectured addition to the text" von Giovanni Giocondo (lohanneslucundus) im Exemplar Budes und in seinem eigenen Plinius, mit dem Aldus Ma-

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kann man mutmaßen, dass atque culmina in dem sogenannten vetustissi-mus Parisinus (H) gestanden hat,20 also mindestens in einem Zweig derzweisträngigen Überlieferung des Plinius.

Selbst wenn diese Rekonstruktion zutrifft, ist das textkritische Pro-blem noch nicht gelöst, weil der Satz tatsächlich in beiden Fällen, entwe-der mit oder ohne atque culmina,2' grammatikalisch korrekt konstruiertwerden kann. Wenn man ihn ohne atque culmina liest, ist (varie lateque)fluitantia ein auf truncos und trabes im Neutrum bezogenes Partizip oderaber ein substantiviertes Partizip, das asyndetisch auf truncos und trabesfolgt. Letzteres lässt sich aber ausschließen, weil dies ohne ein weiteresauf eher unerwartet und zu gezwungen zu sein scheint, vor allem auf-grund der eleganten Gestaltung der Satzglieder22 durch Adverbien undKonjunktionen (alihi... et..., alibi..., ibi..., hie ... et..., atque ... aut...)und der konkreten Angaben von Wrackteilen, Tieren und Menschen(adparatus ... supetlectilem ... instrumenta ... boves aratra rectores ...armenta ... truncos ... trabes)," zu denen das allgemeine fluitantia nichtpasst. Die erste Interpretation ergibt sich daher als die einzig möglicheohne atque culmina; dagegen spricht aber - meiner Meinung nach - derStil des Plinius, der sowohl im übrigen Corpus der Briefe als auch imPanegyricus, vor allem am Ende eines Satzes bzw. eines Kolons, die An-bindung von Partizipien im Neutrum Plural an ein Substantiv vorzieht:z.B. 1,16,2 sonantia verba et antiqua; 2,17,4 specularibus ac multo magisimminentibus tectis muniuntur; 6,16,11 ruina ... montis litora obstantia;6,20,6 iam quassaüs circumiacentibus tectis; Paneg. 22,4 videres refertatecta ac laborantia; 47,5 aliqua dura et obstantia; 55,1 stantsecurae domusnee iam templa nutantia; 73,1 resultantia vocibus tecta; 81,4 non ille, sc.Traianus, fluitantia vela aut oculis sequitur aut manibus, sed nunc guber-naculis adsidet, nunc ... certat... remis ... transferre obstantia freta; 92,5inter secunda omina et vota certantia.

nutius später gearbeitet haben soll (darüber hinaus siehe Stout 1954, 128-129, wodieser vermutet hatte, dass atque culmina eine Lesart am Rand des codex parisinusgewesen sei). Zur Rolle von Giocondo sie die praetatio von Aldus.Diese Rekonstruktion entspricht den Schlussfolgerungen von Rand 1923,174-175.Dies erklärt natürlich die unterschiedlichen Entscheidungen oder die Unentschlos-senheit der Herausgeber: Für atque culmina entscheiden sich Keil 1870; Müller1903; Kukula 21912; Schuster 1933; Mynors 21966 dubitanter; Radice 1969; Zehn-acker 2012 dubitanter; dagegen sind Keil 1892; Merrill 1921; Guillemin 1928; Hilt-brunner 1946 (atque culmina im Text aber getilgt); Schuster-Hanslik 31958; Stout1962; Guillemin-Zehnacker 41992.Gamberini 1983,297 weist insbesondere auf die Bi- und Tricola in 8,17,4 (und 5) hin.„Die Detaillierung des Gcsamtgegenstandes" und der „Gebrauch der die Anwe-senheit ausdrückenden Ortsadverbien" gehören u.a. zu den Mitteln der evidentiaoder der Ekphrasis (siehe Lausberg 1960, 399-407).

396 Stefane Rocchi

Darüber hinaus wären die abgerissenen culmina, die zusammen mitBaumstämmen und Balken im überfluteten Land weit und breit dahin-treiben, eine variierte Wiederaufnahme der von Plinius schon erwähntentecta und villae (8,17,3).

4. Ein intertextueller Ansatz

Zusätzlich zu diesen textkritischen Überlegungen scheint die callidaiunctura im Hyperbaton villarum ... culmina in Plinius' Kunstprosa eineReminiszenz an Vergils erste Ekloge zu enthalten, deren Schlussverse(82-83) jeder Leser im Ohr hatte: et iam summa procul villarum culminafumant l maioresque cadunt altis de montibus umbrae. Die Verse sindder früheste Beleg für einen Ausdruck, dem im tradierten Corpus derlateinischen Texte ein gewisses Fortleben beschieden war (villarumlvillaeculmina).24 Aber die Kontexte, in denen er zu rinden ist, sind sehr unter-schiedlich: Bei Plinius geht es um einen locus horridus, bei Vergil handeltes sich um eine friedliche Abendstimmung in einer durch die Erwähnungder villae romanisierten Hirtenlandschaft.25

Mit aller Vorsicht möchte ich hier vorschlagen, dass eine mögliche Vor-lage für Plinius Ovid gewesen sein könnte, der sich in der Beschreibungder Sintflut in den Metamorphosen, am Hexameterende, ebenfalls dieserWortverbindung bedient (met. 1,295 culmina villae). Die Ähnlichkeitenbeschränken sich jedoch nicht nur auf die Verwendung dieser Klauseloder von Wörtern, die sehr allgemein sind und infolgedessen in jeglicherBeschreibung einer Überschwemmung vorkommen können; sehr ähn-lich sind auch die bildliche Schilderung der Katastrophe (siehe unten)und die Perspektive aus der Vogelschau, von der aus die Erzählung beiPlinius und bei Ovid erfolgt.26 Von der Perspektive bei Plinius ist schondie Rede gewesen; Ovid wiederum wählt einen kosmischen Blickwinkel:

24 Siehe Thesaurus linguae Latinae s.v. culmen, col. 1290,62-65, der folgende Stellenaufführt : Ov. met. 1,295; Sii. 15,534; Märt. 4,64,10 celsae culmina delicata villae;luv. 14,89 aha parabat culmina villarum. Auson. Mos. 20 culmina villarumpendcn-tibus edita ripis.

25 Siehe Cucchiarelli 2012,170.26 Die Ähnlichkeit mit Ovid scheint auch stärker als die mit Horaz (carm. 1,2, insb.

13-16 und mit Tac. hist. 1,86,2, welche Guillemin 1929, 120-121 vorgeschlagenhatte; dagegen Sherwin-White 1966, 468 und Zchnacker 2012, 153) zu sein, derallenfalls der ovidische Intertcxt ist. Die auffälligste IJbereinstimmung unter die-sen Texten von Horaz, Plinius und Tacitus ist jedoch das „Wunder" des zurück-fließenden Stroms: Hör. carm. 1,2,13-14 retortis ... undis; Plin. epist. 8,17,2 quaesoletflumina accipere et permixta devehere, velut obvius retro cogit, sc. Tiberis; Tac.hist. 1,86,2 remeante flumine (siehe auch Plin. nat. 36,105 Tiberis retro infu.\us).

Plinius, Brief 8,17: Eine Überschwemmung des Tiber und des Aniene 397

Vom Olymp aus entscheidet sich Jupiter für die Vernichtung der frevel-haften Menschheit durch Wasser und befiehlt den Winden, die Wolken zusammeln (met. 1,260-269).

Die erste Buchrolle der Metamorphosen war zweifellos Bestandteilder idealen Bibliothek des Plinius und seiner Leser.27 Außerdem hattedie Beschreibung der kosmischen Sintflut in den Metamorphosen dieAufmerksamkeit Senecas in den Naturales Quaestiones auf sich gezogen,welcher die Überschwemmung als Mittel der Zerstörung der alten Weltthematisiert (3,27-28) und dabei die ovidischen Verse kritisch diskutiert(3,27,13-14; 3,28,2).2S Auch hier oder - besser gesagt - insbesondere hierbei Seneca sind die thematischen, inhaltlichen und wörtlichen Kongru-enzen mit Plinius so zahlreich, dass sie kaum nur der Behandlung des-selben Themas geschuldet sein können.29 Es ist daher wahrscheinlicher,dass Plinius in absichtlicher imitatio seinen Text mit denen der beidenprominenten Autoren konfrontiert hat,30 vor allem mit Senecas Katastro-phenbeschreibung wegen deren wissenschaftlichen und rationalistischenAnsatzes, wodurch sie zu einer genauen Schilderung der tatsächlich ge-schehenen Überschwemmungen des Tiber und des Aniene besser pass-te: Plinius vollzieht also eine Steigerung von der spielerischen DichtungOvids über die wissenschaftliche, aber auch mit Pathos formulierte ProsaSenecas hin zu einem hochliterarischen Brief, der von einem echten ka-tastrophalen Geschehnis berichtet.

Eine Synopse der auffälligsten gedanklichen und wörtlichen Paralle-len kann die vorgeschlagene Rekonstruktion dieses Vorgangs am bestenveranschaulichen:

27 Zur Präsenz von Ovid in Plinius siehe Marchesi 2008, 7, 8, 15-16, 18-26, 232-233,Gibson-Morcllo 2012, 43, 84, 259-263, Whitton 2013, 3-4, 12, 33, die sich v. a. mitden möglichen Einflüssen der ovidischen Versepisteln (insb. Tristia und Epistulaeex Ponto) auf die Struktur der plinianischen Briefsammlung beschäftigen; vorsich-tiger, wenn nicht sogar skeptisch, äußert sich hingegen Wulfram 2008,437-441 (mitumfangreicher Sekundärliteratur zum Thema).

28 Siehe dazu den detaillierten Beitrag von Pierini Degl'Innocenti 1990, 177-210.29 Es ist hingegen interessant zu bemerken, dass die Passage über den lacus Vadimo

in Sen. nat. 3,25,8-10, deren Einfluss auf Epistel 8,20 vermutet worden ist (Lefevre2009, 258 = Lefevre 1988, 248; Cova 1997, 97), keine auffälligen Spuren hinterlas-sen hat. Über Seneca in Plinius siehe ferner die folgende Anmerkung und Gib-son-Morcllo 2012, 303; weitere mögliche Übereinstimmungen mit Seneea in 8,17,6werden von Trisoglio 1973, 836 Anm. 283-284 vorgeschlagen.

"•' Überzeugende intertextuelle Verbindungen zu Ovid und zugleich zu Seneca (undzu Cicero) hat Whitton 2010, 128-130 (insb. Anm. 74) in Plin. epist. 8,14,8-9 iden-tifiziert.

Thema PLIN. epist. 8,17 SEN. nat. 3 OVID, met. l oo

RegenfälleÜberflutung

vollständigeÜberschwemmung

Die Flut reißt Wäldermit sich.Die Flut reißt Bergemit sich.

Die Flut reißt Häusermit sich.

l crebra düuvia1 Tiberis alveum excessh etsuperfunditur2 innatat campis

2 quaque planum solum, pro solocernitur.

Inde quae solet flumina accipereetpermixta devehere, velut obviusretro coglt, atque ita alienis aquisoperit agros, quos ipse non tangit.

3 Anio ... nemora ... fregil etrapuit;3 subruit montes, et decidentiummole pluribus locis clausus, dumamissum iter quaerit.

3 impulit tecta

27,1 crebri... imbres27.8 cum superfusi novas sibi fecere ri-pas ac ... excessere alveo?27.9 ubi per campestria fluens Rhenusne spatio quidem languit, sed latissimasvelut per angustum aquas impulit.27,11 lam omnia qua prospici polestaquis obsidentur.

27,10 promovet litus, nee continetur suisfinibus, sed prohibent exire torrentesaguntque fluctum retro. Pars tarnenmaior ut maligno ostio retenta restagnat,et agros in formam unius lacus redigit.(siehe auch das Zitat von Ov. met. 1,292in Sen. nat. 27,3,13)27,7 devolutus torrens attissimis monti-bus rapit silvas27.9 cum Danuvius non iam radices neemedia montium stringit, sed ... ferenssecum madefacta montium latera ...deinde non inveniens exitum (omniaenim ipse sibi praecluserat) ...27,6 labant ac madent tecta, et in imumusque receptis aquis fundamenta desi-dunt... (siehe auch das Zitat von Ovid.met. 1,285-289 mit einschließendem Lobund Kritik in Sen. nat. 3,27,14-15)

269 densi funduntur ... nimbi

285 exspatiata ruunt per apertosflumina campos

291-292 iamque märe et tellus nul-lum discrimen habebant; / omniapontus erat, deerant quoque litoraponto

(siehe v. 310 pulsabant ..montana cacumina fluctus)

287-290 flumina tecta ... rapiunt... /si qua domus mansitpotuitqueresistere tanto / indeiecta malo,culmen tarnen altior huius / undategit pressaeque latent sub gurgiteturres.

Thema PLIN. epist. 8,17 SEN. nat. 3 OVID. met. l

Die Flut reißt (u.a.) Herden 4 alibi instrumenta ruris, ibi bo- 27,7 devolutus torrens ... abluit villas et 286-287 cum ... saus arbusta simulmjt sich ves aratra rectores, hie soluta et intermixtos dominis greges devehit; vul- pecudesque virosque / tectaque ...

sisque minoribus tectis quae in transitu rapiunt...abdux.it, ...

Die Flut übersteigt Berge

Regenfälle und Sturmwind

ves aratra rectores, hie soluta etlibera armenta, atque inier haec... villarum trabes atque culminavarie lateque fluitantia.5 ac ne illa quidem malo vacave-runt, ad quae non ascendit amnis.Nam pro amne imber...

Multi eius modi casibus debüitatiobruti obtriti, et aucta luctibusdamna.5 imber adsiduus5 deiecti nubibus turbines

28,4 deinde in miram altitudinem eri- 310-311 pulsabant ... novi monta-gitur, sc. fretum, et illis tutis hominum na cacumina fluctus./maximaparsreceptaculis superest. Nee id aquis ar- unda rapitur; quibus undapepercit,duum est, quoniam aequo terris fastigio / illos longa domant inopi ieiuniaascendunt. victu

28,2 assiduos imbres27,1 an ... hiems ... vim aquarum ruptis 261 exomninimbosdemitterecaelonubibus deiciat

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Das Schema hebt die Wiederaufnahme von Themen und Ausdrückenund deren Bearbeitung mit Variationen hervor. Zugleich wird die fort-laufende Rationalisierung des Stoffes im Verlauf eines Aufbereitungs-prozesses deutlich, durch den das Sintflut-Motiv von irrationalen Aspek-ten bereinigt und an die unterschiedlichen Situationen und Gattungenangepasst wird: von den dichterischen adynata der Metamorphosen, diein der wissenschaftlichen und philosophischen Prosa des Seneca aus-drücklich kritisiert werden, zur Beschreibung einer echten Situation beiPlinius, die aber auf poetisierende Züge doch nicht verzichtet.

Es handelt sich übrigens nicht um die einzigen intertextuellen Bezie-hungen, die man feststellen kann.31 Plinius' großes Vorbild Cicero steuertneben den Begriffspaaren solutus et über (z.B. Verr. 2,1,33; Plin. epist.8,17,4)32 und varie et late (Sest. 97; Plin. 8,17,4: varie lateque) vor allemzwei Verben bei, die ein weiteres textkritisches Problem lösen. In 8,17,3lesen nämlich der Codex Laurentianus Mediceus, plut. 47,36 (M) und derKopist von Bude (I) se super rulnas eiecit atque extulit, wobei Aldus (a)und eine Randanmerkung im selben Exemplar Budes (1) anstatt der lec-tio difficilior ,eiecit' eine mögliche alte Glosse, evexit, tradieren. Für denText von M und I, und zwar für eiecit, spricht eine Passage aus Pro Caelio(75): ex eo quicquideratemersittotumquese. eiecit atque extulit(und kurz vorher: voluptatum quae, cum inclusae diutius et prima aetatecompressae et constrictae fuerunt, subito se non numquam profun-du n t atque e iciunt universae).33 Die Gewalt des Wassers, das sichüber die Trümmer ergießt, wird also von Plinius mit lang unterdrückterjugendlicher Leidenschaft, die sich auf einmal ausstobt, und mit demerfolgreichen Befreiungsschlag des jungen Caelius, mit dem er sich dergefährlichen Beziehung mit Ciodia entzieht, verglichen.

Wenn diese Rekonstruktion richtig ist, fordert Plinius schließlich sei-nen Korrespondenten Macrinus (sowie seine Leser) intellektuell herausund ehrt ihn zugleich dadurch, dass er einen Brief verfasst, der nicht nurKenntnisse der Dichter, Redner und Philosophen, sondern auch die ent-sprechende Kompetenz, die Zitate wiederzuerkennen, voraussetzt.

31 Seneca könnte einen weiteren Ausdruck, pretiosa rura (dial. 9,8,5), beigetragenhaben, wenn das nicht einfach Zufall ist, wie es sich auch im Fall von der Junkturdemissioribus ripis (Bell. Alex. 29,4; Plin. epist. 8,17,1) vermuten lässt.

32 Zu dieser Synonymenhäufung, die auch in Plin. epist. 2,11,4 verwendet wird, siehePflips 1973, 69, 378 und Whitton 2013, 164.

33 So Carlsson 1922, 55 (siehe auch Dyck 2013, 172). Diese Stelle könnte den Samm-lungen von möglichen ciceronianischen Zitaten bzw. Nachahmungen in Plinius hin-zugefügt werden (siehe das detaillierte Ver/eichnis in Marchesi 2008, 252-257 unddie in Vergessenheit geratene Dissertation von Pflips 1973). Generell zur Präsenzvon Cicero in der plinianischen Sammlung siehe jetzt Marchesi 2008, insb. 213 ff.und Gibson-Morello 2012, insb. 74-103, 296.

Plinius, Brief 8,17: Eine Überschwemmung des Tiber und des Aniene 401

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Gymnasium 122,2015 403

BESPRECHUNGEN

Auctores Graeci et Latini/Literaturwissenschaft

FLORENCE YOON: The Use of Anonyme us Characters in Greek Tragedy. The Shapingof Herocs. Leiden (Brill) 2012. Mnemosyne. Supplements: 344. XTI, 178 S. € 94,-.

Zum literarischen Helden wird eine Person nicht nur durch ihre Taten und Leistun-gen, sondern vor allem durch ihre Umwell, von der diese Person sich absetzt, der siein irgendeiner Weise zur Hilfe kommt und die sie durch ihre Worte und ihr Verhaltenerst zum Helden macht. In besonderer Weise sahen sich die griechischen Tragikerdem Problem ausgesetzt, den Protagonislen ihrer Stücke, die in der Regel bereits einelange literarische episch-chorlyrische und seit dem 5. Jahrhundert auch tragische Bio-graphie auf ihren Schullern hallen, durch ihre Handlungskonzeption jeweils ein neuesProfil zu verleihen. Dies war umso nötiger, als sich die Tragiker in einem ständigenKonkurrenzkampf mit den anderen bei demselben Anlass, den Dionysosfesten inAthen, zum Wetlkampf anlrelenden Dichlern befanden und diesen agonalen Dialog,den wir beim Eleklra-Oresl-Sloff gul nachvollziehen können, gerade darin suchten,dass sie sich Irotz der großen Menge an zur Verfügung stehenden Mylhen auf einigewenige beschränkten. Aristoteles (Poetik c. 13, 1353al7-22) führt den Alkmeon-,Oidipus-, Oresl-, Meleager-, Thyesl- und Telephossloff als die Mythen an, die bei denTragikern sich besonderer Beliebtheit erfreuten.

Eine Möglichkeit, sich von den Bearbeilungen desselben Stoffes durch einen Ri-valen abzuselzen und damil elwas Neues zu schaffen, bestehl darin, Figuren, denenbisher in den literarischen Bearbeilungen keine größere Bedeutung zufiel, in derHandlungskonzeption zu stärken (wie z.B. Ismene und Chrysothemis in Sophokles'Anligone und Eleklra) oder überhaupl neue dramatis personue einzuführen, die, dasie im tradilionellen Mylhos nichl verankert sind, anonym bleiben müssen. Geradediesen anonymen Iragischen Charakteren wurde in den letzten Jahren, wie ein Blickin die einschlägigen ,Companions' deutlich vor Augen führt, eine größere Aufmerk-samkeit geschenkl. Somil liegt die Sludie Y(oon)s durchaus im Forschungstrend. Nachder Einführung in die Problemstellung (1-8) nimmt sie in einem einleitenden Kapiteleine Klassifizierung der anonymen Personen in vier Gruppen (Sklaven, insbesondereAmmen und Pädagogen; andere Diener/Sklaven, besonders Boten; Priester; Kinder)vor. Diese Einteilung hätte theoretisch untermauerl werden können durch die Ana-lyse der .Aulorilätsfelder', die M. Griffith vornimmt (Aulhorily Figures, in: J. Gregory[Hrsg.], A Companion to Greek Tragedy, Maiden - Oxford - Carlton 2005, 333-351).Interessant wäre es sicher auch, die gar nicht so kleine Gruppe der stummen Per-sonen (xtocpa jiQoacojtu) in die Betrachtung einzubeziehen, sofern sich ihre Existenzaus den inneren Didaskalien des Textes erschließen lässt (B. Zimmermann, Neben-figuren in den Tragödien des Sophokles, Prometheus 38, 2012, 60-66). Im Hauptleilbesprichl Y. die einzelnen anonymen Charaktere unter vier klug gewählten Fragestel-lungen (1. What they say, 41-55; 2. Whal is said lo Ihem, 55-85; 3. What they do,85-98; 4. Whal they are, 98-120). Es folgen besondere Fälle (die Königsmutler in denaischyleischen Persern, 121-129; 'Kilissa' in den aischyleischen Choephoren, 130-133;