mauvaise pioche magnus est amor - kulturverein großbeeren

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Jürgen Mittag Mauvaise Pioche oder Magnus est amor 1 3 2

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Jürgen Mittag

Mauvaise Pioche oder

Magnus est amor

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Alle Personen dieses Romans sind frei erfunden.

Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist weder unbeabsichtigt noch zufällig.

Zur Titelseite: 1 Zu diesem Foto konnte ich keine Urheberschaft ermitteln. Sollte ich

eventuell Urheberrechte verletzt habe, bitte ich um Mitteilung. 2 Mauvaise pioche (franz.: Pech gehabt bzw. dumm gelaufen)

Magnus est amor (lat.: Groß ist die Liebe) 3 Gemälde von Carl Röchling (1855-1920) - Im Hintergrund die alte Kirche in

Großbeeren

Historische Details sind den folgenden Büchern entnommen

Frank Bauer: Großbeeren 1813 – Die Verteidigung der preußischen Hauptstadt

Edition Kurt Vowinckel-Verlag KG – ISBN 3 921 655 81 X

Manfred Michael: Chronik von Großbeeren 1721 bis 2010

Eigenverlag des Autors

Manfred Michael: Großbeeren 1813-2013 – Von Siegesfest zu Siegesfest

Eigenverlag des Autors

In literarischer Freiheit wurden einige Details bewusst leicht verfremdet.

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10. Juni

„Monsieur le General, Lieutenant Villeneuve meldet sich wie befohlen zur

Stelle!“

Er wartete in korrekter Haltung, bis der General die Ordonnanz

hinausgeschickt hatte.

Dieses Ritual wiederholte sich immer dann, wenn Villeneuve seinem

alten Freund einen privaten Besuch abstattete. Beide wollten nicht öffentlich

machen, dass sich ihre Familien seit Generationen kannten.

„Nehmen Sie Platz, mein Lieber“, sprach ihn der General an und zeigte

auf einen Stuhl in der Nähe seines Schreibtisches.

Trotz des Altersunterschieds, General Guilleminot war sechsundzwanzig

Jahre älter als Villeneuve, hatten sie eine sehr freundschaftliche Beziehung

zueinander. Besonders seit dem Tod seines Vaters war Villeneuve froh, im

General einen väterlichen Freund zu haben.

Sie waren vor dem Krieg oft zu Pferde unterwegs. Meist in der

Umgebung von Dünkirchen, wo die Familie des Generals ein großes Anwesen

hatte. Viele Ratschläge für das tägliche Leben, vor allem aber auch für das

Leben bei der Armee, hatte Villeneuve dem General zu verdanken.

Armand Charles Graf Guilleminot war schon als junger Mann zur

französischen Armee gegangen. Nach kurzer Unterbrechung seiner Militärzeit

hatte er ab 1805 schnell Karriere gemacht, in diesem Jahr erst war er zum

Divisionsgeneral ernannt worden. Im 12. Armeekorps unter Marschall Oudinot

befehligte er die 14. Infanteriedivision.

Auch Jean-Jacques Villeneuve war schon in frühen Jahren zur Armee

gegangen, wie es in seiner Familie Tradition war. Er führte als Lieutenant eine

Eskadron der leichten Kavallerie. Seine ungefähr hundert Mann gehörten zur

Division von General Fournier, die wiederum im 3. Kavalleriekorps unter

General Arrighi ebenfalls unter Marschall Oudinot diente.

Dadurch waren sich die beiden stets nahe und Villeneuve hatte oft die

Gelegenheit, sich mit dem General zu bereden. Guilleminot hatte auf Grund

seines Ranges immer die besten Informationen.

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Villeneuve fand es beruhigend, meist im Voraus zu wissen, was auf ihn

und seine Männer zukommen würde. Das war für einen untergeordneten

Befehlsempfänger nicht selbstverständlich.

Marschall Oudinot wurde nach dem Rückzug aus Russland der

Oberbefehl für das 12. Armeekorps übertragen. Vorher war es von Eugène de

Beauharnais, dem Stiefsohn Napoleons, kommandiert worden. Für ihn hatte

Napoleon andere Pläne, er sollte von Mailand aus gegen Österreich zu Felde

ziehen.

Charles Nicolas Oudinot hatte selbst den Russlandfeldzug mitgemacht,

damals noch als Kommandeur des 2. Armeekorps. Bei Bautzen im Mai wurden

die Koalitionstruppen noch geschlagen, im Juni musste er dann bei Luckau

gegen General von Bülow eine Niederlage hinnehmen, sein Versuch, auf Berlin

vorzustoßen war damit gescheitert.

Besonders schlimme Erinnerungen hatte er an Krasnoje in der Nähe von

Smolensk.

Dieser kleine Ort symbolisierte für ihn den Verlauf des ganzen Feldzugs.

Auf dem Vormarsch nach Moskau wurde dort eine erste Schlacht gewonnen,

die russischen Generäle Rajewski und Newerowski konnten in die Flucht

getrieben werden. Daraufhin konnte Smolensk besetzt werden und der Marsch

Richtung Moskau weitergehen.

Kein Vierteljahr später kam es zu einer zweiten Schlacht, wieder in der

Nähe von Krasnoje. Diese verlief völlig anders. Dem russischen General

Kutusow war es gelungen, die Franzosen über den Dnjepr zurückzuschlagen.

Zum Glück für die Franzosen, waren Kutusows Truppen ebenfalls am Ende ihrer

Kräfte, sonst wären die französischen Kräfte völlig aufgerieben worden, es

hatte allerdings große Verluste gegeben. 6.000 Männer waren tot oder

verwundet worden, 26.000 wurden von den Russen gefangen genommen.

Während Napoleon nach dem Beginn des Waffenstillstands von Pläsnitz

am 4. Juni mit dem Großteil seiner Armee von Breslau nach Dresden gezogen

war und dort sein Hauptquartier errichtete, hatte Marschall Oudinot in Görlitz

Quartier gemacht. Im dortigen Barockhaus am Obermarkt ließ es sich trefflich

wohnen. Es war so viel Platz vorhanden, dass er ohne Probleme akzeptierte,

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dass einige seiner Divisionsgeneräle im selben Haus wohnten. Besprechungen

zwischen den Führungsoffizieren ließen sich so relativ kurzfristig einberufen.

Guilleminots Zimmer war geräumig und man hatte einen vorzüglichen

Blick über den Marktplatz. Es gab sogar ein Klavier. Villeneuve würde den

General in den nächsten Tagen gern um die Erlaubnis bitten, es zu spielen.

Seine Familie war recht musikalisch. Es war selbstverständlich, dass jedes

Kind ein Instrument lernte. Villeneuve hatte sich für das Klavier entschieden.

Na ja, eigentlich war es nicht wirklich seine eigene Entscheidung gewesen. Es

lag nur auf der Hand, weil seine älteren Geschwister, zwei Schwestern und drei

Brüder Blas- oder Streichinstrumente spielten. Das Klavier war lange nicht

angerührt worden, nachdem der Vater, der als letzter darauf spielte,

verstorben war.

Villeneuve liebte die alte französische Nationalhymne, die Soldaten aus

Marseille bei ihrem Einzug in Paris gesungen hatten und die daraufhin lange

Zeit bei nationalen Anlässen gespielt wurde. Sie war recht schwungvoll, ganz

anders als der ‚Chant du Départ‘1, den Napoleon seit 1804 nur noch spielen

ließ.

Oft hatte er auch einige Werke des jungen Wiener Komponisten gespielt,

von dem in Musikerkreisen gerade viel gesprochen wurde. Besonders hatte es

ihm die mit ‚Sonata quasi una Fantasia‘ betitelte Klaviersonate No. 142 angetan.

Man hörte, der Wiener habe seine neueste Sinfonie dem französischen

Kaiser gewidmet. Angeblich sollte sie ‚Sinfonia grande, intitolata Bonaparte‘

heißen. Einige hofften, der Komponist würde nach Paris kommen, um sie

Napoleon dort zu überreichen und vielleicht auch aufzuführen.

*

„Anfangs war ich der Meinung, der Waffenstillstand wäre ein Riesenfehler, weil

er dem Feind Gelegenheit gibt, sich wieder zu erholen. Inzwischen denke ich

aber anders darüber. Napoleon ist es tatsächlich gelungen, neue Kräfte

heranzuführen. Außerdem führt er erfolgversprechende Verhandlungen mit

1 ‚Lied des Aufbruchs‘ 2 Im deutschsprachigen Raum als ‚Mondscheinsonate‘ bekannt

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Österreich in Dresden. Der Metternich soll ein kluger Kopf sein. Seine

Vorstellungen, wie das Gleichgewicht der Kräfte in Europa wiederhergestellt

werden könnte, scheinen auch Napoleon zu beeindrucken. Sollte die Koalition

die Vorherrschaft Frankreichs angemessen anerkennen, wird der Krieg schon

bald vorüber sein.“

General Guilleminot war immer noch, oder besser, wieder ein

fanatischer Anhänger Napoleons. Die Zweifel, die ihm nach der verheerenden,

verlustreichen Niederlage im Russlandfeldzug gekommen waren, waren

genauso schnell wieder verschwunden. Er glaubte immer noch an die Magie

dieses Mannes, der sich selbst zum Kaiser gekrönt hatte und damit eigentlich

die Ideale der französischen Revolution verraten hatte.

„Sie verzeihen mir, Armand, wenn ich das anders sehe. Sie haben neulich

selbst berichtet, dass der Feldzug Verluste von mehr als 300.000 Mann, vielen

Zehntausenden Pferden und unzähligen Geschützen und Fuhrwerken ergab.

Und mir war nie ganz klar, welche Ziele Napoleon mit dem Feldzug eigentlich

verband.“

In den Gesprächen mit seinem Freund wagte es Villeneuve, sich ehrlich

zu äußern. Er wusste, dass der General bei aller Verehrung für Napoleon doch

ein aufrichtiges Wort zu schätzen wusste. In anderer Umgebung hätte es sich

allerdings selbstverständlich verboten, solch kritische Worte zu äußern.

„Das mag stimmen, mein lieber Jean“, entgegnete der General, „es

wurden jedoch in erster Linie Polen und Deutsche geopfert. Der französische

Anteil an den Verlusten beträgt ja nicht einmal zehn Prozent!“

Villeneuve ging durch den Kopf, welch eine merkwürdige Einstellung zum

Begriff ‚Verbündete‘ durch die letzte Bemerkung des Generals deutlich wurde.

Diese Erkenntnis behielt er dann aber doch lieber für sich, er wollte seinen

Freund nicht unnötig provozieren.

„Nach meiner Beobachtung handelt es sich bei den neu zugeführten

Männern um sehr junge Leute, wir können nur hoffen, dass sie wenigstens eine

Grundausbildung erfahren haben. Sonst sind sie nur Kanonenfutter. Und die

Lazarette sind ja wohl auch noch zu gut gefüllt“, warf Villeneuve ein.

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„Oudinot sprach kürzlich von ungefähr 70.000 Mann, die noch nicht

wiederhergestellt sind, da muss ich Ihnen recht geben. Unsere Mediziner tun,

was sie können“, antwortete der General. „Ich setze auf Napoleons großes

Verhandlungsgeschick. Vielleicht können wir bald alle unsere Männer in die

Heimat zurückschicken.“

*

Auf dem Rückweg zum Lager am Stadtrand, wo er zusammen mit seinen

Kameraden Bertrand Lefèvre und August von Goldacker ein Zelt teilte, ging

Villeneuve noch einmal das Gespräch von eben durch den Kopf. Im Gegensatz

zum General hatte sein Enthusiasmus seit dem Rückzug aus Russland deutlich

nachgelassen. Zu viele Kameraden hatte er sterben, zu viele Pferde elendig

krepieren sehen. Von den Verwüstungen in den Dörfern und Orten, durch sie

gezogen waren, ganz abgesehen. Seiner Meinung nach waren die vielen Opfer

völlig sinnlos.

31. März

Verflixt! Jetzt war es wieder passiert! Wie er das hasste!

Karl-Heinz Lefèvre war sauer. Auf den nicht enden wollenden Winter.

Darauf, dass er mal wieder die undankbare Aufgabe hatte, den Papiermüll

rauszubringen. Und überhaupt – es war wohl nicht sein Tag.

Lefèvre konnte auf fast vierzig Jahre im Berliner Schuldienst zurück

blicken. Jetzt war er allerdings froh, dass er seit einigen Monaten heraus war

aus der Tretmühle, wie er sie immer bezeichnet hatte. Er wohnte mit seiner

Frau Gabi, die noch aktive Lehrerin war - viel zu aktive, wie Lefèvre manchmal

bissig anmerkte, wenn Gabi wieder einmal das ganze Wochenende am

Schreibtisch saß – in einer ausgebauten Dachgeschosswohnung im Berliner

Stadtteil Steglitz.

Er hatte akzeptiert, dass er nach seiner Pensionierung seine noch aktive

Frau Gabi stärker entlasten sollte. Er hatte ja nun genug Zeit. Und heute war

eben das Altpapier dran, denn morgen wäre die nächste Abholung.

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Er fand es jedoch absolut nicht lustig, vollgepackt mit alten Zeitschriften,

Zeitungen und Pappen vor der Papiertonne zu stehen und den zugefrorenen

Deckel nicht öffnen zu können.

Oft genug war es ihm schon so ergangen, dass er beim Wiederhochgehen

einiges an Papier gefunden hatte, das ihm beim Hinabgehen aus dem Stapel

gerutscht war. Dann hieß es eben, den Weg doppelt zu machen. Aber dass er

den Deckel mal wieder nicht aufbekam, das ärgerte ihn maßlos.

Missgelaunt warf er seinen Ballast neben die Tonne und fing an, am

Deckel herumzubasteln. Nach einigen Versuchen gelang es ihm, die Tonne zu

öffnen. Als er sich bemühte, den Papierstapel wieder auf die Arme zu

bekommen, fielen einige Briefumschläge aus dem Innern des Stapels. Das war

wohl die übliche Werbung, die Gabi immer gleich aussortiert. Dabei hatten sie

ihren Briefkasten mit einem kaum zu übersehenden ‚Keine Werbung‘ versehen.

Trotzdem bestand manchmal die Hälfte der Post aus irgendwelchen

Werbebriefen. Besonders attraktiven Kreditzusagen ‚Ohne Schufa-Auskunft!‘

oder Einladungen zu Rentnerfahrten mit ultimativem Einkaufserlebnis (gab es

immer noch Leute, die Rheumadecken auf solchen Veranstaltungen kauften? –

Und woher wusste anscheinend alle Welt, dass er vor einem Vierteljahr aus

dem aktiven Schuldienst ausgestiegen war?) .

Ein Brief sah anders aus. Vielleicht hatte ihn Gabi aussortiert, weil er

keinen Absender hatte.

Lefèvre steckte ihn ein und warf die Werbebriefe den Pappen hinterher.

Ihm fiel ein, dass er vor sehr langer Zeit, es musste in den frühen 80ern

gewesen sein, mal aus Versehen die Einladung zu einer mündlichen Prüfung in

den Mülleimer geworfen hatte. Zum Glück gab es damals noch eine Erinnerung

im Postfach seiner Dienststelle.

Wieder oben in der Wohnung suchte er nach einem Gegenstand, mit

dem er den Brief öffnen könnte. Es musste ja kein Brieföffner sein, ein

Küchenmesser tat es auch, er mochte nur nicht, wenn der Umschlag

unordentlich aufriss. Lefèvre war ein Pedant – oder war durch seinen Beruf zu

einem Pedant geworden. Wenn man immer wieder Ordnung predigt, kann man

selbst schließlich kein Chaot bleiben.

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Er war nicht immer so. Er erinnerte sich noch gut daran, dass seine

Mutter ihn immer wieder vergeblich dazu anhielt, sein Zimmer aufzuräumen.

Aber gut – das war bald fünfzig Jahre her und heute ärgerte er sich eben, wenn

Gabi ihm die Tageszeitung mal wieder weitergab, ohne sie nach dem Lesen

wieder in den Originalzustand gebracht zu haben.

In der Küche lag noch das kleine Küchenmesser, mit dem sich Gabi den

Apfel für ihr Frühstücksmüsli geschnitten hatte. Das musste gehen.

Im Umschlag steckte eine Karte

Lieber Karl-Heinz,

es sind mal wieder 5 Jahre vergangen, und ich finde, es ist Zeit für ein

neues Klassentreffen.

Den Termin habe ich mit Gundula, Wolfram und Hans-Martin

abgesprochen.

Wir treffen uns am 13. April um 19 Uhr im Café Einstein.

Bis bald,

Hans

Aha, Hans Lüttke war also mal wieder am Organisieren. Das tat er schon

immer gern, die meisten Treffen und andere gemeinsame Aktivitäten wurden

schon während der Schulzeit von Hans initiiert.

Was sollte eigentlich heißen, der Termin wäre mit den anderen

abgesprochen? Ihn hatte jedenfalls keiner nach seinen Wünschen gefragt, und

es waren ja nicht einmal mehr 2 Wochen!

Lefèvre war in der Sache zwiegespalten. Natürlich gab es mit einigen aus

der alten Klasse noch so viel Verbundenheit, dass er wissen wollte, wie es

denen erging. Auf der anderen Seite kamen auch ehemalige Klassenkameraden

zu den Treffen, mit denen er schon damals nicht viel anfangen konnte.

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Na ja, er würde sich die Sache in Ruhe überlegen und konnte dann ja

noch spontan entscheiden, ob er hinginge. Er nahm eine Reißzwecke und

heftete die Einladungskarte ans Pinnbrett über dem Küchentisch. Dort konnte

sie ihn jeden morgen an das bevorstehende Treffen erinnern

Er nahm sich vor, mit Gabi über den fast verlorenen Brief zu sprechen,

wenn sie von der Schule nach Hause kam. Nicht, dass er die Einladung zum

Klassentreffen für überaus wichtig hielt, geärgert hätte er sich wohl schon,

wenn er nachträglich herausbekommen hätte, dass die anderen sich ohne ihn

getroffen hatten. Und es könnte ja auf diese Weise auch mal etwas wirklich

Wichtiges verloren gehen.

14. August

Sofort nach seiner Rückkehr von General Guilleminot setzte sich Villeneuve mit

seinen beiden Kameraden zusammen. „Ihr werdet es morgen bei der

Einsatzbesprechung ohnehin erfahren, deshalb möchte ich es euch gleich

mitteilen. Es geht wieder los!“

„Endlich eine Entscheidung“, meinte Lefèvre, „wenn auch eine

schlechte.“

Aus Rücksicht auf ihren sächsischen Kameraden von Goldacker hatten die

beiden Franzosen deutsch gesprochen. So gut sie eben konnten. Beide waren in

den letzten Wochen recht gelehrige Schüler geworden und hatten einen

kleinen Wortschatz und die wichtigsten Redewendungen gelernt. Von

Goldacker hatte sich als sehr geduldig erwiesen. Ihm war klar, dass die

Chancen, bei den einheimischen jungen Damen zu landen, mit den

Sprachkenntnissen wuchsen. Auf das immer gleiche „Mademoiselle, visitez ma

tente!“ fiel schon lange keine mehr herein.

„Erzähle Genaueres! Was hat er gesagt?“, fragte von Goldacker.

Die beiden Kameraden wussten, dass Villeneuve mal wieder bei seinem

väterlichen Freund, dem General, einen Besuch absolviert hatte.

„Es gibt einen neuen Befehl Napoleons. Oudinot wurde er heute Morgen

überbracht. Das 12. Armeekorps soll in Richtung Berlin ziehen. Napoleon geht

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davon aus, dass der Feind rasch zurück geworfen werden kann, dass es keine

Probleme machen wird, die Stadt einzunehmen, die Einwohner zu entwaffnen

und die preußische Landwehr zu zerstreuen“, berichtete Villeneuve.

„Da habe ich die Landwehr aber in einigen Scharmützeln ganz anders

erlebt, die haben gekämpft wie die Löwen“, warf von Goldacker ein.

„Sollte der Widerstand doch größer sein, liegt der Befehl vor, die Stadt

durch Granaten in Brand zu schießen und die Stadtmauer durch schwere

Feldgeschosse in Trümmer zu legen. Napoleon meint, es könne so ähnlich

ablaufen wie bei der Einnahme von Wien.“

„Hast du erfahren können, wer sich uns auf dem Weg nach Norden

entgegenstellen wird?“, wollte Lefèvre wissen.

„Unsere Spione melden als wahrscheinliche Gegner das 3. Preußische

Armeekorps unter General von Bülow mit 40.000 Mann und das 4. Korps unter

General von Tauentzien mit 30.000 Mann. Wo General von Blücher mit seiner

schlesischen Armee eingreifen wird, ist noch unklar. Auf dem Papier wäre das

eine weitestgehend ausgeglichene Ausgangslage, wir kommen insgesamt auch

auf etwa 70.000 Mann, vorausgesetzt, es sind alle schon oder wieder

einsetzbar“, führte Villeneuve aus. „Bevor wir abmarschieren, wird uns

übrigens nächste Woche der kleine große Kaiser besuchen. Er will in Görlitz

noch einmal Heerschau halten, bevor es losgeht.“

„Mit deinem losen Mundwerk wirst du irgendwann noch mal Probleme

bekommen“, kommentierte von Goldacker.

„Ach was, wozu kommt er her? Will er uns noch einmal Mut machen und

uns an die Ehre, für das Vaterland zu sterben, erinnern?“

„Wahrscheinlich ist das bei den neu zusammengestellten Truppenteilen

nötig“, warf Lefèvre ein, „ich habe gehört, dass sich in Frankreich mehr als

100.000 Männer der Aushebung entzogen haben sollen. Mehrere Bataillone

sollen ausschließlich damit beschäftigt sein, diese Verweigerer zu jagen und

einzufangen.“

„Jedenfalls soll Oudinot schon in heller Aufregung sein, in Sorge, dass

seine Truppen nicht gut genug den Ruhm der französischen Armee

repräsentieren. Er soll sogar noch zusätzlich exerzieren lassen, damit am 17.

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August auch nichts schiefgeht, vor lauter Übereifer hat er Napoleons

Geburtstag auch schon fünf Tage zu früh feiern lassen“, lästerte Villeneuve.

*

Villeneuve musste zugeben, dass auch er am Morgen etwas aufgeregt war, als

seine Eskadron von der Fleischerstraße zum Obermarkt einbog, um dann unter

dem Balkon von Haus 29 vorbei zu defilieren. Er war dem Kaiser noch nie

vorher von Angesicht begegnet.

Dass Napoleon nicht von großem Wuchs war, hatte Villeneuve gehört.

Nun musste er aber schmunzeln, als er zum Balkon emporblickte. Der kleine

Mann schaute ja kaum über die Brüstung! Wieder verspürte er einen gewissen

Spott - man hätte ihm ja wenigstens eine Fußbank hinstellen können.

Er war direkt unter dem Balkon, als hinter ihm ein kräftiges „Vive

l’empereur!“ erscholl.

4./13. April

Als Lefèvre die Augen aufschlug, war Gabi wieder da.

„Das ging heute aber schnell, mit deinem Damenaufguss!“

„Wieso? Ich war fast 40 Minuten weg, wahrscheinlich hast du die ganze

Zeit geschlafen.“

In den Winter- und den Osterferien gönnten sich die beiden seit Jahren

gern einen ganzen Tag in der Therme Ludwigsfelde. Es war ein bisschen wie

verreisen. Wenn die Liegen bequemer wären und nicht so auf den Rücken

gingen, wäre es ein Tag der totalen Erholung. Aber die geplagten Rücken

wurden bei einer Massage wieder auf Vordermann gebracht, das gehörte stets

zu ihrem Programm. Auf diese Art konnte man locker vergessen, dass der

diesjährige Winter auch Ende März immer noch nicht weichen wollte.

„Ich habe eben von einem Lottogewinn geträumt, der uns nicht

ausgezahlt werden konnte, weil wir nicht rechtzeitig auf eine Benachrichtigung

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seitens der Lottogesellschaft geantwortet haben. Nun geht die Million an den

Finanzminister!“

„Das war wohl ein Alptraum? Allerdings kann ja unser Staat zurzeit jede

Million gut gebrauchen. Aber fällt so ein nicht abgeholter Gewinn nicht zurück

in den Jackpot?“

„Darum geht es mir doch gar nicht! Ich wollte damit doch nur sagen, dass

du aufpassen musst, was du in den Papiermüll wirfst. Neulich war nämlich eine

Einladung für ein Klassentreffen dabei, die ich nur zufällig noch vor dem

Reißwolf bewahrt habe.“

„Entspann dich, Karl-Heinz, wir sind hier zur Erholung. Wer sagt denn,

dass es nicht dir passiert ist? Hast du mir nicht mal etwas von einer

verschluderten Prüfungseinladung erzählt?“

„Ja, ja, du hast ja recht. Wir müssen eben beide etwas vorsichtiger sein.

Es ist ja zum Glück nicht alles Werbung, was in unserem Briefkasten landet.“

„Und – wirst du diesmal hingehen?“

„Wo hingehen?“

„Na, zum Klassentreffen!“

„Ach so, ich habe mir überlegt, das könnte doch mal wieder interessant

sein. Ich habe die meisten schließlich seit fast zehn Jahren nicht gesehen. Das

Treffen ist übrigens schon am nächsten Samstag. Das passt ganz gut, da bist du

ohnehin mit dem Posaunenchor unterwegs.“

„Stimmt, aber eigentlich passt mir das gar nicht. Das Wochenende

könnte ich gut für meine MSA-Vorbereitung gebrauchen.“

„Was gibt es denn da vorzubereiten?“

„Ich will meiner Klasse noch einmal schriftlich zusammenstellen, worauf

sie bei der Vorbereitung auf die Prüfungen achten soll. Das haben wir zwar

schon zigmal im Unterricht besprochen, aber du weißt ja, wie unsere Schüler

sind. Es hört doch kaum einer richtig zu.“

„Wieso unsere Schüler – deine Schüler. Darauf lege ich seit einem

Vierteljahr besonderen Wert!“

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„Ist ja gut – so machst du es mir auch nicht leichter. Ich habe das

schließlich noch einige Jahre auszuhalten. Gerade heute habe ich mit Susanne

darüber gesprochen, wie lange wir diesen Stress noch aushalten wollen.“

Susanne Montag war die einzige unter den Kolleginnen und Kollegen, mit

der sich Gabi ernsthaft und ehrlich unterhalten konnte. Die meisten taten in

der Regel so, als hätten sie überhaupt keine Probleme und alles wäre

wunderbar, Schule wäre für Lehrer heutzutage die reinste Erholung.

„Von wollen kann da wohl keine Rede sein. Oder hat sie vor, vorzeitig die

Segel zu streichen? Susanne ist doch ein Jahr jünger als du.“

„Das schon, aber sie hat wohl auch keine Lust mehr. Sie fühlt sich von

den ständigen Neuerungen ziemlich überfordert. Sie sagt, es macht sie auf

Dauer krank, dass sie ihre selbst gesteckten Ziele immer seltener erreicht. Die

Erwartungen im Unterricht werden ständig herabgesetzt und die Zensuren der

Schüler werden dennoch immer schlechter. Hauptsache, die da oben können

mal wieder mit einer neuen Statistik glänzen, wie modern und zukunftsfähig

unser Bildungssystem seit den Reformen ist. Motto: Wo wir sind, da ist vorn!“

„Na, ich kann mich aber auch an den alten Spruch erinnern: Gestern

standen wir dicht am Abgrund, aber heute sind wir schon einen deutlichen

Schritt weiter!“

Plötzlich quäkte der Lautsprecher: „Das Ehepaar Lefèvre wird in der

Massageabteilung erwartet!“

*

Als er das Café Einstein betrat, wurde Lefèvre klar, dass er viel zu früh

losgegangen war. Es waren erst zwei Klassenkameraden anwesend. Er setzte

sich zu ihnen und sank sofort tief in das weiche Polster der Sitzbank. Er

erinnerte sich, dass er nach seinem letzten Besuch hier zwei Tage unter

Rückenschmerzen zu leiden hatte. Diese Art von Sitzmöbel war für seinen

Rücken Gift. Das waren die zum Glück inzwischen sehr seltenen Momente, in

denen er an seinen Bandscheibenvorfall vor ca. zehn Jahren erinnert wurde.

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Bei der Begrüßung ertappte er sich dabei, die beiden anderen

genauestens zu mustern. Hatten sie sich verändert? Sahen sie älter aus? –

Andererseits, wie würde er wohl auf die anderen wirken? Es kam ihm vor, als

schauten sie nur flüchtig zu ihm auf, aber vielleicht waren sie auch nur sehr

intensiv im Gespräch.

Hans Scheuermann war nach dem Abitur in die Verwaltung gegangen,

Lefèvre hatte sich damals noch gefragt, warum er dazu überhaupt unbedingt

das Abitur machen musste. Inzwischen war Hans aber Abteilungsleiter im

Bauamt, er hatte ein berufsbegleitendes Studium absolviert, um in die

entsprechende Laufbahn zu kommen.

Brigitte Leonberg war wie Lefèvre in den Schuldienst gegangen,

allerdings an die Grundschule. Es war überhaupt eine Zeit, 1969, als viele den

Lehrerberuf anstrebten, in der Regel mit großem Idealismus. In ihrer Klasse

wurde fast die Hälfte Lehrer. Lefèvre erinnerte sich noch gut, wie die meisten

auf dem ersten Klassentreffen einige Jahre nach dem Abitur von den

Möglichkeiten schwärmten und welche tollen Ideen sie hatten, es besser zu

machen, als sie es selbst als Schüler erlebt hatten.

Wenn man dann die fast vierzig Dienstjahre Revue passieren lässt - viel

ist von den Ideen nicht übrig geblieben.

Lefèvre überlegte gerade, wie er sich in das Gespräch geschickt einfädeln

könnte, da kamen die nächsten. Er war froh, Gundula und Wolfram Lungwitz

begrüßen zu können, mit den beiden unterhielt er sich ohnehin lieber, er war

sich sicher, dass einige interessante Neuigkeiten dabei rüber kamen.

„Hallo Wolfram, na, hat das Nobelkomitee endlich bei dir angerufen?“

Obwohl ursprünglich als Aufsteiger vom technischen Zweig gekommen,

war Wolfram schnell der Klassenprimus geworden. Er war zielstrebig in die

Wissenschaft eingestiegen, hatte in Rekordzeit sein Studium der Biophysik

abgeschlossen, promoviert und habilitiert. Nach langjähriger Wirkungszeit in

Berlin hatte sich vor einigen Jahren sein Traum erfüllt, als er zum Leiter eines

Max-Planck-Instituts berufen wurde. Lefèvre musste sich immer mal wieder

eingestehen, dass er Wolfram beneidete. Vielleicht hätte er auch lieber an der

Uni bleiben sollen, auch wenn er sich nicht sicher war, ob sein Talent dazu

gereicht hätte.

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„Ist schon anstrengend, dauernd von Kongress zu Kongress in der Welt

herum zu reisen, gerade letzte Woche in Phoenix ist mir ...“

„Ihr habt noch genug Zeit, euch auszutauschen!“, unterbrach ihn

Gundula, „der Abend ist doch noch lang!“

Gundula und Wolfram waren schon in der Schule ein Paar. Zusammen

mit Hans Lüttke, Hans-Martin Randholz und Joachim Wittkowski bildeten sie

sozusagen den harten Kern der Klasse. Ihnen war zu verdanken, dass es

überhaupt noch zu solchen Treffen kam. Und sie hatten stets viel zu erzählen.

Als nächstes trafen Hans und Hans-Martin ein. Hans-Martin hatte noch

nie ein eigenes Auto, deshalb hatte Hans ihn vom U-Bahnhof mitgenommen.

„N’abend, allerseits“, rief Hans in die Runde. Er war immer noch die alte

Frohnatur. Seine Einstellung zum Leben war beneidenswert. Er war zwar auch

im Schuldienst, hatte sich aber stets seinen Humor bewahrt. Er war der Typ,

mit dem man buchstäblich ‚Pferde stehlen‘ konnte.

Der Kellner hatte wohl mitbekommen, dass sich der Tisch gut gefüllt

hatte und kam mit den Speisekarten. Einen Moment lang war es in der Runde

mucksmäuschenstill, weil alle die Karte studierten.

*

Nach dem Essen setzte sich Hans zu Lefèvre. „Du musst mich mal in

Kleinbeeren besuchen kommen?“

„Bist du ausgewandert?“

„Na, ja, immerhin einige Kilometer raus aus der Stadt.“

„Nie gehört – Kleinbären!“

„Kleinbeeren, mit zwei ‚e‘. Liegt in der Nähe von Großbeeren.“

„Aha, das sagt mir schon eher etwas. Immerhin kenne ich die

Großbeerenstraße. Die geht von Alt-Mariendorf bis zu Fritz Werner.“

„Wohin? Ach so, das Fritz-Werner-Werk gibt es schon lange nicht mehr.

Da residiert jetzt Mercedes-Benz. Aber sonst hast du recht. Es gibt übrigens in

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Berlin nicht nur dreimal eine Großbeerenstraße sondern auch eine

Kleinbeerenstraße, die kennt nur kaum einer, vielleicht weil sie so kurz ist. Das

finde ich ziemlich ungerecht, denn Kleinbeeren ist zwar kleiner als Großbeeren

aber älter.“

„So, so, und warum musste es ausgerechnet dieses Kleinbeeren sein?“

„Eigentlich war es ein Zufall. Es hat sich allerdings herausgestellt, dass es

sich dort wunderbar wohnen lässt. Einerseits total ruhig und trotzdem nahe an

der Stadt, wenn man deren Vorzüge mal wieder in Anspruch nehmen möchte.“

„Und abends werden spätestens um 20 Uhr die Bürgersteige

hochgeklappt?“

„Na, ja, ganz so schlimm ist es nicht. Erstens kann man ja, wie gesagt, mit

dem Auto schnell in die Stadt düsen, andererseits organisieren wir hier

inzwischen regelmäßig recht interessante Veranstaltungen.“

„Und wer ist jetzt ‚wir‘?“

„Vor einigen Jahren hat sich ein Kulturverein gegründet, an dem ich mich

auch beteilige. Wir veranstalten regelmäßig Konzerte, Lesungen und ähnliches.

In diesem Jahr gibt es zum Beispiel ein Riesenfest zur 200jährigen Wiederkehr

der Schlacht bei Großbeeren.“

„Du kennst ja meine Einstellung zu allem Militärischen. Lass mal rechnen

– vor 200 Jahren – das müsste dann ja wohl mit den Befreiungskriegen zu tun

haben.“

„Mensch, Fräulein Lustig wäre jetzt aber mächtig stolz auf dich.“

Fräulein Lustig war damals ihre Klassenlehrerin. Bei ihr hatten sie

Deutsch, Geschichte und Religion. Auf die Anrede ‚Fräulein‘ legte sie immer

besonderen Wert. Eigentlich lud die Person besonders dazu ein, Opfer von

Streichen zu werden, aber alle hatten Respekt vor ihr. Außerdem musste man

sich mir ihr einigermaßen gut stellen, ganz egal waren den meisten ihre

Zeugnisnoten dann doch nicht.

Dafür mussten dann andere herhalten.

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„Ich finde es wirklich bemerkenswert, dass du mir den Streich im

Kunstunterricht nie übel genommen hast, Hans.“

Die Vertretungslehrerin in Kunst hatte eine Hochglanzbroschüre zu

Demonstrationszwecken durch die Klasse reichen lassen. Lefèvre hatte aus

purem Übermut den Namen Hans Lüttke quer auf eine Seite geschrieben. Als

die Broschüre wieder bei der Lehrerin angekommen war, hatte sie das bemerkt

und laut ausgerufen „Wer ist Klaus Lüttke?“. Der ahnungslose Klaus meldete

sich, worauf er sich eine schallende Ohrfeige einfing. Ich musste Klaus die

Sache später erst erklären, der arme Kerl wusste gar nicht, wie ihm geschah.

„Na, ja, ich habe mich dafür bei Professor Altmann schadlos gehalten.

Weißt du noch, wie ich ihm die Reißzwecke auf den Stuhl gelegt habe?“

„Ich kann mich auch noch an den Französisch-Austauschlehrer erinnern,

dem wir den kaputten Stuhl hingestellt haben. Der arme Kerl ist dann mit dem

Sitzmöbel ja auch spektakulär zusammengebrochen, und die ganze Klasse hat

sich kaum noch eingekriegt vor Lachen.“

„Ich glaube, er hieß Monsieur Lieppe!“, warf Hans ein.

„Da sieht man nur, dass wir als Schüler auch keine Chorknaben waren.

„Habe ich dir nie erzählt, dass ich mich eigentlich sehr für Geschichte

interessiere? Fräulein Lustig hat mich nur mit ihrem Unterrichtsstil so

gelangweilt!“

„Na, wenn das so ist, kannst du doch mal zu einer Vorstandssitzung nach

Großbeeren kommen. Die Vorbereitungen für das ‚Siegesfest‘ sind, zumindest

in unserem Verein, bereits in vollem Gange. Da kannst du dich gern mit

einbringen, wenn du Zeit und Lust hast. Und zumindest Zeit hast du doch im

Überfluss!“

„Nun übertreibe mal nicht. Wenn ich an meine vielen Verpflichtungen

denke.“

Lefèvres Augenzwinkern verriet Hans Lüttke, dass er mit seiner

Behauptung ins Schwarze getroffen hatte.

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„Dann komm einfach am nächsten Dienstag nach Großbeeren. Wir tagen

immer in einem Nebenraum im Rathaus. Da wirst du uns ohne Probleme

finden. Kannst dort als Gast teilnehmen.“

Im Gespräch mit Hans Lüttke war einige Zeit vergangen. Lefèvre sah sich

um, die Reihen hatten sich schon etwas gelichtet. Mit den Lungwitzens hatte

Lefèvre sich unterhalten, als alle auf das bestellte Essen warteten. Dabei hatte

er erfahren, dass Gundula mal wieder eine Fotoausstellung laufen hatte, sie

hatte sich ein Stück weit von der Malerei entfernt und in letzter Zeit das

Fotografieren stärker in den Vordergrund gestellt.

Wolfram war wieder einmal viel unterwegs. Er war eben ein gefragter

Vortragsredner auf den einschlägigen Fachkongressen weltweit. Eine Reihe von

weiteren Auszeichnungen hatte seine ohnehin schon beträchtliche Liste von

Ehrungen ergänzt.

Nun waren die interessanten Gesprächspartner bereits gegangen und er

hatte keine Lust zu erfahren, wie viele Enkelkinder jeder einzelne jetzt schon

hatte oder wer mal wieder eine Scheidung durchlebte. So entschloss er sich zu

gehen. Er verabschiedete sich speziell von Hans Lüttke sehr herzlich, fest

entschlossen, den Kontakt mit ihm in Zukunft zu intensivieren.

Nachdenklich verließ er das Café. - Kleinbeeren? Da musste er zu Hause

gleich einmal auf den Stadtplan schauen.

17. August

Seit drei Tagen waren sie nun unterwegs. Bisher war es zu keiner

nennenswerten Feindberührung gekommen. Nach der Vereinigung mit dem 4.

und dem 7. Armeekorps bei Luckau hatten sie gelegentlich Kontakt mit

Vorposten- und Aufklärungsabteilungen des Gegners, die jedoch meist vor der

Übermacht der französischen Truppen zurückwichen.

Das 4. Korps unter General Bertrand war von Sprottau zu ihnen

gestoßen. In diesem Korps dienten neben Franzosen auch Italiener und

Württemberger. Zusammen mit den Sachsen des 7. Korps bildeten sie nun ein

buntes Völkergemisch. Villeneuve war bekannt, dass es auf der anderen Seite,

20

beim Gegner auch nicht anders aussah, immerhin standen ihnen Truppen

dreier Staaten gegenüber, Preußen, Schweden und Russen.

Mit Luckau verband Villeneuve keine guten Erinnerungen. Am 4. Juni

waren sie auf dem Weg Richtung Berlin von den Preußen zurückgeschlagen

worden. Einige Männer aus seiner Eskadron hatten beim Versuch, den Rückzug

zu decken, ihr Leben gelassen. Wahrlich kein gutes Omen für die aktuelle

Unternehmung.

Villeneuve hatte von Guilleminot gehört, dass der Marschall bei

Luckenwalde einen neuen Befehl Napoleons erhalten hatte. Der Kaiser war

wohl ungeduldig geworden, denn er forderte, dass sich der Vormarsch

beschleunigen solle, es sollte geradewegs nach Berlin vorgestoßen werden.

Der Lieutenant hatte damit keine Probleme, die leichte Kavallerie war

schließlich ein sehr beweglicher Truppenteil. Es musste nur immer Sorge

getragen werden, dass der Verpflegungstross das Tempo mithalten konnte.

Oft waren sie auf den Pferden der Artillerie so weit voraus, dass sie eine

Zwischenrast einlegen konnten. In solchen Momenten saßen die drei

Lieutenants gern beieinander.

„Soll das wirklich so problemlos weitergehen, dass der Feind ständig

zurückweicht?“, fragte Lefèvre in die Runde.

„Denk an Russland“, sagte von Goldacker, „da ging es auch immer nur

flott voran und alles wirkte ganz einfach. Dass die Russen Moskau aufgaben,

hat die meisten dazu verführt, mit einem schnellen Sieg zu spekulieren. Dabei

war es nur eine brillante Strategie. Napoleon musste unsere Armee aufgrund

der großen Entfernungen so weit aufteilen, dass die einzelnen Gruppen leichter

zu besiegen waren. Der Gegner hatte unsere Taktik, Truppenteile blitzschnell zu

verschieben, um so bei den Kämpfen immer eine Übermacht zu haben,

irgendwann durchschaut.“

„Wir sind hier aber nicht in Russland“, warf Villeneuve ein. „Hier fehlt das

weite Hinterland. Also wird es früher oder später zur großen

Auseinandersetzung kommen. Ewig kann der Feind nicht zurückgehen.“

21

„Manchmal denke ich, wir wären bei General Reynier besser

aufgehoben. Viele sehen in ihm den besseren Strategen. Was sagt denn dein

General dazu, was hält er denn von Oudinot?“, wollte von Goldacker wissen.

„Wir reden zwar relativ offen miteinander, aber so weit geht Guilleminot

dann doch nicht, den Marschall zu kritisieren. Manchmal kann ich jedoch an

einigen Nebensätzen erkennen, dass er nicht immer mit dessen Anweisungen

glücklich ist“.

„General Reynier ist bei seinen Männern, besonders den Sachsen, sehr

beliebt. Die meisten kennen ihn schon seit Jahren. Unheimlich finde ich nur die

Durutte“, meinte von Goldacker.

Die Division Durutte genoss keinen besonders guten Ruf, in ihr dienten

viele Strafgefangene und die hatten meist eine recht eigenwillige Vorstellung

von Vaterlandsliebe.

„Bei denen fällt mir immer der Spruch ein: Wenn du die als Freund hast,

brauchst du keinen Feind mehr!“, bestätigte Villeneuve.

„Gegen General Bertrand ist selbst Oudinot ein alter Hase. Man sagt, er

führt zum ersten Mal ein Korps, zum Glück haben wir mit ihm nichts zu tun“.

Lefèvre war die Unzufriedenheit mit der Situation deutlich anzumerken.

„Ich habe so eine Ahnung, dass es mit der Ruhe schon bald vorbei ist. So

ein Gefühl in der Magengrube, das mich bisher nur selten getäuscht hat!“

14. Mai

Zu Hause hatte Lefèvre einen Blick auf den Stadtplan geworfen und sich

gemerkt, dass er am besten über die Malteserstraße zur neuen Bundesstraße

101 fahren sollte. Dann ging es eigentlich nur noch geradeaus.

Er freute sich über den Autobahn ähnlichen Ausbau der neuen Straße

und es ging zügig nach Süden. Die erste Ausfahrt schien ihm unpassend, denn

er wollte weder nach Teltow noch nach Schönefeld. An der zweiten Ausfahrt

ging es zum Güterverkehrszentrum. Das schien ihm auch nicht richtig, also

nahm er die nächste Ausfahrt. Merkwürdig nur, dass hier Großbeeren

überhaupt nicht vermerkt war. Es ging weiter vierspurig aber nun wurde er

22

unsicher, seinem Gefühl und dem Sonnenstand nach fuhr er jetzt nach Westen.

das konnte nicht stimmen. Er nahm die Abfahrt nach Ruhlsdorf und wendete.

Offensichtlich war er an Großbeeren bereits vorher vorbeigefahren.

Er näherte sich wieder dem merkwürdig gebauten Verkehrsknoten, an

dem sich mehrere Fahrbahnen kreuzten oder untertunnelten. Lefèvre hatte vor

Jahren von einem Bekannten gehört, dem war es in dem Autobahngewirr von

Los Angeles ähnlich ergangen. Aber dass er sich hier in der Nähe von Berlin

verfahren könnte, hätte Lefèvre im Leben nicht gedacht.

Plötzlich sah er ausgangs einer weiten Kurve einen Turm. Davon hatte

ihm Hans erzählt. in Großbeeren gibt es einen Turm, der an die Schlacht von

1813 erinnern soll. Also war er endlich richtig.

Etwas suchen musste Lefèvre schon, bis er das kleine Hinterzimmer

gefunden hatte, dass die Gemeinde dem Kulturverein für seine Besprechungen

zur Verfügung stellte. Das Mobiliar des Raums bestand aus einem Schrank und

einem Tisch, an dem acht Personen Platz hatten – schlicht aber zweckmäßig.

Der Vorstand war bereits vollzählig anwesend. Paula Wussow, die

Kassenwartin, Regina Eisenhard als Schriftführerin, Wolfgang Hoffnung und

Hans Lüttke als Beisitzer, Werner Klausen als 2. Vorsitzender und Thomas

Schulze, der 1. Vorsitzende des Vereins. Hans Lüttke hatte vorab Einvernehmen

erzielt, dass Lefèvre als Gast an der Sitzung teilnehmen durfte.

Während die üblichen Tagesordnungspunkte wie Protokollabnahme der

vorigen Sitzung und Ausblick auf kommende Veranstaltungen abgearbeitet

wurden, konnte Lefèvre die Runde genauer studieren. Es war deutlich zu

spüren, mit welcher Routine gearbeitet wurde und wie gut sich die Vorständler

offensichtlich kannten. Auch die eine oder andere flapsige Bemerkung fiel,

ohne dass jemand anschließend die beleidigte Leberwurst gab.

Schließlich kam man zu den Vorbereitungen des Siegesfestes. Werner

Klausen berichtete recht frustriert von einem Treffen mit den Mitarbeitern in

der Organisationsgruppe der Gemeinde. Er beklagte, dass immer noch nicht

konkreter über den Ablauf der zentralen Veranstaltung entschieden worden

war.

23

„Entschuldigung, dass ich mich einmische“, erhob Lefèvre das Wort. „Ich

dachte, der Kulturverein organisiert das Fest.“

„Das kannst du nicht wissen, Karl-Heinz“, entgegnete Lüttke, „der Verein

hat schon frühzeitig festgestellt, dass er dazu nicht in der Lage ist. Wir sind nur

eine Handvoll Leute und können das personell einfach nicht stemmen.

Außerdem sind wir der Meinung, dass die Gemeinde in Person des

Bürgermeisters den Hut aufhaben sollte.

Wir als Verein sind gern bereit, zum Gelingen des Festes beizutragen. Wir

wollen es durch eine eigene Veranstaltung bereichern. Hintergedanke ist auch,

dass wir den Schwerpunkt des Festes nicht allein in der Militärschau sehen. Wir

möchten gern den Gedanken der Völkerverständigung nach vorne rücken,

schließlich sind aus den früheren ‚Erbfeinden‘ schon längst befreundete Völker

geworden.“

„Ihr wollt demnach etwas Eigenes auf die Bühne stellen?“

„Das können Sie wörtlich nehmen, Herr Lefèvre“, übernahm Thomas

Schulze wieder das Wort. „Wir bereiten in der Tat ein Bühnenprogramm vor.

Vielleicht gelingt es uns, deutsche und französische Kultur zu präsentieren. In

Form von Text, Musik und Ess- Kultur.“

„Vergiss die Trink-Kultur nicht“, warf Wolfgang Hoffnung ein, „so ein

edler Tropfen französischen Weins ist schließlich nicht zu verachten!“

„Ich merke schon, ihr habt an alles gedacht“, erwiderte Lefèvre, „habt ihr

denn auch die nötigen Kontakte? Meine Frau hat an ihrer Schule einen

französischsprachigen Zug. Ich könnte mal anfragen, ob sich da eine

Kooperation organisieren lässt.“

“Das können Sie gern tun. Vielleicht ist auch unsere Gemeindeschule

bereit, etwas beizutragen. Wir sind über jeden weiteren Beitrag glücklich“,

wandte sich Schulze an Lefèvre. „Und falls Sie einen guten Draht zu Petrus

haben, sollten sie ihn nutzen. Wir sind natürlich auf trockenes Wetter

angewiesen. Die Verhältnisse von vor 200 Jahren brauchen wir bei unserer

Veranstaltung wirklich nicht.“

„Was waren das denn für Verhältnisse?“

24

„Am Tag der Schlacht gab es einen solchen Dauerregen, dass die meisten

Gewehre ihren Dienst versagten, bzw. nur noch als Schlagwaffen benutzt

werden konnten“.

„Kommst du noch auf ein Bier mit zum Italiener?“, fragte Hans Lüttke.

„Ne, heute gibt es doch noch Fußball. Das Freundschaftsspiel Frankreich-

Deutschland, das möchte ich mir ansehen. Diese Auseinandersetzungen sind

immer reizvoll, sozusagen ein Ersatz für kriegerische Handlungen“, sagte

Lefèvre augenzwinkernd.

„Mal bloß nicht den Teufel an die Wand“, entgegnete Lüttke,

„Gewaltausbrüche bei Fußballspielen hat es in letzter Zeit wirklich zu oft

gegeben. Da fällt mir etwas ganz anderes ein: du hast doch vorhin gehört, dass

wir Ende Mai einen Bluesabend planen. Hast du nicht Lust, mit deiner Gabi zu

kommen? Dann kannst du dir mal einen Eindruck davon machen, wie in

unserem Dorf die Post abgeht.“

„O. k., Hans, du hast mich überzeugt, leg mir bitte zwei Karten zurück.

Aber jetzt muss ich mich beeilen, in zwanzig Minuten wird das Spiel

angepfiffen.“

„Dann musst du mich aber mal besuchen kommen. Ich möchte dir gern

Klein- und Großbeeren zeigen“, rief ihm Hans hinterher.

19. August

„Meinst du nicht auch, dass wir schon viel weiter nördlich sein könnten, wenn

wir nicht so vorsichtig agieren würden?“

Villeneuve war an die Seite von Lefèvres Pferd gerückt, sie ritten

nebeneinander her und konnten sich so während des gemütlichen Trabs gut

unterhalten. Seinem Kameraden bekam die Warterei offensichtlich noch

weniger als ihm.

„Wenn ich Guilleminot richtig verstanden habe, soll unser nächstes Lager

bei Baruth aufgeschlagen werden. Er meint, Oudinot traue der ganzen Sache

nicht. Er schätzt die Lage anderes ein. Während der Kaiser meint, der Feind

25

müsste seine Kräfte zwangsläufig aufteilen, wenn er gewahr wird, dass er von

drei Seiten angegriffen wird...“

„Von drei Seiten? Das musst du erklären!“, unterbrach ihn sein

Lieutenants-Kollege.

„Na, Oudinot marschiert von Süden Richtung Berlin, Marschall Davout

von Norden aus Hamburg kommend und General Girard von Westen. Oudinot

meint aber, es sei zu befürchten, dass die anderen beiden Truppenteile nicht

rechtzeitig eintreffen könnten, und wir hätten dann das Problem, dass uns die

nötige Unterstützung fehlte, um die Überhand zu gewinnen.“

„Deshalb rücken wir also so langsam vor?“

„Genau, den eigenen Kräften traut Oudinot, und Guilleminot schließt sich

dem an, auch nicht so recht über den Weg. Er schätzt die Kampfkraft und den

Kampfeswillen nicht sehr groß ein. Unsere eigenen Leute sind überwiegend

jung und unerfahren, den Italienern sagt man nach, dass sie sich absetzen,

sobald es brenzlig wird und die Division Durutte, na ja, du weißt schon!

Oudinot setzt deshalb alles daran, dass unsere drei Kolonnen mit

möglichst gleicher Geschwindigkeit vorankommen, damit wir im Konfliktfall alle

zusammen sind. In Baruth werden wir auf die anderen warten, auch wenn das

dem Befehl Napoleons, schnell nach Norden zu stoßen, eigentlich widerspricht“

Die Kavallerie war naturgemäß wieder einmal schneller unterwegs als die

beiden Artillerie-Divisionen. Sie hatten es im Sattel ihrer Pferde ohnehin recht

bequem. Villeneuve musste manchmal an die armen Teufel bei der Artillerie

denken, die den gesamten Russlandfeldzug zu Fuß unterwegs waren. Sie hatten

dann durchaus schon mal gut und gern 5.000 km in den Beinen.

Bald danach schlugen sie nahe Baruth auf einem weiten Feld ihre Zelte

auf. Wieder begann ein Nerven aufreibendes gespanntes Warten.

22./25. Mai

Diesmal hatte Lefèvre einen anderen Weg nach Großbeeren probiert. Er war

die Ausfahrt nach Schönefeld gefahren und dann gleich wieder nach Süden

26

abgebogen. Das würde ihm den verwirrenden Verkehrsknoten bei Neubeeren

ersparen.

Leider hatte er die Rechnung ohne die Verkehrsplaner gemacht. Kurz

hinter dem Ortsbeginn war man gerade dabei, einen Kreisverkehr neu zu

bauen. Das Güterverkehrszentrum, dass dem Ort gute Steuereinnahmen

beschert, sollte in östlicher Richtung bis zum Lilograben erweiter werden. Und

für diesen Bereich brauchte man eine Zufahrt, die durch die neue ampellose

Kreuzung erreicht würde.

Der Weg war zwar kürzer, schneller aber mit Sicherheit nicht.

Geschlagene fünf Minuten brauchte er, um, meterweise vorrückend, die

Baustelle endlich passieren zu können.

Am Rathaus wartete schon Hans Lüttke auf ihn.

„Wo bleibst du denn?“, rief er Lefèvre entgegen.

„Hättest mir schon beim ersten Mal sagen können, dass die

Verkehrsführung bei euch so kompliziert ist! Dann hätte ich lieber mein

Navigationsgerät benutzt“, antwortete Lefèvre missmutig.

„Das hätte dir wahrscheinlich auch nicht wirklich geholfen. Du glaubst

nicht, wie viele Auto- aber auch Lastwagenfahrer durch Kleinbeeren kommen,

weil ihr Navi-Gerät den neuen Straßenausbau bei Birkholz noch nicht kennt. An

den Straßen in unserer Gegend wird eigentlich seit Jahren gebaut, so schnell

kann man die Karte für das Navi-Gerät kaum aktualisieren.“

„Lass uns als erstes auf den Turm steigen. Von da oben hast du die beste

Orientierung. Normalerweise ist der Turm um diese Zeit nicht zugänglich aber

ich habe mir von Theo, einem Vereinsmitglied, das am Wochenende immer

Besucher auf den Turm führt, den Schlüssel ausgeliehen.“

Kaum drei Minuten später schnauften sie die 137 Stufen der Treppe im

Turm empor. Oben in 32 m Höhe war es ziemlich windig, die Aussicht war

jedoch prächtig.

„Schau, da hinten siehst du das Heizkraftwerk Lichterfelde und weiter

nördlich kannst du sogar den Berliner Fernsehturm erkennen“, erklärte Lüttke.

27

In der anderen Richtung wird deutlich, dass wir in einer richtig grünen

Umgebung wohnen. Bei klarer Sicht reicht der Blick von hier oben 30 km weit.“

„Kann man denn auch sehen, wo damals gekämpft wurde?“, wollte

Lefèvre wissen.

„Klar, schau mal dort“, er zeigte Richtung Westen. „Da hinten siehst du

vor dem Bahnhof die Wasserskianlage. Daneben war das eigentliche

Schlachtfeld. Auf dem Weg zur Bülow-Pyramide kommen wir noch ganz in die

Nähe.“

„Die alten Ägypter haben hier auch ihre Spuren hinterlassen?“, scherzte

Lefèvre, „oder wie ist das mit der Pyramide zu verstehen?“

„Wirst schon sehen, lass uns erst mal wieder hinuntersteigen.“

Im Inneren des Turms, in der kleinen Museumshalle, schauten sie sich

noch die dort dargestellte Schlachtszene an, die einen Eindruck vom damaligen

Kampfgeschehen gibt.

Den Weg zum Rathaus kannte Lefèvre schon. Diesmal bog Lüttke aber

nach links ab. „Hier siehst du unsere schöne Kirche. Die wurde gerade erst

renoviert. Ist jetzt wieder ein richtiges Schmuckstück. Sie wurde vom

preußischen Staat aus Dankbarkeit für die Schlacht nach Plänen von Schinkel

zwischen 1818 und 1820 gebaut.“

„Warum war man denn Großbeeren dafür dankbar, dass sich hier

Franzosen und Preußen abgeschlachtet haben?“, wollte Lefèvre wissen.

„Nicht weil so viele Großbeerener als Soldaten beteiligt waren. Der Ort

ist aber übel verwüstet worden. Die neue Kirche sollte dafür eine

Entschädigung sein.“

„Das wird den einfachen Bauern dann aber mächtig gefreut haben, dass

er sein Haus verloren hatte, er dafür aber in die schicke neue Kirche gehen

konnte“, erwiderte Lefèvre sarkastisch.

„Die alte Kirche war lange vorher schon abgebrannt. Komm erst mal

weiter zur Pyramide, wir können die Kirche auf dem Rückweg noch genauer

ansehen.“

28

Nach ein paar Schritten sahen sie bereits die Spitze des Denkmals.

Während sie näher kamen, erklärte Lüttke: „Da siehst du die kleine Pyramide,

die 1906 errichtet wurde.“

Inzwischen waren sie nahe genug, um eine Tafel mit der Inschrift ‚Unsere

Knochen sollen vor Berlin bleichen, nicht rückwärts!‘ zu erkennen.

„Der Ausspruch soll von General von Bülow stammen. Er hat sich damals

über den Befehl seines Oberkommandierenden, des schwedischen

Kronprinzen, hinweggesetzt. Der wollte nämlich die französisch-sächsischen

Truppen erst nördlich von Berlin abfangen und das hätte bedeutet, dass Berlin

noch einmal besetzt worden wäre. Klar, dass von Bülow als Preuße dazu eine

andere Auffassung hatte und lieber Großbeeren besetzte und den Feind hier

stoppte. Der anschließende Erfolg hat ihm ja letztendlich recht gegeben.“

„Da hast du mal ein typisches Beispiel von mitgedacht, statt Befehle

unbedarft auszuführen. Wenn das doch 130 Jahre später auch üblich gewesen

wäre, was wäre uns alles erspart geblieben“, philosophierte Lefèvre.

Sie gingen einmal um die Pyramide herum. „Das Denkmal ist allerdings

erst mit gut hundertjähriger Verspätung errichtet worden, da stand der Turm

bereits drei Jahre, der wurde nämlich genau zum hundertsten Gedenktag

eröffnet“, erläuterte Lüttke.

„Drei Jahre Verspätung?“, meinte Lefèvre, „Über eine nur dreijährige

Verspätung würde man sich in Schönefeld wahrhaftig freuen!“

Mit der Bemerkung spielte Lefèvre auf den Bau des neuen Flughafens

Berlin-Brandenburg an, dessen Eröffnung gerade zum vierten Mal verschoben

worden war. Der brandenburgische Ministerpräsident war nun in der

Bredouille, hatte er doch sein Verbleiben im Amt mit der Fertigstellung des

Flughafens verknüpft. Die Allgemeinheit war skeptisch, ob er nun zu seinem

Wort stehen würde.

„Wenn eurer Ministerpräsident demnächst das Handtuch wirft, kann der

Vorsitz im Aufsichtsrat der Flughafengesellschaft ja wieder nach Berlin

wechseln“, konnte sich Lefèvre eine spöttische Bemerkung nicht verkneifen.

„Der Regierende Bürgermeister ist doch als Überlebenskünstler bekannt!“

29

„So läuft das eben heute mit den Großprojekten“, konterte Lüttke. „Beim

Bau der Pyramiden im alten Ägypten waren bestimmt nicht so viele Entscheider

beteiligt, die vorher gefragt und um Geld angebettelt werden mussten und

dann während des Baus auch noch dauernd Veränderungen im Bauplan

verlangten.“

„Die Pyramide steht übrigens genau auf dem ehemaligen

Windmühlenhügel. Der hatte damals während der Schlacht eine besondere

Bedeutung, weil man von hier einen guten Überblick über das

Schlachtgeschehen hatte. Ob das bei dem miesen Wetter allerdings geholfen

hat, weiß ich nicht.“

„Mieses Wetter?“, fragte Lefèvre, als sie sich auf den Rückweg zur Kirche

machten.

„Es muss wohl fast den ganzen Tag in Strömen geregnet haben.

Wahrscheinlich war die Sicht entsprechend schlecht.“

Lefèvre fiel ein, dass Hans Lüttke schon bei der Vorstandssitzung vom

damaligen Wetter gesprochen hatte.

Bald waren sie auf dem Kirchengelände angekommen. „Hier links siehst

du die Pfarrscheune“, erklärte Lüttke.“ Sie wird manchmal für Veranstaltungen

genutzt, Filmvorführungen und so. Und jedes Jahr im Frühjahr treten hier die

„Celtics“ auf. Die Band hat sich vor zehn Jahren gegründet und spielt irische

Folksongs. Ist inzwischen richtiger Kult, nicht nur in Großbeeren. Inzwischen

kommen sogar Fans von weit her.

Und da hinten siehst du das Pfarrhaus, lass uns mal hingehen“, sagte

Lüttke. Nach wenigen Schritten standen sie vor der kleinen Treppe, die zum

Eingang hinaufführte.

„Schau genau hin! Fällt dir etwas auf?“

„Sehr gepflegt und nett anzusehen, aber ich glaube nicht, dass du das

meinst.“

„Du musst genauer hinsehen, sieh dir doch mal den Giebel an!“

„Frisch gestrichen?“, Lefèvre hatte immer noch nicht begriffen, worauf

Hans hinaus wollte.

30

„Spaßvogel! Da oben siehst du eine Original-Kanonenkugel von 1813! Als

man nach der Schlacht das Pfarrhaus gebaut hat, wurde die in der Umgebung

gefunden und gleich ins Mauerwerk mit eingebaut. Du findest viele Häuser in

Großbeeren, die eine Kanonenkugel im Giebel haben. Es lagen damals eben

haufenweise welche herum.“

Lefèvre war beeindruckt. Etwas Ähnliches hatte er bisher nur in der

Altstadt von Spandau gesehen. Sie drehten sich nun zur Kirche um.

„Die Kirche macht ja wirklich einen guten Eindruck, als wäre sie gerade

gebaut worden“, meinte Lefèvre.

„Der Anstrich wurde auch originalgetreu wiederhergestellt. Die Orgel ist

auch gerade im vorigen Jahr erneuert worden.“

„Wenn man das so hört, könnte man meinen, dass es sich um eine

wohlhabende Gemeinde handelt. Das hat ja wahrscheinlich einen Haufen Geld

gekostet.“

„Das liegt zum einen an den vielen Zugereisten und zum anderen am

Güterverkehrszentrum, das gute Steuereinnahmen bringt. Es ist natürlich nicht

ganz einfach, die Balance zwischen Wirtschaftsansiedlung und damit

Steueraufkommen auf der einen Seite und Naturerhaltung, also Erholungswert

auf der anderen Seite zu wahren.

Um darauf zu achten, dass bei Neubaumaßnahmen nicht mal so eben

wertvolle, alte Gebäude oder Anlagen abgeräumt werden, hat der Kulturverein

zwei Arbeitsgruppen gebildet. Die eine mit Namen ‚Kulturelle Mitte‘ kümmert

sich darum, im Ortszentrum eine Begegnungsstätte zu schaffen, an der auch

kulturelle Veranstaltungen jeglicher Art in angemessenem Rahmen stattfinden

können. Bisher steht uns nämlich nur der Gemeindesaal im Feuerwehrhaus zur

Verfügung. Und der ist eigentlich für Sitzungen der Gemeindevertreter

konzipiert und nicht so sehr für Kulturveranstaltungen mit vielen Besuchern.

Die andere hat zum Ziel, die Geschichte des Ortes zu erhalten und zu

pflegen, deshalb haben wir ihr den Namen ‚Historische Entwicklung und

Denkmalpflege‘ gegeben. Es ist allerdings nicht ganz einfach, Leute für die

Mitarbeit in den Arbeitsgruppen zu gewinnen. - Schau mal hier. Das ist so ein

Ort, der gepflegt gehört.“

31

Lüttke wies auf den Kirchhof, den ursprünglichen Friedhof des Ortes.

„Wenn man hier irgendwann mal vorsichtig herangeht, wird man so einige

Schätze entdecken. Aber das kostet natürlich alles Geld. Und das wird in der

Regel für andere Dinge ausgegeben.

Auf dem Kirchhof muss sich ordentlich was abgespielt haben. Die

Kolberger Landwehr auf Seiten der Preußen hat sich hier wohl besonders

hervorgetan. Es war ein Kampf Mann gegen Mann, mal wurde das Bajonett

benutzt, mal wurde mit dem Gewehr einfach draufgehauen. Eine Szene ist

dann gut 100 Jahre später von Carl Röchling festgehalten worden, einem

Schlachten- und Historienmaler, der ursprünglich aus Saarbrücken kam.“

Jetzt waren sie bei einem Obelisken angekommen, der nördlich der

Kirche steht. „Dieses Denkmal ist bereits 1817 errichtet worden. Nach Plänen

Karl-Friedrich Schinkels übrigens, genau wie die Kirche.“

Lefèvre war jetzt doch einigermaßen beeindruckt. „Bei euch in

Großbeeren scheint sich wohl alles um die Schlacht von 1813 zu drehen.“

„Zumindest vieles. Bis vor kurzem hatten wir sogar ein Restaurant, das

nach dem preußischen General, dem Helden von Großbeeren, benannt war.

*

Lefèvre musste zugeben, die Stimmung war prächtig. Die Musik war gut und

abwechslungsreich, vielleicht auf Dauer etwas zu laut. Hans hatte es ja

angedeutet, der Gemeindesaal war für solche Veranstaltungen nicht wirklich

gut geeignet. Eine vernünftige Belüftung hatte man wohl schon bei der Planung

nicht berücksichtigt. Das führte dazu, dass die Luft im Saal schon nach kurzer

Zeit zum Schneiden war. Aber man konnte den Saal ja auch jederzeit kurz

verlassen, nicht nur, um die Ohren sich erholen zu lassen sondern auch, um

sich ein Getränk zu holen.

„Na, wie gefällt es Ihnen denn, Herr Lefèvre?“ Am Tresen stand Werner

Klausen mit einem Glas Schwarzbier in der Hand.

Während Lefèvres Frau Gabi sah, dass sie sich beim Ausschank nützlich

machen konnte, gesellte er sich zu Klausen.

32

„Ich weiß nicht, ob Sie das mitbekommen haben. Ich bin hier im Ort so

etwas wie der inoffizielle Geschichtsschreiber. Vor kurzem habe ich die Chronik

unserer Gemeinde herausgebracht und zum Siegesfest erweitere ich die

Chronik speziell um Geschichten, die mit dem Siegesfest zu tun haben.

Siegesfeste wurden ja nicht erst in unserer Zeit gefeiert, das ging schon wenige

Jahre nach der eigentlichen Schlacht los.

Und bei der Gelegenheit bin ich auf eine sehr interessante Tatsache

gestoßen. Ihr Name kam mir neulich nämlich irgendwie bekannt vor. Daraufhin

habe ich nochmals in den alten Aufzeichnungen geblättert.

Sie werden es kaum glauben, aber es scheint tatsächlich ein

Namensvetter von ihnen an der Schlacht beteiligt gewesen zu sein. Ich werde

die Spur weiter verfolgen. Wenn ich Genaueres weiß, gebe ich Ihnen Bescheid.“

„Ich fürchte, ich muss Sie enttäuschen, Herr Klausen. In meiner Familie

wurde zwar selten über unsere Vorfahren gesprochen. Soweit ich weiß, sind

aber meine Ahnen väterlicherseits mit den Hugenotten so um 1700 in die

Gegend gekommen. Mit ihrem Schlachtteilnehmer habe ich wohl nichts zu

tun.“

20. August

Villeneuve hielt sein Pferd an und hob den rechten Arm. Seine Leute

verstanden sofort. Sie schlossen zu ihm auf.

„Wir machen hier eine kurze Rast. Die Pferde brauchen eine Pause.“

Eine der Aufgaben der leichten Kavallerie war die Vorwärtserkundung.

Villeneuve hatte den Auftrag, das Gebiet nordwestlich von Baruth bis in die

Höhe von Ludwigsfelde zu erkunden während sein beiden Kameraden nördlich

Richtung Großbeeren bzw. nordwestlich in Richtung Mittenwalde unterwegs

waren. Mit ihren gut trainierten Pferden konnten sie am Tag mühelos 50 bis 60

km Strecke zurücklegen.

Immer wenn sie eine größere Siedlung sahen, ließ Villeneuve einen sehr

gut deutsch sprechenden Soldaten in ziviler Kleidung in das Dorf gehen, um die

Bewohner nach preußischen oder schwedischen Truppen auszufragen.

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Manchmal kehrte der Mann mit Informationen zurück, manchmal bekam er

aber auch nichts aus den Dorfbewohnern heraus, weil sie keine Soldaten in der

Nähe ihres Dorfes gesehen hatten.

Über Kummersdorf, Nunsdorf und Wietstock waren sie in die Nähe von

Ludwigsfelde gelangt. Wegen der zahlreichen Seen und Feuchtgebiete hatten

sie das Dorf weiträumig umgehen müssen.

Villeneuve war überrascht, dass sie nur selten gegnerische Verbände

sichten konnten. Sie waren extrem vorsichtig vorgegangen und hatten immer

auf gute Deckung geachtet. Er hatte allerdings damit gerechnet, dass sie weiter

nördlich auf feindliche Truppen stoßen müssten. So aber würde er General

Guilleminot bei ihrer Rückkehr nicht viel zu berichten haben.

Während die Pferde am Bachufer grasten, hatten sich die Männer auf

einer Wiese niedergelassen. Ihre Gespräche drehten sich ausschließlich um die

bevorstehenden Kämpfe. Villeneuve bemerkte die Anspannung in den

Gesichtern seiner Untergebenen.

„Nach meiner Karte müssten wir schon nördlich von Ludwigsfelde sein.

Die nächstgelegenen Ortschaften sind Philippsthal und Nudow. Nach unserer

Pause werden Marchand und Dubois diese beiden Orte erkunden. Marchand

reitet nach Philippsthal im Nordwesten und Dubois nach Nudow in östlicher

Richtung.

Ich glaube, ein weiteres Vordringen im größeren Verband ist jetzt zu

riskant. Wir warten den Bericht der beiden ab und werden dann wieder nach

Baruth zurückreiten. Unsere heutige Erkundung scheint ein rechter Reinfall zu

werden.“

Nach einer eindringlichen Ermahnung, nur ja vorsichtig zu sein, zogen die

beiden Soldaten los.

Villeneuve erwartete, dass sie in einer knappen Stunde zurück sein

müssten. Deshalb staunte er nicht schlecht, als Marchand schon nach zehn

Minuten angestürmt kam. „Lieutenant, Lieutenant, wir müssen hier sofort

weg!“, rief er schon, bevor er aus dem Sattel war.

„Nun mal langsam, Marchand, was soll das Gestammel. Ich erwarte eine

ordentliche Meldung!“

34

„Lieutenant, ich hatte kaum das kleine Wäldchen hinter mir gelassen, das

man dort hinten sieht, als ich schon gewahr wurde, dass es in Philippsthal vor

Soldaten nur so wimmelt. Ich denke, dass ich schnell genug umgekehrt bin,

bevor mich jemand sehen konnte. Wenn die dort …“, er zeigte in die Richtung,

aus der er eben gekommen war, „.. allerdings auch Erkundungstrupps

unterwegs haben, werden wir schon bald entdeckt werden.“

„Wenn das so ist, haben wir keine Zeit zu verlieren und sollten nicht auf

Dubois‘ Rückkehr warten. Wir werden ihm schnellstmöglich in Richtung Nudow

folgen, ihn dort aufsammeln und uns rasch in Richtung Süden absetzen.“

*

Villeneuve ahnte nicht, dass der Gegner zur selben Stunde in Philippsthal

Kriegsrat hielt. Der Oberkommandeur, der schwedische Kronprinz, und die

höchsten Generäle, von Bülow, von Tauentzien, von Winzingerode und von

Stedingk waren dort auf Befehl des Kronprinzen zusammengekommen.

Karl Johann war der Meinung, Berlin sei nur eine Stadt wie viele andere.

Man könne sie aufgeben und den Feind nördlich Berlins ‚auf besserem

Schlachtfeld‘ erwarten. Das musste förmlich den Widerstand der preußischen

Generäle provozieren. Speziell von Bülow war ob dieser Ansicht außer sich.

Auf dessen Drängen hin hatte der Oberbefehlshaber schließlich

eingewilligt, dass man doch erst einmal genauere Nachrichten abwarten und

sich nicht sofort nach Norden zurückziehen sollte.

*

Zurück im Baruther Lager eilte Villeneuve sofort zu General Fournier, Bericht zu

erstatten. Sein Spähtrupp hatte sich ja doch noch als erfolgreich herausgestellt.

Als der Lieutenant abends Guilleminot von seiner Erkundung erzählte,

nahm der die Nachricht erstaunlich gelassen hin. „Philippsthal?“, der General

studierte die vor ihm liegende Karte. Soll dort etwa ihr Hauptquartier sein?

Jetzt müssen wir durch unsere Spione vor Ort unbedingt erfahren, was sich in

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Philippsthal genau ereignet, warum an diesem unbedeutenden Ort überhaupt

Truppen zusammengezogen wurden.“

16. August

„Nein, nein, nein!“ Lefèvre ließ den Taktstock sinken und brach die Probe ab.

„Ihr spielt das wie Mozart! Ihr steckt nicht genug Energie rein!“

Lefèvre war, wie jeden Freitag, die 40 km nach Tegel gefahren, um dort

mit seinem Orchester zu proben. Seit 20 Jahren leitete er das Tegeler

Kammerorchester, eine Ansammlung von Musikliebhabern, die Spaß am

gemeinsamen Musizieren hatten.

Der Weg durch den nachmittäglichen Berufsverkehr war jede Woche

wieder beschwerlich, aber das Orchester wurde vor über fünfzig Jahren im

Norden Berlins gegründet und probte seither auch dort. Der Termin am Freitag

Abend wurde von vielen als nicht glücklich empfunden. Er war ursprünglich

gewählt worden, weil damals viele Orchestermitglieder noch Schüler waren.

Und da es üblich war, die Proben anschließend in einem Restaurant ‚nach zu

besprechen’, schien der Freitag der beste Tag zu sein. Samstags war ja keine

Schule. Und einen Termin, der über Jahrzehnte Bestand hat, sollte man ohne

triftigen Grund nicht ändern.

Früher empfand Lefèvre die Proben nach einer anstrengenden

Arbeitswoche als Belastung, jetzt traf das nur noch für seine Gabi zu. Sie spielte

im Orchester die erste Klarinette.

Das nächste Konzert sollte ein Beethoven-Programm haben. Zu Beginn

die Ouvertüre zur Ballettmusik „Die Geschöpfe des Prometheus“ und

anschließend die dritte Sinfonie, die „Eroica“. Beide Werke sind, wenn auch aus

verschiedenen Genres, thematisch miteinander verwandt.

Die Programme zusammenzustellen war stets heikel. Auf der einen Seite

sollte die Musik nicht so einfach sein, dass die routinierteren Musiker sich

langweilten, auf der anderen Seite durfte sie aber auch nicht zu schwierig sein.

Lefèvre hatte während seines Psychologiestudiums gelernt, dass man die

größten Erfolge erzielt, wenn die selbst gesteckten Ziele zwar anspruchsvoll,

aber eben auch erreichbar sind.

36

Die Probenarbeit hatte mit der Ouvertüre begonnen. Sie steht in C-Dur

und stellt musikalisch keine besonders große Herausforderung dar. Nur die

schnellen Achtel-Passagen klappten noch nicht so gut, die zweiten Violinen und

die Bratschen hatten ihre Schwierigkeiten damit. Das schien auf ein verstärktes

häusliches Üben hinauszulaufen.

Mit dem Beginn des ersten Satzes der Sinfonie war Lefèvre alles andere

als zufrieden. „Für Beethoven braucht man immer viel Energie. Hier kommt

noch dazu, dass es sich bei dieser Musik um etwas Revolutionäres handelt. Ich

glaube, ich muss euch mal etwas dazu erzählen.

Beethoven hatte Napoleon in den 1790er Jahren sehr bewundert. Er

hoffte, dass sich mit ihm die Ideen der französischen Revolution von 1789 über

ganz Europa verbreiten würden.

Deshalb begann Beethoven, diese Ideen in seine Musik einfließen zu

lassen. Zuerst in seine Prometheus-Ballettmusik, später dann noch stärker in

seine 3. Sinfonie. Napoleon war nämlich von vielen mit dem griechischen

Halbgott Prometheus verglichen worden, der den Göttern das Feuer stahl, um

die Menschen zu befreien.

Diese Musik, speziell die Eroica, war für die damalige Zeit auch

tatsächlich revolutionär. Ich erspare euch jetzt mal die altbekannte Geschichte

von der zerrissenen Titelseite und der geänderten Widmung der Sinfonie.

Aber schon die Einleitung zeigt es - oder vielmehr die Tatsache, dass es

eben keine langsame Einleitung mehr gibt. Zwei Schläge, zwei Akkorde, und los

geht’s, da muss gleich die Post abgehen!

Da..da..da..dadadadadaaa..da..daaaaa“, sang er mit einem Mal los. „Eine

kurze, heftige Steigerung zum Cis. In diesen Spannungsbogen muss schon viel

Energie fließen. Wir versuchen es gleich noch einmal. Von vorn!“

Noch einmal erklangen die beiden Anfangsakkorde. Nach den nächsten

Takten brach Lefèvre schon wieder ab. „Stopp! Nach dem zweiten Akkord geht

es im Piano weiter, sonst bekommen wir ja das Crescendo nicht hin! Noch

mal!“

37

Und wieder erklangen die ersten Akkorde. Diesmal wurde tatsächlich

leise weitergespielt. „Jetzt wieder zurück in der Lautstärke und neu aufbauen

...ja, schon viel besser, das hört sich schon fast wie Beethoven an!“

21./22.August - abends

„Alors, mon cher ami“ 3, begann der General spöttisch das Gespräch, „da haben

Sie sich wohl doch ins Bockshorn jagen lassen. Der Feind leistet unserem

Vormarsch auf Berlin so gut wie keinen Widerstand!“

Villeneuve war wieder bei Guilleminot zu Gast. Er ahnte, dass

entscheidende Tage bevorstanden und wollte sich vom General die neuesten

Informationen holen.

„Gestern kam es zu einigen größeren Scharmützeln. Bei Trebbin leisteten

die Kompanien von Clausewitz zwar einigen Widerstand, letztendlich haben wir

sie aber aus der Stadt vertreiben können. Nicht viel anders war es bei Nunsdorf

und Mellen, wo wir mehr mit den Schwierigkeiten, trockenen Fußes ins Dorf zu

gelangen, zu kämpfen hatten, als mit den wenigen hundert Verteidigern.“

Der General war in seinem Enthusiasmus kaum aufzuhalten.

„Heute kam es zu Kämpfen in Thyrow und wohl auch in Wietstock und

Jühnsdorf. Zu Thyrow muss ich nichts sagen, wir waren selbst dabei. Jühnsdorf

soll leicht einzunehmen gewesen sein. Lediglich in Wietstock war es schwierig

und hat uns 800 Mann gekostet. Sechs Stunden haben Reyniers Mannen mit

dem Feind und dem Wasser gekämpft. Die gesamte Gegend ist zum Kämpfen

einfach nicht geeignet, überall Flüsse, Gräben und feuchte Wiesen. Und dann

auch noch der seit Tagen andauernde Regen!“

„Thyrow wäre auch leicht einzunehmen gewesen, wenn wir nur gleich

angegriffen hätten. Warum wir dort so lange warten mussten, habe ich nicht

verstanden. So ist kostbare Zeit verloren gegangen“, wagte Villeneuve

vorsichtige Kritik an der Taktik des Marschalls.

„Oudinot dachte wohl, die Verschanzung wäre stärker und mit

zahlreichen Truppen verteidigt“, beschwichtigte der General. „Jedenfalls

3 „Nun, mein lieber Freund“

38

scheint der Weg nach Berlin mehr oder weniger frei zu sein. Morgen geht es

los, dann werden wir ja sehen. Unser Korps rückt gegen Ahrensdorf, Reyniers

gegen Großbeeren und Bertrands Korps gegen Blankenfelde vor. “

„Warum marschieren wir nicht gemeinsam? Ist es nicht gefährlich unsere

Armee freiwillig aufzuteilen?“, wollte Villeneuve wissen.

„Gewiss, mein Lieber, ein gewisses Risiko sehe ich da auch. Andererseits

gibt es nur wenige einigermaßen befestigte Wege nach Norden. Und die sind

auch noch recht schmal. Benutzen wir alle zusammen einen von diesen, wären

wir erst recht angreifbar und könnten unsere Überzahl nicht ausspielen. So

können wir getrennt marschieren, aber vereint zuschlagen.“

Villeneuve verließ das Zelt des Generals einigermaßen beruhigt.

Vielleicht würde es doch nicht so schlimm kommen, wie er bisher befürchtet

hatte.

23. August

„Zum Einspielen den ersten Satz, bitte. Dann kann ich gleich mal hören, ob von

der letzten Probe etwas hängen geblieben ist.“

Lefèvre wusste, dass viele Orchestermitglieder während der Woche

kaum zum Üben kamen. Die meisten hatten ihre beruflichen oder familiären

Verpflichtungen, die natürlich vorgingen. Er hoffte immer, dass dafür

wenigstens die Konzentration in den freitäglichen Proben hoch genug wäre, um

in der musikalischen Arbeit voran zu kommen. Mal klappte das und mal auch

nicht. Eine Beethoven-Sinfonie kann man jedenfalls nicht eben mal so

‚herunterspielen’.

Der Beginn war etwas zögerlich, einige, vor allem unter den Bläsern,

waren wohl noch nicht richtig warmgespielt. „Mit Wiederholung, bitte!“, rief er

deshalb, wissend, dass der Anfang beim zweiten Mal besser klingen würde.

Die Stimmung schien an diesem Abend erfolgversprechend. Nicht nur die

musikalische Stimmung. Es schwebte die Stimmung in der Probenaula, die man

braucht, um in die Musik einzutauchen und mit dem Klang zu verschmelzen.

39

Lefèvre ließ den ersten Satz komplett ohne Unterbrechung durchspielen.

„Donnerwetter, heute seid ihr ja prächtig drauf! Das war schon fast

aufführungsreif. Dann machen wir uns mal an den letzten Satz. Wir fangen

beim ‚Poco andante’ an.“

Sofort suchten alle in ihren Noten nach der richtigen Stelle. „Andante?

Hat der Satz nicht die Bezeichnung ‚Allegro molto’?“, fragte die zweite

Klarinette.

„Das ist auch eine von Beethovens neuen Ideen. Vor dem Finale beruhigt

sich das Geschehen. Wir sind ja hier im traurigen c-Moll gelandet. Im

choralartigen ‚Poco andante’ wechseln wir überraschend nach As-Dur und

danach, im ‚Presto’ stürmen wir mit den rasenden Sechzehntelläufen nach Es-

Dur.

Dadurch verstärkte Beethoven die optimistische Grundstimmung der

Sinfonie. Sie soll Hoffnung, Glanz und Aufbruchstimmung verbreiten. Obwohl

Beethoven mit Napoleon gebrochen hatte, veränderte er ja die Musik nicht. Sie

sollte dennoch die Ideale der Revolution verströmen.

Sie feiert, wie er das auf dem neuen Titelblatt notiert hatte, das

Andenken eines großen Mannes, der ihn so enttäuscht hatte, dass er ausrief:

‚Ist der auch nicht anders, wie ein gewöhnlicher Mensch! Nun wird er auch alle

Menschenrechte mit Füßen treten, nur seinem Ehrgeize frönen; er wird sich

nun höher, wie alle Anderen stellen, ein Tyrann werden‘!

Wenigstens Beethovens Musik sollte den großen Ideen treu bleiben.“

23. August - mittags

Villeneuve verstand die Welt nicht mehr. Die meisten Einheiten des 12. Korps

waren morgens recht zuversichtlich mit einem lauten ‚Rendez-vous à Berlin‘4

losgezogen. Alle hatten inzwischen mitbekommen, dass die napoleonischen

Truppen dem Feind offensichtlich überlegen waren.

Warum ließ Oudinot nun in Ahrensdorf, so kurz vor dem Ziel, wieder

Halt machen? Schön, sie waren sechs Stunden unterwegs gewesen. Die Wege

4 „Wir sehen uns in Berlin!“

40

waren noch schlechter, als ohnehin erwartet und so waren sie extrem langsam

vorangekommen.

Er bemerkte, dass er nicht der einzige war, den das Abwarten irritierte.

Da sah er, dass sich Lefèvre und von Goldacker näherten.

„Hast du eine Ahnung, was das jetzt wieder soll, warum wir nicht

weiterziehen? So müde sind wir doch noch nicht, wenn der Weg auch

anstrengend war“, meinte von Goldacker. „Noch am Abend könnten wir in

Berlin sein.“

Lefèvre hatte seine gute Stimmung noch nicht verloren. „Ich habe auch

gehofft, heute noch nach jungen Berlinerinnen Ausschau halten zu können.“

„Daraus wird wohl nichts“, antwortete Villeneuve und fügte leise hinzu:

„Der Marschall gönnt dir das nicht, er findet Ahrensdorf interessanter! Hier

gibt’s bestimmt einige Dorfschönheiten, die sich auf so einen schneidigen

Jungoffizier freuen“, lachte er.

Es lag eine gewisse Spannung in der Luft. Und wie oft in solchen

Situationen, versuchte man die Nervosität mit Späßen zu überspielen.

Die Stunden verrannen. Villeneuve versuchte, Kontakt mit General

Guilleminot aufzunehmen. Er hörte jedoch von dessen Ordonnanz, dass er zum

Marschall bestellt war. Villeneuve beschloss, vor dem Zelt des Generals auf

diesen zu warten. Ob er nun hier untätig herum saß oder vor seinem eigenen

Zelt, war schließlich egal.

Er musste einige Zeit warten, bis der General zurückkam. Guilleminots

Miene war zu entnehmen, dass es Streit gegeben hatte. Er deutete mit einer

kurzen Handbewegung an, dass Villeneuve mit ins Zelt kommen sollte.

Als sie zu zweit waren, legte der General sofort los, er hatte

offensichtlich Mühe, sich so lange zurückzuhalten, bis die Ordonnanz außer

Hörweite war.

„Jetzt haben wir den Salat! Unsere Truppenteile sind mehr oder weniger

voneinander getrennt. Die Verbindungswege zwischen den Armeekorps, sofern

es überhaupt welche gibt, sind kaum passierbar. In den wenigen Meldungen,

die herein kamen heißt es, es habe eine schwerwiegende Feindberührung in

41

der Nähe von Blankenfelde gegeben. Wie groß Bertrands Schwierigkeiten sind,

weiß zurzeit jedoch keiner. Oudinot hat soeben Kuriere losgeschickt, um einen

Überblick über die Situation zu bekommen. Das kann jedoch angesichts der

Bodenverhältnisse dauern, es regnet ja ununterbrochen weiter.

Von Reyniers Korps haben wir überhaupt nichts gehört. Das beunruhigt

den Marschall besonders. Man hörte vorhin allerdings über längere Zeit

Kanonendonner. Deshalb hat er auch Richtung Großbeeren jemanden

geschickt, um die Sache zu erkunden. Was mich jedoch am meisten ärgert ist

die Tatsache, dass wir hier herumsitzen, während unsere Kameraden vielleicht

in schwerem Gefecht stehen. Es wird auch schon dunkel. Aber ich gebe zu –

was sollen wir tun, wenn wir den Überblick über die allgemeine Lage verloren

haben?“

„Wenn wir nur eine Möglichkeit hätten, die Verbindungen zwischen den

Korps dauerhaft aufrechterhalten zu können. Man müsste so etwas wie eine

Fern-Sprech-Verbindung haben. Alle Hoffnung liegt nun auf den

Kundschaftern.“

Guilleminot hatte kaum ausgesprochen, als von draußen laute Stimmen

zu hören waren. Villeneuve trat neugierig vor das Zelt und wurde sofort von

einem Hauptmann angesprochen.

„Monsieur Lieutenant, Sie werden bereits von General Fournier gesucht.

Der Marschall hat den Befehl erteilt, dass die Kavallerie schnellstmöglich nach

Großbeeren eilen soll.“

Villeneuve jagte mit seinen Männern den anderen Eskadrons hinterher.

Inzwischen war es so dunkel, dass der Weg kaum auszumachen war. Irritierend

fand der Lieutenant, dass aus Richtung Großbeeren kein Gefechtslärm zu hören

war. Die Kanonen schwiegen schon seit einiger Zeit. Selbst als sie sich dem Dorf

näherten, war kaum etwas außer Schreien zu hören.

Als der nächste Regenschauer herunter prasselte, wurde Villeneuve mit

einem Mal klar, dass der Dauerregen ein Funktionieren der Gewehre wohl

unmöglich machte. Seine Uniform war in kürzester Zeit völlig durchnässt.

Im Wald nördlich von Genshagen kamen ihnen immer wieder Soldaten

entgegen, deren Haltung und Aussehen keinen Zweifel am bisherigen Verlauf

42

des Scharmützels zuließen. Durch die zunehmende Dunkelheit und den stark

fallenden Regen konnte Villeneuve kaum Einzelheiten erkennen, er vermutete

jedoch, dass es sich um die Division Lecoq handeln müsse. Guilleminot hatte

erzählt, dass Lecoq auf der linken Seite angreifen sollte.

In wilder Jagd erreichte er den Ortsrand. Er sah viele Soldaten, teils mit

Geschützen, die sich Hals über Kopf Richtung Wald zurückzogen. Dann sah er

vor sich schemenhaft Reiter, die wild mit den Degen aufeinander einschlugen.

Seine Kameraden waren mit ihren Eskadrons vor ihm in Großbeeren

eingetroffen.

Er wollte gerade eingreifen, als in direkt neben ihm eine Kanonenkugel

einschlug, unmittelbar gefolgt von ungeheurem Kanonendonner. Neben sich

sah er ein Pferd mitsamt Reiter zu Boden gehen, eine Kugel hatte das Pferd am

Kopf getroffen. Der Kugelhagel wurde dichter. Jetzt galt es, so schnell wie

möglich aus der Schusslinie zu kommen.

Villeneuve deutete seinen Leuten an, ihm zu folgen und sprengte los in

östlicher Richtung, neben sich seine Männer, hinter sich eine Horde von

preußischen Husaren und Ulanen. Vorbei an der Kirche und quer über den total

verwüsteten Kirchhof galoppierten sie, bis ein breiter Graben ihnen den Weg

versperrte.

Durch den tagelangen Regen war der Lilograben, ein ansonsten doch

recht armseliges Gewässer, zu einem stattlichen Bach angeschwollen. Zu breit,

um mit den Pferden darüber zu setzen.

Villeneuve riss sein Pferd im letzten Moment zur Seite und folgte dem

Verlauf des Grabens Richtung Süden. Immer noch trieb er das Tier zur

Höchstleistung an, ihm war bewusst, dass es nun um Leben und Tod ging.

Immer weiter ging die wilde Hatz, unmittelbar neben ihm einer seiner

Kameraden. Aber, Moment mal … die Uniform kam ihm unbekannt vor. Er riss

den Arm mit dem Degen hoch, keinen Augenblick zu früh. Er konnte den

feindlichen Schlag abwehren, so dass es ihm nur den Hut vom Kopf fegte. Mit

einer geschickten, schwungvollen Bewegung gelang es ihm, den anderen aus

dem Sattel zu katapultieren.

43

Nach einigen weiteren Minuten bemerkte Villeneuve, dass er niemanden

mehr neben oder hinter sich hatte. Er ließ sein Pferd in einen ruhigen Trab

fallen, damit es sich etwas erholen konnte.

Noch einmal wechselte er die Richtung und begab sich zurück in Richtung

Windmühlenhügel, oder jedenfalls in die Richtung, in der er den kleinen Hügel

mit der Mühle vermutete. Schon bald begegneten ihm wieder Reiter.

Inzwischen war es allerdings nahezu stockfinster. Es war unmöglich, an den

Uniformen Feind und Freund auseinanderzuhalten.

Immer wieder hörte er Rufe, mal ein „Qui est-ce?“, ein anderes Mal ein

vorsichtiges „Wer da?“. Es war offensichtlich, dass ein Kampf unmöglich war,

wollte man nicht in Kauf nehmen, auf seine eigenen Kameraden einzudreschen.

Ihm war klar, dass er auf sich allein gestellt war. Lautes Rufen würde nur den

Feind auf ihn aufmerksam machen.

Sich vorsichtig orientierend, setzte er sich vom Schlachtfeld in Richtung

Westen ab. Es schien ihm der sicherste Weg zu sein. Im Norden und Osten

stand der Feind, der Süden war wahrscheinlich auch zu gefährlich. Villeneuve

ging davon aus, dass preußische Truppen den in Richtung Genshagen

Fliehenden nachsetzen würden.

Tatsächlich wurde es um ihn herum ruhiger, je weiter er nach Westen

vordrang. Irgendwann war er sich sicher, genug Distanz zwischen sich und dem

Feind zu haben. Er musste sich tief im Forst befinden. Er hielt sein Pferd an,

stieg ab und band es an einen tief hängenden Zweig. Mühsam zog er einige

heruntergefallene Zweige zusammen und baute sich damit im teilweise

ausgehöhlten Stamm einer alten Buche eine notdürftige Behausung für die

Nacht. Bei Sonnenaufgang würde er weiter sehen.

24. August

Nun waren die Sommerferien schon wieder vorbei. Für Lefèvre gab es

eigentlich keine Ferien mehr. Trotzdem – seine Gabi war ja noch im Dienst und

hatte wie in all den vergangenen Jahren die letzte Ferienwoche dazu genutzt,

sich auf das nächste Schuljahr vorzubereiten.

44

Dabei war ihm klar geworden, wie kompliziert die Situation bei ihnen

beiden nun war. Er könnte eigentlich ganz entspannt sein, schließlich musste er

sich nicht mehr um irgendwelche dienstlichen Verpflichtungen kümmern. Aber

gleichzeitig verbrachte seine Gabi die meiste Zeit am Schreibtisch. So richtig

genießen konnte er seine Freizeit deshalb nicht.

Der Urlaub in der Schweiz war jedenfalls wieder sehr schön gewesen. Im

Gegensatz zum Vorjahr gab es eine ganze Reihe von schönen Tagen mit stabiler

Wetterlage. Darauf waren sie angewiesen, machten sie doch für ihr Leben gern

Hochgebirgstouren – und die waren nur risikolos möglich, wenn das Wetter

hielt.

Die meisten ihrer geplanten Touren hatten sie durchführen können. Es

war die gewohnte und gewollte Mischung aus Genuss und Strapaze. Er merkte

auf den Touren, dass diese Art von Urlaub wohl nicht mehr so lange möglich

sein würde. Die Anstrengungen waren auf manchen Strecken gewaltig. Um

Tagestouren von bis zu zwölf Stunden Dauer und 3.000 m Höhenunterschied zu

bewältigen, musste man schon topfit sein. Oder eben jünger – dachte er

wehmütig.

Sie hatten beeindruckende Bilder in ihren Köpfen mit nach Hause

genommen, wohl wissend, dass sie sich die Schweiz wohl in Zukunft nicht mehr

würden leisten können. Die Höhe der Berge korrespondierte in der Schweiz in

beeindruckender Weise mit der Höhe der Preise und die Diskrepanz zur Höhe

seines Altersruhegelds war doch zu groß. Außerdem wartete Lefèvre bisher

vergeblich auf den Anruf der Lottogesellschaft oder eines Nachlassverwalters,

der ihn vom Dahinscheiden seiner längst in Vergessenheit geratenen,

vermögenden Erbtante informierte.

*

Hans Lüttke hatte ihn gewarnt. Er solle nicht mit dem Auto kommen, hatte er

gesagt, oder es wenigstens weit ab vom Festbereich parken.

Nun hatte er den Salat. Bereits fünfundzwanzig Minuten kreiste er um

den Gedenkturm in der Hoffnung, dass jemand vielleicht sein Auto wegfuhr.

45

Aber das Fest sollte ja erst beginnen, der Zulauf war immer noch ungebrochen.

In großen Pulks strömten die Menschen in Richtung Festplatz.

Endlich sah Lefèvre eine Stelle am Wegesrand, wo er seinen Kleinwagen

abstellen konnte. Schnell ging er den anderen Menschen nach. Jedenfalls

konnte er so das Ziel nicht verfehlen. Im Näherkommen konnte er einen ersten

Blick auf das ‚Schlachtfeld‘ werfen. Es waren wohl eine ganze Menge Leute am

‚Kriegsgeschehen‘ beteiligt.

Da sah er, dass sich Werner Klausen bereits einen guten Platz zur

Beobachtung des Geschehens gesichert hatte. Er kam sofort wieder auf die

vermeintliche Namensgleichheit zu sprechen.

„Der Lefèvre, den ich neulich entdeckt hatte, kann doch kein Vorfahre

von Ihnen sein. Der ist nämlich an den Folgen seiner Verwundung kurz nach der

Schlacht gestorben. Ich habe seinen Namen auf einer alten Liste der Opfer

gefunden.“

Klausen wollte gerade ins Detail gehen und berichten, wie er an die Liste

gekommen war, da wurde auf der Wiese ein erstes Geschütz abgefeuert. Der

Knall kam so unvermittelt, dass sich Klausen und Lefèvre reflexartig die Ohren

zuhielten. Das Schauspiel ging los. Es knallte an allen Ecken und Enden, der

‚Kampf‘ tobte hin und her. Anfangs donnerten immer mehr Geschütze los und

schließlich sahen sie Soldatenkolonnen aufeinander zu gehen, Stellung nehmen

und ihre Gewehre abfeuern.

Alles war höchst eindrucksvoll inszeniert. Es war klar, dass die Aktionen

abgesprochen sein mussten, dennoch machte alles wirklich einen

authentischen Eindruck.

„Was ist denn mit der Gruppe dort auf der linken Seite los?“, bemerkte

Klausen, „ich kann mir nicht vorstellen, dass die damals während der Schlacht

angefangen haben zu diskutieren.“

Nun wurde auch Lefèvre auf das Durcheinander aufmerksam, dass sich

auf der Wiese abspielte. Es hörte sich jetzt so an, als riefe jemand nach einem

Sanitäter. Sollte das auch zur nachgestellten Schlacht gehören?

46

Ein junger Mann sprintete in Richtung der diskutierenden

Soldatengruppe. Als er bei der Gruppe ankam, machte man ihm Platz und man

sah von weitem, dass jemand reglos auf der Wiese lag.

„Das ist doch Dawid Riedemann“, flüsterte Klausen totenbleich. „Der ist

eigentlich immer für die schwierigen Fälle zuständig.“

Die ‚Schlacht‘ war entweder vorüber oder sie war abgebrochen worden,

jedenfalls fanden jetzt keine militärischen Aktivitäten mehr statt. Klausen und

Lefèvre beschlossen, zum Stand des Kulturvereins zu gehen, um sich dort

umzuschauen. Auf dem Weg dorthin hörten sie das näher kommende Signal

eines Rettungswagens.

„Irgendetwas muss wohl doch aus dem Ruder gelaufen sein“, meinte

Lefèvre.

„Das erinnert mich stark an 2007“, sagte Klausen und als er Lefèvres

erstaunten Gesichtsausdruck bemerkte, erzählte er:

„Beim 194. Siegesfest 2007 gab es einen Unfall. Damals waren wie immer

erst die Kanonen abgefeuert worden. Dann kam die Infanterie zum Einsatz,

rund 100 Statisten waren auf dem Schlachtfeld. Der Kampf wogte wie

abgesprochen ca. 30 Minuten hin und her. Ein 45jähriger Statist lud seinen

Vorderlader - ein Steinschlossgewehr der Marke Beka Riffle. Er gab

Schwarzpulver in den Lauf der Waffe und drückte es mit dem Ladestock fest.

Laut Polizei löste sich dabei aus ungeklärter Ursache ein Schuss, die Waffe fiel

zu Boden und verletzte den Schützen leicht an der Hand. Der Ladestock aber

schoss wie ein Pfeil aus dem Lauf heraus in Richtung einer Reihe weiterer

Schauspieler, die die napoleonischen Truppen spielten. Ein 49-jähriger Mann

wurde in den Bauch getroffen. Er musste mit dem Rettungshubschrauber ins

Unfallkrankenhaus gebracht werden und schwebte trotz sofortiger

Notoperation noch tagelang in Lebensgefahr.

Nach Angaben der Polizei durfte der 45-jährige mutmaßliche

Unfallverursacher eine Waffe führen. Der Vorderlader war nach dem Vorfall

sichergestellt, der Schütze vorübergehend festgenommen worden. Er wurde

befragt und durfte dann wieder nach Hause gehen. Gegen den Mann wurde

dann wegen des Verdachts der fahrlässigen Körperverletzung mit einer

Schusswaffe ermittelt. Ich weiß gar nicht, wie der Fall ausgegangen ist.“

47

„Welche Art Waffen wird hier eigentlich benutzt?“, fragte Lefèvre.

„Alles nur historische Vorderlader. Und geschossen wird natürlich nur

mit Schießpulver und Mehl, damit es ordentlich qualmt. Passieren sollte dabei

eigentlich gar nichts.“

*

Am Stand des Kulturvereins war ordentlich Betrieb. Er stand in der Nähe der

kleinen Bühne, die auf dem Abschnitt des Dorfangers aufgestellt war, die der

Kirche gegenüber liegt.

Auf der Bühne lief ein buntes Programm ab. Am frühen Nachmittag

waren schon Schüler der hiesigen Oberschule mit einer Reihe französischer

Chansons aufgetreten. Zurzeit wurden von einer Berliner Schülergruppe gerade

einige Tänze aufgeführt.

Überall roch es nach leckeren Speisen. Besonders lang war die Schlange

am Crêpes-Stand. Man konnte sie als herzhafte oder als süße Version erhalten.

Gut umlagert war auch der Stand, an dem französischer Wein ausgeschenkt

wurde. Ein gutes deutsches Bier gab es auf der anderen Seite der Bühne, stellte

Lefèvre zufrieden fest. Er zog eine gut gekühlte ‚Gerstenkaltschale‘ einem Wein

in der Regel vor, und sei dieser auch noch so gut.

Die Veranstaltung war ein friedvoller Gegenpol zur lautstarken

Gefechtsdarstellung auf der anderen Seite des Ortes.

Es hatte sich bereits gerüchteweise verbreitet, dass es einen Zwischenfall

gegeben habe. Von Klausen und Lefèvre wollte man nun Einzelheiten wissen.

„Wir haben auch keine Ahnung“, sagte Klausen, „ich sah nur Dawid

Riedemann auf die Wiese rennen, zu jemandem, der dort lag. Mehr möchte ich

eigentlich nicht darüber spekulieren. Wir werden früh genug erfahren, was

passiert ist.“ Und zu Lefèvre gewandt: „Riedemann ist von Beruf Notarzt. Er

war wohl zufällig anwesend, weil er sich wie alle anderen das

Schlachtengetümmel ansehen wollte.“

48

„Ich habe gerade mit Dawid telefoniert“, rief Thomas Schulze aus dem

Hintergrund, „er will nachher noch kurz vorbeikommen, mal sehen, was er zu

berichten hat.“

„Ich würde mal vermuten, da hat sich wieder einmal einer dämlich

angestellt bei der Bedienung der Gewehre“, meinte Regina Eisenhard, „mit den

Dingern muss man eben vorsichtig umgehen.“

„Soweit ich weiß, braucht man sogar eine amtliche Genehmigung für die

Benutzung der Vorderlader, da geh ich dann doch davon aus, dass eine gewisse

Schulung auch dazu gehört“, erwiderte Klausen.

„Es wird wohl heute noch nach den alten Vorschriften exerziert“, führte

er aus. „Auch für das Laden der Musketen gibt es präzise Anweisungen, jeder

Handgriff ist genauestens geregelt, vom Absetzen des Gewehrs genau mittig

vor dem Körper über das Einfüllen des Pulvers, dem Nachstopfen der Patrone

bis zur Handhabung des Ladestocks.“

Die Gespräche kreisten allgemein um den Zwischenfall, keiner wusste

Genaueres, dennoch konnte man die wildesten Vermutungen hören.

Nach einiger Zeit gesellte sich Dawid Riedemann dazu und stand

natürlich sofort im Mittelpunkt. Alle Anwesenden wollten endlich Einzelheiten

hören.

„Meine ‚Kunden‘ sind ja sonst eher Verkehrsopfer oder

Kreislaufgeschädigte. So etwas habe ich auch noch nicht gesehen. Der reinste

Meisterschuss – direkt ins Herz!“

Alle waren konsterniert und schauten recht blass in die Runde. Es

dauerte einige Zeit, bis Schulze schließlich fragte: „Und wer ist das Opfer?“

„Der Mann lag auf dem Bauch und steckte in der Uniform der

preußischen Landwehr“. Riedemanns umständliche Art der Erzählung machte

es für die Zuhörer besonders spannend. „Als ich ihn auf den Rücken drehte,

damit ich ihn untersuchen konnte, habe ich ihn erst erkannt. Es ist Schütter.“

„Friedrich von Schütter? Das ist ja ein Ding!“, entfuhr es Hans Lüttke, „da

kann man ja gleich weiter spekulieren!“, und zu Lefèvre gewandt: „Friedrich

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von Schütter ist Steuerberater hier im Ort. Er nimmt seit Jahren mit

Begeisterung an den Gefechtsdarstellungen teil. Immer auf preußischer Seite.“

Lefèvre hatte bisher sehr aufmerksam die Darbietungen auf der Bühne

verfolgt, aber gleichzeitig mit einem Ohr dem Gespräch zugehört. „Wie ist das

zu verstehen mit der Spekulation?“, wollte Lefèvre von seinem Freund wissen.

„Na, das musst du dir mal von Thomas erzählen lassen, er weiß in der

Sache bestens Bescheid, er war nämlich selbst einige Jahre Lokalpolitiker.“

Lefèvre wandte sich an Schulze. „Jetzt hat mich Hans neugierig gemacht.

Erzählen Sie doch mal, was es in der Sache zu spekulieren gibt.“

„In den letzten Jahren gab es bei uns in Großbeeren einen Streit um den

Bau einer Tankstelle. Die sollte nämlich auf einem Gelände errichtet werden,

dass am Rande eines Naturschutzgebietes liegt. Es gründete sich damals auch

sofort eine Bürgerinitiative, die den Bau verhindern wollte. Erst hieß es vom

Bürgermeister, der Bau könne nicht genehmigt werden und alles schien sich zu

beruhigen.

Nach einiger Zeit wurde auf dem Gelände dann aber doch plötzlich

gebaut, und auf Nachfrage kam heraus, dass sich die Naturschützer

wundersamer Weise hatten überzeugen lassen, dass die Tankstelle keinerlei

Bedrohung für die Natur darstelle. Die Bürgerinitiative wies den Vorwurf, der

Stimmungsumschwung könne etwas mit einer großzügigen Spende des

örtlichen Fuhrunternehmers Cibulski an den Naturschutzbund zu tun haben,

weit von sich.“

„Der Verdacht, Bürgermeister Adebar und Cibulski könnten da etwas

gemauschelt haben, hält sich bis heute. Aber letzten Endes konnte nie etwas

nachgewiesen werden. – Und nun steht die Tankstelle da, am Ortsrand, direkt

vor dem kleinen Wäldchen.“, ergänzte Klausen.

„Und da stellt sich eben die Frage, ob in diesem Zusammenhang jemand

mit Schütter noch eine Rechnung offen hatte. Er war es nämlich, der den

Verdacht als erster öffentlich äußerte und später auch die Presse informierte“,

meinte Lüttke.

„Aber deshalb bringt man doch keinen um, wir sind doch hier nicht auf

Sizilien! Sich mal zum Essen einladen lassen, das wird schon öfter mal

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vorkommen, aber dies hier ist doch eine ganz andere Nummer“, kommentierte

Paula Wussow, die bisher nur still zugehört hatte.

„Es wird mit Sicherheit polizeiliche Ermittlungen geben. Ich werde mich

dann bei meinen Kollegen diskret erkundigen, was die herausbekommen“,

sagte Schulze. „Und in der Bestechungssache werde ich bei der

Staatsanwaltschaft Neuruppin nach Einzelheiten fragen, die ist in Brandenburg

dafür zuständig.“

„Den Notarzt vom Rettungswagen kenne ich natürlich. Er hat mir

versprochen, mich über die Untersuchungen auf dem Laufenden zu halten“,

erklärte Riedemann.

„Ich werde in den nächsten Tagen die MERKWÜRDIGE ALLGEMEINE

ZEITUNG noch genauer lesen als sonst. Da wird bestimmt drüber berichtet“,

sagte Regina Eisenhard, „die MAZ-Reporter schreiben ja sonst sogar, wenn in

Dahlewitz ein Rad umfällt.“

Diese witzige Bemerkung entspannte die Situation und leichtes Gelächter

kam auf. „Jedenfalls wird es spannend, die weitere Entwicklung zu verfolgen.

Ich würde auch gern am Ball bleiben. Fühle mich schon fast wie ein

Großbeerener“, meinte Lefèvre.

„Das lass mal nicht die echten Großbeerener hören. So leicht wird hier

keiner eingemeindet. Das braucht auch bei den Zugezogenen seine Zeit.

Vielleicht würde es ja helfen, mal wieder die Luft aus den Gläsern zu lassen“,

meinte Lüttke.

Lefèvre hatte verstanden. „Ich geh dann mal zum Bierstand!“

Er war gerade losgezogen, als sich Hoffnung zur Runde gesellte. Er

steckte noch in seiner historischen französischen Uniform und wirkte etwas

verwirrt.

„Na, dich hat die Sache wohl ziemlich mitgenommen?“, begrüßte ihn

Schulze.

„Das kann man wohl sagen. Ich habe ja nicht zum ersten Mal

mitgemacht. Anfangs hat auch alles wie abgesprochen geklappt. Die Landwehr

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hat geschossen, wir haben geschossen, da drüben sind einige umgefallen und

ebenso bei uns. Ganz wie verabredet.

Mit einem Mal merkten die bei der Landwehr, dass der Schütter einfach

liegen blieb. Einige riefen ihm wohl zu, er solle nicht übertreiben, er könne sich

nun wieder erheben. Aber der blieb einfach so liegen.

Da haben auch wir mitbekommen, dass etwas nicht stimmt. Und dann

kam ja schon der Riedemann angerannt. Als der dem Schütter die Uniformjacke

aufriss und dann nur leise den Kopf schüttelte, war es plötzlich ganz still. Wir

haben natürlich sofort alle weiteren Aktionen unterlassen und sind zurück zu

unserem Sammelplatz. Keiner sagte ein Wort. - Es war doch vorher alles so

genau geübt worden, ich kann es einfach nicht fassen. Der arme Friedrich!“

Alle Einzelheiten gingen Hoffnung noch einmal durch den Kopf. Wie sich

alle nach und nach in ihrer Kompanie versammelt hatten, wie sie sich in die

Uniformen zwängten und danach ihre Waffen vorbereiteten. Ihm fiel wieder

ein, wie sauer er auf seine Frau war, dass sie ihm den Sohn überließ, um sich

wegen einer Heißhungerattacke in die Schlange am Bratwurststand

einzureihen. Und das ausgerechnet in dem Moment, wo er seinen Vorderlader

präparieren wollte.

Auch die junge Frau in dem hübsch anzusehenden Marketenderin-

Kostüm war vor seinem geistigen Auge nochmals präsent, der er neulich lange

hinterher geschaut hatte. Sie war aber auch wirklich eine Augenweide.

24. August

Ihm war, als hätte er die ganze Nacht kein Auge zugetan. Von Müdigkeit war

allerdings keine Spur, dafür war die Anspannung noch immer zu groß.

Er durchsuchte gerade seine Taschen in der Hoffnung, etwas Essbares zu

finden, als er leise Stimmen vernahm. Sofort verkroch er sich wieder so gut es

ging in seinem Behelfsbiwak. Ängstlich sah er sich nach seinem Pferd um. Es

stand zum Glück so weit weg, dass nichts auf sein Versteck deuten würde,

sollten die Näherkommenden das Pferd entdecken.

52

Die Stimmen kamen immer dichter. Erleichtert stellte Villeneuve fest,

dass es sich um französische Soldaten handeln musste.

Er trat aus seinem Versteck, gleichzeitig rief er mit kontrolliert ruhiger

Stimme: „Ne tirez pas! Pas d’ennemi!“5

Wie groß war die Überraschung, als er die Näherkommenden als

Soldaten von Lefèvres Eskadron identifizierte! Die Begrüßung fiel herzlich aus,

gleichzeitig bemühten sich alle, so wenige Geräusche wie möglich zu erzeugen.

Es stellte sich heraus, dass der Trupp genau wie der Lieutenant die Nacht

im Wald verbracht hatte. Auch Villeneuves Männer hatten keine Chance

gesehen, in der allgemeinen Verwirrung zu den eigenen Leuten zurückzufinden.

„Was ist mit eurem Lieutenant?“, wollte Villeneuve wissen.

„Durch ein anderes, stürzendes Pferd ist sein Rappen zu Fall gekommen.

Ich sah nur noch, dass der Lieutenant unter das Pferd geriet. Dann musste ich

dem Feind weichen“, berichtete zögerlich ein junger Kavallerist.

Villeneuve hatte das selbst so ähnlich beobachtet, er befürchtete das

Schlimmste für seinen Kameraden, hütete sich jedoch, dessen Männern den

Mut zu nehmen.

„Lefèvre wird im Dunkeln bestimmt einen Weg aus dem Getümmel

gefunden haben. Sie schlagen sich jetzt vorsichtig Richtung Süden durch.

Bleiben Sie im Wald! So kommen Sie zwar langsam voran, gehen aber auch ein

geringeres Risiko ein, entdeckt zu werden. Ich werde später nachkommen und

vorher versuchen, einen Überblick über die Lage zu bekommen. Das geht am

unauffälligsten, wenn ich alleine bleibe.“

Die Männer rückten ab, wie es ihnen befohlen wurde. Einige Skepsis

hatte Villeneuve in den Gesichtern wahrnehmen können. Es wäre ihnen wohl

lieber gewesen, wenn der Lieutenant sie geführt hätte. Villeneuve vertraute

jedoch Lefèvres Leuten, die Älteren und Erfahreneren unter ihnen hielt er

durchaus für fähig, selbst die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Er wartete, bis die Männer im Wald verschwunden waren und er sie auch

nicht mehr hören konnte. Villeneuve wollte sicher sein, dass der kleine Trupp

5 „Nicht schießen! Kein Feind!“

53

nicht verfolgt wurde. Schließlich ging er los. So schnell, wie er letzte Nacht

durch den Wald gejagt war, so vorsichtig und langsam, und vor allem zu Fuß,

ging er zurück zum Waldesrand, stets bemüht, in Deckung zu bleiben.

Was er dort sah, ließ ihn den Atem stocken. Hunderte Menschen lagen

auf der großen Wiese, die gestern noch als Schlachtfeld diente. Einige

humpelten langsam Richtung Dorf, andere lagen reglos neben toten Pferden,

von überall hörte er Gestöhne und leise Hilferufe. Dorfbewohner waren

gekommen und begannen, sich um die Verletzten zu kümmern und die Toten

zu begraben.

Auf der Windmühlenhöhe lagen rund um die Mühle etliche Pferde. Dort

oben hatten die Eskadrons von Lefèvre und von Goldacker gekämpft. Und dort

oben hatte er mit ansehen müssen, wie das Pferd seines Kameraden Lefèvre

stolperte und Lefèvre dadurch in hohem Bogen aus dem Sattel flog.

Villeneuve hatte sich in der Hektik, als jeder selbst sehen musste, wie er

den Freund vom Feind unterscheidet, nicht weiter um ihn kümmern können.

Wie es ihm wohl weiter ergangen war?

Was er vom Dorf sah, bestürzte ihn ebenso. Die meisten Häuser waren

wohl während der Kämpfe in Brand geschossen worden, er bemerkte kaum ein

unbeschädigtes Gehöft.

Villeneuve wagte sich nicht näher heran. In den französischen

Uniformen, die er sah, regte sich kein Leben mehr. Er gewann den Eindruck,

dass der Gegner, wenn auch unter unübersehbar schweren Verlusten, den Sieg

in dieser Schlacht davon getragen hatte.

War es der Anblick der vielen Verwundeten und Toten, war es der

fürchterliche Gestank, der vom Feld her bis zum Waldesrand waberte?

Villeneuve hatte während des Russlandfeldzugs bereits viel Elend

gesehen, hier aber schien ihm die Sinnlosigkeit der Auseinandersetzung

besonders deutlich. Weit weg von der Heimat sollten sie die Ehre ihres

Vaterlands verteidigen? Was war das eigentlich? Kann ein Land eine Ehre

haben?

Niemand hatte Frankreich angegriffen, so dass es sich hätte verteidigen

müssen. Im Gegenteil! Von Frankreich aus waren andere Länder mit Krieg

54

überzogen worden. Hier, in Preußen wie vorher in Russland hinterließen sie

eine Schneise der Verwüstung.

Und das alles, um die Vorstellungen des kleinen großen Egomanen, der

sich 1804 selbst zum Kaiser gekrönt hatte, mit Gewalt durchzusetzen. Millionen

hatten ihn damals verehrt, weil man sich einen Aufbruch in eine neue Ära

versprach. Endlich sollte das Joch der Ausbeutung der einfachen Bevölkerung

durch den Adel abgeworfen werden. Alle sollten die gleichen Rechte haben.

Wie hatte es so schön geheißen: Liberté, Égalité, Fraternité - Freiheit,

Gleichheit, Brüderlichkeit!

Jetzt waren sie tatsächlich alle gleich - im Sterben und im Elend - Freund

wie Feind!

So düstere Gedanken waren Villeneuve eigentlich fremd. Erstaunlich,

was der Krieg aus einem Menschen machen kann, dachte er.

29. August

Johannes Strasen hatte bereits begonnen, sich an einem Snookertisch

einzuspielen, als Lefèvre den Billardsalon betrat. Heute war der große Tag, sie

wollten sich endlich beweisen, dass sie auch mit den kleineren Kugeln

zurechtkamen.

Johannes war ein früherer Kollege, zwei Jahre älter und deshalb schon

seit längerem in Pension. Lefèvre und er hatten sich schon während der

gemeinsamen Dienstzeit vorgenommen, gemeinsam Billard zu spielen, wenn

sie mal genug Zeit dafür haben würden. Und nun war es zur schönen

Gewohnheit geworden, sich einmal in der Woche, jeden Dienstagabend, im

Billardsalon zu treffen.

Bisher hatten sie immer Dreiband gespielt, aber durch die vielen

Fernsehübertragungen von Snookerturnieren, hatte es sie gereizt, es einmal

selbst in dieser Disziplin zu versuchen. Lefèvre konnte sich nicht mehr erinnern,

wann er jemals eine Fernsehübertragung vom Dreiband im Fernsehen gesehen

hatte. Es musste Jahrzehnte zurück liegen. Snooker war eben moderner.

55

„Na, Johannes, wie geht’s, wie steht’s? Wie kommst du klar mit den

kleinen Bällen?“, begrüßte ihn Lefèvre.

„Grüß dich, Karl-Heinz. Ich habe das Gefühl, ich treffe gar nichts. Es wird

wohl ein Weilchen dauern, bis ich mich umgestellt habe.“

„Wie ist es denn eigentlich in Kleinzerlang weitergegangen, habt ihr jetzt

einen Brunnen im Garten?“, wollte Lefèvre wissen.

Johannes und seine Frau Gertrud, genannt Trude, hatten vor Jahren ein

altes Haus in Kleinzerlang erworben. Es war damals ziemlich

heruntergekommen, was Johannes nicht störte, denn er war gelernter

Handwerker, bevor er Arbeitslehre auf Lehramt studierte.

„Hatte ich dir von unserem ‚Medizinmann‘ erzählt?“, fragte Strasen. Als

er Lefèvres erstauntes Gesicht bemerkte, erzählte er weiter. „Du hattest ja

mitbekommen, wie schwierig es war, die Wasserader im Garten zu treffen. Das

hatten wir überall herum erzählt und plötzlich meldete sich bei uns ein

Bekannter von Trude. Er meinte, dass er uns helfen könne.“

„Und das hat offensichtlich geklappt“, meinte Lefèvre.

„Ja, schon, aber der Clou ist die Art und Weise. Der Mann, Leukowski

heißt er, kam zu uns und packte allen Ernstes eine Wünschelrute aus.“

„Wie bitte, ich dachte, das gibt es nur im Film!“

„Was soll ich dir sagen, ich hatte noch gar nicht so recht begriffen, was

los war, da fing der Mann schon an, den Garten abzuschreiten, die

Wünschelrute vor sich haltend. Er ging in genau abgezirkelten Bahnen immer

auf und ab.“

„Wie sah die denn aus, die Wünschelrute?“, wollte Lefèvre wissen.

„Na, ich dachte immer, die Dinger wären aus Holz, wie so eine Art

Astgabel. Diese Wünschelrute war aber eher ein Kupferkabel, das an einem

Ende in zwei Teile verzweigte.“

„Und wie lange hat diese merkwürdige Prozedur gedauert?“

„Das ging schon eine ganze Weile, aber mit einem Mal stoppte

Leukowski, markierte die Stelle im Garten mit einem kleinen Stöckchen und

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machte dann weiter. Diesmal lief er quer zu den vorherigen Wegen. Das

dauerte wieder eine Weile, dann hielt er an, übrigens genau an der Stelle, die

er vorher markiert hatte und sagte auf eine Art und Weise, die keine Zweifel

zuließ: „Hier isset!“

„Das ist ja ein Ding. Und an der Stelle hast du wahrscheinlich angefangen

zu buddeln.“

„Genau, und in gut zwei Metern Tiefe kam das Wasser. Unglaublich,

oder?“

„Hätte mir die Geschichte ein anderer erzählt, wäre ich sicher, er wollte

mir einen Bären aufbinden. Wenn man Physik studiert hat, glaubt man solche

Sachen üblicherweise nicht.“

„Ich hatte bisher auch immer meine Zweifel, aber ich habe es mit

eigenen Augen gesehen.“

Während sie sich unterhielten, hatten die beiden sich abwechselnd an

den Snookerkugeln versucht, meist ohne großen Erfolg.

„So, jetzt reicht’s!“, sagte Strasen mit einem Mal. „Schuster bleib bei

deinen Leisten! Ich bin ja schon im Dreibandspielen kein Weltmeister, aber das

hier macht mir keinen Spaß.“

„Okay, mir geht es genauso. Lass uns am Tresen mal nach einem anderen

Tisch fragen. Vielleicht gibt es dann wenigstens noch ein kleines Erfolgserlebnis.

Ich denke, es kann auch an unseren Augen liegen, dass wir nicht so recht klar

kommen. Wir tragen beide eine Gleitsichtbrille, da passt die gebückte Haltung

beim Stoß überhaupt nicht, weil man immer durch den Fernsichtteil der Brille

schaut. Da kann ich mir ja gleich einen Blindenhund holen!“

„In den 90ern gab es mal einen Snooker-Profi, Dennis Taylor, der hatte

sich deshalb eine Spezialbrille anfertigen lassen. Sah recht merkwürdig aus, das

Gestell, hat aber wohl geholfen, soll allerdings damals 1900 DM gekostet

haben.“

„Na, da müsste ich ja wohl verrückt sein, wenn ich als Dilettant so viel

Geld dafür ausgeben sollte. Mister Taylor war eben Profi, für ihn war es der

Beruf.“

57

Am Schalter erfuhren sie, dass heute leider alle großen Tische

ausgebucht waren, also beschlossen sie, sich wenigstens noch auf ein Getränk

zusammen zu setzen.

„Ich habe neulich etwas erlebt, das wirst du kaum glauben“, fing Lefèvre

an zu erzählen. Und dann begann er, von seinen Erlebnissen in Großbeeren zu

berichten. Strasen hörte aufmerksam zu.

„Hört sich an, als hättest du einen schlechten Krimi gesehen“, war

Strasens Kommentar, als Lüttke seine Erzählung beendet hatte. „Gab es da

nicht vor Jahren mal einen ‚Tatort‘, der auf so einer Veranstaltung spielte? Da

gab es dann auch einen Toten“.

„Das stimmt, aber es war ein Krimi aus der Sendereihe ‚110‘ von 2002. Es

war die zweite Folge mit dem Dorfpolizisten Krause.“

„Mit Krimis scheinst du dich auszukennen, ich bin beeindruckt. Jetzt hast

du eben selbst mal einen erlebt.“

„‘Tatort‘ schau ich immer, wenn ich es einrichten kann, auch wenn mir

die Richtung der letzten Folgen nicht mehr passt. Immer mehr Action statt

originelle Typen und die Aufklärung spannender Fälle. ‚110‘ habe ich sogar

schon zu DDR-Zeiten ab und an gesehen. Manche waren richtig gut gemacht,

man musste sich natürlich den DDR-typischen Schnickschnack wegdenken. Die

Handlungen denken sich Leute sonst mit viel Fantasie aus, aber was ich erlebt

habe, ist bitterer Ernst.“

„Darüber musst du mich auf dem Laufenden halten, vielleicht kannst du

mir in vierzehn Tagen schon mehr erzählen. Nächsten Dienstag kann ich nicht

spielen, da feiert meine Schwiegermutter Geburtstag, ihren 93., und in dem

Alter weiß man ja nie, ob es der letzte ist.“

„Das verstehe ich“, sagte Lefèvre zum Abschied. „Weißt du - das Beste an

unseren Treffen ist, dass wir nie ein Wort über Schule verlieren. Wenn ich an

die letzten Jahre zurückdenke, gab es in Gesprächen, egal mit wem, eigentlich

immer nur ein Thema: Schule.“

„Da kannst du einmal sehen, wie das bei den Lehrern so läuft. Ich kann

mir kaum einen anderen Beruf vorstellen, in dem du ständig deine Arbeit mit

dir herumträgst, vielleicht noch am ehesten bei den Ärzten.“

58

„Mach’s gut, Johannes, und grüß mir die Trude, ich freue mich schon auf

übernächsten Dienstag“, verabschiedete sich Lefèvre von seinem Freund.

25. August

Weit war Villeneuve gestern nicht gekommen. Die schrecklichen Bilder in

Großbeeren hatten ihn stärker mitgenommen, als er gedacht hatte. Er hatte im

Wald, im Unterholz, lange gesessen und gegrübelt. Wenn es eine ungefährliche

Gelegenheit gäbe, sich abzusetzen, er wäre jetzt so weit.

Abends war er schließlich zu seinem Pferd zurückgegangen, das geduldig

gewartet hatte. Er schwang sich in den Sattel und ritt weiter westwärts.

Der Wald gab ihm nicht mehr lange Deckung, er sah von weitem ein

Gehöft. Sich in der Dämmerung näher heran zu wagen, hielt er für ein

unnötiges Risiko. Er zog sich einige hundert Meter in den Wald zurück und

begann, sich zum zweiten Mal ein provisorisches Nachtlager einzurichten.

Er hatte einige Zeit erstaunlich tief geschlafen. Der Körper verlangte nach

Erholung. Eben war er durch den fernen Ruf eines Hahns geweckt worden. Die

Sonne sorgte bereits für Licht, war jedoch noch unter dem Horizont verborgen.

Welche Ironie, dachte er, während der Schlacht sah man kaum 50 Meter

weit und nun kündigte sich ein herrlicher, friedlich erscheinender Sommertag

an.

Villeneuves Magen knurrte, dass er damit jeden Dorfhund verjagen

könnte. Er musste es wagen. Vielleicht konnte er bei den Häusern etwas

Essbares ergattern. Hinter den vordersten Bäumen verharrte er einen Moment,

um die Lage sichten zu können. Es war niemand zu sehen.

Er band sein Pferd an - wenn alles gut ginge, würde er es später

nachholen können. Es würde einfacher und vor allem geräuschloser sein, sich

den Häusern zu Fuß zu nähern.

Vorsichtig schlich er näher heran an das Gehöft. Er war vielleicht noch

zehn Schritte von der nahegelegensten Hütte entfernt, als sich plötzlich die Tür

öffnete und eine junge Frau heraustrat.

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Blitzschnell warf sich Villeneuve hinter einem Busch zu Boden. Er wagte

nicht, in Richtung Hütte zu schauen, doch er hörte Schritte, jemand kam näher.

Sie hatte ihn doch bemerkt. Er nahm seinem ganzen Mut zusammen, erhob

sich und rief halblaut: „Ne vous s‘effrayez pas, Mademoiselle!“6.

Im selben Moment fiel ihm ein, dass sie ihn wohl nicht verstehen würde

und er ergänzte schnell: „Kein Angst, Fräulein! Ich nicht kämpfen!“

Um seine Friedfertigkeit zu untermauern, warf er sein Gewehr in hohem

Bogen zur Seite und streckte beide Arme weit von sich. Gleichzeitig ging er

langsam auf die junge Frau zu. „Ich abe unger!“

Obwohl er leise gesprochen hatte, erschien in der Tür ein älterer Mann.

Die Mistgabel in seiner Hand zeigte bedrohlich in Richtung des Fremden. Mit

einem Blick übersah er die Situation und deutete dann auf Villeneuves Degen.

Der Lieutenant verstand. Ganz bedächtig löste er den Degen von seinem

Gürtel. Dabei vermied er rasche Bewegungen. Die beiden hätten zwar keine

Gefahr bedeutet, beide waren mehr oder weniger unbewaffnet, aber

Villeneuve spürte, dass er nur eine Chance hatte, an etwas Ess- und Trinkbares

zu kommen: Er musste deutlich machen, dass er mit dem Krieg und dem

Kämpfen abgeschlossen hatte.

Er warf den Degen zu seinem Gewehr in die Wiese. Der Mann winkte

ihm, näher zu kommen und zeigte dann auf die Tür. Sollte das tatsächlich eine

Einladung sein? Ohne zu zögern, betrat Villeneuve das Haus. Die beiden

schienen ungefährlich zu sein. In den Augen des Vaters sah er zwar Misstrauen,

aber keine Feindseligkeit. Das Mädchen wirkte neugierig, Villeneuve schätzte

sein Alter auf 18, 19 Jahre.

„Geh nach hinten!“, sagte der ältere Mann zu dem Mädchen. „Ich

versuche zu klären, was er von uns will. Komm erst wieder heraus, wenn ich

dich rufe.“

Sie kamen vom Eingang direkt in die Küche. Der Mann wies auf einen

kleinen Tisch, an dem zwei Stühle standen und nickte. Villeneuve setzte sich.

„Sie sprechen deutsch?“, fragte der Mann.

6 „Nicht erschrecken, Fräulein!“

60

„Ich habe ein wenig Deutsch gelernt von einem Kameraden aus Saxon“,

erwiderte der Lieutenant.

„Da haben euch die Preußen aber wohl ordentlich einen übergebraten!“,

sagte der Mann lächelnd, „das hat sich euer Kaiser sicherlich anders

vorgestellt.“ Gleichzeitig öffnete er den kleinen Küchenschrank, nahm ein Stück

Brot heraus und legte es auf den Tisch, auf dem neben einem Messer schon ein

Stück Speck lag. Offensichtlich hatten die beiden Bewohner zu dieser frühen

Stunde schon gefrühstückt.

„Dorothea“, rief der Mann plötzlich nach hinten. Offensichtlich meinte er

die junge Frau, die sofort erschien. Hatte sie hinter der Tür gelauscht? „Hole

einen Krug frisches Wasser vom Brunnen. Ich glaube, unser Gast hat einen

ordentlichen Durst.“

Während Dorothea verschwand, deutete der Mann auf den Tisch und

sagte: „Greifen Sie zu. Viel können wir Ihnen nicht bieten, aber es wird über

den größten Durst und Hunger hinweg helfen.“

Villeneuve ließ sich das nicht zweimal sagen. Er griff das kleine Messer

und säbelte sich ein Stück vom Speck ab. Er bemerkte, dass ihn der Mann nicht

aus den Augen ließ.

„Wo ist Ihr Ross?“ Als er den fragende Blick des Franzosen sah,

wiederholte er: „Ihr Pferd! Sie werden doch wohl nicht zu Fuß unterwegs sein.“

Villeneuve erkannte, dass er einen vorsichtigen, aber keineswegs

dummen Menschen vor sich hatte.

„Es steht am Wald“, antwortete er.

„Dann sollten Sie es sofort holen, wenn Sie sich gestärkt haben. Es

streifen im Moment noch reichlich Soldaten beider Seiten durch die Gegend.

Sie wollen bestimmt weder mit dem einen Lager noch mit dem anderen zu tun

haben.

Die Preußen würden Sie günstigstenfalls mitnehmen, wenn sie sich

überhaupt die Mühe machen. Und Ihre Landsleute würden sich freuen, einen

Deserteur zurück zu holen.“

61

Da war es, das böse Wort. Ja, er war zum Deserteur geworden. Und

wenn er einen Moment darüber nachdachte, schien ihm das folgerichtig zu

sein. Er hatte einfach keine Lust mehr, seine Haut für die Ziele anderer

hinzuhalten. Dazu musste er jetzt stehen.

Das hieß allerdings nicht, dass er für die Entscheidung, nicht mehr zu

kämpfen, sein Leben geben wollte. Es hieß also, behutsam und mit Bedacht

vorzugehen. Vielleicht konnte ihm der alte Mann helfen.

„Kann ich einige Tage bleiben? Ich möchte warten, bis alles ruhig ist.“

Villeneuve war noch nie so froh, dass er bei einem so guten Deutschlehrer

gelernt hatte. „Ich werde nicht zur Last fallen. Vielleicht kann ich helfen, ich

verstehe eine Menge von Pferden“, fragte er vorsichtig.

„Wir werden sehen. Hol erst mal dein Pferd und dann leg dich in die

Scheune. Du siehst aus, als könntest du noch etwas Schlaf gut gebrauchen.“

Wilhelm Schmidt war urplötzlich zur vertrauteren Anrede übergegangen.

Villeneuve verstand nicht jedes Wort, aber doch so viel um zu wissen,

dass er erst einmal in Sicherheit war.

62

3. September

„Die Sache mit dem französischen Offizier hat mir doch keine Ruhe gelassen.“

Lefèvre war wieder als Gast bei der nächsten Vorstandssitzung des

Kulturvereins anwesend. Mit vielem hatte er gerechnet, vor allem war er

gespannt zu erfahren, ob es wegen des Toten auf dem Siegesfest Neuigkeiten

gäbe. Aber nun sprach ihn Klausen wieder auf den Namensvetter an. Sehr

merkwürdig.

„Unser Pfarrer, der Christof Franz, hat mich in die alten Kirchenbücher

schauen lassen. Und ... ?“, machte er es richtig spannend.

„Und ich bin tatsächlich fündig geworden. Dabei hat der Mann wirklich

sein bestes gegeben, seine Herkunft zu verschleiern.“

Lefèvre guckte entgeistert. Wer hatte jetzt was verschleiert?

Klausen interpretierte Lefèvres Gesichtsausdruck so, dass er einfach

weiter erzählen sollte. „Es gibt einen Eintrag vom Sommer 1814. Dabei geht es

um die Geburt eines Kindes. Als Vater steht ein gewisser Villeneuve

geschrieben, Jean-Jacques Villeneuve. Die Mutter wird mit Dorothea Schmidt

angegeben, aus Gütergotz. Beim Vater ist keine Herkunft eingetragen.“

„Und was hat das jetzt mit meinem Namen zu tun?“, fragte Lefèvre,

sichtlich irritiert.

„Warten Sie es ab, es geht ja noch weiter. Als ich im Kirchenbuch

weiterblätterte, entdeckte ich für das Jahr 1815 wieder den Namen Dorothea

Schmidt. Es war ein weiterer Taufeintrag. Aber diesmal stand dort als Vater der

Name Jean-Jacques Lefèbvre. Allerdings hinten mit ‚bvre‘ geschrieben. Soll das

Zufall sein?“

„Das klingt wirklich nicht nach einem Zufall. Da tauchen zwei Franzosen

auf und die haben beide zufällig denselben Vornamen? So wie Sie schmunzeln,

haben sie bestimmt eine Theorie dazu.“

„Stimmt genau. Ich habe mir nämlich Folgendes überlegt: Wenn hier im

Sommer 1814 ein Kind geboren wurde, dann muss man ja nur mal neun

Monate zurück rechnen und man landet im Herbst 1813. Und was war hier im

Herbst 1813 ...?“

63

„Hm, die Schlacht bei Großbeeren, schön und gut, aber was soll das mit

den beiden unterschiedlichen Namen?“

„Na, denken Sie doch mal daran, dass es vielleicht den einen oder

anderen Schlachtteilnehmer gab, der im letzten Moment vielleicht doch keine

Lust hatte, so früh fürs Vaterland zu sterben!“

„Sie denken an einen oder zwei Deserteure?“, langsam kapierte Lefèvre,

worauf Klausen hinaus wollte.“

„Nicht zwei Deserteure – nur einer war es. Und der musste natürlich

Angst vor Entdeckung haben. Für Deserteure hatte das Militär noch nie viel

Verständnis. Wobei das Wort Deserteur aus meiner Sicht auf diesen Fall gar

nicht zutrifft. Als Deserteure werden nämlich ursprünglich Soldaten bezeichnet,

die zum Feind überlaufen. Und das hatte Villeneuve nach meiner Theorie nicht

vor. Er hatte nur genug von der Abschlachterei, und die Bauerstochter wird

wohl ein zweites, wie ich finde, besonders gutes Argument gewesen sein.“

„Das mit den zwei Namen habe ich trotzdem immer noch nicht

begriffen.“

„Na, erinnern Sie sich mal bitte an das, was ich ihnen neulich erzählt

habe. Da gab es einen Leutnant Lefèvre, der an den Folgen seiner Verletzungen

gestorben war. Wenn das Villeneuve vielleicht wusste, dann konnte er doch zur

Tarnung gut dessen Namen annehmen. Nach einem Leutnant Lefèvre würde

schließlich niemand mehr suchen, der galt doch als Opfer.“

„Nicht schlecht, Herr Klausen, die Theorie gefällt mir. Da gibt es nur noch

die Tatsache, dass im Kirchenbuch nicht Lefèvre sondern Lefèbvre steht, mit

‚b‘.“

„Auch dafür habe ich natürlich eine Erklärung. Eigentlich sehe ich zwei

Möglichkeiten. Entweder Villeneuve wusste nicht genau, wie sich der Name

seines Offizierskollegen schrieb, oder – und das halte ich für wahrscheinlicher –

derjenige, der den Kirchenbucheintrag vornahm, wusste es eben nicht besser.

Das kam im Übrigen oft vor, dass Namen in den Kirchenbüchern falsch

geschrieben wurden. So sind wahrscheinlich die vielen Varianten bei

bestimmten Namen entstanden. Denken Sie z. B. an Schmidt, Schmitt, Schmied

oder Schmid. Alle Namensvarianten klingen irgendwie gleich oder zumindest

64

ähnlich. Und wenn man dann noch weiß, dass es damals nicht

selbstverständlich war, dass man das Schreiben gelernt hatte sondern die

meisten Menschen Analphabeten waren, dann kann man sich die Fehleinträge

gut erklären.

Ich kenne sogar einen Fall in der Bekanntschaft, da wurde vor gar nicht

langer Zeit in einer Geburtsurkunde ein Name falsch geschrieben, da hieß das

Kind plötzlich Hemuth statt Helmuth. Sie glauben gar nicht, was das für

Probleme gab, den Fehler später wieder zu korrigieren!“

„Während sie eben erzählten, fiel mir plötzlich ein, dass mein Großvater

mir mal etwas von einer Namensänderung erzählt hat. Wenn ich das noch

richtig erinnere, gab es immer wieder Schwierigkeiten mit der Schreib- und

Sprechweise des Namens Lefèbvre, weil die Deutschen mit dem ‚b‘ vor dem ‚v‘

nicht klar kamen. Daraufhin hat wohl ein Vorfahr seinen Namen amtlich ändern

lassen und seitdem heißen wir eben Lefèvre ohne ‚b‘.“

„Na, sehen Sie, Herr Lefèvre, dann passt das ja wie die Faust aufs Auge.“

„Ich muss das wirklich mal nachlesen. Mein Großvater hat sich als

Rentner ziemlich stark als Ahnenforscher engagiert. Da gibt es entsprechende

Aufzeichnungen. Na, das wäre ja ein Ding, wenn ich wirklich von diesem

Offizier abstammte!“

Inzwischen hatten sich alle Vorständler eingefunden und Schulze

drängelte, pünktlich mit der Sitzung zu beginnen und verwies dabei auf die

Tatsache, dass die Tagesordnung mal wieder übervoll sei.

„Wolfgang lässt sich entschuldigen, er kommt heute etwas später. Er hat

noch an der Uni zu tun. Da gibt es doch morgen einen Tag der offenen Tür und

er hat noch einige Experimente mit Maschinen vorzubereiten.

Ich möchte dann auch Dawid begrüßen, er hatte ja versprochen, uns von

den Untersuchungsergebnissen zu berichten. Deshalb möchte ich dir auch

gleich das Wort erteilen. Wir sind schließlich alle neugierig, was ermittelt

worden ist.“

„Guten Abend, allerseits. Die Todesursache war ziemlich leicht

festzustellen. So ein Schuss genau ins Herz ist eben in aller Regel tödlich. Was

aber einigermaßen erstaunen lässt, ist die Kugel, die doch eigentlich gar nicht

65

existieren dürfte, wenn doch angeblich alle Vorderlader nur mit Schwarzpulver

und Mehl gefüllt waren.“

„Nun mach’s mal nicht so spannend, Dawid. Was war denn das

Besondere an der Kugel?“, drängelte Lüttke.

„Die Kugel, die aus Schütters Brustkorb geholt wurde, ist eine moderne

Stahlkugel, offensichtlich aus bestem Edelstahl gefertigt. Die ist zwar nicht auf

einer Seite angespitzt, hat es aber dennoch geschafft, durch die Uniformjacke,

das Hemd, die Haut und den fünften Zwischenrippenmuskel zu dringen, um

dann genau in der linken Vorkammer zum Stillstand zu kommen. Dummerweise

war da nun ein Loch in der Herzwand und deshalb...“

„Ist gut, ist gut, Dawid“, unterbrach ihn Paula Wussow, „genauer müssen

wir es dann wohl doch nicht wissen.“

„Das passt gut zu den Ergebnissen, die ich von den ermittelnden

Kriminalbeamten erfahren habe“, meinte Schulze. „Die haben mit der Kugel

nicht viel anfangen können. Die meinen eben, eine Kugel ist eine Kugel - eine

Stahlkugel eben, was solle man darüber mehr sagen. Insgesamt machten mir

diese Kollegen nicht gerade den Eindruck, als hätten sie besondere Lust auf

komplizierte und langwierige Nachforschungen. Da hatte ich eher den Eindruck,

sie wollen die Untersuchung einstellen.

Ausschlaggebend ist obendrein, dass diese alten Dinger“, er meinte wohl

die Vorderlader, „einen extremen Streuwinkel haben, die Schussbahnen

dadurch nicht gut zu rekonstruieren sind und dann auch noch mehr als zwölf

Personen als mögliche Schützen in Frage kommen, die alle ungefähr in die

Richtung des von Schütter ‚gefeuert‘ haben. Da die alten Gewehre auch noch

keinen gezogenen Lauf hatten, somit also auch keine eindeutigen Spuren auf

der Oberfläche der Kugel hinterließen, kann niemand sagen, aus welchem

Gewehr die tödliche Kugel abgefeuert wurde.

Deshalb gelang es mir auch, die Kollegen zu überzeugen, die Kugel für ein

paar Tage auszuleihen. Ich dachte da an Wolfgang, der ist ja schließlich

Maschinenbauingenieur.

Von der Staatsanwaltschaft in Neuruppin habe ich übrigens erfahren,

dass die Ermittlungen wegen Bestechlichkeit hier im Landkreis nach Zahlung

66

von Geldbußen schon vor einiger Zeit eingestellt wurden. Das muss wohl

stillschweigend passiert sein, denn in der Presse war davon nichts zu lesen.“

Er wandte sich an Hoffnung, der während Schulzes Vortrag den Raum

betreten hatte und noch einen Teil von dessen Ausführungen mitbekommen

hatte.

„Was ist los, Wolfgang, alles klar bei dir? Du siehst blass aus, der Tag an

der Uni war wohl sehr anstrengend?“

„Vor allem lang war er“, entgegnete Hoffnung und hoffte innerlich, dass

man ihm die Erklärung abnahm und seinen Schrecken nicht anmerkte.

„Ich werde die Kugel mitnehmen zur Bundesanstalt für

Materialforschung. Unser Institut hat ohnehin öfter mit der BAM zu tun. Die

sollen die Kugel mal untersuchen, vielleicht lässt sich auf diesem Weg noch

etwas herausfinden.“

„Kommst du eigentlich zu unserer nächsten Musikveranstaltung?“, wollte

Lüttke von Lefèvre wissen.

„Was gibt es denn?“ Lefèvre zeigte sich unwissend.

„Die ‚Alpha Jazz Band‘ spielt exzellenten Dixie. Den hast du doch früher

immer gern gehört!“

25. August

Er musste den ganzen Tag geschlafen haben. Villeneuve erinnerte sich, dass er

gleich nach der morgendlichen Stärkung sein Pferd geholt und in den Stall zu

den Pferden des Bauern gestellt hatte. Danach bereitete er sich sofort ein

Strohlager in der Scheune. Das diesbezügliche Angebot des Bauern hatte er

gern angenommen.

Nun saßen sie wieder am Tisch, diesmal zu dritt. Die junge Frau stand am

Herd und es roch himmlisch. Villeneuve bekam wieder Hunger.

„Nimm von dem Apfelsaft! Die Bäume hinter dem Haus tragen in diesem

Jahr besonders gut. Wir haben reichlich davon.“ Der Bauer stellte einen

gefüllten Krug und einige einfache Trinkgläser auf den Tisch.

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Villeneuves Lebensgeister waren wieder erwacht. Insgeheim lobte er sich

für seine Menschenkenntnis. Es war ja nicht ohne Risiko, den Fremden einfach

so zu vertrauen. Wie leicht hätten sie preußischen Soldaten einen Tipp geben

können. Im Laufe des Tages waren tatsächlich welche am Haus erschienen.

Villeneuve hatte aus seinem Versteck in der Scheune nicht genau verfolgen

können, was die beiden eigentlich vom Bauern wollten. Er war jedenfalls sehr

erleichtert gewesen, als sie wieder gingen.

„Was ist das, dort in dem Topf?“, wollte Villeneuve von der jungen Frau

wissen. „Es riecht exquisite!“

„Nur ein Eintopf aus Kartoffeln, Bohnen, Speck und Zwiebeln. Er macht

satt und gibt Kraft.“ Ihr Lächeln war bezaubernd. Für Villeneuve hätte es

wahrlich schlimmer kommen können – viel schlimmer.

Nach dem Essen saßen die drei noch zusammen. Villeneuve erzählte von

sich, seiner früheren Bewunderung für Napoleon, von den schlimmen

Erfahrungen in den Kämpfen in Russland und von der Wandlung seiner

Einstellung zum Krieg.

Wilhelm Schmidt hatte sich alles ohne Kommentar angehört. Während

der junge Mann sprach, wurde seine Miene immer düsterer. Dann sagte er:

„Nur Dorothea ist mir geblieben. Meine beiden Söhne sind tot. Sie ließen ihr

Leben für Preußen, bereits vor sieben Jahren, bei der Verteidigung Berlins.

Seitdem hatte ich oft Zeit, über die Sinnlosigkeit dieser

Auseinandersetzungen nachzudenken. Die beiden waren noch so jung, 22 und

20 Jahre alt. Sie hatten ihr ganzes Leben noch vor sich.

Warum können wir hier in unserer Heimat nicht einfach friedlich leben.

Wir haben genug zu kämpfen, um unser Überleben zu sichern. Viel Ertrag wirft

der Boden nicht ab. Es reicht gerade, um über die Runden zu kommen.

Wir können jede helfende Hand gut gebrauchen. Deshalb – wenn du

bleiben möchtest …Schlafen kannst du hinten in der Scheune. Du solltest dich

nur eine Weile nicht draußen zeigen. In einigen Wochen wird sich die

Aufregung wohl gelegt haben. Bis dahin wird mir eine Erklärung eingefallen

sein, die ich den neugierigen Nachbarn geben kann. Und Fremden wirst du

überhaupt nicht auffallen, früher lebten hier ja sogar zwei junge Männer.

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Kannst vorerst im Stall helfen. Und deine Pferdekenntnisse werden auch

hilfreich sein. Einen Schmied haben wir hier in Gütergotz schon seit einiger Zeit

nicht mehr.“

„Ist das der Name eures Dorfes?“, wollte Villeneuve wissen.

„Ja, der Name kommt aus dem Slawischen und heißt sinngemäß ‚Der

Morgen ist zu Gast‘.“ Das passt doch eigentlich ganz gut, wenn man bedenkt,

dass wir seit gestern Morgen einen Gast haben!“, lachte der Bauer. „Kannst

übrigens Wilhelm zu mir sagen.“

Dorothea saß die ganze Zeit schweigend und hörte nur zu. Dabei ließ sie

kaum einen Blick von dem jungen Franzosen. Sie schien ihn aufmerksam zu

mustern.

10. September

Die nächsten zwei Wochen vergingen mit etlichen Aktivitäten Lefèvres in

Sachen Großbeeren. Gabi war bereits sauer, dass er seine häuslichen Pflichten

neuerlich vernachlässigte, dabei hatte es sich doch gerade so gut eingespielt. Er

war für die Abfallentsorgung zuständig, bediente Geschirrspüler und

Waschmaschine und durch sein einmal wöchentliches Putzen konnten sie sich

die Kosten für eine Putzfrau sparen. Gabi wollte allerdings weiterhin für die

Lebensmitteleinkäufe sorgen, im Gegensatz zu ihrem Ehemann machte ihr das

Spaß und sie hatte dadurch auch in der Hand, was auf den Tisch kommt. Wenn

sie das Karl-Heinz überließe, gäbe es immer abwechselnd Pellkartoffeln mit

Weißkäse und Nudeln.

Mit Interesse hatte Lefèvre die Zeitungsartikel zum Bestechungsverdacht

gelesen, die ihm Regina Eisenhard per Email zugeschickt hatte. Die MAZ hatte

wirklich ausführlich von den Vorgängen berichtet. Insgesamt schienen mehrere

Lokalpolitiker involviert zu sein. Die Zusammenhänge wurden ihm trotzdem

nicht richtig klar, vielleicht fehlte ihm als Städter dazu einfach die richtige

Sichtweise.

Schulze ging er inzwischen ziemlich auf die Nerven, weil er ihn mehrmals

angerufen hatte, um die neueste Entwicklung zu erfragen. Er musste dabei

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feststellen, dass solche Ermittlungen in Brandenburg auch nicht schneller

abliefen als in Berlin.

*

Wolfgang Hoffnung hatte einige unruhige Tage hinter sich. Die Untersuchung

an der BAM hatte ergeben, dass es sich bei der Kugel um den Bestandteil eines

Kugellagers handelte, das von einer süddeutschen Firma produziert wurde und

in vielen Ländern Europas in Maschinen verbaut wurde.

Er wusste, dass auch in seinem Institut an der Uni mit solchen

Kugellagern gearbeitet wurde. Aber wie sollten die Kugeln auf das Siegesfest

gelangt sein? Er kam sich vor wie in einem schlechten Kriminalfilm, in dem das

Drehbuch einige logische Sprünge aufweist und die Handlung für den

Zuschauer dadurch nicht recht nachzuvollziehen ist.

*

Während der Jazz-Veranstaltung ergab sich wieder die inzwischen schon

gewohnte Gesprächsrunde am Tresen. Dem Kulturverein war es auch diesmal

gelungen, den Gemeindesaal gut zu füllen, die Stimmung im Saal kochte.

„Wie ihr wisst, haben die Ermittlungen zu den Vorfällen am 23. August

nur wenige neue Erkenntnisse gebracht. Die BAM hat festgestellt, dass es sich

um eine Kugel aus einem modernen Kugellager handelt, aber wie die auf das

Siegesfest gelangen und dort zu einer tödlichen Patrone werden konnte, ist

allen ein Mysterium.“

Manchmal konnte man Schulze seinen Beruf schon an der

Ausdrucksweise anmerken.

„Ich weiß nicht, wie ihr das seht. Ich finde, unsere Linie hat sich voll und

ganz bestätigt, unsere friedliche Veranstaltung fand ich sehr gelungen.“

„Auch wenn es nicht die wichtigste Rolle spielt, aber der ökonomische

Erfolg ist auch beträchtlich, wir haben mit unseren Verzehrständen einen guten

Umsatz gemacht“, meldete sich Paula Wussow zu Wort.

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„Vor allem kamen die Darbietungen der Chöre und der Tanzgruppen gut

an. Die Stimmung war friedvoll und harmonisch“, ergänzte Regina Eisenhard.

„Dann sollten wir dabei bleiben. Nicht mehr die Schlachtdarstellung

sollte im Mittelpunkt des Festes stehen, sondern die Freundschaft unter den an

der damaligen Schlacht beteiligten Völkern. Und vielleicht finden wir in diesem

Zusammenhang auch einen neuen Namen für das Fest. Ich finde jedenfalls den

Begriff ‚Siegesfest‘ als nicht mehr passend“, dozierte Klausen vielleicht etwas zu

pathetisch.

„Da kann ich dir nur beipflichten“, warf Lüttke ein, „wenigstens in Europa

haben wir doch den Militarismus inzwischen erfolgreich überwunden. Da

müssen wir nicht mehr zeigen, dass sich hier früher Franzosen, Sachsen,

Russen, Schweden, Westfalen und Preußen gegenseitig die Köpfe abgeschlagen

haben. Ein Problem könnte allenfalls sein, dass die Leute eben ‚det Jeballer‘

weiterhin gern sehen und hören wollen.

Ich habe übrigens bei meinem Nachbarn, Dieter Manthey und unserem

Revierförster, dem Stiewen Hanika gefragt, ob die beiden noch etwas über das

Geschehen auf dem Schlachtgelände erfahren haben, wir spielen doch

zusammen Fußball bei Schwarz-Gelb. Die kennen im Ort Hinz und Kunz, aber

die wussten auch nur das, oder nicht mal das, was wir wissen.“

*

Hoffnung konnte und wollte sich an der Gesprächsrunde nicht beteiligen, er

hatte angeboten, bei der Tontechnik zu helfen.

Er hatte wieder einige Nächte schlecht geschlafen. Das

Untersuchungsergebnis der BAM hatte ihm keine Ruhe gelassen. Die

Ingenieure an der BAM irrten sich eigentlich nie. Hoffnung wusste, mit welcher

Akribie dort gearbeitet wurde.

Er erinnerte sich, dass sie seinem Institut an der Uni Ende letzten Jahres

den Prototyp einer neuen Verpackungsmaschine entwickelten. Von einem

defekten Lager hatte er kurz vor Weihnachten einige solcher Kugeln für seinen

Sohn Caine mit nach Hause genommen. Er hatte mit ihm damals eine

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Murmelbahn gebaut und darin liefen die Stahlkugeln besonders gut, viel besser

als die üblichen Glasmurmeln.

Caine war ganz vernarrt in die Murmeln und spielte damit bei jeder

Gelegenheit, er trug wohl ständig einige davon in seiner Hosentasche mit sich

herum.

Irgendwo fehlte da aber noch etwas, wo war die Verbindung? Ihm war

immer noch nicht der Zusammenhang klar zwischen dem Geschehen auf dem

Siegesfest und den Kugeln aus dem Kugellager.

Hinter dem Mischpult sitzend, ließ er seinen Gedanken freien Lauf. Im

hinteren Teil des Saals hatten einige Zuschauer begonnen, zur Musik zu tanzen.

Direkt vor seiner Nase bewegte sich sehr geschmeidig eine junge, attraktive

Frau. Hoffnung wollte sie gerade bitten, zwei Meter zur Seite zu rücken, weil sie

ihm den Blick auf die Bühne versperrte, da glaubte er ihr Gesicht zu erkennen.

Das war doch die hübsche Marketenderin, die ihm neulich schon auf dem

Siegesfest aufgefallen war! Die Erkenntnis durchfuhr ihn wie ein Blitz. Das war

es! In dem Moment, als er der Frau hinterher sah und sich dadurch von seiner

Muskete ablenken ließ, musste Caine seine Stahlmurmeln hervorgekramt

haben!

Genau so musste es sich abgespielt haben! .... Er wagte es nicht, den

Gedanken zu Ende zu führen. Er bemühte sich, eine aufkommende

Panikattacke zu unterdrücken.

Wie sollte er mit diesem Wissen umgehen? Mit Caine darüber zu

sprechen verbot sich. Erstens hatte er die Kugel garantiert nicht mit der Absicht

im Lauf des Vorderladers platziert, jemandem zu schaden, sondern aus bloßem

Spieltrieb. Und zweitens konnte er vielleicht ein Trauma erleiden, wenn er

erfuhr, dass durch sein Handeln ein Mensch zu Tode gekommen war.

Hoffnung musste die Sache also für sich behalten. Er beschloss, erst

einmal abzuwarten, ob doch noch irgendwelche Ermittlungen die Wahrheit ans

Tageslicht bringen würden. Solange blieb die Frage offen, ob er sich jemandem

anvertrauen sollte. Ihm fiel ein Zitat von Voltaire ein: Alle Menschen sind klug –

die einen vorher, die anderen nachher.

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Für den Rest der Veranstaltung hatte Hoffnung große Mühe, sich auf die

Tontechnik zu konzentrieren.

24. Dezember

Mehr als ein Vierteljahr war vergangen seit den ereignisreichen Tagen im

August. Inzwischen hatte sich der Ausgang der großen Schlacht bei Leipzig

herumgesprochen. Es war wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis man den

selbst ernannten Kaiser der Franzosen zur Abdankung zwingen würde.

Die Situation war nur noch einmal kritisch geworden. Der Erbherr von

Schloss Gütergotz, der geheime Oberfinanz-, Kriegs- und Domainen-Rat August

Friedrich Grothe-Buckow war in Verdacht geraten, ein französischer Spion zu

sein. Er war plötzlich verschwunden und man munkelte, er sei gefangen

genommen worden. In dieser Zeit war Villeneuve zwei Wochen lang im Haus

geblieben.

Im Dorf hatte man Listen ausgehängt mit den Namen der Gefallenen.

Villeneuve hatte sie interessiert durchgesehen, es standen jedoch nur einige

französische Namen darauf. Unter der Rubrik ‚Französische Offiziere‘ fand er

unter den wenigen Eintragungen sofort den Namen Lefèvre. Also hatte es den

Kameraden doch erwischt. Der arme Kerl hätte auch ein besseres Schicksal

verdient, ging es ihm durch den Kopf.

Villeneuve hatte sich anfangs nur um die Tiere gekümmert. Mit den

Pferden hatte er keine Probleme, er hatte sie sogar neu beschlagen können,

denn er hatte vor dem Krieg oft beim Dorfschmied mitgearbeitet.

Den Umgang mit den Kühen lernte er von Dorothea. Sie hatten viel Spaß

dabei, besonders in der Anfangszeit, als sich die Kühe noch nicht an die

fremden Hände gewöhnt hatten. Nicht nur einmal war Villeneuve vom

Melkschemel gefallen, wenn er sich beim Melken mal wieder etwas

ungeschickt angestellt und ein Tier erschreckt hatte.

Der Bauer hatte im Gespräch mit den Nachbarn irgendwann scheinbar

zufällig die Bemerkung fallenlassen, dass nun ein Großneffe bei ihnen wohne,

weil dessen Familie bei den Kämpfen um Wietstock ums Leben gekommen sei.

Die Geschichte muss so glaubwürdig geklungen haben, dass keine weiteren

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Fragen gestellt wurden. Wilhelm Schmidt hatte noch besonders darauf

hingewiesen, dass der junge Mann wenig spreche, weil er über den Verlust der

Familie noch nicht hinweg sei.

Dorothea und der junge Franzose waren sich im Laufe der Zeit nicht nur

bei der Arbeit näher gekommen. Die Scheune wurde jedenfalls immer seltener

als Schlafplatz benutzt.

24. September

„Nach allem, was ich weiß, liegen keine neuen Erkenntnisse vor“, gab Hans

Lüttke bereitwillig Auskunft.“

Lefèvre hatte ihn angerufen, um sich nach dem Fortgang des

Geschehens zu erkundigen.

„Weder von Thomas noch von Dawid habe ich etwas Neues gehört. Mit

Wolfgang habe ich auch gesprochen. Die BAM hat lediglich bestätigt, dass es

sich um handelsübliche Kugeln aus Kugellagern handelt. Das bringt uns auch

nicht weiter. Es sieht im Moment so aus, als würde die ganze Sache im Sande

verlaufen. Das Geschehen wird sich wohl nie aufklären lassen.

Ich soll dich übrigens ganz herzlich von Dawid grüßen. Er meint, du

solltest mal in Großbeeren vorbeikommen, wenn das eigentliche, und vor allem

unblutige Hauptereignis des Jahres stattfindet. Einmal im Jahr tritt nämlich die

ortsansässige Bands „The Celtics“ in der Pfarrscheune auf. Die treffen vielleicht

nicht jeden Ton aber schwer verletzt wurde dabei noch nie jemand, wenn man

von temporären Hörschäden mal absieht. Wenn du die Band mal hören willst,

musst du allerdings schnell sein mit der Kartenbestellung. Die vier

Veranstaltungen sind immer blitzschnell ausverkauft. Dawid spielt da übrigens

die Ukulele.“

Durch die vielen Kontakte mit dem Kulturverein und den freundlichen

Leuten im Verein fühlte sich Lefèvre inzwischen fast wie ein Großbeerener. Er

hatte Gefallen gefunden an der Historie des Ortes. Er beschloss, dort

anzufragen, ob er in der Arbeitsgruppe ‚Historische Entwicklung und

Denkmalpflege‘ mitarbeiten dürfte, auch wenn er – noch – nicht

Vereinsmitglied war.

74

*

Lefèvre saß am Küchentisch und dachte nach. Dass er sozusagen familiär etwas

mit den damaligen Ereignissen in Großbeeren zu tun hatte, fand er nun doch

bestätigt. Angeregt durch die Erlebnisse, hatte er in den Aufzeichnungen des

Großvaters intensiver gelesen als jemals zuvor. Großvater war gründlich

vorgegangen und die fünf vergangenen Generationen waren gut dokumentiert.

Lefèvre war tatsächlich auf die entscheidenden Eintragungen gestoßen.

Unter dem Jahr 1823 fand sich im Standesamt Charlottenburg die

entscheidende Notiz. Villeneuve, jetzt Lefèbvre, hatte tatsächlich seine

Dorothea geheiratet. Da als Beruf ‚Schmied‘ angegeben war, hatte er wohl

seine Erfahrung im Umgang mit Pferden nutzen und sich eine neue Existenz

aufbauen können. Und im Jahr 1871 hatte sein Urgroßvater in Berlin die

Namensänderung von ‚Lefèbvre‘ zu ‚Lefèvre‘ beantragt.

Klar war Lefèvre jetzt auch, warum die wirkliche Herkunft in den

Familiengesprächen immer verschleiert wurde, wenn überhaupt über die

Vorfahren gesprochen wurde. Früher galt es eben nicht als besonders ehrbar,

von einem feigen Verräter, einem Deserteur eben, abzustammen. Einem der

durch seine negative Vorbildwirkung vielleicht andere ebenfalls zum

Desertieren ermutigt hat und somit vielleicht einen Anteil an der Niederlage

der französisch-sächsischen Truppen hatte.

Lefèvre sah das verständlicherweise ganz anders.

Wäre Villeneuve damals nicht kriegsüberdrüssig geworden und hätte es

damals nicht die fesche Bauerstochter gegeben, es würde ihn heute

zweifelsfrei nicht geben.

Also wollte Lefèvre dem Lieutenant Villeneuve für sein mutiges und

intelligentes Verhalten und für seine Fisimatenten doch von ganzem Herzen

dankbar sein.

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Zum Autor

Jürgen Mittag ist geborener (West-)Berliner und lebt seit Dezember 1996 in

Kleinbeeren. Er gehört zu den Gründungsmitgliedern des Kulturvereins

Großbeeren.

Seit November 1974 ist er im Berliner Schuldienst tätig.

Zu seinen Hobbies zählt das Dirigieren eines Nordberliner Kammerorchesters,

mit dem er bereits mehrmals in Großbeeren auftrat.