mauvaise pioche magnus est amor - kulturverein großbeeren
TRANSCRIPT
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Alle Personen dieses Romans sind frei erfunden.
Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist weder unbeabsichtigt noch zufällig.
Zur Titelseite: 1 Zu diesem Foto konnte ich keine Urheberschaft ermitteln. Sollte ich
eventuell Urheberrechte verletzt habe, bitte ich um Mitteilung. 2 Mauvaise pioche (franz.: Pech gehabt bzw. dumm gelaufen)
Magnus est amor (lat.: Groß ist die Liebe) 3 Gemälde von Carl Röchling (1855-1920) - Im Hintergrund die alte Kirche in
Großbeeren
Historische Details sind den folgenden Büchern entnommen
Frank Bauer: Großbeeren 1813 – Die Verteidigung der preußischen Hauptstadt
Edition Kurt Vowinckel-Verlag KG – ISBN 3 921 655 81 X
Manfred Michael: Chronik von Großbeeren 1721 bis 2010
Eigenverlag des Autors
Manfred Michael: Großbeeren 1813-2013 – Von Siegesfest zu Siegesfest
Eigenverlag des Autors
In literarischer Freiheit wurden einige Details bewusst leicht verfremdet.
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10. Juni
„Monsieur le General, Lieutenant Villeneuve meldet sich wie befohlen zur
Stelle!“
Er wartete in korrekter Haltung, bis der General die Ordonnanz
hinausgeschickt hatte.
Dieses Ritual wiederholte sich immer dann, wenn Villeneuve seinem
alten Freund einen privaten Besuch abstattete. Beide wollten nicht öffentlich
machen, dass sich ihre Familien seit Generationen kannten.
„Nehmen Sie Platz, mein Lieber“, sprach ihn der General an und zeigte
auf einen Stuhl in der Nähe seines Schreibtisches.
Trotz des Altersunterschieds, General Guilleminot war sechsundzwanzig
Jahre älter als Villeneuve, hatten sie eine sehr freundschaftliche Beziehung
zueinander. Besonders seit dem Tod seines Vaters war Villeneuve froh, im
General einen väterlichen Freund zu haben.
Sie waren vor dem Krieg oft zu Pferde unterwegs. Meist in der
Umgebung von Dünkirchen, wo die Familie des Generals ein großes Anwesen
hatte. Viele Ratschläge für das tägliche Leben, vor allem aber auch für das
Leben bei der Armee, hatte Villeneuve dem General zu verdanken.
Armand Charles Graf Guilleminot war schon als junger Mann zur
französischen Armee gegangen. Nach kurzer Unterbrechung seiner Militärzeit
hatte er ab 1805 schnell Karriere gemacht, in diesem Jahr erst war er zum
Divisionsgeneral ernannt worden. Im 12. Armeekorps unter Marschall Oudinot
befehligte er die 14. Infanteriedivision.
Auch Jean-Jacques Villeneuve war schon in frühen Jahren zur Armee
gegangen, wie es in seiner Familie Tradition war. Er führte als Lieutenant eine
Eskadron der leichten Kavallerie. Seine ungefähr hundert Mann gehörten zur
Division von General Fournier, die wiederum im 3. Kavalleriekorps unter
General Arrighi ebenfalls unter Marschall Oudinot diente.
Dadurch waren sich die beiden stets nahe und Villeneuve hatte oft die
Gelegenheit, sich mit dem General zu bereden. Guilleminot hatte auf Grund
seines Ranges immer die besten Informationen.
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Villeneuve fand es beruhigend, meist im Voraus zu wissen, was auf ihn
und seine Männer zukommen würde. Das war für einen untergeordneten
Befehlsempfänger nicht selbstverständlich.
Marschall Oudinot wurde nach dem Rückzug aus Russland der
Oberbefehl für das 12. Armeekorps übertragen. Vorher war es von Eugène de
Beauharnais, dem Stiefsohn Napoleons, kommandiert worden. Für ihn hatte
Napoleon andere Pläne, er sollte von Mailand aus gegen Österreich zu Felde
ziehen.
Charles Nicolas Oudinot hatte selbst den Russlandfeldzug mitgemacht,
damals noch als Kommandeur des 2. Armeekorps. Bei Bautzen im Mai wurden
die Koalitionstruppen noch geschlagen, im Juni musste er dann bei Luckau
gegen General von Bülow eine Niederlage hinnehmen, sein Versuch, auf Berlin
vorzustoßen war damit gescheitert.
Besonders schlimme Erinnerungen hatte er an Krasnoje in der Nähe von
Smolensk.
Dieser kleine Ort symbolisierte für ihn den Verlauf des ganzen Feldzugs.
Auf dem Vormarsch nach Moskau wurde dort eine erste Schlacht gewonnen,
die russischen Generäle Rajewski und Newerowski konnten in die Flucht
getrieben werden. Daraufhin konnte Smolensk besetzt werden und der Marsch
Richtung Moskau weitergehen.
Kein Vierteljahr später kam es zu einer zweiten Schlacht, wieder in der
Nähe von Krasnoje. Diese verlief völlig anders. Dem russischen General
Kutusow war es gelungen, die Franzosen über den Dnjepr zurückzuschlagen.
Zum Glück für die Franzosen, waren Kutusows Truppen ebenfalls am Ende ihrer
Kräfte, sonst wären die französischen Kräfte völlig aufgerieben worden, es
hatte allerdings große Verluste gegeben. 6.000 Männer waren tot oder
verwundet worden, 26.000 wurden von den Russen gefangen genommen.
Während Napoleon nach dem Beginn des Waffenstillstands von Pläsnitz
am 4. Juni mit dem Großteil seiner Armee von Breslau nach Dresden gezogen
war und dort sein Hauptquartier errichtete, hatte Marschall Oudinot in Görlitz
Quartier gemacht. Im dortigen Barockhaus am Obermarkt ließ es sich trefflich
wohnen. Es war so viel Platz vorhanden, dass er ohne Probleme akzeptierte,
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dass einige seiner Divisionsgeneräle im selben Haus wohnten. Besprechungen
zwischen den Führungsoffizieren ließen sich so relativ kurzfristig einberufen.
Guilleminots Zimmer war geräumig und man hatte einen vorzüglichen
Blick über den Marktplatz. Es gab sogar ein Klavier. Villeneuve würde den
General in den nächsten Tagen gern um die Erlaubnis bitten, es zu spielen.
Seine Familie war recht musikalisch. Es war selbstverständlich, dass jedes
Kind ein Instrument lernte. Villeneuve hatte sich für das Klavier entschieden.
Na ja, eigentlich war es nicht wirklich seine eigene Entscheidung gewesen. Es
lag nur auf der Hand, weil seine älteren Geschwister, zwei Schwestern und drei
Brüder Blas- oder Streichinstrumente spielten. Das Klavier war lange nicht
angerührt worden, nachdem der Vater, der als letzter darauf spielte,
verstorben war.
Villeneuve liebte die alte französische Nationalhymne, die Soldaten aus
Marseille bei ihrem Einzug in Paris gesungen hatten und die daraufhin lange
Zeit bei nationalen Anlässen gespielt wurde. Sie war recht schwungvoll, ganz
anders als der ‚Chant du Départ‘1, den Napoleon seit 1804 nur noch spielen
ließ.
Oft hatte er auch einige Werke des jungen Wiener Komponisten gespielt,
von dem in Musikerkreisen gerade viel gesprochen wurde. Besonders hatte es
ihm die mit ‚Sonata quasi una Fantasia‘ betitelte Klaviersonate No. 142 angetan.
Man hörte, der Wiener habe seine neueste Sinfonie dem französischen
Kaiser gewidmet. Angeblich sollte sie ‚Sinfonia grande, intitolata Bonaparte‘
heißen. Einige hofften, der Komponist würde nach Paris kommen, um sie
Napoleon dort zu überreichen und vielleicht auch aufzuführen.
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„Anfangs war ich der Meinung, der Waffenstillstand wäre ein Riesenfehler, weil
er dem Feind Gelegenheit gibt, sich wieder zu erholen. Inzwischen denke ich
aber anders darüber. Napoleon ist es tatsächlich gelungen, neue Kräfte
heranzuführen. Außerdem führt er erfolgversprechende Verhandlungen mit
1 ‚Lied des Aufbruchs‘ 2 Im deutschsprachigen Raum als ‚Mondscheinsonate‘ bekannt
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Österreich in Dresden. Der Metternich soll ein kluger Kopf sein. Seine
Vorstellungen, wie das Gleichgewicht der Kräfte in Europa wiederhergestellt
werden könnte, scheinen auch Napoleon zu beeindrucken. Sollte die Koalition
die Vorherrschaft Frankreichs angemessen anerkennen, wird der Krieg schon
bald vorüber sein.“
General Guilleminot war immer noch, oder besser, wieder ein
fanatischer Anhänger Napoleons. Die Zweifel, die ihm nach der verheerenden,
verlustreichen Niederlage im Russlandfeldzug gekommen waren, waren
genauso schnell wieder verschwunden. Er glaubte immer noch an die Magie
dieses Mannes, der sich selbst zum Kaiser gekrönt hatte und damit eigentlich
die Ideale der französischen Revolution verraten hatte.
„Sie verzeihen mir, Armand, wenn ich das anders sehe. Sie haben neulich
selbst berichtet, dass der Feldzug Verluste von mehr als 300.000 Mann, vielen
Zehntausenden Pferden und unzähligen Geschützen und Fuhrwerken ergab.
Und mir war nie ganz klar, welche Ziele Napoleon mit dem Feldzug eigentlich
verband.“
In den Gesprächen mit seinem Freund wagte es Villeneuve, sich ehrlich
zu äußern. Er wusste, dass der General bei aller Verehrung für Napoleon doch
ein aufrichtiges Wort zu schätzen wusste. In anderer Umgebung hätte es sich
allerdings selbstverständlich verboten, solch kritische Worte zu äußern.
„Das mag stimmen, mein lieber Jean“, entgegnete der General, „es
wurden jedoch in erster Linie Polen und Deutsche geopfert. Der französische
Anteil an den Verlusten beträgt ja nicht einmal zehn Prozent!“
Villeneuve ging durch den Kopf, welch eine merkwürdige Einstellung zum
Begriff ‚Verbündete‘ durch die letzte Bemerkung des Generals deutlich wurde.
Diese Erkenntnis behielt er dann aber doch lieber für sich, er wollte seinen
Freund nicht unnötig provozieren.
„Nach meiner Beobachtung handelt es sich bei den neu zugeführten
Männern um sehr junge Leute, wir können nur hoffen, dass sie wenigstens eine
Grundausbildung erfahren haben. Sonst sind sie nur Kanonenfutter. Und die
Lazarette sind ja wohl auch noch zu gut gefüllt“, warf Villeneuve ein.
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„Oudinot sprach kürzlich von ungefähr 70.000 Mann, die noch nicht
wiederhergestellt sind, da muss ich Ihnen recht geben. Unsere Mediziner tun,
was sie können“, antwortete der General. „Ich setze auf Napoleons großes
Verhandlungsgeschick. Vielleicht können wir bald alle unsere Männer in die
Heimat zurückschicken.“
*
Auf dem Rückweg zum Lager am Stadtrand, wo er zusammen mit seinen
Kameraden Bertrand Lefèvre und August von Goldacker ein Zelt teilte, ging
Villeneuve noch einmal das Gespräch von eben durch den Kopf. Im Gegensatz
zum General hatte sein Enthusiasmus seit dem Rückzug aus Russland deutlich
nachgelassen. Zu viele Kameraden hatte er sterben, zu viele Pferde elendig
krepieren sehen. Von den Verwüstungen in den Dörfern und Orten, durch sie
gezogen waren, ganz abgesehen. Seiner Meinung nach waren die vielen Opfer
völlig sinnlos.
31. März
Verflixt! Jetzt war es wieder passiert! Wie er das hasste!
Karl-Heinz Lefèvre war sauer. Auf den nicht enden wollenden Winter.
Darauf, dass er mal wieder die undankbare Aufgabe hatte, den Papiermüll
rauszubringen. Und überhaupt – es war wohl nicht sein Tag.
Lefèvre konnte auf fast vierzig Jahre im Berliner Schuldienst zurück
blicken. Jetzt war er allerdings froh, dass er seit einigen Monaten heraus war
aus der Tretmühle, wie er sie immer bezeichnet hatte. Er wohnte mit seiner
Frau Gabi, die noch aktive Lehrerin war - viel zu aktive, wie Lefèvre manchmal
bissig anmerkte, wenn Gabi wieder einmal das ganze Wochenende am
Schreibtisch saß – in einer ausgebauten Dachgeschosswohnung im Berliner
Stadtteil Steglitz.
Er hatte akzeptiert, dass er nach seiner Pensionierung seine noch aktive
Frau Gabi stärker entlasten sollte. Er hatte ja nun genug Zeit. Und heute war
eben das Altpapier dran, denn morgen wäre die nächste Abholung.
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Er fand es jedoch absolut nicht lustig, vollgepackt mit alten Zeitschriften,
Zeitungen und Pappen vor der Papiertonne zu stehen und den zugefrorenen
Deckel nicht öffnen zu können.
Oft genug war es ihm schon so ergangen, dass er beim Wiederhochgehen
einiges an Papier gefunden hatte, das ihm beim Hinabgehen aus dem Stapel
gerutscht war. Dann hieß es eben, den Weg doppelt zu machen. Aber dass er
den Deckel mal wieder nicht aufbekam, das ärgerte ihn maßlos.
Missgelaunt warf er seinen Ballast neben die Tonne und fing an, am
Deckel herumzubasteln. Nach einigen Versuchen gelang es ihm, die Tonne zu
öffnen. Als er sich bemühte, den Papierstapel wieder auf die Arme zu
bekommen, fielen einige Briefumschläge aus dem Innern des Stapels. Das war
wohl die übliche Werbung, die Gabi immer gleich aussortiert. Dabei hatten sie
ihren Briefkasten mit einem kaum zu übersehenden ‚Keine Werbung‘ versehen.
Trotzdem bestand manchmal die Hälfte der Post aus irgendwelchen
Werbebriefen. Besonders attraktiven Kreditzusagen ‚Ohne Schufa-Auskunft!‘
oder Einladungen zu Rentnerfahrten mit ultimativem Einkaufserlebnis (gab es
immer noch Leute, die Rheumadecken auf solchen Veranstaltungen kauften? –
Und woher wusste anscheinend alle Welt, dass er vor einem Vierteljahr aus
dem aktiven Schuldienst ausgestiegen war?) .
Ein Brief sah anders aus. Vielleicht hatte ihn Gabi aussortiert, weil er
keinen Absender hatte.
Lefèvre steckte ihn ein und warf die Werbebriefe den Pappen hinterher.
Ihm fiel ein, dass er vor sehr langer Zeit, es musste in den frühen 80ern
gewesen sein, mal aus Versehen die Einladung zu einer mündlichen Prüfung in
den Mülleimer geworfen hatte. Zum Glück gab es damals noch eine Erinnerung
im Postfach seiner Dienststelle.
Wieder oben in der Wohnung suchte er nach einem Gegenstand, mit
dem er den Brief öffnen könnte. Es musste ja kein Brieföffner sein, ein
Küchenmesser tat es auch, er mochte nur nicht, wenn der Umschlag
unordentlich aufriss. Lefèvre war ein Pedant – oder war durch seinen Beruf zu
einem Pedant geworden. Wenn man immer wieder Ordnung predigt, kann man
selbst schließlich kein Chaot bleiben.
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Er war nicht immer so. Er erinnerte sich noch gut daran, dass seine
Mutter ihn immer wieder vergeblich dazu anhielt, sein Zimmer aufzuräumen.
Aber gut – das war bald fünfzig Jahre her und heute ärgerte er sich eben, wenn
Gabi ihm die Tageszeitung mal wieder weitergab, ohne sie nach dem Lesen
wieder in den Originalzustand gebracht zu haben.
In der Küche lag noch das kleine Küchenmesser, mit dem sich Gabi den
Apfel für ihr Frühstücksmüsli geschnitten hatte. Das musste gehen.
Im Umschlag steckte eine Karte
Lieber Karl-Heinz,
es sind mal wieder 5 Jahre vergangen, und ich finde, es ist Zeit für ein
neues Klassentreffen.
Den Termin habe ich mit Gundula, Wolfram und Hans-Martin
abgesprochen.
Wir treffen uns am 13. April um 19 Uhr im Café Einstein.
Bis bald,
Hans
Aha, Hans Lüttke war also mal wieder am Organisieren. Das tat er schon
immer gern, die meisten Treffen und andere gemeinsame Aktivitäten wurden
schon während der Schulzeit von Hans initiiert.
Was sollte eigentlich heißen, der Termin wäre mit den anderen
abgesprochen? Ihn hatte jedenfalls keiner nach seinen Wünschen gefragt, und
es waren ja nicht einmal mehr 2 Wochen!
Lefèvre war in der Sache zwiegespalten. Natürlich gab es mit einigen aus
der alten Klasse noch so viel Verbundenheit, dass er wissen wollte, wie es
denen erging. Auf der anderen Seite kamen auch ehemalige Klassenkameraden
zu den Treffen, mit denen er schon damals nicht viel anfangen konnte.
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Na ja, er würde sich die Sache in Ruhe überlegen und konnte dann ja
noch spontan entscheiden, ob er hinginge. Er nahm eine Reißzwecke und
heftete die Einladungskarte ans Pinnbrett über dem Küchentisch. Dort konnte
sie ihn jeden morgen an das bevorstehende Treffen erinnern
Er nahm sich vor, mit Gabi über den fast verlorenen Brief zu sprechen,
wenn sie von der Schule nach Hause kam. Nicht, dass er die Einladung zum
Klassentreffen für überaus wichtig hielt, geärgert hätte er sich wohl schon,
wenn er nachträglich herausbekommen hätte, dass die anderen sich ohne ihn
getroffen hatten. Und es könnte ja auf diese Weise auch mal etwas wirklich
Wichtiges verloren gehen.
14. August
Sofort nach seiner Rückkehr von General Guilleminot setzte sich Villeneuve mit
seinen beiden Kameraden zusammen. „Ihr werdet es morgen bei der
Einsatzbesprechung ohnehin erfahren, deshalb möchte ich es euch gleich
mitteilen. Es geht wieder los!“
„Endlich eine Entscheidung“, meinte Lefèvre, „wenn auch eine
schlechte.“
Aus Rücksicht auf ihren sächsischen Kameraden von Goldacker hatten die
beiden Franzosen deutsch gesprochen. So gut sie eben konnten. Beide waren in
den letzten Wochen recht gelehrige Schüler geworden und hatten einen
kleinen Wortschatz und die wichtigsten Redewendungen gelernt. Von
Goldacker hatte sich als sehr geduldig erwiesen. Ihm war klar, dass die
Chancen, bei den einheimischen jungen Damen zu landen, mit den
Sprachkenntnissen wuchsen. Auf das immer gleiche „Mademoiselle, visitez ma
tente!“ fiel schon lange keine mehr herein.
„Erzähle Genaueres! Was hat er gesagt?“, fragte von Goldacker.
Die beiden Kameraden wussten, dass Villeneuve mal wieder bei seinem
väterlichen Freund, dem General, einen Besuch absolviert hatte.
„Es gibt einen neuen Befehl Napoleons. Oudinot wurde er heute Morgen
überbracht. Das 12. Armeekorps soll in Richtung Berlin ziehen. Napoleon geht
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davon aus, dass der Feind rasch zurück geworfen werden kann, dass es keine
Probleme machen wird, die Stadt einzunehmen, die Einwohner zu entwaffnen
und die preußische Landwehr zu zerstreuen“, berichtete Villeneuve.
„Da habe ich die Landwehr aber in einigen Scharmützeln ganz anders
erlebt, die haben gekämpft wie die Löwen“, warf von Goldacker ein.
„Sollte der Widerstand doch größer sein, liegt der Befehl vor, die Stadt
durch Granaten in Brand zu schießen und die Stadtmauer durch schwere
Feldgeschosse in Trümmer zu legen. Napoleon meint, es könne so ähnlich
ablaufen wie bei der Einnahme von Wien.“
„Hast du erfahren können, wer sich uns auf dem Weg nach Norden
entgegenstellen wird?“, wollte Lefèvre wissen.
„Unsere Spione melden als wahrscheinliche Gegner das 3. Preußische
Armeekorps unter General von Bülow mit 40.000 Mann und das 4. Korps unter
General von Tauentzien mit 30.000 Mann. Wo General von Blücher mit seiner
schlesischen Armee eingreifen wird, ist noch unklar. Auf dem Papier wäre das
eine weitestgehend ausgeglichene Ausgangslage, wir kommen insgesamt auch
auf etwa 70.000 Mann, vorausgesetzt, es sind alle schon oder wieder
einsetzbar“, führte Villeneuve aus. „Bevor wir abmarschieren, wird uns
übrigens nächste Woche der kleine große Kaiser besuchen. Er will in Görlitz
noch einmal Heerschau halten, bevor es losgeht.“
„Mit deinem losen Mundwerk wirst du irgendwann noch mal Probleme
bekommen“, kommentierte von Goldacker.
„Ach was, wozu kommt er her? Will er uns noch einmal Mut machen und
uns an die Ehre, für das Vaterland zu sterben, erinnern?“
„Wahrscheinlich ist das bei den neu zusammengestellten Truppenteilen
nötig“, warf Lefèvre ein, „ich habe gehört, dass sich in Frankreich mehr als
100.000 Männer der Aushebung entzogen haben sollen. Mehrere Bataillone
sollen ausschließlich damit beschäftigt sein, diese Verweigerer zu jagen und
einzufangen.“
„Jedenfalls soll Oudinot schon in heller Aufregung sein, in Sorge, dass
seine Truppen nicht gut genug den Ruhm der französischen Armee
repräsentieren. Er soll sogar noch zusätzlich exerzieren lassen, damit am 17.
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August auch nichts schiefgeht, vor lauter Übereifer hat er Napoleons
Geburtstag auch schon fünf Tage zu früh feiern lassen“, lästerte Villeneuve.
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Villeneuve musste zugeben, dass auch er am Morgen etwas aufgeregt war, als
seine Eskadron von der Fleischerstraße zum Obermarkt einbog, um dann unter
dem Balkon von Haus 29 vorbei zu defilieren. Er war dem Kaiser noch nie
vorher von Angesicht begegnet.
Dass Napoleon nicht von großem Wuchs war, hatte Villeneuve gehört.
Nun musste er aber schmunzeln, als er zum Balkon emporblickte. Der kleine
Mann schaute ja kaum über die Brüstung! Wieder verspürte er einen gewissen
Spott - man hätte ihm ja wenigstens eine Fußbank hinstellen können.
Er war direkt unter dem Balkon, als hinter ihm ein kräftiges „Vive
l’empereur!“ erscholl.
4./13. April
Als Lefèvre die Augen aufschlug, war Gabi wieder da.
„Das ging heute aber schnell, mit deinem Damenaufguss!“
„Wieso? Ich war fast 40 Minuten weg, wahrscheinlich hast du die ganze
Zeit geschlafen.“
In den Winter- und den Osterferien gönnten sich die beiden seit Jahren
gern einen ganzen Tag in der Therme Ludwigsfelde. Es war ein bisschen wie
verreisen. Wenn die Liegen bequemer wären und nicht so auf den Rücken
gingen, wäre es ein Tag der totalen Erholung. Aber die geplagten Rücken
wurden bei einer Massage wieder auf Vordermann gebracht, das gehörte stets
zu ihrem Programm. Auf diese Art konnte man locker vergessen, dass der
diesjährige Winter auch Ende März immer noch nicht weichen wollte.
„Ich habe eben von einem Lottogewinn geträumt, der uns nicht
ausgezahlt werden konnte, weil wir nicht rechtzeitig auf eine Benachrichtigung
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seitens der Lottogesellschaft geantwortet haben. Nun geht die Million an den
Finanzminister!“
„Das war wohl ein Alptraum? Allerdings kann ja unser Staat zurzeit jede
Million gut gebrauchen. Aber fällt so ein nicht abgeholter Gewinn nicht zurück
in den Jackpot?“
„Darum geht es mir doch gar nicht! Ich wollte damit doch nur sagen, dass
du aufpassen musst, was du in den Papiermüll wirfst. Neulich war nämlich eine
Einladung für ein Klassentreffen dabei, die ich nur zufällig noch vor dem
Reißwolf bewahrt habe.“
„Entspann dich, Karl-Heinz, wir sind hier zur Erholung. Wer sagt denn,
dass es nicht dir passiert ist? Hast du mir nicht mal etwas von einer
verschluderten Prüfungseinladung erzählt?“
„Ja, ja, du hast ja recht. Wir müssen eben beide etwas vorsichtiger sein.
Es ist ja zum Glück nicht alles Werbung, was in unserem Briefkasten landet.“
„Und – wirst du diesmal hingehen?“
„Wo hingehen?“
„Na, zum Klassentreffen!“
„Ach so, ich habe mir überlegt, das könnte doch mal wieder interessant
sein. Ich habe die meisten schließlich seit fast zehn Jahren nicht gesehen. Das
Treffen ist übrigens schon am nächsten Samstag. Das passt ganz gut, da bist du
ohnehin mit dem Posaunenchor unterwegs.“
„Stimmt, aber eigentlich passt mir das gar nicht. Das Wochenende
könnte ich gut für meine MSA-Vorbereitung gebrauchen.“
„Was gibt es denn da vorzubereiten?“
„Ich will meiner Klasse noch einmal schriftlich zusammenstellen, worauf
sie bei der Vorbereitung auf die Prüfungen achten soll. Das haben wir zwar
schon zigmal im Unterricht besprochen, aber du weißt ja, wie unsere Schüler
sind. Es hört doch kaum einer richtig zu.“
„Wieso unsere Schüler – deine Schüler. Darauf lege ich seit einem
Vierteljahr besonderen Wert!“
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„Ist ja gut – so machst du es mir auch nicht leichter. Ich habe das
schließlich noch einige Jahre auszuhalten. Gerade heute habe ich mit Susanne
darüber gesprochen, wie lange wir diesen Stress noch aushalten wollen.“
Susanne Montag war die einzige unter den Kolleginnen und Kollegen, mit
der sich Gabi ernsthaft und ehrlich unterhalten konnte. Die meisten taten in
der Regel so, als hätten sie überhaupt keine Probleme und alles wäre
wunderbar, Schule wäre für Lehrer heutzutage die reinste Erholung.
„Von wollen kann da wohl keine Rede sein. Oder hat sie vor, vorzeitig die
Segel zu streichen? Susanne ist doch ein Jahr jünger als du.“
„Das schon, aber sie hat wohl auch keine Lust mehr. Sie fühlt sich von
den ständigen Neuerungen ziemlich überfordert. Sie sagt, es macht sie auf
Dauer krank, dass sie ihre selbst gesteckten Ziele immer seltener erreicht. Die
Erwartungen im Unterricht werden ständig herabgesetzt und die Zensuren der
Schüler werden dennoch immer schlechter. Hauptsache, die da oben können
mal wieder mit einer neuen Statistik glänzen, wie modern und zukunftsfähig
unser Bildungssystem seit den Reformen ist. Motto: Wo wir sind, da ist vorn!“
„Na, ich kann mich aber auch an den alten Spruch erinnern: Gestern
standen wir dicht am Abgrund, aber heute sind wir schon einen deutlichen
Schritt weiter!“
Plötzlich quäkte der Lautsprecher: „Das Ehepaar Lefèvre wird in der
Massageabteilung erwartet!“
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Als er das Café Einstein betrat, wurde Lefèvre klar, dass er viel zu früh
losgegangen war. Es waren erst zwei Klassenkameraden anwesend. Er setzte
sich zu ihnen und sank sofort tief in das weiche Polster der Sitzbank. Er
erinnerte sich, dass er nach seinem letzten Besuch hier zwei Tage unter
Rückenschmerzen zu leiden hatte. Diese Art von Sitzmöbel war für seinen
Rücken Gift. Das waren die zum Glück inzwischen sehr seltenen Momente, in
denen er an seinen Bandscheibenvorfall vor ca. zehn Jahren erinnert wurde.
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Bei der Begrüßung ertappte er sich dabei, die beiden anderen
genauestens zu mustern. Hatten sie sich verändert? Sahen sie älter aus? –
Andererseits, wie würde er wohl auf die anderen wirken? Es kam ihm vor, als
schauten sie nur flüchtig zu ihm auf, aber vielleicht waren sie auch nur sehr
intensiv im Gespräch.
Hans Scheuermann war nach dem Abitur in die Verwaltung gegangen,
Lefèvre hatte sich damals noch gefragt, warum er dazu überhaupt unbedingt
das Abitur machen musste. Inzwischen war Hans aber Abteilungsleiter im
Bauamt, er hatte ein berufsbegleitendes Studium absolviert, um in die
entsprechende Laufbahn zu kommen.
Brigitte Leonberg war wie Lefèvre in den Schuldienst gegangen,
allerdings an die Grundschule. Es war überhaupt eine Zeit, 1969, als viele den
Lehrerberuf anstrebten, in der Regel mit großem Idealismus. In ihrer Klasse
wurde fast die Hälfte Lehrer. Lefèvre erinnerte sich noch gut, wie die meisten
auf dem ersten Klassentreffen einige Jahre nach dem Abitur von den
Möglichkeiten schwärmten und welche tollen Ideen sie hatten, es besser zu
machen, als sie es selbst als Schüler erlebt hatten.
Wenn man dann die fast vierzig Dienstjahre Revue passieren lässt - viel
ist von den Ideen nicht übrig geblieben.
Lefèvre überlegte gerade, wie er sich in das Gespräch geschickt einfädeln
könnte, da kamen die nächsten. Er war froh, Gundula und Wolfram Lungwitz
begrüßen zu können, mit den beiden unterhielt er sich ohnehin lieber, er war
sich sicher, dass einige interessante Neuigkeiten dabei rüber kamen.
„Hallo Wolfram, na, hat das Nobelkomitee endlich bei dir angerufen?“
Obwohl ursprünglich als Aufsteiger vom technischen Zweig gekommen,
war Wolfram schnell der Klassenprimus geworden. Er war zielstrebig in die
Wissenschaft eingestiegen, hatte in Rekordzeit sein Studium der Biophysik
abgeschlossen, promoviert und habilitiert. Nach langjähriger Wirkungszeit in
Berlin hatte sich vor einigen Jahren sein Traum erfüllt, als er zum Leiter eines
Max-Planck-Instituts berufen wurde. Lefèvre musste sich immer mal wieder
eingestehen, dass er Wolfram beneidete. Vielleicht hätte er auch lieber an der
Uni bleiben sollen, auch wenn er sich nicht sicher war, ob sein Talent dazu
gereicht hätte.
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„Ist schon anstrengend, dauernd von Kongress zu Kongress in der Welt
herum zu reisen, gerade letzte Woche in Phoenix ist mir ...“
„Ihr habt noch genug Zeit, euch auszutauschen!“, unterbrach ihn
Gundula, „der Abend ist doch noch lang!“
Gundula und Wolfram waren schon in der Schule ein Paar. Zusammen
mit Hans Lüttke, Hans-Martin Randholz und Joachim Wittkowski bildeten sie
sozusagen den harten Kern der Klasse. Ihnen war zu verdanken, dass es
überhaupt noch zu solchen Treffen kam. Und sie hatten stets viel zu erzählen.
Als nächstes trafen Hans und Hans-Martin ein. Hans-Martin hatte noch
nie ein eigenes Auto, deshalb hatte Hans ihn vom U-Bahnhof mitgenommen.
„N’abend, allerseits“, rief Hans in die Runde. Er war immer noch die alte
Frohnatur. Seine Einstellung zum Leben war beneidenswert. Er war zwar auch
im Schuldienst, hatte sich aber stets seinen Humor bewahrt. Er war der Typ,
mit dem man buchstäblich ‚Pferde stehlen‘ konnte.
Der Kellner hatte wohl mitbekommen, dass sich der Tisch gut gefüllt
hatte und kam mit den Speisekarten. Einen Moment lang war es in der Runde
mucksmäuschenstill, weil alle die Karte studierten.
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Nach dem Essen setzte sich Hans zu Lefèvre. „Du musst mich mal in
Kleinbeeren besuchen kommen?“
„Bist du ausgewandert?“
„Na, ja, immerhin einige Kilometer raus aus der Stadt.“
„Nie gehört – Kleinbären!“
„Kleinbeeren, mit zwei ‚e‘. Liegt in der Nähe von Großbeeren.“
„Aha, das sagt mir schon eher etwas. Immerhin kenne ich die
Großbeerenstraße. Die geht von Alt-Mariendorf bis zu Fritz Werner.“
„Wohin? Ach so, das Fritz-Werner-Werk gibt es schon lange nicht mehr.
Da residiert jetzt Mercedes-Benz. Aber sonst hast du recht. Es gibt übrigens in
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Berlin nicht nur dreimal eine Großbeerenstraße sondern auch eine
Kleinbeerenstraße, die kennt nur kaum einer, vielleicht weil sie so kurz ist. Das
finde ich ziemlich ungerecht, denn Kleinbeeren ist zwar kleiner als Großbeeren
aber älter.“
„So, so, und warum musste es ausgerechnet dieses Kleinbeeren sein?“
„Eigentlich war es ein Zufall. Es hat sich allerdings herausgestellt, dass es
sich dort wunderbar wohnen lässt. Einerseits total ruhig und trotzdem nahe an
der Stadt, wenn man deren Vorzüge mal wieder in Anspruch nehmen möchte.“
„Und abends werden spätestens um 20 Uhr die Bürgersteige
hochgeklappt?“
„Na, ja, ganz so schlimm ist es nicht. Erstens kann man ja, wie gesagt, mit
dem Auto schnell in die Stadt düsen, andererseits organisieren wir hier
inzwischen regelmäßig recht interessante Veranstaltungen.“
„Und wer ist jetzt ‚wir‘?“
„Vor einigen Jahren hat sich ein Kulturverein gegründet, an dem ich mich
auch beteilige. Wir veranstalten regelmäßig Konzerte, Lesungen und ähnliches.
In diesem Jahr gibt es zum Beispiel ein Riesenfest zur 200jährigen Wiederkehr
der Schlacht bei Großbeeren.“
„Du kennst ja meine Einstellung zu allem Militärischen. Lass mal rechnen
– vor 200 Jahren – das müsste dann ja wohl mit den Befreiungskriegen zu tun
haben.“
„Mensch, Fräulein Lustig wäre jetzt aber mächtig stolz auf dich.“
Fräulein Lustig war damals ihre Klassenlehrerin. Bei ihr hatten sie
Deutsch, Geschichte und Religion. Auf die Anrede ‚Fräulein‘ legte sie immer
besonderen Wert. Eigentlich lud die Person besonders dazu ein, Opfer von
Streichen zu werden, aber alle hatten Respekt vor ihr. Außerdem musste man
sich mir ihr einigermaßen gut stellen, ganz egal waren den meisten ihre
Zeugnisnoten dann doch nicht.
Dafür mussten dann andere herhalten.
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„Ich finde es wirklich bemerkenswert, dass du mir den Streich im
Kunstunterricht nie übel genommen hast, Hans.“
Die Vertretungslehrerin in Kunst hatte eine Hochglanzbroschüre zu
Demonstrationszwecken durch die Klasse reichen lassen. Lefèvre hatte aus
purem Übermut den Namen Hans Lüttke quer auf eine Seite geschrieben. Als
die Broschüre wieder bei der Lehrerin angekommen war, hatte sie das bemerkt
und laut ausgerufen „Wer ist Klaus Lüttke?“. Der ahnungslose Klaus meldete
sich, worauf er sich eine schallende Ohrfeige einfing. Ich musste Klaus die
Sache später erst erklären, der arme Kerl wusste gar nicht, wie ihm geschah.
„Na, ja, ich habe mich dafür bei Professor Altmann schadlos gehalten.
Weißt du noch, wie ich ihm die Reißzwecke auf den Stuhl gelegt habe?“
„Ich kann mich auch noch an den Französisch-Austauschlehrer erinnern,
dem wir den kaputten Stuhl hingestellt haben. Der arme Kerl ist dann mit dem
Sitzmöbel ja auch spektakulär zusammengebrochen, und die ganze Klasse hat
sich kaum noch eingekriegt vor Lachen.“
„Ich glaube, er hieß Monsieur Lieppe!“, warf Hans ein.
„Da sieht man nur, dass wir als Schüler auch keine Chorknaben waren.
„Habe ich dir nie erzählt, dass ich mich eigentlich sehr für Geschichte
interessiere? Fräulein Lustig hat mich nur mit ihrem Unterrichtsstil so
gelangweilt!“
„Na, wenn das so ist, kannst du doch mal zu einer Vorstandssitzung nach
Großbeeren kommen. Die Vorbereitungen für das ‚Siegesfest‘ sind, zumindest
in unserem Verein, bereits in vollem Gange. Da kannst du dich gern mit
einbringen, wenn du Zeit und Lust hast. Und zumindest Zeit hast du doch im
Überfluss!“
„Nun übertreibe mal nicht. Wenn ich an meine vielen Verpflichtungen
denke.“
Lefèvres Augenzwinkern verriet Hans Lüttke, dass er mit seiner
Behauptung ins Schwarze getroffen hatte.
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„Dann komm einfach am nächsten Dienstag nach Großbeeren. Wir tagen
immer in einem Nebenraum im Rathaus. Da wirst du uns ohne Probleme
finden. Kannst dort als Gast teilnehmen.“
Im Gespräch mit Hans Lüttke war einige Zeit vergangen. Lefèvre sah sich
um, die Reihen hatten sich schon etwas gelichtet. Mit den Lungwitzens hatte
Lefèvre sich unterhalten, als alle auf das bestellte Essen warteten. Dabei hatte
er erfahren, dass Gundula mal wieder eine Fotoausstellung laufen hatte, sie
hatte sich ein Stück weit von der Malerei entfernt und in letzter Zeit das
Fotografieren stärker in den Vordergrund gestellt.
Wolfram war wieder einmal viel unterwegs. Er war eben ein gefragter
Vortragsredner auf den einschlägigen Fachkongressen weltweit. Eine Reihe von
weiteren Auszeichnungen hatte seine ohnehin schon beträchtliche Liste von
Ehrungen ergänzt.
Nun waren die interessanten Gesprächspartner bereits gegangen und er
hatte keine Lust zu erfahren, wie viele Enkelkinder jeder einzelne jetzt schon
hatte oder wer mal wieder eine Scheidung durchlebte. So entschloss er sich zu
gehen. Er verabschiedete sich speziell von Hans Lüttke sehr herzlich, fest
entschlossen, den Kontakt mit ihm in Zukunft zu intensivieren.
Nachdenklich verließ er das Café. - Kleinbeeren? Da musste er zu Hause
gleich einmal auf den Stadtplan schauen.
17. August
Seit drei Tagen waren sie nun unterwegs. Bisher war es zu keiner
nennenswerten Feindberührung gekommen. Nach der Vereinigung mit dem 4.
und dem 7. Armeekorps bei Luckau hatten sie gelegentlich Kontakt mit
Vorposten- und Aufklärungsabteilungen des Gegners, die jedoch meist vor der
Übermacht der französischen Truppen zurückwichen.
Das 4. Korps unter General Bertrand war von Sprottau zu ihnen
gestoßen. In diesem Korps dienten neben Franzosen auch Italiener und
Württemberger. Zusammen mit den Sachsen des 7. Korps bildeten sie nun ein
buntes Völkergemisch. Villeneuve war bekannt, dass es auf der anderen Seite,
20
beim Gegner auch nicht anders aussah, immerhin standen ihnen Truppen
dreier Staaten gegenüber, Preußen, Schweden und Russen.
Mit Luckau verband Villeneuve keine guten Erinnerungen. Am 4. Juni
waren sie auf dem Weg Richtung Berlin von den Preußen zurückgeschlagen
worden. Einige Männer aus seiner Eskadron hatten beim Versuch, den Rückzug
zu decken, ihr Leben gelassen. Wahrlich kein gutes Omen für die aktuelle
Unternehmung.
Villeneuve hatte von Guilleminot gehört, dass der Marschall bei
Luckenwalde einen neuen Befehl Napoleons erhalten hatte. Der Kaiser war
wohl ungeduldig geworden, denn er forderte, dass sich der Vormarsch
beschleunigen solle, es sollte geradewegs nach Berlin vorgestoßen werden.
Der Lieutenant hatte damit keine Probleme, die leichte Kavallerie war
schließlich ein sehr beweglicher Truppenteil. Es musste nur immer Sorge
getragen werden, dass der Verpflegungstross das Tempo mithalten konnte.
Oft waren sie auf den Pferden der Artillerie so weit voraus, dass sie eine
Zwischenrast einlegen konnten. In solchen Momenten saßen die drei
Lieutenants gern beieinander.
„Soll das wirklich so problemlos weitergehen, dass der Feind ständig
zurückweicht?“, fragte Lefèvre in die Runde.
„Denk an Russland“, sagte von Goldacker, „da ging es auch immer nur
flott voran und alles wirkte ganz einfach. Dass die Russen Moskau aufgaben,
hat die meisten dazu verführt, mit einem schnellen Sieg zu spekulieren. Dabei
war es nur eine brillante Strategie. Napoleon musste unsere Armee aufgrund
der großen Entfernungen so weit aufteilen, dass die einzelnen Gruppen leichter
zu besiegen waren. Der Gegner hatte unsere Taktik, Truppenteile blitzschnell zu
verschieben, um so bei den Kämpfen immer eine Übermacht zu haben,
irgendwann durchschaut.“
„Wir sind hier aber nicht in Russland“, warf Villeneuve ein. „Hier fehlt das
weite Hinterland. Also wird es früher oder später zur großen
Auseinandersetzung kommen. Ewig kann der Feind nicht zurückgehen.“
21
„Manchmal denke ich, wir wären bei General Reynier besser
aufgehoben. Viele sehen in ihm den besseren Strategen. Was sagt denn dein
General dazu, was hält er denn von Oudinot?“, wollte von Goldacker wissen.
„Wir reden zwar relativ offen miteinander, aber so weit geht Guilleminot
dann doch nicht, den Marschall zu kritisieren. Manchmal kann ich jedoch an
einigen Nebensätzen erkennen, dass er nicht immer mit dessen Anweisungen
glücklich ist“.
„General Reynier ist bei seinen Männern, besonders den Sachsen, sehr
beliebt. Die meisten kennen ihn schon seit Jahren. Unheimlich finde ich nur die
Durutte“, meinte von Goldacker.
Die Division Durutte genoss keinen besonders guten Ruf, in ihr dienten
viele Strafgefangene und die hatten meist eine recht eigenwillige Vorstellung
von Vaterlandsliebe.
„Bei denen fällt mir immer der Spruch ein: Wenn du die als Freund hast,
brauchst du keinen Feind mehr!“, bestätigte Villeneuve.
„Gegen General Bertrand ist selbst Oudinot ein alter Hase. Man sagt, er
führt zum ersten Mal ein Korps, zum Glück haben wir mit ihm nichts zu tun“.
Lefèvre war die Unzufriedenheit mit der Situation deutlich anzumerken.
„Ich habe so eine Ahnung, dass es mit der Ruhe schon bald vorbei ist. So
ein Gefühl in der Magengrube, das mich bisher nur selten getäuscht hat!“
14. Mai
Zu Hause hatte Lefèvre einen Blick auf den Stadtplan geworfen und sich
gemerkt, dass er am besten über die Malteserstraße zur neuen Bundesstraße
101 fahren sollte. Dann ging es eigentlich nur noch geradeaus.
Er freute sich über den Autobahn ähnlichen Ausbau der neuen Straße
und es ging zügig nach Süden. Die erste Ausfahrt schien ihm unpassend, denn
er wollte weder nach Teltow noch nach Schönefeld. An der zweiten Ausfahrt
ging es zum Güterverkehrszentrum. Das schien ihm auch nicht richtig, also
nahm er die nächste Ausfahrt. Merkwürdig nur, dass hier Großbeeren
überhaupt nicht vermerkt war. Es ging weiter vierspurig aber nun wurde er
22
unsicher, seinem Gefühl und dem Sonnenstand nach fuhr er jetzt nach Westen.
das konnte nicht stimmen. Er nahm die Abfahrt nach Ruhlsdorf und wendete.
Offensichtlich war er an Großbeeren bereits vorher vorbeigefahren.
Er näherte sich wieder dem merkwürdig gebauten Verkehrsknoten, an
dem sich mehrere Fahrbahnen kreuzten oder untertunnelten. Lefèvre hatte vor
Jahren von einem Bekannten gehört, dem war es in dem Autobahngewirr von
Los Angeles ähnlich ergangen. Aber dass er sich hier in der Nähe von Berlin
verfahren könnte, hätte Lefèvre im Leben nicht gedacht.
Plötzlich sah er ausgangs einer weiten Kurve einen Turm. Davon hatte
ihm Hans erzählt. in Großbeeren gibt es einen Turm, der an die Schlacht von
1813 erinnern soll. Also war er endlich richtig.
Etwas suchen musste Lefèvre schon, bis er das kleine Hinterzimmer
gefunden hatte, dass die Gemeinde dem Kulturverein für seine Besprechungen
zur Verfügung stellte. Das Mobiliar des Raums bestand aus einem Schrank und
einem Tisch, an dem acht Personen Platz hatten – schlicht aber zweckmäßig.
Der Vorstand war bereits vollzählig anwesend. Paula Wussow, die
Kassenwartin, Regina Eisenhard als Schriftführerin, Wolfgang Hoffnung und
Hans Lüttke als Beisitzer, Werner Klausen als 2. Vorsitzender und Thomas
Schulze, der 1. Vorsitzende des Vereins. Hans Lüttke hatte vorab Einvernehmen
erzielt, dass Lefèvre als Gast an der Sitzung teilnehmen durfte.
Während die üblichen Tagesordnungspunkte wie Protokollabnahme der
vorigen Sitzung und Ausblick auf kommende Veranstaltungen abgearbeitet
wurden, konnte Lefèvre die Runde genauer studieren. Es war deutlich zu
spüren, mit welcher Routine gearbeitet wurde und wie gut sich die Vorständler
offensichtlich kannten. Auch die eine oder andere flapsige Bemerkung fiel,
ohne dass jemand anschließend die beleidigte Leberwurst gab.
Schließlich kam man zu den Vorbereitungen des Siegesfestes. Werner
Klausen berichtete recht frustriert von einem Treffen mit den Mitarbeitern in
der Organisationsgruppe der Gemeinde. Er beklagte, dass immer noch nicht
konkreter über den Ablauf der zentralen Veranstaltung entschieden worden
war.
23
„Entschuldigung, dass ich mich einmische“, erhob Lefèvre das Wort. „Ich
dachte, der Kulturverein organisiert das Fest.“
„Das kannst du nicht wissen, Karl-Heinz“, entgegnete Lüttke, „der Verein
hat schon frühzeitig festgestellt, dass er dazu nicht in der Lage ist. Wir sind nur
eine Handvoll Leute und können das personell einfach nicht stemmen.
Außerdem sind wir der Meinung, dass die Gemeinde in Person des
Bürgermeisters den Hut aufhaben sollte.
Wir als Verein sind gern bereit, zum Gelingen des Festes beizutragen. Wir
wollen es durch eine eigene Veranstaltung bereichern. Hintergedanke ist auch,
dass wir den Schwerpunkt des Festes nicht allein in der Militärschau sehen. Wir
möchten gern den Gedanken der Völkerverständigung nach vorne rücken,
schließlich sind aus den früheren ‚Erbfeinden‘ schon längst befreundete Völker
geworden.“
„Ihr wollt demnach etwas Eigenes auf die Bühne stellen?“
„Das können Sie wörtlich nehmen, Herr Lefèvre“, übernahm Thomas
Schulze wieder das Wort. „Wir bereiten in der Tat ein Bühnenprogramm vor.
Vielleicht gelingt es uns, deutsche und französische Kultur zu präsentieren. In
Form von Text, Musik und Ess- Kultur.“
„Vergiss die Trink-Kultur nicht“, warf Wolfgang Hoffnung ein, „so ein
edler Tropfen französischen Weins ist schließlich nicht zu verachten!“
„Ich merke schon, ihr habt an alles gedacht“, erwiderte Lefèvre, „habt ihr
denn auch die nötigen Kontakte? Meine Frau hat an ihrer Schule einen
französischsprachigen Zug. Ich könnte mal anfragen, ob sich da eine
Kooperation organisieren lässt.“
“Das können Sie gern tun. Vielleicht ist auch unsere Gemeindeschule
bereit, etwas beizutragen. Wir sind über jeden weiteren Beitrag glücklich“,
wandte sich Schulze an Lefèvre. „Und falls Sie einen guten Draht zu Petrus
haben, sollten sie ihn nutzen. Wir sind natürlich auf trockenes Wetter
angewiesen. Die Verhältnisse von vor 200 Jahren brauchen wir bei unserer
Veranstaltung wirklich nicht.“
„Was waren das denn für Verhältnisse?“
24
„Am Tag der Schlacht gab es einen solchen Dauerregen, dass die meisten
Gewehre ihren Dienst versagten, bzw. nur noch als Schlagwaffen benutzt
werden konnten“.
„Kommst du noch auf ein Bier mit zum Italiener?“, fragte Hans Lüttke.
„Ne, heute gibt es doch noch Fußball. Das Freundschaftsspiel Frankreich-
Deutschland, das möchte ich mir ansehen. Diese Auseinandersetzungen sind
immer reizvoll, sozusagen ein Ersatz für kriegerische Handlungen“, sagte
Lefèvre augenzwinkernd.
„Mal bloß nicht den Teufel an die Wand“, entgegnete Lüttke,
„Gewaltausbrüche bei Fußballspielen hat es in letzter Zeit wirklich zu oft
gegeben. Da fällt mir etwas ganz anderes ein: du hast doch vorhin gehört, dass
wir Ende Mai einen Bluesabend planen. Hast du nicht Lust, mit deiner Gabi zu
kommen? Dann kannst du dir mal einen Eindruck davon machen, wie in
unserem Dorf die Post abgeht.“
„O. k., Hans, du hast mich überzeugt, leg mir bitte zwei Karten zurück.
Aber jetzt muss ich mich beeilen, in zwanzig Minuten wird das Spiel
angepfiffen.“
„Dann musst du mich aber mal besuchen kommen. Ich möchte dir gern
Klein- und Großbeeren zeigen“, rief ihm Hans hinterher.
19. August
„Meinst du nicht auch, dass wir schon viel weiter nördlich sein könnten, wenn
wir nicht so vorsichtig agieren würden?“
Villeneuve war an die Seite von Lefèvres Pferd gerückt, sie ritten
nebeneinander her und konnten sich so während des gemütlichen Trabs gut
unterhalten. Seinem Kameraden bekam die Warterei offensichtlich noch
weniger als ihm.
„Wenn ich Guilleminot richtig verstanden habe, soll unser nächstes Lager
bei Baruth aufgeschlagen werden. Er meint, Oudinot traue der ganzen Sache
nicht. Er schätzt die Lage anderes ein. Während der Kaiser meint, der Feind
25
müsste seine Kräfte zwangsläufig aufteilen, wenn er gewahr wird, dass er von
drei Seiten angegriffen wird...“
„Von drei Seiten? Das musst du erklären!“, unterbrach ihn sein
Lieutenants-Kollege.
„Na, Oudinot marschiert von Süden Richtung Berlin, Marschall Davout
von Norden aus Hamburg kommend und General Girard von Westen. Oudinot
meint aber, es sei zu befürchten, dass die anderen beiden Truppenteile nicht
rechtzeitig eintreffen könnten, und wir hätten dann das Problem, dass uns die
nötige Unterstützung fehlte, um die Überhand zu gewinnen.“
„Deshalb rücken wir also so langsam vor?“
„Genau, den eigenen Kräften traut Oudinot, und Guilleminot schließt sich
dem an, auch nicht so recht über den Weg. Er schätzt die Kampfkraft und den
Kampfeswillen nicht sehr groß ein. Unsere eigenen Leute sind überwiegend
jung und unerfahren, den Italienern sagt man nach, dass sie sich absetzen,
sobald es brenzlig wird und die Division Durutte, na ja, du weißt schon!
Oudinot setzt deshalb alles daran, dass unsere drei Kolonnen mit
möglichst gleicher Geschwindigkeit vorankommen, damit wir im Konfliktfall alle
zusammen sind. In Baruth werden wir auf die anderen warten, auch wenn das
dem Befehl Napoleons, schnell nach Norden zu stoßen, eigentlich widerspricht“
Die Kavallerie war naturgemäß wieder einmal schneller unterwegs als die
beiden Artillerie-Divisionen. Sie hatten es im Sattel ihrer Pferde ohnehin recht
bequem. Villeneuve musste manchmal an die armen Teufel bei der Artillerie
denken, die den gesamten Russlandfeldzug zu Fuß unterwegs waren. Sie hatten
dann durchaus schon mal gut und gern 5.000 km in den Beinen.
Bald danach schlugen sie nahe Baruth auf einem weiten Feld ihre Zelte
auf. Wieder begann ein Nerven aufreibendes gespanntes Warten.
22./25. Mai
Diesmal hatte Lefèvre einen anderen Weg nach Großbeeren probiert. Er war
die Ausfahrt nach Schönefeld gefahren und dann gleich wieder nach Süden
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abgebogen. Das würde ihm den verwirrenden Verkehrsknoten bei Neubeeren
ersparen.
Leider hatte er die Rechnung ohne die Verkehrsplaner gemacht. Kurz
hinter dem Ortsbeginn war man gerade dabei, einen Kreisverkehr neu zu
bauen. Das Güterverkehrszentrum, dass dem Ort gute Steuereinnahmen
beschert, sollte in östlicher Richtung bis zum Lilograben erweiter werden. Und
für diesen Bereich brauchte man eine Zufahrt, die durch die neue ampellose
Kreuzung erreicht würde.
Der Weg war zwar kürzer, schneller aber mit Sicherheit nicht.
Geschlagene fünf Minuten brauchte er, um, meterweise vorrückend, die
Baustelle endlich passieren zu können.
Am Rathaus wartete schon Hans Lüttke auf ihn.
„Wo bleibst du denn?“, rief er Lefèvre entgegen.
„Hättest mir schon beim ersten Mal sagen können, dass die
Verkehrsführung bei euch so kompliziert ist! Dann hätte ich lieber mein
Navigationsgerät benutzt“, antwortete Lefèvre missmutig.
„Das hätte dir wahrscheinlich auch nicht wirklich geholfen. Du glaubst
nicht, wie viele Auto- aber auch Lastwagenfahrer durch Kleinbeeren kommen,
weil ihr Navi-Gerät den neuen Straßenausbau bei Birkholz noch nicht kennt. An
den Straßen in unserer Gegend wird eigentlich seit Jahren gebaut, so schnell
kann man die Karte für das Navi-Gerät kaum aktualisieren.“
„Lass uns als erstes auf den Turm steigen. Von da oben hast du die beste
Orientierung. Normalerweise ist der Turm um diese Zeit nicht zugänglich aber
ich habe mir von Theo, einem Vereinsmitglied, das am Wochenende immer
Besucher auf den Turm führt, den Schlüssel ausgeliehen.“
Kaum drei Minuten später schnauften sie die 137 Stufen der Treppe im
Turm empor. Oben in 32 m Höhe war es ziemlich windig, die Aussicht war
jedoch prächtig.
„Schau, da hinten siehst du das Heizkraftwerk Lichterfelde und weiter
nördlich kannst du sogar den Berliner Fernsehturm erkennen“, erklärte Lüttke.
27
In der anderen Richtung wird deutlich, dass wir in einer richtig grünen
Umgebung wohnen. Bei klarer Sicht reicht der Blick von hier oben 30 km weit.“
„Kann man denn auch sehen, wo damals gekämpft wurde?“, wollte
Lefèvre wissen.
„Klar, schau mal dort“, er zeigte Richtung Westen. „Da hinten siehst du
vor dem Bahnhof die Wasserskianlage. Daneben war das eigentliche
Schlachtfeld. Auf dem Weg zur Bülow-Pyramide kommen wir noch ganz in die
Nähe.“
„Die alten Ägypter haben hier auch ihre Spuren hinterlassen?“, scherzte
Lefèvre, „oder wie ist das mit der Pyramide zu verstehen?“
„Wirst schon sehen, lass uns erst mal wieder hinuntersteigen.“
Im Inneren des Turms, in der kleinen Museumshalle, schauten sie sich
noch die dort dargestellte Schlachtszene an, die einen Eindruck vom damaligen
Kampfgeschehen gibt.
Den Weg zum Rathaus kannte Lefèvre schon. Diesmal bog Lüttke aber
nach links ab. „Hier siehst du unsere schöne Kirche. Die wurde gerade erst
renoviert. Ist jetzt wieder ein richtiges Schmuckstück. Sie wurde vom
preußischen Staat aus Dankbarkeit für die Schlacht nach Plänen von Schinkel
zwischen 1818 und 1820 gebaut.“
„Warum war man denn Großbeeren dafür dankbar, dass sich hier
Franzosen und Preußen abgeschlachtet haben?“, wollte Lefèvre wissen.
„Nicht weil so viele Großbeerener als Soldaten beteiligt waren. Der Ort
ist aber übel verwüstet worden. Die neue Kirche sollte dafür eine
Entschädigung sein.“
„Das wird den einfachen Bauern dann aber mächtig gefreut haben, dass
er sein Haus verloren hatte, er dafür aber in die schicke neue Kirche gehen
konnte“, erwiderte Lefèvre sarkastisch.
„Die alte Kirche war lange vorher schon abgebrannt. Komm erst mal
weiter zur Pyramide, wir können die Kirche auf dem Rückweg noch genauer
ansehen.“
28
Nach ein paar Schritten sahen sie bereits die Spitze des Denkmals.
Während sie näher kamen, erklärte Lüttke: „Da siehst du die kleine Pyramide,
die 1906 errichtet wurde.“
Inzwischen waren sie nahe genug, um eine Tafel mit der Inschrift ‚Unsere
Knochen sollen vor Berlin bleichen, nicht rückwärts!‘ zu erkennen.
„Der Ausspruch soll von General von Bülow stammen. Er hat sich damals
über den Befehl seines Oberkommandierenden, des schwedischen
Kronprinzen, hinweggesetzt. Der wollte nämlich die französisch-sächsischen
Truppen erst nördlich von Berlin abfangen und das hätte bedeutet, dass Berlin
noch einmal besetzt worden wäre. Klar, dass von Bülow als Preuße dazu eine
andere Auffassung hatte und lieber Großbeeren besetzte und den Feind hier
stoppte. Der anschließende Erfolg hat ihm ja letztendlich recht gegeben.“
„Da hast du mal ein typisches Beispiel von mitgedacht, statt Befehle
unbedarft auszuführen. Wenn das doch 130 Jahre später auch üblich gewesen
wäre, was wäre uns alles erspart geblieben“, philosophierte Lefèvre.
Sie gingen einmal um die Pyramide herum. „Das Denkmal ist allerdings
erst mit gut hundertjähriger Verspätung errichtet worden, da stand der Turm
bereits drei Jahre, der wurde nämlich genau zum hundertsten Gedenktag
eröffnet“, erläuterte Lüttke.
„Drei Jahre Verspätung?“, meinte Lefèvre, „Über eine nur dreijährige
Verspätung würde man sich in Schönefeld wahrhaftig freuen!“
Mit der Bemerkung spielte Lefèvre auf den Bau des neuen Flughafens
Berlin-Brandenburg an, dessen Eröffnung gerade zum vierten Mal verschoben
worden war. Der brandenburgische Ministerpräsident war nun in der
Bredouille, hatte er doch sein Verbleiben im Amt mit der Fertigstellung des
Flughafens verknüpft. Die Allgemeinheit war skeptisch, ob er nun zu seinem
Wort stehen würde.
„Wenn eurer Ministerpräsident demnächst das Handtuch wirft, kann der
Vorsitz im Aufsichtsrat der Flughafengesellschaft ja wieder nach Berlin
wechseln“, konnte sich Lefèvre eine spöttische Bemerkung nicht verkneifen.
„Der Regierende Bürgermeister ist doch als Überlebenskünstler bekannt!“
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„So läuft das eben heute mit den Großprojekten“, konterte Lüttke. „Beim
Bau der Pyramiden im alten Ägypten waren bestimmt nicht so viele Entscheider
beteiligt, die vorher gefragt und um Geld angebettelt werden mussten und
dann während des Baus auch noch dauernd Veränderungen im Bauplan
verlangten.“
„Die Pyramide steht übrigens genau auf dem ehemaligen
Windmühlenhügel. Der hatte damals während der Schlacht eine besondere
Bedeutung, weil man von hier einen guten Überblick über das
Schlachtgeschehen hatte. Ob das bei dem miesen Wetter allerdings geholfen
hat, weiß ich nicht.“
„Mieses Wetter?“, fragte Lefèvre, als sie sich auf den Rückweg zur Kirche
machten.
„Es muss wohl fast den ganzen Tag in Strömen geregnet haben.
Wahrscheinlich war die Sicht entsprechend schlecht.“
Lefèvre fiel ein, dass Hans Lüttke schon bei der Vorstandssitzung vom
damaligen Wetter gesprochen hatte.
Bald waren sie auf dem Kirchengelände angekommen. „Hier links siehst
du die Pfarrscheune“, erklärte Lüttke.“ Sie wird manchmal für Veranstaltungen
genutzt, Filmvorführungen und so. Und jedes Jahr im Frühjahr treten hier die
„Celtics“ auf. Die Band hat sich vor zehn Jahren gegründet und spielt irische
Folksongs. Ist inzwischen richtiger Kult, nicht nur in Großbeeren. Inzwischen
kommen sogar Fans von weit her.
Und da hinten siehst du das Pfarrhaus, lass uns mal hingehen“, sagte
Lüttke. Nach wenigen Schritten standen sie vor der kleinen Treppe, die zum
Eingang hinaufführte.
„Schau genau hin! Fällt dir etwas auf?“
„Sehr gepflegt und nett anzusehen, aber ich glaube nicht, dass du das
meinst.“
„Du musst genauer hinsehen, sieh dir doch mal den Giebel an!“
„Frisch gestrichen?“, Lefèvre hatte immer noch nicht begriffen, worauf
Hans hinaus wollte.
30
„Spaßvogel! Da oben siehst du eine Original-Kanonenkugel von 1813! Als
man nach der Schlacht das Pfarrhaus gebaut hat, wurde die in der Umgebung
gefunden und gleich ins Mauerwerk mit eingebaut. Du findest viele Häuser in
Großbeeren, die eine Kanonenkugel im Giebel haben. Es lagen damals eben
haufenweise welche herum.“
Lefèvre war beeindruckt. Etwas Ähnliches hatte er bisher nur in der
Altstadt von Spandau gesehen. Sie drehten sich nun zur Kirche um.
„Die Kirche macht ja wirklich einen guten Eindruck, als wäre sie gerade
gebaut worden“, meinte Lefèvre.
„Der Anstrich wurde auch originalgetreu wiederhergestellt. Die Orgel ist
auch gerade im vorigen Jahr erneuert worden.“
„Wenn man das so hört, könnte man meinen, dass es sich um eine
wohlhabende Gemeinde handelt. Das hat ja wahrscheinlich einen Haufen Geld
gekostet.“
„Das liegt zum einen an den vielen Zugereisten und zum anderen am
Güterverkehrszentrum, das gute Steuereinnahmen bringt. Es ist natürlich nicht
ganz einfach, die Balance zwischen Wirtschaftsansiedlung und damit
Steueraufkommen auf der einen Seite und Naturerhaltung, also Erholungswert
auf der anderen Seite zu wahren.
Um darauf zu achten, dass bei Neubaumaßnahmen nicht mal so eben
wertvolle, alte Gebäude oder Anlagen abgeräumt werden, hat der Kulturverein
zwei Arbeitsgruppen gebildet. Die eine mit Namen ‚Kulturelle Mitte‘ kümmert
sich darum, im Ortszentrum eine Begegnungsstätte zu schaffen, an der auch
kulturelle Veranstaltungen jeglicher Art in angemessenem Rahmen stattfinden
können. Bisher steht uns nämlich nur der Gemeindesaal im Feuerwehrhaus zur
Verfügung. Und der ist eigentlich für Sitzungen der Gemeindevertreter
konzipiert und nicht so sehr für Kulturveranstaltungen mit vielen Besuchern.
Die andere hat zum Ziel, die Geschichte des Ortes zu erhalten und zu
pflegen, deshalb haben wir ihr den Namen ‚Historische Entwicklung und
Denkmalpflege‘ gegeben. Es ist allerdings nicht ganz einfach, Leute für die
Mitarbeit in den Arbeitsgruppen zu gewinnen. - Schau mal hier. Das ist so ein
Ort, der gepflegt gehört.“
31
Lüttke wies auf den Kirchhof, den ursprünglichen Friedhof des Ortes.
„Wenn man hier irgendwann mal vorsichtig herangeht, wird man so einige
Schätze entdecken. Aber das kostet natürlich alles Geld. Und das wird in der
Regel für andere Dinge ausgegeben.
Auf dem Kirchhof muss sich ordentlich was abgespielt haben. Die
Kolberger Landwehr auf Seiten der Preußen hat sich hier wohl besonders
hervorgetan. Es war ein Kampf Mann gegen Mann, mal wurde das Bajonett
benutzt, mal wurde mit dem Gewehr einfach draufgehauen. Eine Szene ist
dann gut 100 Jahre später von Carl Röchling festgehalten worden, einem
Schlachten- und Historienmaler, der ursprünglich aus Saarbrücken kam.“
Jetzt waren sie bei einem Obelisken angekommen, der nördlich der
Kirche steht. „Dieses Denkmal ist bereits 1817 errichtet worden. Nach Plänen
Karl-Friedrich Schinkels übrigens, genau wie die Kirche.“
Lefèvre war jetzt doch einigermaßen beeindruckt. „Bei euch in
Großbeeren scheint sich wohl alles um die Schlacht von 1813 zu drehen.“
„Zumindest vieles. Bis vor kurzem hatten wir sogar ein Restaurant, das
nach dem preußischen General, dem Helden von Großbeeren, benannt war.
*
Lefèvre musste zugeben, die Stimmung war prächtig. Die Musik war gut und
abwechslungsreich, vielleicht auf Dauer etwas zu laut. Hans hatte es ja
angedeutet, der Gemeindesaal war für solche Veranstaltungen nicht wirklich
gut geeignet. Eine vernünftige Belüftung hatte man wohl schon bei der Planung
nicht berücksichtigt. Das führte dazu, dass die Luft im Saal schon nach kurzer
Zeit zum Schneiden war. Aber man konnte den Saal ja auch jederzeit kurz
verlassen, nicht nur, um die Ohren sich erholen zu lassen sondern auch, um
sich ein Getränk zu holen.
„Na, wie gefällt es Ihnen denn, Herr Lefèvre?“ Am Tresen stand Werner
Klausen mit einem Glas Schwarzbier in der Hand.
Während Lefèvres Frau Gabi sah, dass sie sich beim Ausschank nützlich
machen konnte, gesellte er sich zu Klausen.
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„Ich weiß nicht, ob Sie das mitbekommen haben. Ich bin hier im Ort so
etwas wie der inoffizielle Geschichtsschreiber. Vor kurzem habe ich die Chronik
unserer Gemeinde herausgebracht und zum Siegesfest erweitere ich die
Chronik speziell um Geschichten, die mit dem Siegesfest zu tun haben.
Siegesfeste wurden ja nicht erst in unserer Zeit gefeiert, das ging schon wenige
Jahre nach der eigentlichen Schlacht los.
Und bei der Gelegenheit bin ich auf eine sehr interessante Tatsache
gestoßen. Ihr Name kam mir neulich nämlich irgendwie bekannt vor. Daraufhin
habe ich nochmals in den alten Aufzeichnungen geblättert.
Sie werden es kaum glauben, aber es scheint tatsächlich ein
Namensvetter von ihnen an der Schlacht beteiligt gewesen zu sein. Ich werde
die Spur weiter verfolgen. Wenn ich Genaueres weiß, gebe ich Ihnen Bescheid.“
„Ich fürchte, ich muss Sie enttäuschen, Herr Klausen. In meiner Familie
wurde zwar selten über unsere Vorfahren gesprochen. Soweit ich weiß, sind
aber meine Ahnen väterlicherseits mit den Hugenotten so um 1700 in die
Gegend gekommen. Mit ihrem Schlachtteilnehmer habe ich wohl nichts zu
tun.“
20. August
Villeneuve hielt sein Pferd an und hob den rechten Arm. Seine Leute
verstanden sofort. Sie schlossen zu ihm auf.
„Wir machen hier eine kurze Rast. Die Pferde brauchen eine Pause.“
Eine der Aufgaben der leichten Kavallerie war die Vorwärtserkundung.
Villeneuve hatte den Auftrag, das Gebiet nordwestlich von Baruth bis in die
Höhe von Ludwigsfelde zu erkunden während sein beiden Kameraden nördlich
Richtung Großbeeren bzw. nordwestlich in Richtung Mittenwalde unterwegs
waren. Mit ihren gut trainierten Pferden konnten sie am Tag mühelos 50 bis 60
km Strecke zurücklegen.
Immer wenn sie eine größere Siedlung sahen, ließ Villeneuve einen sehr
gut deutsch sprechenden Soldaten in ziviler Kleidung in das Dorf gehen, um die
Bewohner nach preußischen oder schwedischen Truppen auszufragen.
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Manchmal kehrte der Mann mit Informationen zurück, manchmal bekam er
aber auch nichts aus den Dorfbewohnern heraus, weil sie keine Soldaten in der
Nähe ihres Dorfes gesehen hatten.
Über Kummersdorf, Nunsdorf und Wietstock waren sie in die Nähe von
Ludwigsfelde gelangt. Wegen der zahlreichen Seen und Feuchtgebiete hatten
sie das Dorf weiträumig umgehen müssen.
Villeneuve war überrascht, dass sie nur selten gegnerische Verbände
sichten konnten. Sie waren extrem vorsichtig vorgegangen und hatten immer
auf gute Deckung geachtet. Er hatte allerdings damit gerechnet, dass sie weiter
nördlich auf feindliche Truppen stoßen müssten. So aber würde er General
Guilleminot bei ihrer Rückkehr nicht viel zu berichten haben.
Während die Pferde am Bachufer grasten, hatten sich die Männer auf
einer Wiese niedergelassen. Ihre Gespräche drehten sich ausschließlich um die
bevorstehenden Kämpfe. Villeneuve bemerkte die Anspannung in den
Gesichtern seiner Untergebenen.
„Nach meiner Karte müssten wir schon nördlich von Ludwigsfelde sein.
Die nächstgelegenen Ortschaften sind Philippsthal und Nudow. Nach unserer
Pause werden Marchand und Dubois diese beiden Orte erkunden. Marchand
reitet nach Philippsthal im Nordwesten und Dubois nach Nudow in östlicher
Richtung.
Ich glaube, ein weiteres Vordringen im größeren Verband ist jetzt zu
riskant. Wir warten den Bericht der beiden ab und werden dann wieder nach
Baruth zurückreiten. Unsere heutige Erkundung scheint ein rechter Reinfall zu
werden.“
Nach einer eindringlichen Ermahnung, nur ja vorsichtig zu sein, zogen die
beiden Soldaten los.
Villeneuve erwartete, dass sie in einer knappen Stunde zurück sein
müssten. Deshalb staunte er nicht schlecht, als Marchand schon nach zehn
Minuten angestürmt kam. „Lieutenant, Lieutenant, wir müssen hier sofort
weg!“, rief er schon, bevor er aus dem Sattel war.
„Nun mal langsam, Marchand, was soll das Gestammel. Ich erwarte eine
ordentliche Meldung!“
34
„Lieutenant, ich hatte kaum das kleine Wäldchen hinter mir gelassen, das
man dort hinten sieht, als ich schon gewahr wurde, dass es in Philippsthal vor
Soldaten nur so wimmelt. Ich denke, dass ich schnell genug umgekehrt bin,
bevor mich jemand sehen konnte. Wenn die dort …“, er zeigte in die Richtung,
aus der er eben gekommen war, „.. allerdings auch Erkundungstrupps
unterwegs haben, werden wir schon bald entdeckt werden.“
„Wenn das so ist, haben wir keine Zeit zu verlieren und sollten nicht auf
Dubois‘ Rückkehr warten. Wir werden ihm schnellstmöglich in Richtung Nudow
folgen, ihn dort aufsammeln und uns rasch in Richtung Süden absetzen.“
*
Villeneuve ahnte nicht, dass der Gegner zur selben Stunde in Philippsthal
Kriegsrat hielt. Der Oberkommandeur, der schwedische Kronprinz, und die
höchsten Generäle, von Bülow, von Tauentzien, von Winzingerode und von
Stedingk waren dort auf Befehl des Kronprinzen zusammengekommen.
Karl Johann war der Meinung, Berlin sei nur eine Stadt wie viele andere.
Man könne sie aufgeben und den Feind nördlich Berlins ‚auf besserem
Schlachtfeld‘ erwarten. Das musste förmlich den Widerstand der preußischen
Generäle provozieren. Speziell von Bülow war ob dieser Ansicht außer sich.
Auf dessen Drängen hin hatte der Oberbefehlshaber schließlich
eingewilligt, dass man doch erst einmal genauere Nachrichten abwarten und
sich nicht sofort nach Norden zurückziehen sollte.
*
Zurück im Baruther Lager eilte Villeneuve sofort zu General Fournier, Bericht zu
erstatten. Sein Spähtrupp hatte sich ja doch noch als erfolgreich herausgestellt.
Als der Lieutenant abends Guilleminot von seiner Erkundung erzählte,
nahm der die Nachricht erstaunlich gelassen hin. „Philippsthal?“, der General
studierte die vor ihm liegende Karte. Soll dort etwa ihr Hauptquartier sein?
Jetzt müssen wir durch unsere Spione vor Ort unbedingt erfahren, was sich in
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Philippsthal genau ereignet, warum an diesem unbedeutenden Ort überhaupt
Truppen zusammengezogen wurden.“
16. August
„Nein, nein, nein!“ Lefèvre ließ den Taktstock sinken und brach die Probe ab.
„Ihr spielt das wie Mozart! Ihr steckt nicht genug Energie rein!“
Lefèvre war, wie jeden Freitag, die 40 km nach Tegel gefahren, um dort
mit seinem Orchester zu proben. Seit 20 Jahren leitete er das Tegeler
Kammerorchester, eine Ansammlung von Musikliebhabern, die Spaß am
gemeinsamen Musizieren hatten.
Der Weg durch den nachmittäglichen Berufsverkehr war jede Woche
wieder beschwerlich, aber das Orchester wurde vor über fünfzig Jahren im
Norden Berlins gegründet und probte seither auch dort. Der Termin am Freitag
Abend wurde von vielen als nicht glücklich empfunden. Er war ursprünglich
gewählt worden, weil damals viele Orchestermitglieder noch Schüler waren.
Und da es üblich war, die Proben anschließend in einem Restaurant ‚nach zu
besprechen’, schien der Freitag der beste Tag zu sein. Samstags war ja keine
Schule. Und einen Termin, der über Jahrzehnte Bestand hat, sollte man ohne
triftigen Grund nicht ändern.
Früher empfand Lefèvre die Proben nach einer anstrengenden
Arbeitswoche als Belastung, jetzt traf das nur noch für seine Gabi zu. Sie spielte
im Orchester die erste Klarinette.
Das nächste Konzert sollte ein Beethoven-Programm haben. Zu Beginn
die Ouvertüre zur Ballettmusik „Die Geschöpfe des Prometheus“ und
anschließend die dritte Sinfonie, die „Eroica“. Beide Werke sind, wenn auch aus
verschiedenen Genres, thematisch miteinander verwandt.
Die Programme zusammenzustellen war stets heikel. Auf der einen Seite
sollte die Musik nicht so einfach sein, dass die routinierteren Musiker sich
langweilten, auf der anderen Seite durfte sie aber auch nicht zu schwierig sein.
Lefèvre hatte während seines Psychologiestudiums gelernt, dass man die
größten Erfolge erzielt, wenn die selbst gesteckten Ziele zwar anspruchsvoll,
aber eben auch erreichbar sind.
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Die Probenarbeit hatte mit der Ouvertüre begonnen. Sie steht in C-Dur
und stellt musikalisch keine besonders große Herausforderung dar. Nur die
schnellen Achtel-Passagen klappten noch nicht so gut, die zweiten Violinen und
die Bratschen hatten ihre Schwierigkeiten damit. Das schien auf ein verstärktes
häusliches Üben hinauszulaufen.
Mit dem Beginn des ersten Satzes der Sinfonie war Lefèvre alles andere
als zufrieden. „Für Beethoven braucht man immer viel Energie. Hier kommt
noch dazu, dass es sich bei dieser Musik um etwas Revolutionäres handelt. Ich
glaube, ich muss euch mal etwas dazu erzählen.
Beethoven hatte Napoleon in den 1790er Jahren sehr bewundert. Er
hoffte, dass sich mit ihm die Ideen der französischen Revolution von 1789 über
ganz Europa verbreiten würden.
Deshalb begann Beethoven, diese Ideen in seine Musik einfließen zu
lassen. Zuerst in seine Prometheus-Ballettmusik, später dann noch stärker in
seine 3. Sinfonie. Napoleon war nämlich von vielen mit dem griechischen
Halbgott Prometheus verglichen worden, der den Göttern das Feuer stahl, um
die Menschen zu befreien.
Diese Musik, speziell die Eroica, war für die damalige Zeit auch
tatsächlich revolutionär. Ich erspare euch jetzt mal die altbekannte Geschichte
von der zerrissenen Titelseite und der geänderten Widmung der Sinfonie.
Aber schon die Einleitung zeigt es - oder vielmehr die Tatsache, dass es
eben keine langsame Einleitung mehr gibt. Zwei Schläge, zwei Akkorde, und los
geht’s, da muss gleich die Post abgehen!
Da..da..da..dadadadadaaa..da..daaaaa“, sang er mit einem Mal los. „Eine
kurze, heftige Steigerung zum Cis. In diesen Spannungsbogen muss schon viel
Energie fließen. Wir versuchen es gleich noch einmal. Von vorn!“
Noch einmal erklangen die beiden Anfangsakkorde. Nach den nächsten
Takten brach Lefèvre schon wieder ab. „Stopp! Nach dem zweiten Akkord geht
es im Piano weiter, sonst bekommen wir ja das Crescendo nicht hin! Noch
mal!“
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Und wieder erklangen die ersten Akkorde. Diesmal wurde tatsächlich
leise weitergespielt. „Jetzt wieder zurück in der Lautstärke und neu aufbauen
...ja, schon viel besser, das hört sich schon fast wie Beethoven an!“
21./22.August - abends
„Alors, mon cher ami“ 3, begann der General spöttisch das Gespräch, „da haben
Sie sich wohl doch ins Bockshorn jagen lassen. Der Feind leistet unserem
Vormarsch auf Berlin so gut wie keinen Widerstand!“
Villeneuve war wieder bei Guilleminot zu Gast. Er ahnte, dass
entscheidende Tage bevorstanden und wollte sich vom General die neuesten
Informationen holen.
„Gestern kam es zu einigen größeren Scharmützeln. Bei Trebbin leisteten
die Kompanien von Clausewitz zwar einigen Widerstand, letztendlich haben wir
sie aber aus der Stadt vertreiben können. Nicht viel anders war es bei Nunsdorf
und Mellen, wo wir mehr mit den Schwierigkeiten, trockenen Fußes ins Dorf zu
gelangen, zu kämpfen hatten, als mit den wenigen hundert Verteidigern.“
Der General war in seinem Enthusiasmus kaum aufzuhalten.
„Heute kam es zu Kämpfen in Thyrow und wohl auch in Wietstock und
Jühnsdorf. Zu Thyrow muss ich nichts sagen, wir waren selbst dabei. Jühnsdorf
soll leicht einzunehmen gewesen sein. Lediglich in Wietstock war es schwierig
und hat uns 800 Mann gekostet. Sechs Stunden haben Reyniers Mannen mit
dem Feind und dem Wasser gekämpft. Die gesamte Gegend ist zum Kämpfen
einfach nicht geeignet, überall Flüsse, Gräben und feuchte Wiesen. Und dann
auch noch der seit Tagen andauernde Regen!“
„Thyrow wäre auch leicht einzunehmen gewesen, wenn wir nur gleich
angegriffen hätten. Warum wir dort so lange warten mussten, habe ich nicht
verstanden. So ist kostbare Zeit verloren gegangen“, wagte Villeneuve
vorsichtige Kritik an der Taktik des Marschalls.
„Oudinot dachte wohl, die Verschanzung wäre stärker und mit
zahlreichen Truppen verteidigt“, beschwichtigte der General. „Jedenfalls
3 „Nun, mein lieber Freund“
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scheint der Weg nach Berlin mehr oder weniger frei zu sein. Morgen geht es
los, dann werden wir ja sehen. Unser Korps rückt gegen Ahrensdorf, Reyniers
gegen Großbeeren und Bertrands Korps gegen Blankenfelde vor. “
„Warum marschieren wir nicht gemeinsam? Ist es nicht gefährlich unsere
Armee freiwillig aufzuteilen?“, wollte Villeneuve wissen.
„Gewiss, mein Lieber, ein gewisses Risiko sehe ich da auch. Andererseits
gibt es nur wenige einigermaßen befestigte Wege nach Norden. Und die sind
auch noch recht schmal. Benutzen wir alle zusammen einen von diesen, wären
wir erst recht angreifbar und könnten unsere Überzahl nicht ausspielen. So
können wir getrennt marschieren, aber vereint zuschlagen.“
Villeneuve verließ das Zelt des Generals einigermaßen beruhigt.
Vielleicht würde es doch nicht so schlimm kommen, wie er bisher befürchtet
hatte.
23. August
„Zum Einspielen den ersten Satz, bitte. Dann kann ich gleich mal hören, ob von
der letzten Probe etwas hängen geblieben ist.“
Lefèvre wusste, dass viele Orchestermitglieder während der Woche
kaum zum Üben kamen. Die meisten hatten ihre beruflichen oder familiären
Verpflichtungen, die natürlich vorgingen. Er hoffte immer, dass dafür
wenigstens die Konzentration in den freitäglichen Proben hoch genug wäre, um
in der musikalischen Arbeit voran zu kommen. Mal klappte das und mal auch
nicht. Eine Beethoven-Sinfonie kann man jedenfalls nicht eben mal so
‚herunterspielen’.
Der Beginn war etwas zögerlich, einige, vor allem unter den Bläsern,
waren wohl noch nicht richtig warmgespielt. „Mit Wiederholung, bitte!“, rief er
deshalb, wissend, dass der Anfang beim zweiten Mal besser klingen würde.
Die Stimmung schien an diesem Abend erfolgversprechend. Nicht nur die
musikalische Stimmung. Es schwebte die Stimmung in der Probenaula, die man
braucht, um in die Musik einzutauchen und mit dem Klang zu verschmelzen.
39
Lefèvre ließ den ersten Satz komplett ohne Unterbrechung durchspielen.
„Donnerwetter, heute seid ihr ja prächtig drauf! Das war schon fast
aufführungsreif. Dann machen wir uns mal an den letzten Satz. Wir fangen
beim ‚Poco andante’ an.“
Sofort suchten alle in ihren Noten nach der richtigen Stelle. „Andante?
Hat der Satz nicht die Bezeichnung ‚Allegro molto’?“, fragte die zweite
Klarinette.
„Das ist auch eine von Beethovens neuen Ideen. Vor dem Finale beruhigt
sich das Geschehen. Wir sind ja hier im traurigen c-Moll gelandet. Im
choralartigen ‚Poco andante’ wechseln wir überraschend nach As-Dur und
danach, im ‚Presto’ stürmen wir mit den rasenden Sechzehntelläufen nach Es-
Dur.
Dadurch verstärkte Beethoven die optimistische Grundstimmung der
Sinfonie. Sie soll Hoffnung, Glanz und Aufbruchstimmung verbreiten. Obwohl
Beethoven mit Napoleon gebrochen hatte, veränderte er ja die Musik nicht. Sie
sollte dennoch die Ideale der Revolution verströmen.
Sie feiert, wie er das auf dem neuen Titelblatt notiert hatte, das
Andenken eines großen Mannes, der ihn so enttäuscht hatte, dass er ausrief:
‚Ist der auch nicht anders, wie ein gewöhnlicher Mensch! Nun wird er auch alle
Menschenrechte mit Füßen treten, nur seinem Ehrgeize frönen; er wird sich
nun höher, wie alle Anderen stellen, ein Tyrann werden‘!
Wenigstens Beethovens Musik sollte den großen Ideen treu bleiben.“
23. August - mittags
Villeneuve verstand die Welt nicht mehr. Die meisten Einheiten des 12. Korps
waren morgens recht zuversichtlich mit einem lauten ‚Rendez-vous à Berlin‘4
losgezogen. Alle hatten inzwischen mitbekommen, dass die napoleonischen
Truppen dem Feind offensichtlich überlegen waren.
Warum ließ Oudinot nun in Ahrensdorf, so kurz vor dem Ziel, wieder
Halt machen? Schön, sie waren sechs Stunden unterwegs gewesen. Die Wege
4 „Wir sehen uns in Berlin!“
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waren noch schlechter, als ohnehin erwartet und so waren sie extrem langsam
vorangekommen.
Er bemerkte, dass er nicht der einzige war, den das Abwarten irritierte.
Da sah er, dass sich Lefèvre und von Goldacker näherten.
„Hast du eine Ahnung, was das jetzt wieder soll, warum wir nicht
weiterziehen? So müde sind wir doch noch nicht, wenn der Weg auch
anstrengend war“, meinte von Goldacker. „Noch am Abend könnten wir in
Berlin sein.“
Lefèvre hatte seine gute Stimmung noch nicht verloren. „Ich habe auch
gehofft, heute noch nach jungen Berlinerinnen Ausschau halten zu können.“
„Daraus wird wohl nichts“, antwortete Villeneuve und fügte leise hinzu:
„Der Marschall gönnt dir das nicht, er findet Ahrensdorf interessanter! Hier
gibt’s bestimmt einige Dorfschönheiten, die sich auf so einen schneidigen
Jungoffizier freuen“, lachte er.
Es lag eine gewisse Spannung in der Luft. Und wie oft in solchen
Situationen, versuchte man die Nervosität mit Späßen zu überspielen.
Die Stunden verrannen. Villeneuve versuchte, Kontakt mit General
Guilleminot aufzunehmen. Er hörte jedoch von dessen Ordonnanz, dass er zum
Marschall bestellt war. Villeneuve beschloss, vor dem Zelt des Generals auf
diesen zu warten. Ob er nun hier untätig herum saß oder vor seinem eigenen
Zelt, war schließlich egal.
Er musste einige Zeit warten, bis der General zurückkam. Guilleminots
Miene war zu entnehmen, dass es Streit gegeben hatte. Er deutete mit einer
kurzen Handbewegung an, dass Villeneuve mit ins Zelt kommen sollte.
Als sie zu zweit waren, legte der General sofort los, er hatte
offensichtlich Mühe, sich so lange zurückzuhalten, bis die Ordonnanz außer
Hörweite war.
„Jetzt haben wir den Salat! Unsere Truppenteile sind mehr oder weniger
voneinander getrennt. Die Verbindungswege zwischen den Armeekorps, sofern
es überhaupt welche gibt, sind kaum passierbar. In den wenigen Meldungen,
die herein kamen heißt es, es habe eine schwerwiegende Feindberührung in
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der Nähe von Blankenfelde gegeben. Wie groß Bertrands Schwierigkeiten sind,
weiß zurzeit jedoch keiner. Oudinot hat soeben Kuriere losgeschickt, um einen
Überblick über die Situation zu bekommen. Das kann jedoch angesichts der
Bodenverhältnisse dauern, es regnet ja ununterbrochen weiter.
Von Reyniers Korps haben wir überhaupt nichts gehört. Das beunruhigt
den Marschall besonders. Man hörte vorhin allerdings über längere Zeit
Kanonendonner. Deshalb hat er auch Richtung Großbeeren jemanden
geschickt, um die Sache zu erkunden. Was mich jedoch am meisten ärgert ist
die Tatsache, dass wir hier herumsitzen, während unsere Kameraden vielleicht
in schwerem Gefecht stehen. Es wird auch schon dunkel. Aber ich gebe zu –
was sollen wir tun, wenn wir den Überblick über die allgemeine Lage verloren
haben?“
„Wenn wir nur eine Möglichkeit hätten, die Verbindungen zwischen den
Korps dauerhaft aufrechterhalten zu können. Man müsste so etwas wie eine
Fern-Sprech-Verbindung haben. Alle Hoffnung liegt nun auf den
Kundschaftern.“
Guilleminot hatte kaum ausgesprochen, als von draußen laute Stimmen
zu hören waren. Villeneuve trat neugierig vor das Zelt und wurde sofort von
einem Hauptmann angesprochen.
„Monsieur Lieutenant, Sie werden bereits von General Fournier gesucht.
Der Marschall hat den Befehl erteilt, dass die Kavallerie schnellstmöglich nach
Großbeeren eilen soll.“
Villeneuve jagte mit seinen Männern den anderen Eskadrons hinterher.
Inzwischen war es so dunkel, dass der Weg kaum auszumachen war. Irritierend
fand der Lieutenant, dass aus Richtung Großbeeren kein Gefechtslärm zu hören
war. Die Kanonen schwiegen schon seit einiger Zeit. Selbst als sie sich dem Dorf
näherten, war kaum etwas außer Schreien zu hören.
Als der nächste Regenschauer herunter prasselte, wurde Villeneuve mit
einem Mal klar, dass der Dauerregen ein Funktionieren der Gewehre wohl
unmöglich machte. Seine Uniform war in kürzester Zeit völlig durchnässt.
Im Wald nördlich von Genshagen kamen ihnen immer wieder Soldaten
entgegen, deren Haltung und Aussehen keinen Zweifel am bisherigen Verlauf
42
des Scharmützels zuließen. Durch die zunehmende Dunkelheit und den stark
fallenden Regen konnte Villeneuve kaum Einzelheiten erkennen, er vermutete
jedoch, dass es sich um die Division Lecoq handeln müsse. Guilleminot hatte
erzählt, dass Lecoq auf der linken Seite angreifen sollte.
In wilder Jagd erreichte er den Ortsrand. Er sah viele Soldaten, teils mit
Geschützen, die sich Hals über Kopf Richtung Wald zurückzogen. Dann sah er
vor sich schemenhaft Reiter, die wild mit den Degen aufeinander einschlugen.
Seine Kameraden waren mit ihren Eskadrons vor ihm in Großbeeren
eingetroffen.
Er wollte gerade eingreifen, als in direkt neben ihm eine Kanonenkugel
einschlug, unmittelbar gefolgt von ungeheurem Kanonendonner. Neben sich
sah er ein Pferd mitsamt Reiter zu Boden gehen, eine Kugel hatte das Pferd am
Kopf getroffen. Der Kugelhagel wurde dichter. Jetzt galt es, so schnell wie
möglich aus der Schusslinie zu kommen.
Villeneuve deutete seinen Leuten an, ihm zu folgen und sprengte los in
östlicher Richtung, neben sich seine Männer, hinter sich eine Horde von
preußischen Husaren und Ulanen. Vorbei an der Kirche und quer über den total
verwüsteten Kirchhof galoppierten sie, bis ein breiter Graben ihnen den Weg
versperrte.
Durch den tagelangen Regen war der Lilograben, ein ansonsten doch
recht armseliges Gewässer, zu einem stattlichen Bach angeschwollen. Zu breit,
um mit den Pferden darüber zu setzen.
Villeneuve riss sein Pferd im letzten Moment zur Seite und folgte dem
Verlauf des Grabens Richtung Süden. Immer noch trieb er das Tier zur
Höchstleistung an, ihm war bewusst, dass es nun um Leben und Tod ging.
Immer weiter ging die wilde Hatz, unmittelbar neben ihm einer seiner
Kameraden. Aber, Moment mal … die Uniform kam ihm unbekannt vor. Er riss
den Arm mit dem Degen hoch, keinen Augenblick zu früh. Er konnte den
feindlichen Schlag abwehren, so dass es ihm nur den Hut vom Kopf fegte. Mit
einer geschickten, schwungvollen Bewegung gelang es ihm, den anderen aus
dem Sattel zu katapultieren.
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Nach einigen weiteren Minuten bemerkte Villeneuve, dass er niemanden
mehr neben oder hinter sich hatte. Er ließ sein Pferd in einen ruhigen Trab
fallen, damit es sich etwas erholen konnte.
Noch einmal wechselte er die Richtung und begab sich zurück in Richtung
Windmühlenhügel, oder jedenfalls in die Richtung, in der er den kleinen Hügel
mit der Mühle vermutete. Schon bald begegneten ihm wieder Reiter.
Inzwischen war es allerdings nahezu stockfinster. Es war unmöglich, an den
Uniformen Feind und Freund auseinanderzuhalten.
Immer wieder hörte er Rufe, mal ein „Qui est-ce?“, ein anderes Mal ein
vorsichtiges „Wer da?“. Es war offensichtlich, dass ein Kampf unmöglich war,
wollte man nicht in Kauf nehmen, auf seine eigenen Kameraden einzudreschen.
Ihm war klar, dass er auf sich allein gestellt war. Lautes Rufen würde nur den
Feind auf ihn aufmerksam machen.
Sich vorsichtig orientierend, setzte er sich vom Schlachtfeld in Richtung
Westen ab. Es schien ihm der sicherste Weg zu sein. Im Norden und Osten
stand der Feind, der Süden war wahrscheinlich auch zu gefährlich. Villeneuve
ging davon aus, dass preußische Truppen den in Richtung Genshagen
Fliehenden nachsetzen würden.
Tatsächlich wurde es um ihn herum ruhiger, je weiter er nach Westen
vordrang. Irgendwann war er sich sicher, genug Distanz zwischen sich und dem
Feind zu haben. Er musste sich tief im Forst befinden. Er hielt sein Pferd an,
stieg ab und band es an einen tief hängenden Zweig. Mühsam zog er einige
heruntergefallene Zweige zusammen und baute sich damit im teilweise
ausgehöhlten Stamm einer alten Buche eine notdürftige Behausung für die
Nacht. Bei Sonnenaufgang würde er weiter sehen.
24. August
Nun waren die Sommerferien schon wieder vorbei. Für Lefèvre gab es
eigentlich keine Ferien mehr. Trotzdem – seine Gabi war ja noch im Dienst und
hatte wie in all den vergangenen Jahren die letzte Ferienwoche dazu genutzt,
sich auf das nächste Schuljahr vorzubereiten.
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Dabei war ihm klar geworden, wie kompliziert die Situation bei ihnen
beiden nun war. Er könnte eigentlich ganz entspannt sein, schließlich musste er
sich nicht mehr um irgendwelche dienstlichen Verpflichtungen kümmern. Aber
gleichzeitig verbrachte seine Gabi die meiste Zeit am Schreibtisch. So richtig
genießen konnte er seine Freizeit deshalb nicht.
Der Urlaub in der Schweiz war jedenfalls wieder sehr schön gewesen. Im
Gegensatz zum Vorjahr gab es eine ganze Reihe von schönen Tagen mit stabiler
Wetterlage. Darauf waren sie angewiesen, machten sie doch für ihr Leben gern
Hochgebirgstouren – und die waren nur risikolos möglich, wenn das Wetter
hielt.
Die meisten ihrer geplanten Touren hatten sie durchführen können. Es
war die gewohnte und gewollte Mischung aus Genuss und Strapaze. Er merkte
auf den Touren, dass diese Art von Urlaub wohl nicht mehr so lange möglich
sein würde. Die Anstrengungen waren auf manchen Strecken gewaltig. Um
Tagestouren von bis zu zwölf Stunden Dauer und 3.000 m Höhenunterschied zu
bewältigen, musste man schon topfit sein. Oder eben jünger – dachte er
wehmütig.
Sie hatten beeindruckende Bilder in ihren Köpfen mit nach Hause
genommen, wohl wissend, dass sie sich die Schweiz wohl in Zukunft nicht mehr
würden leisten können. Die Höhe der Berge korrespondierte in der Schweiz in
beeindruckender Weise mit der Höhe der Preise und die Diskrepanz zur Höhe
seines Altersruhegelds war doch zu groß. Außerdem wartete Lefèvre bisher
vergeblich auf den Anruf der Lottogesellschaft oder eines Nachlassverwalters,
der ihn vom Dahinscheiden seiner längst in Vergessenheit geratenen,
vermögenden Erbtante informierte.
*
Hans Lüttke hatte ihn gewarnt. Er solle nicht mit dem Auto kommen, hatte er
gesagt, oder es wenigstens weit ab vom Festbereich parken.
Nun hatte er den Salat. Bereits fünfundzwanzig Minuten kreiste er um
den Gedenkturm in der Hoffnung, dass jemand vielleicht sein Auto wegfuhr.
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Aber das Fest sollte ja erst beginnen, der Zulauf war immer noch ungebrochen.
In großen Pulks strömten die Menschen in Richtung Festplatz.
Endlich sah Lefèvre eine Stelle am Wegesrand, wo er seinen Kleinwagen
abstellen konnte. Schnell ging er den anderen Menschen nach. Jedenfalls
konnte er so das Ziel nicht verfehlen. Im Näherkommen konnte er einen ersten
Blick auf das ‚Schlachtfeld‘ werfen. Es waren wohl eine ganze Menge Leute am
‚Kriegsgeschehen‘ beteiligt.
Da sah er, dass sich Werner Klausen bereits einen guten Platz zur
Beobachtung des Geschehens gesichert hatte. Er kam sofort wieder auf die
vermeintliche Namensgleichheit zu sprechen.
„Der Lefèvre, den ich neulich entdeckt hatte, kann doch kein Vorfahre
von Ihnen sein. Der ist nämlich an den Folgen seiner Verwundung kurz nach der
Schlacht gestorben. Ich habe seinen Namen auf einer alten Liste der Opfer
gefunden.“
Klausen wollte gerade ins Detail gehen und berichten, wie er an die Liste
gekommen war, da wurde auf der Wiese ein erstes Geschütz abgefeuert. Der
Knall kam so unvermittelt, dass sich Klausen und Lefèvre reflexartig die Ohren
zuhielten. Das Schauspiel ging los. Es knallte an allen Ecken und Enden, der
‚Kampf‘ tobte hin und her. Anfangs donnerten immer mehr Geschütze los und
schließlich sahen sie Soldatenkolonnen aufeinander zu gehen, Stellung nehmen
und ihre Gewehre abfeuern.
Alles war höchst eindrucksvoll inszeniert. Es war klar, dass die Aktionen
abgesprochen sein mussten, dennoch machte alles wirklich einen
authentischen Eindruck.
„Was ist denn mit der Gruppe dort auf der linken Seite los?“, bemerkte
Klausen, „ich kann mir nicht vorstellen, dass die damals während der Schlacht
angefangen haben zu diskutieren.“
Nun wurde auch Lefèvre auf das Durcheinander aufmerksam, dass sich
auf der Wiese abspielte. Es hörte sich jetzt so an, als riefe jemand nach einem
Sanitäter. Sollte das auch zur nachgestellten Schlacht gehören?
46
Ein junger Mann sprintete in Richtung der diskutierenden
Soldatengruppe. Als er bei der Gruppe ankam, machte man ihm Platz und man
sah von weitem, dass jemand reglos auf der Wiese lag.
„Das ist doch Dawid Riedemann“, flüsterte Klausen totenbleich. „Der ist
eigentlich immer für die schwierigen Fälle zuständig.“
Die ‚Schlacht‘ war entweder vorüber oder sie war abgebrochen worden,
jedenfalls fanden jetzt keine militärischen Aktivitäten mehr statt. Klausen und
Lefèvre beschlossen, zum Stand des Kulturvereins zu gehen, um sich dort
umzuschauen. Auf dem Weg dorthin hörten sie das näher kommende Signal
eines Rettungswagens.
„Irgendetwas muss wohl doch aus dem Ruder gelaufen sein“, meinte
Lefèvre.
„Das erinnert mich stark an 2007“, sagte Klausen und als er Lefèvres
erstaunten Gesichtsausdruck bemerkte, erzählte er:
„Beim 194. Siegesfest 2007 gab es einen Unfall. Damals waren wie immer
erst die Kanonen abgefeuert worden. Dann kam die Infanterie zum Einsatz,
rund 100 Statisten waren auf dem Schlachtfeld. Der Kampf wogte wie
abgesprochen ca. 30 Minuten hin und her. Ein 45jähriger Statist lud seinen
Vorderlader - ein Steinschlossgewehr der Marke Beka Riffle. Er gab
Schwarzpulver in den Lauf der Waffe und drückte es mit dem Ladestock fest.
Laut Polizei löste sich dabei aus ungeklärter Ursache ein Schuss, die Waffe fiel
zu Boden und verletzte den Schützen leicht an der Hand. Der Ladestock aber
schoss wie ein Pfeil aus dem Lauf heraus in Richtung einer Reihe weiterer
Schauspieler, die die napoleonischen Truppen spielten. Ein 49-jähriger Mann
wurde in den Bauch getroffen. Er musste mit dem Rettungshubschrauber ins
Unfallkrankenhaus gebracht werden und schwebte trotz sofortiger
Notoperation noch tagelang in Lebensgefahr.
Nach Angaben der Polizei durfte der 45-jährige mutmaßliche
Unfallverursacher eine Waffe führen. Der Vorderlader war nach dem Vorfall
sichergestellt, der Schütze vorübergehend festgenommen worden. Er wurde
befragt und durfte dann wieder nach Hause gehen. Gegen den Mann wurde
dann wegen des Verdachts der fahrlässigen Körperverletzung mit einer
Schusswaffe ermittelt. Ich weiß gar nicht, wie der Fall ausgegangen ist.“
47
„Welche Art Waffen wird hier eigentlich benutzt?“, fragte Lefèvre.
„Alles nur historische Vorderlader. Und geschossen wird natürlich nur
mit Schießpulver und Mehl, damit es ordentlich qualmt. Passieren sollte dabei
eigentlich gar nichts.“
*
Am Stand des Kulturvereins war ordentlich Betrieb. Er stand in der Nähe der
kleinen Bühne, die auf dem Abschnitt des Dorfangers aufgestellt war, die der
Kirche gegenüber liegt.
Auf der Bühne lief ein buntes Programm ab. Am frühen Nachmittag
waren schon Schüler der hiesigen Oberschule mit einer Reihe französischer
Chansons aufgetreten. Zurzeit wurden von einer Berliner Schülergruppe gerade
einige Tänze aufgeführt.
Überall roch es nach leckeren Speisen. Besonders lang war die Schlange
am Crêpes-Stand. Man konnte sie als herzhafte oder als süße Version erhalten.
Gut umlagert war auch der Stand, an dem französischer Wein ausgeschenkt
wurde. Ein gutes deutsches Bier gab es auf der anderen Seite der Bühne, stellte
Lefèvre zufrieden fest. Er zog eine gut gekühlte ‚Gerstenkaltschale‘ einem Wein
in der Regel vor, und sei dieser auch noch so gut.
Die Veranstaltung war ein friedvoller Gegenpol zur lautstarken
Gefechtsdarstellung auf der anderen Seite des Ortes.
Es hatte sich bereits gerüchteweise verbreitet, dass es einen Zwischenfall
gegeben habe. Von Klausen und Lefèvre wollte man nun Einzelheiten wissen.
„Wir haben auch keine Ahnung“, sagte Klausen, „ich sah nur Dawid
Riedemann auf die Wiese rennen, zu jemandem, der dort lag. Mehr möchte ich
eigentlich nicht darüber spekulieren. Wir werden früh genug erfahren, was
passiert ist.“ Und zu Lefèvre gewandt: „Riedemann ist von Beruf Notarzt. Er
war wohl zufällig anwesend, weil er sich wie alle anderen das
Schlachtengetümmel ansehen wollte.“
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„Ich habe gerade mit Dawid telefoniert“, rief Thomas Schulze aus dem
Hintergrund, „er will nachher noch kurz vorbeikommen, mal sehen, was er zu
berichten hat.“
„Ich würde mal vermuten, da hat sich wieder einmal einer dämlich
angestellt bei der Bedienung der Gewehre“, meinte Regina Eisenhard, „mit den
Dingern muss man eben vorsichtig umgehen.“
„Soweit ich weiß, braucht man sogar eine amtliche Genehmigung für die
Benutzung der Vorderlader, da geh ich dann doch davon aus, dass eine gewisse
Schulung auch dazu gehört“, erwiderte Klausen.
„Es wird wohl heute noch nach den alten Vorschriften exerziert“, führte
er aus. „Auch für das Laden der Musketen gibt es präzise Anweisungen, jeder
Handgriff ist genauestens geregelt, vom Absetzen des Gewehrs genau mittig
vor dem Körper über das Einfüllen des Pulvers, dem Nachstopfen der Patrone
bis zur Handhabung des Ladestocks.“
Die Gespräche kreisten allgemein um den Zwischenfall, keiner wusste
Genaueres, dennoch konnte man die wildesten Vermutungen hören.
Nach einiger Zeit gesellte sich Dawid Riedemann dazu und stand
natürlich sofort im Mittelpunkt. Alle Anwesenden wollten endlich Einzelheiten
hören.
„Meine ‚Kunden‘ sind ja sonst eher Verkehrsopfer oder
Kreislaufgeschädigte. So etwas habe ich auch noch nicht gesehen. Der reinste
Meisterschuss – direkt ins Herz!“
Alle waren konsterniert und schauten recht blass in die Runde. Es
dauerte einige Zeit, bis Schulze schließlich fragte: „Und wer ist das Opfer?“
„Der Mann lag auf dem Bauch und steckte in der Uniform der
preußischen Landwehr“. Riedemanns umständliche Art der Erzählung machte
es für die Zuhörer besonders spannend. „Als ich ihn auf den Rücken drehte,
damit ich ihn untersuchen konnte, habe ich ihn erst erkannt. Es ist Schütter.“
„Friedrich von Schütter? Das ist ja ein Ding!“, entfuhr es Hans Lüttke, „da
kann man ja gleich weiter spekulieren!“, und zu Lefèvre gewandt: „Friedrich
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von Schütter ist Steuerberater hier im Ort. Er nimmt seit Jahren mit
Begeisterung an den Gefechtsdarstellungen teil. Immer auf preußischer Seite.“
Lefèvre hatte bisher sehr aufmerksam die Darbietungen auf der Bühne
verfolgt, aber gleichzeitig mit einem Ohr dem Gespräch zugehört. „Wie ist das
zu verstehen mit der Spekulation?“, wollte Lefèvre von seinem Freund wissen.
„Na, das musst du dir mal von Thomas erzählen lassen, er weiß in der
Sache bestens Bescheid, er war nämlich selbst einige Jahre Lokalpolitiker.“
Lefèvre wandte sich an Schulze. „Jetzt hat mich Hans neugierig gemacht.
Erzählen Sie doch mal, was es in der Sache zu spekulieren gibt.“
„In den letzten Jahren gab es bei uns in Großbeeren einen Streit um den
Bau einer Tankstelle. Die sollte nämlich auf einem Gelände errichtet werden,
dass am Rande eines Naturschutzgebietes liegt. Es gründete sich damals auch
sofort eine Bürgerinitiative, die den Bau verhindern wollte. Erst hieß es vom
Bürgermeister, der Bau könne nicht genehmigt werden und alles schien sich zu
beruhigen.
Nach einiger Zeit wurde auf dem Gelände dann aber doch plötzlich
gebaut, und auf Nachfrage kam heraus, dass sich die Naturschützer
wundersamer Weise hatten überzeugen lassen, dass die Tankstelle keinerlei
Bedrohung für die Natur darstelle. Die Bürgerinitiative wies den Vorwurf, der
Stimmungsumschwung könne etwas mit einer großzügigen Spende des
örtlichen Fuhrunternehmers Cibulski an den Naturschutzbund zu tun haben,
weit von sich.“
„Der Verdacht, Bürgermeister Adebar und Cibulski könnten da etwas
gemauschelt haben, hält sich bis heute. Aber letzten Endes konnte nie etwas
nachgewiesen werden. – Und nun steht die Tankstelle da, am Ortsrand, direkt
vor dem kleinen Wäldchen.“, ergänzte Klausen.
„Und da stellt sich eben die Frage, ob in diesem Zusammenhang jemand
mit Schütter noch eine Rechnung offen hatte. Er war es nämlich, der den
Verdacht als erster öffentlich äußerte und später auch die Presse informierte“,
meinte Lüttke.
„Aber deshalb bringt man doch keinen um, wir sind doch hier nicht auf
Sizilien! Sich mal zum Essen einladen lassen, das wird schon öfter mal
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vorkommen, aber dies hier ist doch eine ganz andere Nummer“, kommentierte
Paula Wussow, die bisher nur still zugehört hatte.
„Es wird mit Sicherheit polizeiliche Ermittlungen geben. Ich werde mich
dann bei meinen Kollegen diskret erkundigen, was die herausbekommen“,
sagte Schulze. „Und in der Bestechungssache werde ich bei der
Staatsanwaltschaft Neuruppin nach Einzelheiten fragen, die ist in Brandenburg
dafür zuständig.“
„Den Notarzt vom Rettungswagen kenne ich natürlich. Er hat mir
versprochen, mich über die Untersuchungen auf dem Laufenden zu halten“,
erklärte Riedemann.
„Ich werde in den nächsten Tagen die MERKWÜRDIGE ALLGEMEINE
ZEITUNG noch genauer lesen als sonst. Da wird bestimmt drüber berichtet“,
sagte Regina Eisenhard, „die MAZ-Reporter schreiben ja sonst sogar, wenn in
Dahlewitz ein Rad umfällt.“
Diese witzige Bemerkung entspannte die Situation und leichtes Gelächter
kam auf. „Jedenfalls wird es spannend, die weitere Entwicklung zu verfolgen.
Ich würde auch gern am Ball bleiben. Fühle mich schon fast wie ein
Großbeerener“, meinte Lefèvre.
„Das lass mal nicht die echten Großbeerener hören. So leicht wird hier
keiner eingemeindet. Das braucht auch bei den Zugezogenen seine Zeit.
Vielleicht würde es ja helfen, mal wieder die Luft aus den Gläsern zu lassen“,
meinte Lüttke.
Lefèvre hatte verstanden. „Ich geh dann mal zum Bierstand!“
Er war gerade losgezogen, als sich Hoffnung zur Runde gesellte. Er
steckte noch in seiner historischen französischen Uniform und wirkte etwas
verwirrt.
„Na, dich hat die Sache wohl ziemlich mitgenommen?“, begrüßte ihn
Schulze.
„Das kann man wohl sagen. Ich habe ja nicht zum ersten Mal
mitgemacht. Anfangs hat auch alles wie abgesprochen geklappt. Die Landwehr
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hat geschossen, wir haben geschossen, da drüben sind einige umgefallen und
ebenso bei uns. Ganz wie verabredet.
Mit einem Mal merkten die bei der Landwehr, dass der Schütter einfach
liegen blieb. Einige riefen ihm wohl zu, er solle nicht übertreiben, er könne sich
nun wieder erheben. Aber der blieb einfach so liegen.
Da haben auch wir mitbekommen, dass etwas nicht stimmt. Und dann
kam ja schon der Riedemann angerannt. Als der dem Schütter die Uniformjacke
aufriss und dann nur leise den Kopf schüttelte, war es plötzlich ganz still. Wir
haben natürlich sofort alle weiteren Aktionen unterlassen und sind zurück zu
unserem Sammelplatz. Keiner sagte ein Wort. - Es war doch vorher alles so
genau geübt worden, ich kann es einfach nicht fassen. Der arme Friedrich!“
Alle Einzelheiten gingen Hoffnung noch einmal durch den Kopf. Wie sich
alle nach und nach in ihrer Kompanie versammelt hatten, wie sie sich in die
Uniformen zwängten und danach ihre Waffen vorbereiteten. Ihm fiel wieder
ein, wie sauer er auf seine Frau war, dass sie ihm den Sohn überließ, um sich
wegen einer Heißhungerattacke in die Schlange am Bratwurststand
einzureihen. Und das ausgerechnet in dem Moment, wo er seinen Vorderlader
präparieren wollte.
Auch die junge Frau in dem hübsch anzusehenden Marketenderin-
Kostüm war vor seinem geistigen Auge nochmals präsent, der er neulich lange
hinterher geschaut hatte. Sie war aber auch wirklich eine Augenweide.
24. August
Ihm war, als hätte er die ganze Nacht kein Auge zugetan. Von Müdigkeit war
allerdings keine Spur, dafür war die Anspannung noch immer zu groß.
Er durchsuchte gerade seine Taschen in der Hoffnung, etwas Essbares zu
finden, als er leise Stimmen vernahm. Sofort verkroch er sich wieder so gut es
ging in seinem Behelfsbiwak. Ängstlich sah er sich nach seinem Pferd um. Es
stand zum Glück so weit weg, dass nichts auf sein Versteck deuten würde,
sollten die Näherkommenden das Pferd entdecken.
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Die Stimmen kamen immer dichter. Erleichtert stellte Villeneuve fest,
dass es sich um französische Soldaten handeln musste.
Er trat aus seinem Versteck, gleichzeitig rief er mit kontrolliert ruhiger
Stimme: „Ne tirez pas! Pas d’ennemi!“5
Wie groß war die Überraschung, als er die Näherkommenden als
Soldaten von Lefèvres Eskadron identifizierte! Die Begrüßung fiel herzlich aus,
gleichzeitig bemühten sich alle, so wenige Geräusche wie möglich zu erzeugen.
Es stellte sich heraus, dass der Trupp genau wie der Lieutenant die Nacht
im Wald verbracht hatte. Auch Villeneuves Männer hatten keine Chance
gesehen, in der allgemeinen Verwirrung zu den eigenen Leuten zurückzufinden.
„Was ist mit eurem Lieutenant?“, wollte Villeneuve wissen.
„Durch ein anderes, stürzendes Pferd ist sein Rappen zu Fall gekommen.
Ich sah nur noch, dass der Lieutenant unter das Pferd geriet. Dann musste ich
dem Feind weichen“, berichtete zögerlich ein junger Kavallerist.
Villeneuve hatte das selbst so ähnlich beobachtet, er befürchtete das
Schlimmste für seinen Kameraden, hütete sich jedoch, dessen Männern den
Mut zu nehmen.
„Lefèvre wird im Dunkeln bestimmt einen Weg aus dem Getümmel
gefunden haben. Sie schlagen sich jetzt vorsichtig Richtung Süden durch.
Bleiben Sie im Wald! So kommen Sie zwar langsam voran, gehen aber auch ein
geringeres Risiko ein, entdeckt zu werden. Ich werde später nachkommen und
vorher versuchen, einen Überblick über die Lage zu bekommen. Das geht am
unauffälligsten, wenn ich alleine bleibe.“
Die Männer rückten ab, wie es ihnen befohlen wurde. Einige Skepsis
hatte Villeneuve in den Gesichtern wahrnehmen können. Es wäre ihnen wohl
lieber gewesen, wenn der Lieutenant sie geführt hätte. Villeneuve vertraute
jedoch Lefèvres Leuten, die Älteren und Erfahreneren unter ihnen hielt er
durchaus für fähig, selbst die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Er wartete, bis die Männer im Wald verschwunden waren und er sie auch
nicht mehr hören konnte. Villeneuve wollte sicher sein, dass der kleine Trupp
5 „Nicht schießen! Kein Feind!“
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nicht verfolgt wurde. Schließlich ging er los. So schnell, wie er letzte Nacht
durch den Wald gejagt war, so vorsichtig und langsam, und vor allem zu Fuß,
ging er zurück zum Waldesrand, stets bemüht, in Deckung zu bleiben.
Was er dort sah, ließ ihn den Atem stocken. Hunderte Menschen lagen
auf der großen Wiese, die gestern noch als Schlachtfeld diente. Einige
humpelten langsam Richtung Dorf, andere lagen reglos neben toten Pferden,
von überall hörte er Gestöhne und leise Hilferufe. Dorfbewohner waren
gekommen und begannen, sich um die Verletzten zu kümmern und die Toten
zu begraben.
Auf der Windmühlenhöhe lagen rund um die Mühle etliche Pferde. Dort
oben hatten die Eskadrons von Lefèvre und von Goldacker gekämpft. Und dort
oben hatte er mit ansehen müssen, wie das Pferd seines Kameraden Lefèvre
stolperte und Lefèvre dadurch in hohem Bogen aus dem Sattel flog.
Villeneuve hatte sich in der Hektik, als jeder selbst sehen musste, wie er
den Freund vom Feind unterscheidet, nicht weiter um ihn kümmern können.
Wie es ihm wohl weiter ergangen war?
Was er vom Dorf sah, bestürzte ihn ebenso. Die meisten Häuser waren
wohl während der Kämpfe in Brand geschossen worden, er bemerkte kaum ein
unbeschädigtes Gehöft.
Villeneuve wagte sich nicht näher heran. In den französischen
Uniformen, die er sah, regte sich kein Leben mehr. Er gewann den Eindruck,
dass der Gegner, wenn auch unter unübersehbar schweren Verlusten, den Sieg
in dieser Schlacht davon getragen hatte.
War es der Anblick der vielen Verwundeten und Toten, war es der
fürchterliche Gestank, der vom Feld her bis zum Waldesrand waberte?
Villeneuve hatte während des Russlandfeldzugs bereits viel Elend
gesehen, hier aber schien ihm die Sinnlosigkeit der Auseinandersetzung
besonders deutlich. Weit weg von der Heimat sollten sie die Ehre ihres
Vaterlands verteidigen? Was war das eigentlich? Kann ein Land eine Ehre
haben?
Niemand hatte Frankreich angegriffen, so dass es sich hätte verteidigen
müssen. Im Gegenteil! Von Frankreich aus waren andere Länder mit Krieg
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überzogen worden. Hier, in Preußen wie vorher in Russland hinterließen sie
eine Schneise der Verwüstung.
Und das alles, um die Vorstellungen des kleinen großen Egomanen, der
sich 1804 selbst zum Kaiser gekrönt hatte, mit Gewalt durchzusetzen. Millionen
hatten ihn damals verehrt, weil man sich einen Aufbruch in eine neue Ära
versprach. Endlich sollte das Joch der Ausbeutung der einfachen Bevölkerung
durch den Adel abgeworfen werden. Alle sollten die gleichen Rechte haben.
Wie hatte es so schön geheißen: Liberté, Égalité, Fraternité - Freiheit,
Gleichheit, Brüderlichkeit!
Jetzt waren sie tatsächlich alle gleich - im Sterben und im Elend - Freund
wie Feind!
So düstere Gedanken waren Villeneuve eigentlich fremd. Erstaunlich,
was der Krieg aus einem Menschen machen kann, dachte er.
29. August
Johannes Strasen hatte bereits begonnen, sich an einem Snookertisch
einzuspielen, als Lefèvre den Billardsalon betrat. Heute war der große Tag, sie
wollten sich endlich beweisen, dass sie auch mit den kleineren Kugeln
zurechtkamen.
Johannes war ein früherer Kollege, zwei Jahre älter und deshalb schon
seit längerem in Pension. Lefèvre und er hatten sich schon während der
gemeinsamen Dienstzeit vorgenommen, gemeinsam Billard zu spielen, wenn
sie mal genug Zeit dafür haben würden. Und nun war es zur schönen
Gewohnheit geworden, sich einmal in der Woche, jeden Dienstagabend, im
Billardsalon zu treffen.
Bisher hatten sie immer Dreiband gespielt, aber durch die vielen
Fernsehübertragungen von Snookerturnieren, hatte es sie gereizt, es einmal
selbst in dieser Disziplin zu versuchen. Lefèvre konnte sich nicht mehr erinnern,
wann er jemals eine Fernsehübertragung vom Dreiband im Fernsehen gesehen
hatte. Es musste Jahrzehnte zurück liegen. Snooker war eben moderner.
55
„Na, Johannes, wie geht’s, wie steht’s? Wie kommst du klar mit den
kleinen Bällen?“, begrüßte ihn Lefèvre.
„Grüß dich, Karl-Heinz. Ich habe das Gefühl, ich treffe gar nichts. Es wird
wohl ein Weilchen dauern, bis ich mich umgestellt habe.“
„Wie ist es denn eigentlich in Kleinzerlang weitergegangen, habt ihr jetzt
einen Brunnen im Garten?“, wollte Lefèvre wissen.
Johannes und seine Frau Gertrud, genannt Trude, hatten vor Jahren ein
altes Haus in Kleinzerlang erworben. Es war damals ziemlich
heruntergekommen, was Johannes nicht störte, denn er war gelernter
Handwerker, bevor er Arbeitslehre auf Lehramt studierte.
„Hatte ich dir von unserem ‚Medizinmann‘ erzählt?“, fragte Strasen. Als
er Lefèvres erstauntes Gesicht bemerkte, erzählte er weiter. „Du hattest ja
mitbekommen, wie schwierig es war, die Wasserader im Garten zu treffen. Das
hatten wir überall herum erzählt und plötzlich meldete sich bei uns ein
Bekannter von Trude. Er meinte, dass er uns helfen könne.“
„Und das hat offensichtlich geklappt“, meinte Lefèvre.
„Ja, schon, aber der Clou ist die Art und Weise. Der Mann, Leukowski
heißt er, kam zu uns und packte allen Ernstes eine Wünschelrute aus.“
„Wie bitte, ich dachte, das gibt es nur im Film!“
„Was soll ich dir sagen, ich hatte noch gar nicht so recht begriffen, was
los war, da fing der Mann schon an, den Garten abzuschreiten, die
Wünschelrute vor sich haltend. Er ging in genau abgezirkelten Bahnen immer
auf und ab.“
„Wie sah die denn aus, die Wünschelrute?“, wollte Lefèvre wissen.
„Na, ich dachte immer, die Dinger wären aus Holz, wie so eine Art
Astgabel. Diese Wünschelrute war aber eher ein Kupferkabel, das an einem
Ende in zwei Teile verzweigte.“
„Und wie lange hat diese merkwürdige Prozedur gedauert?“
„Das ging schon eine ganze Weile, aber mit einem Mal stoppte
Leukowski, markierte die Stelle im Garten mit einem kleinen Stöckchen und
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machte dann weiter. Diesmal lief er quer zu den vorherigen Wegen. Das
dauerte wieder eine Weile, dann hielt er an, übrigens genau an der Stelle, die
er vorher markiert hatte und sagte auf eine Art und Weise, die keine Zweifel
zuließ: „Hier isset!“
„Das ist ja ein Ding. Und an der Stelle hast du wahrscheinlich angefangen
zu buddeln.“
„Genau, und in gut zwei Metern Tiefe kam das Wasser. Unglaublich,
oder?“
„Hätte mir die Geschichte ein anderer erzählt, wäre ich sicher, er wollte
mir einen Bären aufbinden. Wenn man Physik studiert hat, glaubt man solche
Sachen üblicherweise nicht.“
„Ich hatte bisher auch immer meine Zweifel, aber ich habe es mit
eigenen Augen gesehen.“
Während sie sich unterhielten, hatten die beiden sich abwechselnd an
den Snookerkugeln versucht, meist ohne großen Erfolg.
„So, jetzt reicht’s!“, sagte Strasen mit einem Mal. „Schuster bleib bei
deinen Leisten! Ich bin ja schon im Dreibandspielen kein Weltmeister, aber das
hier macht mir keinen Spaß.“
„Okay, mir geht es genauso. Lass uns am Tresen mal nach einem anderen
Tisch fragen. Vielleicht gibt es dann wenigstens noch ein kleines Erfolgserlebnis.
Ich denke, es kann auch an unseren Augen liegen, dass wir nicht so recht klar
kommen. Wir tragen beide eine Gleitsichtbrille, da passt die gebückte Haltung
beim Stoß überhaupt nicht, weil man immer durch den Fernsichtteil der Brille
schaut. Da kann ich mir ja gleich einen Blindenhund holen!“
„In den 90ern gab es mal einen Snooker-Profi, Dennis Taylor, der hatte
sich deshalb eine Spezialbrille anfertigen lassen. Sah recht merkwürdig aus, das
Gestell, hat aber wohl geholfen, soll allerdings damals 1900 DM gekostet
haben.“
„Na, da müsste ich ja wohl verrückt sein, wenn ich als Dilettant so viel
Geld dafür ausgeben sollte. Mister Taylor war eben Profi, für ihn war es der
Beruf.“
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Am Schalter erfuhren sie, dass heute leider alle großen Tische
ausgebucht waren, also beschlossen sie, sich wenigstens noch auf ein Getränk
zusammen zu setzen.
„Ich habe neulich etwas erlebt, das wirst du kaum glauben“, fing Lefèvre
an zu erzählen. Und dann begann er, von seinen Erlebnissen in Großbeeren zu
berichten. Strasen hörte aufmerksam zu.
„Hört sich an, als hättest du einen schlechten Krimi gesehen“, war
Strasens Kommentar, als Lüttke seine Erzählung beendet hatte. „Gab es da
nicht vor Jahren mal einen ‚Tatort‘, der auf so einer Veranstaltung spielte? Da
gab es dann auch einen Toten“.
„Das stimmt, aber es war ein Krimi aus der Sendereihe ‚110‘ von 2002. Es
war die zweite Folge mit dem Dorfpolizisten Krause.“
„Mit Krimis scheinst du dich auszukennen, ich bin beeindruckt. Jetzt hast
du eben selbst mal einen erlebt.“
„‘Tatort‘ schau ich immer, wenn ich es einrichten kann, auch wenn mir
die Richtung der letzten Folgen nicht mehr passt. Immer mehr Action statt
originelle Typen und die Aufklärung spannender Fälle. ‚110‘ habe ich sogar
schon zu DDR-Zeiten ab und an gesehen. Manche waren richtig gut gemacht,
man musste sich natürlich den DDR-typischen Schnickschnack wegdenken. Die
Handlungen denken sich Leute sonst mit viel Fantasie aus, aber was ich erlebt
habe, ist bitterer Ernst.“
„Darüber musst du mich auf dem Laufenden halten, vielleicht kannst du
mir in vierzehn Tagen schon mehr erzählen. Nächsten Dienstag kann ich nicht
spielen, da feiert meine Schwiegermutter Geburtstag, ihren 93., und in dem
Alter weiß man ja nie, ob es der letzte ist.“
„Das verstehe ich“, sagte Lefèvre zum Abschied. „Weißt du - das Beste an
unseren Treffen ist, dass wir nie ein Wort über Schule verlieren. Wenn ich an
die letzten Jahre zurückdenke, gab es in Gesprächen, egal mit wem, eigentlich
immer nur ein Thema: Schule.“
„Da kannst du einmal sehen, wie das bei den Lehrern so läuft. Ich kann
mir kaum einen anderen Beruf vorstellen, in dem du ständig deine Arbeit mit
dir herumträgst, vielleicht noch am ehesten bei den Ärzten.“
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„Mach’s gut, Johannes, und grüß mir die Trude, ich freue mich schon auf
übernächsten Dienstag“, verabschiedete sich Lefèvre von seinem Freund.
25. August
Weit war Villeneuve gestern nicht gekommen. Die schrecklichen Bilder in
Großbeeren hatten ihn stärker mitgenommen, als er gedacht hatte. Er hatte im
Wald, im Unterholz, lange gesessen und gegrübelt. Wenn es eine ungefährliche
Gelegenheit gäbe, sich abzusetzen, er wäre jetzt so weit.
Abends war er schließlich zu seinem Pferd zurückgegangen, das geduldig
gewartet hatte. Er schwang sich in den Sattel und ritt weiter westwärts.
Der Wald gab ihm nicht mehr lange Deckung, er sah von weitem ein
Gehöft. Sich in der Dämmerung näher heran zu wagen, hielt er für ein
unnötiges Risiko. Er zog sich einige hundert Meter in den Wald zurück und
begann, sich zum zweiten Mal ein provisorisches Nachtlager einzurichten.
Er hatte einige Zeit erstaunlich tief geschlafen. Der Körper verlangte nach
Erholung. Eben war er durch den fernen Ruf eines Hahns geweckt worden. Die
Sonne sorgte bereits für Licht, war jedoch noch unter dem Horizont verborgen.
Welche Ironie, dachte er, während der Schlacht sah man kaum 50 Meter
weit und nun kündigte sich ein herrlicher, friedlich erscheinender Sommertag
an.
Villeneuves Magen knurrte, dass er damit jeden Dorfhund verjagen
könnte. Er musste es wagen. Vielleicht konnte er bei den Häusern etwas
Essbares ergattern. Hinter den vordersten Bäumen verharrte er einen Moment,
um die Lage sichten zu können. Es war niemand zu sehen.
Er band sein Pferd an - wenn alles gut ginge, würde er es später
nachholen können. Es würde einfacher und vor allem geräuschloser sein, sich
den Häusern zu Fuß zu nähern.
Vorsichtig schlich er näher heran an das Gehöft. Er war vielleicht noch
zehn Schritte von der nahegelegensten Hütte entfernt, als sich plötzlich die Tür
öffnete und eine junge Frau heraustrat.
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Blitzschnell warf sich Villeneuve hinter einem Busch zu Boden. Er wagte
nicht, in Richtung Hütte zu schauen, doch er hörte Schritte, jemand kam näher.
Sie hatte ihn doch bemerkt. Er nahm seinem ganzen Mut zusammen, erhob
sich und rief halblaut: „Ne vous s‘effrayez pas, Mademoiselle!“6.
Im selben Moment fiel ihm ein, dass sie ihn wohl nicht verstehen würde
und er ergänzte schnell: „Kein Angst, Fräulein! Ich nicht kämpfen!“
Um seine Friedfertigkeit zu untermauern, warf er sein Gewehr in hohem
Bogen zur Seite und streckte beide Arme weit von sich. Gleichzeitig ging er
langsam auf die junge Frau zu. „Ich abe unger!“
Obwohl er leise gesprochen hatte, erschien in der Tür ein älterer Mann.
Die Mistgabel in seiner Hand zeigte bedrohlich in Richtung des Fremden. Mit
einem Blick übersah er die Situation und deutete dann auf Villeneuves Degen.
Der Lieutenant verstand. Ganz bedächtig löste er den Degen von seinem
Gürtel. Dabei vermied er rasche Bewegungen. Die beiden hätten zwar keine
Gefahr bedeutet, beide waren mehr oder weniger unbewaffnet, aber
Villeneuve spürte, dass er nur eine Chance hatte, an etwas Ess- und Trinkbares
zu kommen: Er musste deutlich machen, dass er mit dem Krieg und dem
Kämpfen abgeschlossen hatte.
Er warf den Degen zu seinem Gewehr in die Wiese. Der Mann winkte
ihm, näher zu kommen und zeigte dann auf die Tür. Sollte das tatsächlich eine
Einladung sein? Ohne zu zögern, betrat Villeneuve das Haus. Die beiden
schienen ungefährlich zu sein. In den Augen des Vaters sah er zwar Misstrauen,
aber keine Feindseligkeit. Das Mädchen wirkte neugierig, Villeneuve schätzte
sein Alter auf 18, 19 Jahre.
„Geh nach hinten!“, sagte der ältere Mann zu dem Mädchen. „Ich
versuche zu klären, was er von uns will. Komm erst wieder heraus, wenn ich
dich rufe.“
Sie kamen vom Eingang direkt in die Küche. Der Mann wies auf einen
kleinen Tisch, an dem zwei Stühle standen und nickte. Villeneuve setzte sich.
„Sie sprechen deutsch?“, fragte der Mann.
6 „Nicht erschrecken, Fräulein!“
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„Ich habe ein wenig Deutsch gelernt von einem Kameraden aus Saxon“,
erwiderte der Lieutenant.
„Da haben euch die Preußen aber wohl ordentlich einen übergebraten!“,
sagte der Mann lächelnd, „das hat sich euer Kaiser sicherlich anders
vorgestellt.“ Gleichzeitig öffnete er den kleinen Küchenschrank, nahm ein Stück
Brot heraus und legte es auf den Tisch, auf dem neben einem Messer schon ein
Stück Speck lag. Offensichtlich hatten die beiden Bewohner zu dieser frühen
Stunde schon gefrühstückt.
„Dorothea“, rief der Mann plötzlich nach hinten. Offensichtlich meinte er
die junge Frau, die sofort erschien. Hatte sie hinter der Tür gelauscht? „Hole
einen Krug frisches Wasser vom Brunnen. Ich glaube, unser Gast hat einen
ordentlichen Durst.“
Während Dorothea verschwand, deutete der Mann auf den Tisch und
sagte: „Greifen Sie zu. Viel können wir Ihnen nicht bieten, aber es wird über
den größten Durst und Hunger hinweg helfen.“
Villeneuve ließ sich das nicht zweimal sagen. Er griff das kleine Messer
und säbelte sich ein Stück vom Speck ab. Er bemerkte, dass ihn der Mann nicht
aus den Augen ließ.
„Wo ist Ihr Ross?“ Als er den fragende Blick des Franzosen sah,
wiederholte er: „Ihr Pferd! Sie werden doch wohl nicht zu Fuß unterwegs sein.“
Villeneuve erkannte, dass er einen vorsichtigen, aber keineswegs
dummen Menschen vor sich hatte.
„Es steht am Wald“, antwortete er.
„Dann sollten Sie es sofort holen, wenn Sie sich gestärkt haben. Es
streifen im Moment noch reichlich Soldaten beider Seiten durch die Gegend.
Sie wollen bestimmt weder mit dem einen Lager noch mit dem anderen zu tun
haben.
Die Preußen würden Sie günstigstenfalls mitnehmen, wenn sie sich
überhaupt die Mühe machen. Und Ihre Landsleute würden sich freuen, einen
Deserteur zurück zu holen.“
61
Da war es, das böse Wort. Ja, er war zum Deserteur geworden. Und
wenn er einen Moment darüber nachdachte, schien ihm das folgerichtig zu
sein. Er hatte einfach keine Lust mehr, seine Haut für die Ziele anderer
hinzuhalten. Dazu musste er jetzt stehen.
Das hieß allerdings nicht, dass er für die Entscheidung, nicht mehr zu
kämpfen, sein Leben geben wollte. Es hieß also, behutsam und mit Bedacht
vorzugehen. Vielleicht konnte ihm der alte Mann helfen.
„Kann ich einige Tage bleiben? Ich möchte warten, bis alles ruhig ist.“
Villeneuve war noch nie so froh, dass er bei einem so guten Deutschlehrer
gelernt hatte. „Ich werde nicht zur Last fallen. Vielleicht kann ich helfen, ich
verstehe eine Menge von Pferden“, fragte er vorsichtig.
„Wir werden sehen. Hol erst mal dein Pferd und dann leg dich in die
Scheune. Du siehst aus, als könntest du noch etwas Schlaf gut gebrauchen.“
Wilhelm Schmidt war urplötzlich zur vertrauteren Anrede übergegangen.
Villeneuve verstand nicht jedes Wort, aber doch so viel um zu wissen,
dass er erst einmal in Sicherheit war.
62
3. September
„Die Sache mit dem französischen Offizier hat mir doch keine Ruhe gelassen.“
Lefèvre war wieder als Gast bei der nächsten Vorstandssitzung des
Kulturvereins anwesend. Mit vielem hatte er gerechnet, vor allem war er
gespannt zu erfahren, ob es wegen des Toten auf dem Siegesfest Neuigkeiten
gäbe. Aber nun sprach ihn Klausen wieder auf den Namensvetter an. Sehr
merkwürdig.
„Unser Pfarrer, der Christof Franz, hat mich in die alten Kirchenbücher
schauen lassen. Und ... ?“, machte er es richtig spannend.
„Und ich bin tatsächlich fündig geworden. Dabei hat der Mann wirklich
sein bestes gegeben, seine Herkunft zu verschleiern.“
Lefèvre guckte entgeistert. Wer hatte jetzt was verschleiert?
Klausen interpretierte Lefèvres Gesichtsausdruck so, dass er einfach
weiter erzählen sollte. „Es gibt einen Eintrag vom Sommer 1814. Dabei geht es
um die Geburt eines Kindes. Als Vater steht ein gewisser Villeneuve
geschrieben, Jean-Jacques Villeneuve. Die Mutter wird mit Dorothea Schmidt
angegeben, aus Gütergotz. Beim Vater ist keine Herkunft eingetragen.“
„Und was hat das jetzt mit meinem Namen zu tun?“, fragte Lefèvre,
sichtlich irritiert.
„Warten Sie es ab, es geht ja noch weiter. Als ich im Kirchenbuch
weiterblätterte, entdeckte ich für das Jahr 1815 wieder den Namen Dorothea
Schmidt. Es war ein weiterer Taufeintrag. Aber diesmal stand dort als Vater der
Name Jean-Jacques Lefèbvre. Allerdings hinten mit ‚bvre‘ geschrieben. Soll das
Zufall sein?“
„Das klingt wirklich nicht nach einem Zufall. Da tauchen zwei Franzosen
auf und die haben beide zufällig denselben Vornamen? So wie Sie schmunzeln,
haben sie bestimmt eine Theorie dazu.“
„Stimmt genau. Ich habe mir nämlich Folgendes überlegt: Wenn hier im
Sommer 1814 ein Kind geboren wurde, dann muss man ja nur mal neun
Monate zurück rechnen und man landet im Herbst 1813. Und was war hier im
Herbst 1813 ...?“
63
„Hm, die Schlacht bei Großbeeren, schön und gut, aber was soll das mit
den beiden unterschiedlichen Namen?“
„Na, denken Sie doch mal daran, dass es vielleicht den einen oder
anderen Schlachtteilnehmer gab, der im letzten Moment vielleicht doch keine
Lust hatte, so früh fürs Vaterland zu sterben!“
„Sie denken an einen oder zwei Deserteure?“, langsam kapierte Lefèvre,
worauf Klausen hinaus wollte.“
„Nicht zwei Deserteure – nur einer war es. Und der musste natürlich
Angst vor Entdeckung haben. Für Deserteure hatte das Militär noch nie viel
Verständnis. Wobei das Wort Deserteur aus meiner Sicht auf diesen Fall gar
nicht zutrifft. Als Deserteure werden nämlich ursprünglich Soldaten bezeichnet,
die zum Feind überlaufen. Und das hatte Villeneuve nach meiner Theorie nicht
vor. Er hatte nur genug von der Abschlachterei, und die Bauerstochter wird
wohl ein zweites, wie ich finde, besonders gutes Argument gewesen sein.“
„Das mit den zwei Namen habe ich trotzdem immer noch nicht
begriffen.“
„Na, erinnern Sie sich mal bitte an das, was ich ihnen neulich erzählt
habe. Da gab es einen Leutnant Lefèvre, der an den Folgen seiner Verletzungen
gestorben war. Wenn das Villeneuve vielleicht wusste, dann konnte er doch zur
Tarnung gut dessen Namen annehmen. Nach einem Leutnant Lefèvre würde
schließlich niemand mehr suchen, der galt doch als Opfer.“
„Nicht schlecht, Herr Klausen, die Theorie gefällt mir. Da gibt es nur noch
die Tatsache, dass im Kirchenbuch nicht Lefèvre sondern Lefèbvre steht, mit
‚b‘.“
„Auch dafür habe ich natürlich eine Erklärung. Eigentlich sehe ich zwei
Möglichkeiten. Entweder Villeneuve wusste nicht genau, wie sich der Name
seines Offizierskollegen schrieb, oder – und das halte ich für wahrscheinlicher –
derjenige, der den Kirchenbucheintrag vornahm, wusste es eben nicht besser.
Das kam im Übrigen oft vor, dass Namen in den Kirchenbüchern falsch
geschrieben wurden. So sind wahrscheinlich die vielen Varianten bei
bestimmten Namen entstanden. Denken Sie z. B. an Schmidt, Schmitt, Schmied
oder Schmid. Alle Namensvarianten klingen irgendwie gleich oder zumindest
64
ähnlich. Und wenn man dann noch weiß, dass es damals nicht
selbstverständlich war, dass man das Schreiben gelernt hatte sondern die
meisten Menschen Analphabeten waren, dann kann man sich die Fehleinträge
gut erklären.
Ich kenne sogar einen Fall in der Bekanntschaft, da wurde vor gar nicht
langer Zeit in einer Geburtsurkunde ein Name falsch geschrieben, da hieß das
Kind plötzlich Hemuth statt Helmuth. Sie glauben gar nicht, was das für
Probleme gab, den Fehler später wieder zu korrigieren!“
„Während sie eben erzählten, fiel mir plötzlich ein, dass mein Großvater
mir mal etwas von einer Namensänderung erzählt hat. Wenn ich das noch
richtig erinnere, gab es immer wieder Schwierigkeiten mit der Schreib- und
Sprechweise des Namens Lefèbvre, weil die Deutschen mit dem ‚b‘ vor dem ‚v‘
nicht klar kamen. Daraufhin hat wohl ein Vorfahr seinen Namen amtlich ändern
lassen und seitdem heißen wir eben Lefèvre ohne ‚b‘.“
„Na, sehen Sie, Herr Lefèvre, dann passt das ja wie die Faust aufs Auge.“
„Ich muss das wirklich mal nachlesen. Mein Großvater hat sich als
Rentner ziemlich stark als Ahnenforscher engagiert. Da gibt es entsprechende
Aufzeichnungen. Na, das wäre ja ein Ding, wenn ich wirklich von diesem
Offizier abstammte!“
Inzwischen hatten sich alle Vorständler eingefunden und Schulze
drängelte, pünktlich mit der Sitzung zu beginnen und verwies dabei auf die
Tatsache, dass die Tagesordnung mal wieder übervoll sei.
„Wolfgang lässt sich entschuldigen, er kommt heute etwas später. Er hat
noch an der Uni zu tun. Da gibt es doch morgen einen Tag der offenen Tür und
er hat noch einige Experimente mit Maschinen vorzubereiten.
Ich möchte dann auch Dawid begrüßen, er hatte ja versprochen, uns von
den Untersuchungsergebnissen zu berichten. Deshalb möchte ich dir auch
gleich das Wort erteilen. Wir sind schließlich alle neugierig, was ermittelt
worden ist.“
„Guten Abend, allerseits. Die Todesursache war ziemlich leicht
festzustellen. So ein Schuss genau ins Herz ist eben in aller Regel tödlich. Was
aber einigermaßen erstaunen lässt, ist die Kugel, die doch eigentlich gar nicht
65
existieren dürfte, wenn doch angeblich alle Vorderlader nur mit Schwarzpulver
und Mehl gefüllt waren.“
„Nun mach’s mal nicht so spannend, Dawid. Was war denn das
Besondere an der Kugel?“, drängelte Lüttke.
„Die Kugel, die aus Schütters Brustkorb geholt wurde, ist eine moderne
Stahlkugel, offensichtlich aus bestem Edelstahl gefertigt. Die ist zwar nicht auf
einer Seite angespitzt, hat es aber dennoch geschafft, durch die Uniformjacke,
das Hemd, die Haut und den fünften Zwischenrippenmuskel zu dringen, um
dann genau in der linken Vorkammer zum Stillstand zu kommen. Dummerweise
war da nun ein Loch in der Herzwand und deshalb...“
„Ist gut, ist gut, Dawid“, unterbrach ihn Paula Wussow, „genauer müssen
wir es dann wohl doch nicht wissen.“
„Das passt gut zu den Ergebnissen, die ich von den ermittelnden
Kriminalbeamten erfahren habe“, meinte Schulze. „Die haben mit der Kugel
nicht viel anfangen können. Die meinen eben, eine Kugel ist eine Kugel - eine
Stahlkugel eben, was solle man darüber mehr sagen. Insgesamt machten mir
diese Kollegen nicht gerade den Eindruck, als hätten sie besondere Lust auf
komplizierte und langwierige Nachforschungen. Da hatte ich eher den Eindruck,
sie wollen die Untersuchung einstellen.
Ausschlaggebend ist obendrein, dass diese alten Dinger“, er meinte wohl
die Vorderlader, „einen extremen Streuwinkel haben, die Schussbahnen
dadurch nicht gut zu rekonstruieren sind und dann auch noch mehr als zwölf
Personen als mögliche Schützen in Frage kommen, die alle ungefähr in die
Richtung des von Schütter ‚gefeuert‘ haben. Da die alten Gewehre auch noch
keinen gezogenen Lauf hatten, somit also auch keine eindeutigen Spuren auf
der Oberfläche der Kugel hinterließen, kann niemand sagen, aus welchem
Gewehr die tödliche Kugel abgefeuert wurde.
Deshalb gelang es mir auch, die Kollegen zu überzeugen, die Kugel für ein
paar Tage auszuleihen. Ich dachte da an Wolfgang, der ist ja schließlich
Maschinenbauingenieur.
Von der Staatsanwaltschaft in Neuruppin habe ich übrigens erfahren,
dass die Ermittlungen wegen Bestechlichkeit hier im Landkreis nach Zahlung
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von Geldbußen schon vor einiger Zeit eingestellt wurden. Das muss wohl
stillschweigend passiert sein, denn in der Presse war davon nichts zu lesen.“
Er wandte sich an Hoffnung, der während Schulzes Vortrag den Raum
betreten hatte und noch einen Teil von dessen Ausführungen mitbekommen
hatte.
„Was ist los, Wolfgang, alles klar bei dir? Du siehst blass aus, der Tag an
der Uni war wohl sehr anstrengend?“
„Vor allem lang war er“, entgegnete Hoffnung und hoffte innerlich, dass
man ihm die Erklärung abnahm und seinen Schrecken nicht anmerkte.
„Ich werde die Kugel mitnehmen zur Bundesanstalt für
Materialforschung. Unser Institut hat ohnehin öfter mit der BAM zu tun. Die
sollen die Kugel mal untersuchen, vielleicht lässt sich auf diesem Weg noch
etwas herausfinden.“
„Kommst du eigentlich zu unserer nächsten Musikveranstaltung?“, wollte
Lüttke von Lefèvre wissen.
„Was gibt es denn?“ Lefèvre zeigte sich unwissend.
„Die ‚Alpha Jazz Band‘ spielt exzellenten Dixie. Den hast du doch früher
immer gern gehört!“
25. August
Er musste den ganzen Tag geschlafen haben. Villeneuve erinnerte sich, dass er
gleich nach der morgendlichen Stärkung sein Pferd geholt und in den Stall zu
den Pferden des Bauern gestellt hatte. Danach bereitete er sich sofort ein
Strohlager in der Scheune. Das diesbezügliche Angebot des Bauern hatte er
gern angenommen.
Nun saßen sie wieder am Tisch, diesmal zu dritt. Die junge Frau stand am
Herd und es roch himmlisch. Villeneuve bekam wieder Hunger.
„Nimm von dem Apfelsaft! Die Bäume hinter dem Haus tragen in diesem
Jahr besonders gut. Wir haben reichlich davon.“ Der Bauer stellte einen
gefüllten Krug und einige einfache Trinkgläser auf den Tisch.
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Villeneuves Lebensgeister waren wieder erwacht. Insgeheim lobte er sich
für seine Menschenkenntnis. Es war ja nicht ohne Risiko, den Fremden einfach
so zu vertrauen. Wie leicht hätten sie preußischen Soldaten einen Tipp geben
können. Im Laufe des Tages waren tatsächlich welche am Haus erschienen.
Villeneuve hatte aus seinem Versteck in der Scheune nicht genau verfolgen
können, was die beiden eigentlich vom Bauern wollten. Er war jedenfalls sehr
erleichtert gewesen, als sie wieder gingen.
„Was ist das, dort in dem Topf?“, wollte Villeneuve von der jungen Frau
wissen. „Es riecht exquisite!“
„Nur ein Eintopf aus Kartoffeln, Bohnen, Speck und Zwiebeln. Er macht
satt und gibt Kraft.“ Ihr Lächeln war bezaubernd. Für Villeneuve hätte es
wahrlich schlimmer kommen können – viel schlimmer.
Nach dem Essen saßen die drei noch zusammen. Villeneuve erzählte von
sich, seiner früheren Bewunderung für Napoleon, von den schlimmen
Erfahrungen in den Kämpfen in Russland und von der Wandlung seiner
Einstellung zum Krieg.
Wilhelm Schmidt hatte sich alles ohne Kommentar angehört. Während
der junge Mann sprach, wurde seine Miene immer düsterer. Dann sagte er:
„Nur Dorothea ist mir geblieben. Meine beiden Söhne sind tot. Sie ließen ihr
Leben für Preußen, bereits vor sieben Jahren, bei der Verteidigung Berlins.
Seitdem hatte ich oft Zeit, über die Sinnlosigkeit dieser
Auseinandersetzungen nachzudenken. Die beiden waren noch so jung, 22 und
20 Jahre alt. Sie hatten ihr ganzes Leben noch vor sich.
Warum können wir hier in unserer Heimat nicht einfach friedlich leben.
Wir haben genug zu kämpfen, um unser Überleben zu sichern. Viel Ertrag wirft
der Boden nicht ab. Es reicht gerade, um über die Runden zu kommen.
Wir können jede helfende Hand gut gebrauchen. Deshalb – wenn du
bleiben möchtest …Schlafen kannst du hinten in der Scheune. Du solltest dich
nur eine Weile nicht draußen zeigen. In einigen Wochen wird sich die
Aufregung wohl gelegt haben. Bis dahin wird mir eine Erklärung eingefallen
sein, die ich den neugierigen Nachbarn geben kann. Und Fremden wirst du
überhaupt nicht auffallen, früher lebten hier ja sogar zwei junge Männer.
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Kannst vorerst im Stall helfen. Und deine Pferdekenntnisse werden auch
hilfreich sein. Einen Schmied haben wir hier in Gütergotz schon seit einiger Zeit
nicht mehr.“
„Ist das der Name eures Dorfes?“, wollte Villeneuve wissen.
„Ja, der Name kommt aus dem Slawischen und heißt sinngemäß ‚Der
Morgen ist zu Gast‘.“ Das passt doch eigentlich ganz gut, wenn man bedenkt,
dass wir seit gestern Morgen einen Gast haben!“, lachte der Bauer. „Kannst
übrigens Wilhelm zu mir sagen.“
Dorothea saß die ganze Zeit schweigend und hörte nur zu. Dabei ließ sie
kaum einen Blick von dem jungen Franzosen. Sie schien ihn aufmerksam zu
mustern.
10. September
Die nächsten zwei Wochen vergingen mit etlichen Aktivitäten Lefèvres in
Sachen Großbeeren. Gabi war bereits sauer, dass er seine häuslichen Pflichten
neuerlich vernachlässigte, dabei hatte es sich doch gerade so gut eingespielt. Er
war für die Abfallentsorgung zuständig, bediente Geschirrspüler und
Waschmaschine und durch sein einmal wöchentliches Putzen konnten sie sich
die Kosten für eine Putzfrau sparen. Gabi wollte allerdings weiterhin für die
Lebensmitteleinkäufe sorgen, im Gegensatz zu ihrem Ehemann machte ihr das
Spaß und sie hatte dadurch auch in der Hand, was auf den Tisch kommt. Wenn
sie das Karl-Heinz überließe, gäbe es immer abwechselnd Pellkartoffeln mit
Weißkäse und Nudeln.
Mit Interesse hatte Lefèvre die Zeitungsartikel zum Bestechungsverdacht
gelesen, die ihm Regina Eisenhard per Email zugeschickt hatte. Die MAZ hatte
wirklich ausführlich von den Vorgängen berichtet. Insgesamt schienen mehrere
Lokalpolitiker involviert zu sein. Die Zusammenhänge wurden ihm trotzdem
nicht richtig klar, vielleicht fehlte ihm als Städter dazu einfach die richtige
Sichtweise.
Schulze ging er inzwischen ziemlich auf die Nerven, weil er ihn mehrmals
angerufen hatte, um die neueste Entwicklung zu erfragen. Er musste dabei
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feststellen, dass solche Ermittlungen in Brandenburg auch nicht schneller
abliefen als in Berlin.
*
Wolfgang Hoffnung hatte einige unruhige Tage hinter sich. Die Untersuchung
an der BAM hatte ergeben, dass es sich bei der Kugel um den Bestandteil eines
Kugellagers handelte, das von einer süddeutschen Firma produziert wurde und
in vielen Ländern Europas in Maschinen verbaut wurde.
Er wusste, dass auch in seinem Institut an der Uni mit solchen
Kugellagern gearbeitet wurde. Aber wie sollten die Kugeln auf das Siegesfest
gelangt sein? Er kam sich vor wie in einem schlechten Kriminalfilm, in dem das
Drehbuch einige logische Sprünge aufweist und die Handlung für den
Zuschauer dadurch nicht recht nachzuvollziehen ist.
*
Während der Jazz-Veranstaltung ergab sich wieder die inzwischen schon
gewohnte Gesprächsrunde am Tresen. Dem Kulturverein war es auch diesmal
gelungen, den Gemeindesaal gut zu füllen, die Stimmung im Saal kochte.
„Wie ihr wisst, haben die Ermittlungen zu den Vorfällen am 23. August
nur wenige neue Erkenntnisse gebracht. Die BAM hat festgestellt, dass es sich
um eine Kugel aus einem modernen Kugellager handelt, aber wie die auf das
Siegesfest gelangen und dort zu einer tödlichen Patrone werden konnte, ist
allen ein Mysterium.“
Manchmal konnte man Schulze seinen Beruf schon an der
Ausdrucksweise anmerken.
„Ich weiß nicht, wie ihr das seht. Ich finde, unsere Linie hat sich voll und
ganz bestätigt, unsere friedliche Veranstaltung fand ich sehr gelungen.“
„Auch wenn es nicht die wichtigste Rolle spielt, aber der ökonomische
Erfolg ist auch beträchtlich, wir haben mit unseren Verzehrständen einen guten
Umsatz gemacht“, meldete sich Paula Wussow zu Wort.
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„Vor allem kamen die Darbietungen der Chöre und der Tanzgruppen gut
an. Die Stimmung war friedvoll und harmonisch“, ergänzte Regina Eisenhard.
„Dann sollten wir dabei bleiben. Nicht mehr die Schlachtdarstellung
sollte im Mittelpunkt des Festes stehen, sondern die Freundschaft unter den an
der damaligen Schlacht beteiligten Völkern. Und vielleicht finden wir in diesem
Zusammenhang auch einen neuen Namen für das Fest. Ich finde jedenfalls den
Begriff ‚Siegesfest‘ als nicht mehr passend“, dozierte Klausen vielleicht etwas zu
pathetisch.
„Da kann ich dir nur beipflichten“, warf Lüttke ein, „wenigstens in Europa
haben wir doch den Militarismus inzwischen erfolgreich überwunden. Da
müssen wir nicht mehr zeigen, dass sich hier früher Franzosen, Sachsen,
Russen, Schweden, Westfalen und Preußen gegenseitig die Köpfe abgeschlagen
haben. Ein Problem könnte allenfalls sein, dass die Leute eben ‚det Jeballer‘
weiterhin gern sehen und hören wollen.
Ich habe übrigens bei meinem Nachbarn, Dieter Manthey und unserem
Revierförster, dem Stiewen Hanika gefragt, ob die beiden noch etwas über das
Geschehen auf dem Schlachtgelände erfahren haben, wir spielen doch
zusammen Fußball bei Schwarz-Gelb. Die kennen im Ort Hinz und Kunz, aber
die wussten auch nur das, oder nicht mal das, was wir wissen.“
*
Hoffnung konnte und wollte sich an der Gesprächsrunde nicht beteiligen, er
hatte angeboten, bei der Tontechnik zu helfen.
Er hatte wieder einige Nächte schlecht geschlafen. Das
Untersuchungsergebnis der BAM hatte ihm keine Ruhe gelassen. Die
Ingenieure an der BAM irrten sich eigentlich nie. Hoffnung wusste, mit welcher
Akribie dort gearbeitet wurde.
Er erinnerte sich, dass sie seinem Institut an der Uni Ende letzten Jahres
den Prototyp einer neuen Verpackungsmaschine entwickelten. Von einem
defekten Lager hatte er kurz vor Weihnachten einige solcher Kugeln für seinen
Sohn Caine mit nach Hause genommen. Er hatte mit ihm damals eine
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Murmelbahn gebaut und darin liefen die Stahlkugeln besonders gut, viel besser
als die üblichen Glasmurmeln.
Caine war ganz vernarrt in die Murmeln und spielte damit bei jeder
Gelegenheit, er trug wohl ständig einige davon in seiner Hosentasche mit sich
herum.
Irgendwo fehlte da aber noch etwas, wo war die Verbindung? Ihm war
immer noch nicht der Zusammenhang klar zwischen dem Geschehen auf dem
Siegesfest und den Kugeln aus dem Kugellager.
Hinter dem Mischpult sitzend, ließ er seinen Gedanken freien Lauf. Im
hinteren Teil des Saals hatten einige Zuschauer begonnen, zur Musik zu tanzen.
Direkt vor seiner Nase bewegte sich sehr geschmeidig eine junge, attraktive
Frau. Hoffnung wollte sie gerade bitten, zwei Meter zur Seite zu rücken, weil sie
ihm den Blick auf die Bühne versperrte, da glaubte er ihr Gesicht zu erkennen.
Das war doch die hübsche Marketenderin, die ihm neulich schon auf dem
Siegesfest aufgefallen war! Die Erkenntnis durchfuhr ihn wie ein Blitz. Das war
es! In dem Moment, als er der Frau hinterher sah und sich dadurch von seiner
Muskete ablenken ließ, musste Caine seine Stahlmurmeln hervorgekramt
haben!
Genau so musste es sich abgespielt haben! .... Er wagte es nicht, den
Gedanken zu Ende zu führen. Er bemühte sich, eine aufkommende
Panikattacke zu unterdrücken.
Wie sollte er mit diesem Wissen umgehen? Mit Caine darüber zu
sprechen verbot sich. Erstens hatte er die Kugel garantiert nicht mit der Absicht
im Lauf des Vorderladers platziert, jemandem zu schaden, sondern aus bloßem
Spieltrieb. Und zweitens konnte er vielleicht ein Trauma erleiden, wenn er
erfuhr, dass durch sein Handeln ein Mensch zu Tode gekommen war.
Hoffnung musste die Sache also für sich behalten. Er beschloss, erst
einmal abzuwarten, ob doch noch irgendwelche Ermittlungen die Wahrheit ans
Tageslicht bringen würden. Solange blieb die Frage offen, ob er sich jemandem
anvertrauen sollte. Ihm fiel ein Zitat von Voltaire ein: Alle Menschen sind klug –
die einen vorher, die anderen nachher.
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Für den Rest der Veranstaltung hatte Hoffnung große Mühe, sich auf die
Tontechnik zu konzentrieren.
24. Dezember
Mehr als ein Vierteljahr war vergangen seit den ereignisreichen Tagen im
August. Inzwischen hatte sich der Ausgang der großen Schlacht bei Leipzig
herumgesprochen. Es war wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis man den
selbst ernannten Kaiser der Franzosen zur Abdankung zwingen würde.
Die Situation war nur noch einmal kritisch geworden. Der Erbherr von
Schloss Gütergotz, der geheime Oberfinanz-, Kriegs- und Domainen-Rat August
Friedrich Grothe-Buckow war in Verdacht geraten, ein französischer Spion zu
sein. Er war plötzlich verschwunden und man munkelte, er sei gefangen
genommen worden. In dieser Zeit war Villeneuve zwei Wochen lang im Haus
geblieben.
Im Dorf hatte man Listen ausgehängt mit den Namen der Gefallenen.
Villeneuve hatte sie interessiert durchgesehen, es standen jedoch nur einige
französische Namen darauf. Unter der Rubrik ‚Französische Offiziere‘ fand er
unter den wenigen Eintragungen sofort den Namen Lefèvre. Also hatte es den
Kameraden doch erwischt. Der arme Kerl hätte auch ein besseres Schicksal
verdient, ging es ihm durch den Kopf.
Villeneuve hatte sich anfangs nur um die Tiere gekümmert. Mit den
Pferden hatte er keine Probleme, er hatte sie sogar neu beschlagen können,
denn er hatte vor dem Krieg oft beim Dorfschmied mitgearbeitet.
Den Umgang mit den Kühen lernte er von Dorothea. Sie hatten viel Spaß
dabei, besonders in der Anfangszeit, als sich die Kühe noch nicht an die
fremden Hände gewöhnt hatten. Nicht nur einmal war Villeneuve vom
Melkschemel gefallen, wenn er sich beim Melken mal wieder etwas
ungeschickt angestellt und ein Tier erschreckt hatte.
Der Bauer hatte im Gespräch mit den Nachbarn irgendwann scheinbar
zufällig die Bemerkung fallenlassen, dass nun ein Großneffe bei ihnen wohne,
weil dessen Familie bei den Kämpfen um Wietstock ums Leben gekommen sei.
Die Geschichte muss so glaubwürdig geklungen haben, dass keine weiteren
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Fragen gestellt wurden. Wilhelm Schmidt hatte noch besonders darauf
hingewiesen, dass der junge Mann wenig spreche, weil er über den Verlust der
Familie noch nicht hinweg sei.
Dorothea und der junge Franzose waren sich im Laufe der Zeit nicht nur
bei der Arbeit näher gekommen. Die Scheune wurde jedenfalls immer seltener
als Schlafplatz benutzt.
24. September
„Nach allem, was ich weiß, liegen keine neuen Erkenntnisse vor“, gab Hans
Lüttke bereitwillig Auskunft.“
Lefèvre hatte ihn angerufen, um sich nach dem Fortgang des
Geschehens zu erkundigen.
„Weder von Thomas noch von Dawid habe ich etwas Neues gehört. Mit
Wolfgang habe ich auch gesprochen. Die BAM hat lediglich bestätigt, dass es
sich um handelsübliche Kugeln aus Kugellagern handelt. Das bringt uns auch
nicht weiter. Es sieht im Moment so aus, als würde die ganze Sache im Sande
verlaufen. Das Geschehen wird sich wohl nie aufklären lassen.
Ich soll dich übrigens ganz herzlich von Dawid grüßen. Er meint, du
solltest mal in Großbeeren vorbeikommen, wenn das eigentliche, und vor allem
unblutige Hauptereignis des Jahres stattfindet. Einmal im Jahr tritt nämlich die
ortsansässige Bands „The Celtics“ in der Pfarrscheune auf. Die treffen vielleicht
nicht jeden Ton aber schwer verletzt wurde dabei noch nie jemand, wenn man
von temporären Hörschäden mal absieht. Wenn du die Band mal hören willst,
musst du allerdings schnell sein mit der Kartenbestellung. Die vier
Veranstaltungen sind immer blitzschnell ausverkauft. Dawid spielt da übrigens
die Ukulele.“
Durch die vielen Kontakte mit dem Kulturverein und den freundlichen
Leuten im Verein fühlte sich Lefèvre inzwischen fast wie ein Großbeerener. Er
hatte Gefallen gefunden an der Historie des Ortes. Er beschloss, dort
anzufragen, ob er in der Arbeitsgruppe ‚Historische Entwicklung und
Denkmalpflege‘ mitarbeiten dürfte, auch wenn er – noch – nicht
Vereinsmitglied war.
74
*
Lefèvre saß am Küchentisch und dachte nach. Dass er sozusagen familiär etwas
mit den damaligen Ereignissen in Großbeeren zu tun hatte, fand er nun doch
bestätigt. Angeregt durch die Erlebnisse, hatte er in den Aufzeichnungen des
Großvaters intensiver gelesen als jemals zuvor. Großvater war gründlich
vorgegangen und die fünf vergangenen Generationen waren gut dokumentiert.
Lefèvre war tatsächlich auf die entscheidenden Eintragungen gestoßen.
Unter dem Jahr 1823 fand sich im Standesamt Charlottenburg die
entscheidende Notiz. Villeneuve, jetzt Lefèbvre, hatte tatsächlich seine
Dorothea geheiratet. Da als Beruf ‚Schmied‘ angegeben war, hatte er wohl
seine Erfahrung im Umgang mit Pferden nutzen und sich eine neue Existenz
aufbauen können. Und im Jahr 1871 hatte sein Urgroßvater in Berlin die
Namensänderung von ‚Lefèbvre‘ zu ‚Lefèvre‘ beantragt.
Klar war Lefèvre jetzt auch, warum die wirkliche Herkunft in den
Familiengesprächen immer verschleiert wurde, wenn überhaupt über die
Vorfahren gesprochen wurde. Früher galt es eben nicht als besonders ehrbar,
von einem feigen Verräter, einem Deserteur eben, abzustammen. Einem der
durch seine negative Vorbildwirkung vielleicht andere ebenfalls zum
Desertieren ermutigt hat und somit vielleicht einen Anteil an der Niederlage
der französisch-sächsischen Truppen hatte.
Lefèvre sah das verständlicherweise ganz anders.
Wäre Villeneuve damals nicht kriegsüberdrüssig geworden und hätte es
damals nicht die fesche Bauerstochter gegeben, es würde ihn heute
zweifelsfrei nicht geben.
Also wollte Lefèvre dem Lieutenant Villeneuve für sein mutiges und
intelligentes Verhalten und für seine Fisimatenten doch von ganzem Herzen
dankbar sein.
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Zum Autor
Jürgen Mittag ist geborener (West-)Berliner und lebt seit Dezember 1996 in
Kleinbeeren. Er gehört zu den Gründungsmitgliedern des Kulturvereins
Großbeeren.
Seit November 1974 ist er im Berliner Schuldienst tätig.
Zu seinen Hobbies zählt das Dirigieren eines Nordberliner Kammerorchesters,
mit dem er bereits mehrmals in Großbeeren auftrat.