identität? individualisierung, intimität, interaktion !

20
Identität?Individualisierung, Intimität,Interaktion! Michael B. Buchholz Einleitung Was ich hier darstellen möchte, ist in zwei Abschnitte eingeteilt. In einem ersten Teil werde ich einige historische Momente aufblitzen lassen, in denen der Iden- titätsbegriff erscheint. Dabei will ich die These vertreten, dass dieser Begriff die Last historischer Traumabewältigung trägt, aber auf eine durch ihn selbst nicht aufschlüsselbare Weise. Der Identitätsbegriff ist vielmehr symptomatische Folge- erscheinung von schweren historischen Gewaltkrisen. Der Begriff verdeckt die historischenErinnerungsmöglichkeiten. IneinemzweitenTeilmöchteichdieseÜberlegungenaufdiepsychoanalytische Praxis übertragen. In diesem zweiten Teil lautet meine These, dass gute psycho- analytische Praxis darin besteht, zentrale menschliche Paradoxien, die sich in der Übertragungentfalten,handhabenzukönnen.DazuistderIdentitätsbegriffunnö- tig.UnsereProfessionhatdarüberhinausdieAufgabe,nichtnurzu»bewahren«, sondernzurWeiter-EntwicklungunseresFachesbeizutragen;derIdentitätsbegriff istdabei,weilerbeimImmergleichenbleibenmöchte,sogarhinderlich. ErsterTeil:DiehistorischeBelastetheitdesIdentitätskonzepts BeginnenmöchteichmiteinerhübschenGeschichte 1 .JeanPaulschriebzuBeginn des19.JahrhundertseinenRomanmitdemfrechenTitel Flegeljahre.Darintreten zweiAutorenauf,dieaneinemRomanarbeiten,derebendiesenTitelbekommen soll. Der Autor beobachtet die erfundenen Figuren dabei, wie sie seinen Roman schreiben.VollerKoketterienundhellemWitz.UnddazugibteseinedrolligeGe- schichteimechtenLeben. 1 Sehr viel mehr historische Details dazu etwa bei Bruyn (2010). 90

Upload: ipu-berlin

Post on 17-May-2023

0 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Identität? Individualisierung,Intimität, Interaktion!Michael B. Buchholz

Einleitung

Was ich hier darstellen möchte, ist in zwei Abschnitte eingeteilt. In einem erstenTeil werde ich einige historische Momente aufblitzen lassen, in denen der Iden-titätsbegriff erscheint. Dabei will ich die These vertreten, dass dieser Begriff dieLast historischer Traumabewältigung trägt, aber auf eine durch ihn selbst nichtaufschlüsselbare Weise. Der Identitätsbegriff ist vielmehr symptomatische Folge-erscheinung von schweren historischen Gewaltkrisen. Der Begriff verdeckt diehistorischen Erinnerungsmöglichkeiten.

In einemzweitenTeilmöchte ichdieseÜberlegungen auf die psychoanalytischePraxis übertragen. In diesem zweiten Teil lautet meine These, dass gute psycho-analytische Praxis darin besteht, zentrale menschliche Paradoxien, die sich in derÜbertragung entfalten, handhaben zu können.Dazu ist der Identitätsbegriff unnö-tig. Unsere Profession hat darüber hinaus die Aufgabe, nicht nur zu »bewahren«,sondern zur Weiter-Entwicklung unseres Faches beizutragen; der Identitätsbegriffist dabei, weil er beim Immergleichen bleiben möchte, sogar hinderlich.

ErsterTeil:DiehistorischeBelastetheitdes Identitätskonzepts

Beginnenmöchte ichmit einer hübschenGeschichte1. Jean Paul schrieb zu Beginndes 19. Jahrhunderts einen Roman mit dem frechen Titel Flegeljahre. Darin tretenzwei Autoren auf, die an einem Roman arbeiten, der eben diesen Titel bekommensoll. Der Autor beobachtet die erfundenen Figuren dabei, wie sie seinen Romanschreiben. Voller Koketterien und hellemWitz. Und dazu gibt es eine drollige Ge-schichte im echten Leben.

1 Sehr viel mehr historische Details dazu etwa bei Bruyn (2010).

90

Maschinengeschriebenen Text
Buchholz, M. B. (2015). Identität? Individualisierung, Intimität, Interaktion! In S. Walz-Pawlita (Ed.), Identitäten (pp. 90–109). Gießen: Psychosozial-Verlag.

Die Idee vom »Doppelroman« wollten zwei Studenten aus Halle abkupfern.Es waren Karl August Varnhagen und Wilhelm Neumann. Beide treiben sich inden Salons herum, parlieren und charmieren und haben im Jahr 1807, ein Jahrnach der Schlacht von Jena undAuerstädt, in Berlin ihr Projekt vomDoppelromanschon recht weit vorangetrieben, indem der eine ein Kapitel schrieb, das der anderefortsetzen musste, dann war wieder der Erste dran und so fort. Zehn Kapitelchenhaben sie fertig, als sie sich zu Fuß aufmachen, Friedrich de la Motte-Fouqué inseinem Schloss Nennhausen im Havelland zu besuchen (auf dieses NennhauserSchloss und seinen Garten wird übrigens dann mal ein Gedicht über einen gewis-sen Herrn Ribbeck und seine Birnen gemacht). Der Schriftsteller Fouqué liebte es,das Soldatenleben ritterlich zu romantisieren, Arno Schmidt hat ihm eine Biogra-fie gewidmet.

Fouqué nun wird für Varnhagen und Neumann interessant, weil auch er einenSalon hat, der von seiner nicht so recht eheglücklichen Frau unterhalten wird. Diebeiden Fußwanderer jedenfalls werden sehr herzig aufgenommen. Sie lesen aus ih-rem Buchprojekt vor, Fouqué ist Feuer und Flamme, der Direktor des örtlichenGymnasiums, Bernardi, ist auch anwesend und so verabredet man eine vierfacheAutorenschaft, wovon ein erster Teil 1808 tatsächlich erscheint. Natürlich wirdreichlich angespielt, unter anderem auf GoethesWilhelm Meister, und im Vierer-Roman tritt Wilhelm Meister persönlich auf, als könne diese literarische Figurvom einen Buch ins andere umsteigen. Literatur wird Leben, Leben ist Literatur.Goethe kommt, verschlüsselt, vor. Jean Paul, der Erfinder dermehrfachenAutoren-schaft von sich selbst schreibenden Romanen, wird erwähnt und ihmwiderfährt esnun in diesem Roman, dass er all die Wirrnisse und seltsamen Schleifen zwischenden verschiedenen Realitätsebenen nicht mehr durchschaut, sich unter Bergen vonangehäuftenMetaphern und anderen Abschweifungen vollkommen selbst verliert.Identitätsverlust total!

Das also ist der psychopathologische Ernstfall. Eine ernste Identitätskrise. Dasucht einer händeringend sich selbst, aber wie und wo? Die doppeldeutige Fra-ge lautet im Roman: Wo nur könnte er sich verlegt haben? An welchem Ort, inwelchem Verlag? So verspielt formulieren diese Autoren. Jean Paul macht in den»Flegeljahren« klar, dass unsere so ernst genommene Wendung von der »Suchenach der Identität« Metapher ist. Nur – wofür? In jedem Fall gilt: Wenn man et-was verloren hat, muss man es – suchen.

Die uns täglich plagende Suche nach unserer Identität wird hier wörtlich ge-nommen und literarisch, nicht therapeutisch behandelt: Er setzt einen Steckbriefauf, zur Suche nach sich selbst, er verfolgt sich als sein eigener Detektiv. Nicht nurAutoren, auch Figuren vervielfachen sich. Als Detektiv muss er sich, wenn er sichfindet, verhaften. Jetzt ahnt man nicht nur einen Zusammenhang mit den Krimisdes Fernsehprogramms, sondern weiß auch, was mit der paranoid-schizoiden Posi-tion gemeint ist.Wennman sich verfolgt fühlt, muss es auch einen Verfolger geben

Identität? Individualisierung, Intimität, Interaktion!

91

und auch der ist man selbst. Einige Analytiker (Spence, 1993; Carveth, 1993) undLiteraturwissenschaftler (Thomé, 1998; van het Reve, 1994) werden uns späterzeigen, dass SherlockHolmes literarische Leitfigur für Freud ist, der DorasHantie-ren mit ihremHandtäschchen ebenso präzise beobachtet und seine Schlüsse zieht,wie es Dr.Watson von seinemMeister berichtet hat; Freud wie Holmes, so sieht esSpence, haben eine sehr ähnliche Art zu beobachten. Aber sie unterscheiden sichauch. Freud, der Detektiv, vermittelt in der Traumdeutung (Freud, 1900a) nichtnur die Erkenntnis von Symbolik, Verschiebung und Mechanismen der Traumar-beit, sondern er ermittelt gegen sich selbst.Der Initialtraumder psychoanalytischenTraumdeutung, der Traum von Irmas Injektion, ist, wie wir mittlerweile gut wissen(Bonomi, 2013), eine Selbstrechtfertigung nicht nur wegen seiner Verstrickung ineine dilettantische chirurgische Fehlleistung seines Freundes Wilhelm Fliess, son-dern auch wegen Freuds Kenntnis von weiblichen Genitalverstümmelungen als inWien breit diskutiertes und angewandtes Therapeutikum. Freud analysiert diesenTraum nicht nur in der doppelten erkenntnistheoretischen Funktion von Subjektund Objekt, sondern auch in der doppelten juridischen Rolle von Ankläger undAngeklagtem. Das führt in seltsame Schleifen und Paradoxien. In der ersten sei-ner Vorlesungen (1916–1917a) verlangt er von den Zuhörern gleich zu Anfang,ihre bisherigen akademischen Vorbereitungen aufzugeben, in der Traumdeutung(1900a, S. 119) bittet er den Leser, sich seine, Freuds, Interessen zu eigen zu ma-chen, und man fragt sich, wie da eigentlich ein Leser dazu gebracht werden kann,die eigenen Träume zu deuten (Buchholz, 2006)?Wer wie in Zweigs SchachnovelleSchach gegen sich selbst spielt, muss sich in die Paradoxien der Selbstrückbezüg-lichkeit verstricken. ErnstCassirer (1927) hattewegen derUnauflöslichkeit solcherSelbstverstrickungen und seltsamer Schleifen formuliert, den westlichen Religio-nen gehe es um Erlösung des Ich, den östlichen Religionen um Erlösung vom Ich.Aus diesen Verstrickungen gibt es, wie wir jetzt sehen, auch noch andere Auswege:einen literarisch-humorvollen wie bei Jean Paul und einen theoretisch anspruchs-vollen wie bei Freud. Der Ausweg ist bei Freud die Beobachtung und Ausarbeitungder Verdrängung – das ist jenes begriffliche Schwert, welches das Schlangenhauptder Selbstrückbezüglichkeit entkräftet; Freud erstarrt nicht vor Medusa, sondernnutzt die Reflexion des Spiegels. Mit dem Begriff der Verdrängung stellt sich dieepistemische Ordnung eines Erkennenden und eines Erkannten wieder her.

Ich füge diese Bemerkung über die Paradoxien hier ein, weil ich im zweitenTeil etwas ausführlicher darauf zurückkommen möchte, jetzt möchte ich weiterehistorische, erstaunliche Parallelen zwischen der Zeit Jean Pauls und der Grün-dungsgeschichte der Psychoanalyse kurz nennen.

Noch mehr lässt sich aus dieser Zeit der gedoppelten und verlorenen Roma-nidentitäten berichten. Es gab bereits eine von Julius Eduard Hitzig gegründete»Mittwochsgesellschaft«, an der E.T.A. Hoffmann und seine Serapionsbrüderteilnahmen. Die Diskussionen, aber auch der Tabakverbrauch, sollen so enorm

Michael B. Buchholz

92

gewesen sein wie später bei der von Freud 1902 gegründeten Wiener Mittwochs-gesellschaft. Und weiter, mitten in unser Thema hineinführend: Der Begriff desUrselbst war von einem Mann erfunden worden, mit dem wir es nicht mehrin Verbindung bringen würden. Der Turnvater Jahn (1810, S. 419ff.) wollte soundeutsche Begriffe wie »Original« durch das »Ur-Selbst« eindeutschen. DerBegriff »Selbst« bezeichnete nicht etwas Psychologisches, sondern diente zur Un-terscheidung von einem Feind.

Angewandt auf das Deutschtum wurde dieser Vorgang nun psychologisiertund existenzialisiert. Deutschtum wurde als inneres und zugleich kollektives, nurden Deutschen eigenes Wesen gedacht, das die Deutschen über die verschiedenenKleinstaaten hinweg verband. 1916, in der Mitte des ErstenWeltkrieges, erscheintvon Floerke dazu ein verherrlichendes Buch:Deutsches Wesen. 1937 erscheint voneinemDetlef Holz ein Buch,DeutscheMenschen, ein Briefromanmit dem auf demCover angegebenen Motto: »Von Ehre ohne Ruhm, von Größe ohne Glanz, vonWürde ohne Sold«. Solche Sentenzen offenbarten eine Haltung desWiderspruchder Deutschtümelei gegenüber; Detlef Holz war das Pseudonym vonWalter Ben-jamin, der so das Buch aus der Schweiz an der Zensur vorbei nach Deutschland zuschmuggeln hoffte, weil er ein Panorama bürgerlicher Welt und ziviler Tugendendes Humanen zwischen 1783 und 1883 vergegenwärtigte, das dem NS-Terror zu-tiefst widersprach. Die Identitätsformel von den »Deutschen Menschen« dienteBso Fenjamin bereits als Tarnung (Klapdor, 2007).

Zurück zum Pathos des Wesens fällt uns nun auf: Wenn’s denn inneres Wesenwar, warum dann pädagogisch wirken? Warum sich angestrengt darauf berufen?Warum war es nötig, dazu zu ermahnen, wenn Leute »Original« sagten, dass sie»Ur-Selbst« hätten sagen sollen? IhrWesen hätte ihnen doch von allein eingebenmüssen, dass sie die richtigen, die deutschenWorte sprechen. Dieser Widerspruchwurde natürlich bald bemerkt. Er ist eine unbewältigte Erfahrung der Zeit nachden Kriegen zur Befreiung von der napoleonischen Fremdherrschaft.

Noch Freud (1919a) formuliert auf dem Budapester Kongress von 1918 dasZiel der Kur mit den Worten, »der Kranke soll nicht zur Ähnlichkeit mit uns,sondern zur Befreiung und Vollendung seines eigenen Wesens erzogen werden«(ebd., S. 190). Das Wörtchen vom erziehen will freilich nicht so recht zu »Be-freiung« und auch nicht zum »eigenenWesen« passen. Diese Paradoxie ist nochnicht entschärft.

Nun, es ist wirklich kein Wunder, wenn William James 1890 (S. 330) formu-lierte, hier handele es sich um, wie er damals sagte, »the most puzzling puzzlewith which psychology has to deal«. Wie recht er hatte, zeigt sich, wenn man dieZahl der Publikationen zu Selbst und Identität auflistet. In den knapp 30 Jahrenzwischen 1950 und 1979 wurden lediglich 7.759Dissertationen dazu geschrieben,zwischen 1990 und 2006 waren jedoch bereits 20.190 Arbeiten erschienen. Diegleichen Zahlen für das Thema der Identität sind 571 Arbeiten zwischen 1950

Identität? Individualisierung, Intimität, Interaktion!

93

und 1979, 3802 Arbeiten von 1990 bis 2006. In der Hälfte des jeweiligen Zeitrau-mes haben sich die Arbeiten mehr als verdreifacht (Owens, 2006). Und man kannnoch eine Untersuchung von Moser mit biografischen Interviews anführen (Mo-ser, 2000), die bei befragten Studenten 3.899 metaphorische Sprechweisen überdas Selbst hat ermitteln können. Gibt es Gründe für die Konjunktur des Begriffs?

Zur Historie des Identitätsbegriffs

Der Philosoph Hans Blumenberg beobachtet in seinem Buch über Lebenszeit undWeltzeit (1986), wie ein sich an den Ersten Weltkrieg Erinnernder feststellt, manhabe danach leben müssen, als ob »nichts mehr selbstverständlich wäre, und werSelbstverständliches verloren habe, sei dazu verurteilt, sein Leben zu improvisie-ren«. Leicht kann man diese Erfahrung verallgemeinern; der Verlust des Selbstver-ständlichen ist Modernisierungserfahrung schlechthin. Blumenberg (1986, S. 23)formuliert: »Erst im Erstaunen, daß es nicht mehr so ist, zeigt sich an, wie es gewe-sen war, ohne ›Befund‹ gewesen zu sein.« Solange wir selbstverständlich in einerWelt leben, ist sie uns kein»Befund«, sondern»Lebenswelt«; erstwennwir aus ihrherauskatapultiert wurden, blicken wir zurück und erheben einen »Befund«, wiediese Welt war. Der Mensch vor der Katastrophe des zweiten 30-jährigen Kriegesauf deutschem Boden war ein anderer als der danach. Ein Auschwitz-Überlebenderteilt amEnde eines erschütternden Interviews dem Interviewer seine Botschaftmit:

»In Auschwitz und in anderen Vernichtungslagern sind die Illusionen, die die west-liche Zivilisation in sich barg, zerbrochen. Alles, was bis dahin menschlich, edel undgerecht erschien, verschwand in diesemAbgrund desNichts. Auschwitz steht für denDurchbruch dessen, was es nicht geben darf. Es war der Ort, an dem dieMenschlich-keit keinen Sinn mehr machte« (zitiert nach Poppe, 2014, S. 32).

Manche datieren den Beginn dieses katastrophalen Verlustes der Menschlichkeitfrüher. In seinem RomanMiddlesex, der sich unter anderem mit Beeinflussungenund Formungen menschlicher Körper durch die Medizin befasst, formuliert Eu-genides (2003) geradezu melancholisch:

»Historische Tatsache: 1913 hörten die Menschen auf, Menschen zu sein. Es wardas Jahr, in dem Henry Ford seine Autos auf Laufrollen bauen ließ und die Arbeitersich der Geschwindigkeit des Fließbands anpassen mußten …Aber 1922 war es nochetwas Neues, eine Maschine zu sein« (Eugenides, 2003, S. 139).

Markieren lassen sich so die Zeitgrenzen des Erfahrungsraums, in dem der Begriffder Identität als »kollektive Identität« eine »unheimliche Konjunktur« erfährt,

Michael B. Buchholz

94

wie der Historiker Lutz Niethammer (2000) formuliert. Identität ist raffiniertesSynonym für »Zugehörigkeit«. Man beginnt in dieser Zeit, sich national, rassischoder religiös zuzuordnen, und verortet äußere Zugehörigkeit zugleich als Realisie-rung eines inneren Kerns. Im genannten Buch über Deutsches Wesen im Spiegelder Zeiten (Floerke, 1916) taucht der Begriff der kollektiven Identität als Abgren-zungsbegriff auf. Noch auf den Vorkriegsmärkten in Galizien, von den russischenDörfern bis nach Pommern oder in den Gegenden um Berlin, Prag oder Brünn,hatten die Viehhändler inwenigstens fünf Sprachen geradebrecht, um ihrGeschäftbetreiben zu können. Man wusste, wohin man gehörte, aber man brauchte keine»Identität« zur Bestimmung seines »sozialen Ortes« (Bernfeld, 1929).

Es war ein buntes Durcheinander der sozialen Kategorien der Zugehörigkeit,so wie es heute auch wieder eines ist und ich zitiere aus Wolfgang Herrndorfs Ro-man Tschick eine Stelle, die zeigt, wie zwei intelligente 14-Jährige mit den sozialenKategorien, nicht mit ihren Identitäten, spielen (Herrndorf, 2012, S. 98f.). ZweiJungen, einer davon der neu in die Klasse gekommene Russe, Tschick genannt, dis-kutieren über Tschicks Identität:

»Was bist du denn jetzt eigentlich? Russe? OderWalacheier oder was?«»Deutscher. Ich hab’n Pass.«»Aber wo du herkommst.«»Aus Rostow. Das ist Russland. Aber die Familie ist von überall.Wolgadeutsche.

Volksdeutsche. Und Banater Schwaben,Walachen, jüdische Zigeuner –«»Was?«»Was, was?«»Jüdische Zigeuner?«»Ja, Mann. Und Schwaben undWalachen –«»Gibt’s nicht.«»Was gibt’s nicht?«»Jüdische Zigeuner. Du erzählst einen Scheiß. Du erzählst die ganze Zeit

Scheiß.«»Überhaupt nicht.«»Jüdische Zigeuner, das ist wie englische Franzosen! Das gibt’s nicht.«»Natürlich gibt’s keine englischen Franzosen«, sagte Tschick. »Aber es gibt jü-

dische Franzosen. Und es gibt auch jüdische Zigeuner.«»Zigeunerjuden.«»Genau. Und die haben so’n Dings auf dem Kopf und fahren in Russland rum

und verkaufen Teppiche. Kennt man doch, die mit dem Dings auf dem Kopf. Kippe.Kippe auf dem Kopf.«

»Kippe am Arsch. Ich glaub keinWort.«»Kennst du nicht diesen Film mit Georges Aznavour?«Tschick wollte es mir jetzt wirklich beweisen.

Identität? Individualisierung, Intimität, Interaktion!

95

»Film ist Film«, bügelte ich ihn ab. »Im richtigen Leben kannst du nur entwe-der Jude sein oder Zigeuner.«

»Aber Zigeuner ist keine Religion, Mann. Jude ist Religion. Zigeuner ist einerohneWohnung.«

»Die ohneWohnung sind zufällig Berber.«»Berber sind Teppiche«, sagte Tschick.

Wir sehen, hier werden soziale Kategorien intelligent ironisiert und zugleich dieVorgänge der Beschreibung von Zugehörigkeiten transparent gemacht. Das hatteeinen sehr ernsten historischen Hintergrund. Der Historiker Leonhardt (2014,Pos. 18186ff.) schreibt:

»Auf Kreta und in Makedonien gab es Muslime, die nur Griechisch sprachen.Umgekehrt beherrschten viele anatolische Christen nur Türkisch. In einigen nord-griechischen Gebieten waren Bauern im 19. Jahrhundert unter Zwang zum Islamkonvertiert, aber sie begingenweiterhin christliche Feiertage, und inThessaloniki gabesmit denDönmeeine zumIslamkonvertierte Sekte, die jüdischeRitenpraktizierte.«

Als ein solches Durcheinander der Kategorien dann in den Jahren vor dem ErstenWeltkrieg als Chaos bezeichnet wurde und national gesinnte Kreise mittels derErfindung von kollektiven Identitäten, die fast immer an Sprachen festgemachtwurden, anfingen Ordnungen zu organisieren, die es vorher nicht gab, wurdeein mächtiges Gewaltpotenzial entbunden. Die Idee, solche Ordnungen wirklichwerden zu lassen, kostete viele Menschen das Leben. Man muss die Verhältnissezuvor nicht idyllisieren und soll die zaristischen Pogrome nicht vergessen. Natür-lich war es unklug gewesen, wenn Juden sich zu Ostern oder am Weihnachtstagauf der Straße zeigten. Aber irgendwie war man im Großen und Ganzen mitein-ander ausgekommen. Plötzlich aber zählte es, ob man Jude oder Deutscher war,Christ oder Moslem, Ukrainer, Deutscher, Galizier oder woher man sonst stamm-te. Ein Instrument solcher Ordnungsschaffung, das »Ethnic Engineering«, war1923 im Vertrag von Lausanne zu einem völkerrechtlich anerkannten Mittel fürUmsiedlungen geworden und unter Bezug darauf begann die als »Bevölkerungs-austausch« sprachlich verharmloste Mordaktion zwischen Griechenland und derTürkeimit demZiel, einen»ethnisch homogenen«Staat zu schaffen. ZweieinhalbMillionenGriechenwurden aus derTürkei, 400.000Türken ausNordgriechenlandvertrieben, das praktisch entvölkert wurde. Im Namen der »Identität« wurdenmultiethnische Regionen entmischt. Die Toten sind bis heute ohne Namen. 1950,so fasste es ein anderer Historiker zusammen (Ferguson, 2006), war von einem ur-sprünglichmultiethnischenOsteuropa nichtmehr viel übrig außer einer verstörtenNostalgie (Schwartz, 2013).

Meine These aus diesen historischen Erfahrungen lautet, dass der Begriff der

Michael B. Buchholz

96

Identität eine Last aus historischen Gewalt-Traumata trägt. Jean Paul wollte nochliterarisch damit spielen, verliert sich, verliert seine Identität 1807 just in der Zeitder napoleonischen Eroberungen, unter denen die Zeitgenossen so schwer gelittenhaben. Der Turnvater Jahn reagiert auf die siegreiche Vertreibung Napoleons ausden deutschen Landen 1812/13 und etabliert mit Wesensbegriffen eine national-konservative Wendung. William James reagiert auf die schweren Gewalterfahrun-gen des amerikanischen Bürgerkriegs, in dessen Verlauf sein Bruder Henry schwerverletzt wurde.Wo identitätskonforme Reinigungsaktionen durchgeführt wurden,ging der 1918 beendete Krieg bis 1925 weiter. Die Konjunktur der Publikatio-nen nach demZweitenWeltkrieg zeigt uns den gleichen Zusammenhang. IdentitätwirdThema,wenn sie in eineKrise gerät, nach historischerGewalt undNiederlage.Aber der Begriff selbst schließt diesen Zusammenhang nicht auf, sondern verdecktihn. Er fingiert eine Ordnung, die es ohnehin nicht gab. Und deren Restaurationhat dann das Potenzial, neue Gewalten zu entbinden.

Man kann mit Niethammer (2000) wenigstens drei Verwendungsweisen desBegriffs einer Identität unterscheiden:a) in politischen Zusammenhängen als Argumentationsfigur der sozialen Ho-

mogenisierung – dann sprechen manche von religiöser, rassischer oder na-tionaler Identität und versuchen damit, Zugehörigkeiten zu naturalisieren.Das lässt leicht in rechtskonservative Diskurse hinübergleiten.

b) Identität dient der Konstruktion kultureller Differenz – dann bezeichnetkollektive Identität, etwa bei Maurice Halbwachs, ein Gefühl, das aus Be-gegnungen mit anderen ethnischen Gruppen entsteht und akzentuiert dieKontinuität der eigenen Gruppe. Wir würden heute von der Fremdheitser-fahrung sprechen.

c) Eine dritte Verwendung bedient sich des Identitätsbegriffs als Instrumentder Kritik der Massenzivilisation und soll dabei die Angst vor Auflösungder eigenen Zivilisation thematisieren, indemwenigstens die eigene Identitätin kosmischer Universalität bewahrt wird. Diese letztere Verwendung findetauch heute noch leicht Anschluss an manche esoterischen Bedeutungsge-bungen. Wir verstehen besser, warum Freud den Identitätsbegriff immersorgfältig gemieden hatte.

Psychologische Umbuchung

Die Abstammung des Identitätsbegriff aus der Politik des Kollektiven, aus dergewaltsam ordnenden Homogenisierung, Verteidigung kultureller Differenz undZivilisationskritik ist bei der Umbuchung in psychologischeVerwendungen unsicht-bar geworden. Es ist gewiss kein Zufall, dass Eriksons Buch Childhood and Society1950 erschien, worin die neue, nun psychologische Konjunktur des Identitätsbe-

Identität? Individualisierung, Intimität, Interaktion!

97

griffs ihren Anfang nahm. Es ist die Zeit, in der emigrierte Sozialwissenschaftlerwie Solomon Ash oder Kurt Lewin in der Sozialpsychologie ihre Studien zu derArt beginnen, wie soziale Einflüsse richtige individuelleWahrnehmungen undEin-stellungen gruppenkonform verzerren können – alle bewegte die Frage, wie dieKatastrophe möglich war. Hieraus entstehen dann Filme wie Let’s spoil the Partyvon Roman Polanski. Der Regisseur heuert 1957 Hooligans an, die eine Party stö-ren und filmt das Geschehen, das gewaltsam so sehr aus dem Ruder läuft, dass ervon den Autoritäten der Filmschule, an der er damals studierte, verwarnt wurde.Wir wissen, wie sehr er von solchen Erfahrungen als Kind und Jugendlicher, dessenMutter in Auschwitz ermordet wurde, traumatisiert war (Mahler-Bungers, 2010;Stroczan&Bayer, 2004).Das gleicheThemawird nicht nur filmisch, sondern auchwissenschaftlich bearbeitet und es entstehen das berühmte Milgram-Experimentoder die Stanford-Gefängnisstudie von Philipp Zimbardo, deren Ergebnisse diesenForscher noch heute umtreiben, weil er sich selbst im Rückblick als »mad scien-tist« (Zimbardo, 2007) ansehen muss. Es war seine damalige Freundin, die ihndarauf aufmerksam machte, dass etwas gewaltig aus dem Ruder lief zwischen de-nen, die als VersuchspersonenGefängniswärter oder aberGefangenewaren – heutesehen wir die Bilder von Abu Ghuraib, Guantanamo und deutschen Flüchtlings-wohnheimen in den Tageszeitungen. Die Erfahrungen des Zimbardo-Experimentswiederum sind in demFilmDas ExperimentmitMoritz Bleibtreu verfilmtworden.

Identität in der Psychoanalyse?

Sollen wir also ausgerechnet mit einem solchen Begriff das beschreiben, was psy-choanalytische Praxis ausmacht? Riskieren wir nicht, damit nur eine Abgrenzungnach außen vorzunehmen, ohne unsere Praxis nach innen genau zu bestimmen?Diesen Fragen will ich nachgehen und eigene Vorschläge dazu machen.

Die psychologische Verwendung des Identitätsbegriffs entlehnt sich zunächstder Logik, die beharrlich, aber langweilig, behauptet: A = A. Das ist der Satz vonder Identität, mit dem ich mich nicht lange aufhalten möchte. Mit dem logischenSatz der Identität A = A ist hier nicht weit zu kommen.

Aber man muss sich fragen, warum ausgerechnet ein Begriff, der KontinuitätundGleichheit über alle Zeiten hinweg anpeilt, für die Bewältigung von gewaltigenTransformationskrisen in sozialer ebensowie in individuellerHinsicht inAnspruchgenommen werden soll? Allein schon diese Frage lässt die Vermutung entstehen,dass der Identitätsbegriff eine Last zu tragen hat, die so nicht ganz klarwerden kann.Wenn Erikson seine Theorie der sieben Stufen vom Urvertrauen bis zur Genera-tivität hin beschreibt, muss er deshalb lauter Zusatzworte einführen, etwa »Ich-Identität« und diese wiederum von psychosozialer Identität abgrenzen, währender gleichzeitig die Transformationen eines individuellen Lebens zu fassen versucht.

Michael B. Buchholz

98

Seiffge-Krenke (2014) stellt ihrem Aufsatz über »Identität im Wandel« einZitat von Erikson voran: »Identität, das ist der Schnittpunkt zwischen dem, waseine Person sein will, und dem, was die Umwelt ihr gestattet« (Erikson, 1971,zitiert nach Seifge-Krenke, 2014). Ich frage mich, ob sich an der Aussage diesesSatzes etwas ändert, wenn man »Identität« durch »Kompromiss« ersetzen wür-de, denn das ist es, was hier beschrieben wird: ein Kompromiss zwischen dem, waseine Person sein will, und dem, was ihr gestattet wird. Um einen solchen, psycho-logisch wichtigen Umstand zu beschreiben, würde der Begriff des Kompromissesgenügen. Identität verschleiert hier. Das wird für Psychoanalytiker bedeutsam,weil Freud den »Kompromiß« keineswegs als ein rationales Aushandeln verstand.Neurotische Symptome, so lautete seine erste Formel für deren Bildung, seien wiedie Fehlleistungen, »Kompromißbildungen« miteinander ringender gleich star-ker seelischer Kräfte – kann es also sein, dass der Begriff der Identität eigentlichein neurotisches Symptom ist? Ummich ganz klar auszudrücken: Niemandem sollseiner »Identität« beraubt werden; es geht um die Frage derjenigen begrifflichenDenkmittel, die ein solches Wort zur Verfügung stellt oder aber entzieht. Der Be-griff Identität leistet nicht mehr an Aufklärung, als der Begriff des Kompromissesin Freuds Neurosenlehre; aber er verschleiert mehr.

Eine Nebenbemerkung sei hier eingeflochten: Wenn Psychoanalytiker ihreProfession mittels des Identitätsbegriffs bestimmen wollen, dann zeigt sich dasGewaltpotenzial einer solchen Begrifflichkeit sofort, indem diejenigen exkludiertwerden können, deren Tun als »nicht-psychoanalytisch« abgewiesen oder sogardiffamiert werden kann. Eine inhaltliche Bestimmung dieses Tuns jedoch gelingtkaum; ist es tatsächlich so, dass Vertreter tiefenpsychologisch orientierter Schulenmehr am »aktuellen Konflikt« arbeiten oder deutlich »anti-regressiv«? Es gibtnicht nur Stimmen, die bezweifeln, ob man die Regression so sehr steuern kön-ne, es gibt auch empirische Forschung, die deutlich macht, dass diese so sehr für»wahr« gehaltenen Unterschiede keineswegs so prägnant existieren. Immerhinhatte die Studie »Forty-two lives in treatment« (Wallerstein, 1986) gezeigt, dasssupportive Maßnahmen oder Veränderung durch Einsicht in beiden Verfahren,Tiefenpsychologie wie Psychoanalyse, gleichermaßen vorkommt. Das hatte die in-ternationale psychoanalytische Community schwer erschüttert und nachfolgendeForschungen haben wenig an diesem Befund geändert. Identitäre Bestimmungeneignen sich nicht zur Definition von Unterschieden, aber sie haben das Potenzialzur Entzweiung von Gruppenzugehörigkeiten.

Es ist bemerkenswert, wenn wir in einem neuen Aufsatz von Andreas Herr-mann (2014) lesen müssen, dass Freud die psychoanalytische Identität zugleichan eine »Gruppenidentität« geknüpft habe, also an Zugehörigkeit, die wir alsLoyalitätsdruck problematisieren sollten. Abweichung kann dann immer nur alsVerwässerung verstanden oder gar als »falsch«, also »nicht-psychoanalytisch«diffamiert werden, nicht aber als Quelle von Inspiration und Innovation gelten.

Identität? Individualisierung, Intimität, Interaktion!

99

Aus demLoyalitätsdenken entsteht konservierend-verengende Bindung anTraditi-on undHerkunft (aufwessenCouchman gelegen hat) undweniger anKompetenz,Können und Zukunft. Innovation riskiert immer, als Abweichung ausgegrenzt zuwerden, solange wir identitär denken. Herrmann schreibt, dass der so eng ver-standenen psychoanalytischen Identität eine Paradoxie innewohne; es fehlen derPsychoanalyse Regeln zur Veränderung von Regeln, Begriffe zur Veränderung ein-mal festgelegter begrifflicher Dispositive. Aus solchen Misslichkeiten entstehenParadoxien, Vermischungen logischer Ebenen, die, so meine These, sich bis in dietherapeutische Praxis ziehen. Der Begriff einer Identität verdeckt diese Paradoxienviel zu sehr. Es gilt, was ein Computerwissenschaftler, der sich klug mit unserenFragen beschäftigt (Hendriks-Jansen, 1996), in die Formel »catching ourselves inthe act« gebracht hat. An unseren Handlungen werden wir uns erkennen. Das be-deutet, dass wir für unsere situative Aktivität und für interaktive Emergenz Sinnausbilden könnten mit dem Gewinn, die kleinen und fabelhaften Lösungen vonParadoxien, die wir vollbringen, besser zu verstehen. Sie werden uns gleichsam ausder Situation heraus geschenkt und wir verlieren sie, wenn wir eine allwissendeTheorie hätten. Deshalb hatteMertonGill einmal formuliert, dass, wer eine Theo-rie anwenden wolle, Schmalz im Dritten Ohr haben müsse.

Soweit wir unsere situative Aktivität und interaktive Emergenz von guten Lö-sungen beschreiben, evolviert der Prozess und demmenschlichen Denken entstehtein neuer Gedanke. Ein Patient aber erlebt nicht eine Identität, sondern das krea-tive Entstehen neuer, hilfreicher Aspekte seines Selbstempfindens. Er wird dannnicht zum eigenenWesen»erzogen«, sondern erlebt und erkennt im vorher Frem-den seines. Wenn dieser Prozess der Anerkennung des anderen und Fremden sichfortsetzen kann, dann steht an dessen Ende die Einsicht, dass Selbsterhaltung undWelterhaltung nicht Gegensätze sind, der andere ist kein Objekt, sondern Sub-jekt: Selbsterhaltung und Welterhaltung benötigen die gleichen Anstrengungen.Ich werde hier nicht weiter auf Erikson oder andere Themen, die unter dem Stich-wort »Identität« verhandelt werden, eingehen, sondern will mich mehr der Fragezuwenden, welche Erfahrungen der therapeutischen Praxis es sind, die unter Ver-zicht auf den Begriff der Identität brauchbar beschrieben werden könnten. Es gehtum deren ungelöste Paradoxa.

Für die Bewältigung von Paradoxien gibt es interessanterweise nie nur eine,sondern viele Lösungen. Das könnte plausibilisieren, warum wir einen Pluralismusvon Theorieangeboten haben. Aber wofür eigentlich sind diese Theorien die Lö-sungen? Was war noch mal die Frage, auf die eine gute Theorie die Antwort zusein beansprucht? Welches sind die Paradoxien, die auf so vielfältige Weise lösbarerscheinen? Das sind die Fragen, die uns auf die Spur der Paradoxien bringen, mitdenen wir täglich konfrontiert sind. Ich fasse diesen Teil nun zusammen und sage,dass die weitgehende Gleichbedeutung von Identität und Zugehörigkeit darauf ver-weist, dass dieser Begriff eine Kontingenzformel ist, deren Zweck die Erhöhung der

Michael B. Buchholz

100

Bindekraft der Mitglieder in der Gruppe der Psychoanalytiker ist. Einen operativenWert aber haben Identitätsformeln nicht.Von Identität zu reden, erfüllt den Zweck,eine Vereinigung zusammenzuhalten, wieDavidTuckett (1993) schrieb.OperativeKraft aber können wir gewinnen, wenn wir uns den Paradoxien der analytischenPraxis zuwenden und herausfinden, wie diese bewältigt werden.

Zweiter Teil: Paradoxien der therapeutischen Praxis

Erstes Paradox – Souveränität als Anerkennung von Abhängigkeit

Die erste Paradoxie ist die von der Souveränität des Experten. Therapeuten sindlang ausgebildete Experten, aber zugleich müssen sie sich der ernsten Erfahrung ei-ner bösen Ahnungslosigkeit lang genug ausgesetzt haben, um nach der Ausbildunggenügend Einbildung abzulegen. Jeder neue Fall setzt uns dieser Erfahrung aus.In seiner berühmten Junktim-Formulierung schreibt Freud (1927a) nicht nur vom»Heilen und Forschen«, sondern davon, dass man nicht behandeln könne, »ohnedabei etwas Neues zu erfahren« (ebd., S. 294). Deshalb also – kein Schmalz imDritten Ohr! Das Neue gründet in der Einzigartigkeit der Person, die wir nicht als»Fall von …« ansehen können, weil sie sich da – zu Recht – schon verfehlt fühlenkann.Die individuelle Patientin braucht eineChance gegen die allgemeineTheorie,weil wir sonst nichts Neues erfahren würden. Zugleich jedoch sind wir als Expertenfür solche »Fälle« angesprochen, nicht fürs Individuelle, sondern fürs Typische.Die berufspolitischen Verführungen, die uns einflüstern wollen, dass wir »Inter-ventionen« für »Störungen« zu konzeptualisieren hätten, ignorieren die andere,die individualisierende Seite, ohne die die professionelle Praxis nicht leisten könnte,was sie zu leisten vermag. Hier entsteht das Paradox, weil Therapeuten dieser zwie-spältigen Abhängigkeit gerecht werden müssen. Wie? Durch das Gespräch. Indemwir solcher Abhängigkeit uns nicht leidend aussetzen, sondern sie anerkennen, ge-winnenwir Souveränität.Hier ein paar Bemerkungen zumBegriff der Souveränität.

Wir sind Psychoanalytiker, nicht weil wir ein Zertifikat an der Wand hängenhaben, sondern wir sind es Patienten gegenüber dann, und nur dann, wenn sie esuns ermöglichen und gestatten; nur wenn sie uns die Analyse erlauben, könnenwir Analytiker sein. Souveränität, die ich ausdrücklich gegen die Rede von derAutonomie abgrenze, gewinnt sich in der Anerkennung dieser Abhängigkeit. Sou-veränität ist eine emotionale Position, die weiß, dass sie sich beständig zur Dis-Position stellenmuss, will sie sich selbst erhalten. Sie definiert Selbsterhaltung nichtals cogito, sondern als Unsicherheitsbewahrung (Brothers, 2008). Sie kann aufKommunikation daher nicht verzichten und weiß zugleich, dass sie incommunica-do ist (Winnicott, 1974). Sie ist allein in der Gegenwart des anderen und kann nurso das therapeutischeGespräch anregen. Zugleich ist sie zutiefst (mit dem anderen)

Identität? Individualisierung, Intimität, Interaktion!

101

verbunden, und nur wenn sie das ist, kann sie die richtigenWorte finden.Währendein Analytiker bei sich Antwort auf die unausgesprochenen Fragen seiner Patien-tin sucht, betreibt er unvermeidlich Introspektion, und soweit er das tut, geht eraus dem Beziehungsfeld – und nimmt es doch zugleich als stille Ressource in An-spruch. Verbundenheit reicht in psychische Dimensionen, die schwer in Spracheund Sprechen einzubringen sind. Sie ist gewissermaßen ein Selbst, das weit überindividuelle Begrenztheit hinausgeht, sie ist ein »dyadic state of consciousness«(Tronick, 2007) und zugleich allein. Auch im analytischen Gespräch entscheidetsich die menschliche Grundparadoxie, ob »solitaire« oder »solidaire«, wie Ca-mus formuliert hatte, die Oberhand behält. Souveränität muss als Anerkennungvon Abhängigkeit kommuniziertwerden – ein Identitätskonzept würde genau die-se zentrale Anforderung stören. Wir sind mit jedem Patienten ein anderer. Fürmich ist es Quelle tiefer Befriedigung geworden, die nicht-identische Erfahrung zumachen, wie ich von Stunde zu Stunde in einem anderen Rhythmus, mit anderenResonanzen, in einem anderen Ton mit jedem Patienten spreche.

Zweites Paradox – Koenästhesie

Hier folgt das zweite Paradoxon: das der Kommunikation, die eigentlich nicht be-ginnen kann, weil alle Vorverständigungen fehlen. Man weiß, dass alles, was einPatient einem mitteilt, höchst eigenwillige Bedeutungen hat, über die man sichim Grunde erst einmal verständigen müsste, aber dazu müsste man immer schonKommunikation in Anspruch nehmen, die sich selbst nie einholen kann. Manche(Ferro, 2004) beschreiben Psychotherapie geschmackvoll mit einer kulinarischenMetaphorik, wonach Therapeuten für ihre Klienten höchst individuelle Gerich-te zubereiten – hier ist deutlich Individualisierung als Notwendigkeit anerkannt.Aber wie eigentlich kann ein Koch wissen, was seinem Gast schmeckt? Wie kannman etwas vom anderen wissen, was von einer eigenen Projektion sicher unter-schieden werden könnte? Daniel Stern (2004, S. 174) erläutert das so: Stellen wiruns einmal vor, zwei junge Leute, die sich kaum kennen, verabreden sich zu einemersten Essen. Es ist Winter und sie kommen auf dem Weg zum Restaurant an ei-ner Eisbahn vorbei. Sie beschließen, Schlittschuhe zu leihen und es auf dem Eis zuprobieren. Wacklig stehen sie auf dem Eis, machen zaghafte Bewegungen; sie fälltbeinah hin, er greift rechtzeitig zu und stützt sie im Rücken, so, dass es ihr hilft. Alser beinah fallend die Arme hochwirft, reicht sie ihm in richtiger Höhe und Hal-tung ihreHand, an der er sich hält und den Sturz vermeidet. Sie lachen, sie erfreuensich – und sie erfahren eine Menge miteinander, ohne dass darüber gesprochenwürde. Entscheidend ist, dass sie intuitiv voneinander wissen, was der andere justin diesem»present moment« braucht, und das reichert sich an zu einer ungemeinwichtigen Erfahrung: »Stellvertretend waren sie einer in des anderen Körper und

Michael B. Buchholz

102

Geist, durch eine Serie gemeinsamer Gefühlsreisen« (Stern, 2004, S. 174, Über-setzung von mir, M.B.).2

Stellvertretend »im anderen sein« – ist das Beobachtung? Ist es Wirklichkeitoder Metapher? Die Unentscheidbarkeit dieser Frage im Rahmen unseres diskur-siven Denkens erzeugt die Paradoxie. Der andere muss nicht »ausdrücken, was ermeint«, muss nicht »symbolisieren«, muss sein Erleben nicht diskursiv »reprä-sentieren« – nein, es geht um ein gemeinsames Wissen, das aus der gemeinsamenGefühlsreise (»shared feeling voyage«) stammt. Die Paradoxie bringt dyadisches,nicht identitäres, sondern partizipativesWissen hervor.

Wenn das junge Paar nun imRestaurant ankommt, haben sie schon eine solche»gemeinsame Gefühlsreise« hinter sich, und was sie dann sprechen, geschieht vordiesemHintergrund, wird daran evaluiert, ob es diese Erfahrung voranbringt odersie blockiert. Sprechen wird zu einer Fortsetzung der körperlichen Weiterbewe-gung (»moving along«). Die körperliche Choreografie verlängert sich gleichsamin die sprachliche hinein, die sprachliche Kinetik – Sebastian Leikert sprach vonder kinästhetischen Semantik (Leikert, 2011) – hat ihr Fundament in der körper-lichen. Der Körper, so schon Christian Morgenstern 1927, ist der Übersetzer derSeele ins Sichtbare.

Solche anschaulichen Erfahrungen sprechen etwas an. Man kann sich das vor-stellen. Man fährt in einem Eisenbahnabteil und »weiß« intuitiv, der geradehereinkommende Mensch ist »gespannt« oder sogar »gefährlich«. Man sitzt ineinem noch leerenHörsaal. Die Leute kommen nach und nach herein. Auch wennman sich nicht umdreht, hat man irgendwie ein relativ präzises Gefühl dafür, wiesie sich hinter einem im Raum verteilen – und kann das sogar überprüfen. Jemandsteht in einem Gedränge hinter einem und man weiß, er bräuchte mehr Abstand,den man dann einzuhalten versucht. Liebende liegen im Bett, verknautschen undverdrehen ihre Glieder, und auch wenn einer es bequem hat, kann er doch »wis-sen«, dass dieArt, wie dieKnie aneinander stoßen oder dieArme sich verschlingen,für die andere unangenehm oder auch schmerzhaft sein kann. Es gibt, um den äl-teren Ausdruck zu benutzen, ein koenästhetisches Gemeingefühl. Man weiß etwasüber den anderen, auch wenn es noch nie ausgesprochen wurde.

Was ich sagen will, ist, dass das Paradoxon von einer Kommunikation, dieihre eigenen Anfänge nicht einholen kann oder höchstens für einen »present mo-ment«, konstitutiv für therapeutische Praxis ist. Dies Paradox kann nicht gelehrt,es kann nur entdeckt werden. Die Differenz zwischen dem lehrbaren Wissen undder Nicht-Lehrbarkeit der Erfahrung spielt hier als ein Nicht-Identisches hinein.Deswegenmachen wir alle unsere Praxis recht verschieden, auch wenn wir sie glei-chermaßen als »psychoanalytisch« bezeichnen.

2 »They have vicariously been inside the other’s body and mind, through a series of sharedfeeling voyages« (Stern, 2004, S. 174).

Identität? Individualisierung, Intimität, Interaktion!

103

Drittes Paradox – Der Name der Übertragung: »gebrauchte« Beziehung

Das dritteParadoxon, das von Information und Performation schließt sich zwanglosan. Während der therapeutischen Kommunikation erhalten wir von unseren Kli-enten sehr viele Informationen undwirwerden inAusbildungen angehalten, uns alsInformationssammler zu betätigen. Die Krankenakte ist manchem, was demBiolo-gen die Botanisiertrommel ist. Aber was ein Klient aus seinemTherapeutenmacht,ist oft entscheidender als das Präsentierproblem. Es kommt nicht nur auf Informa-tion, sondern auch auf Performation an; unser Sinn dafür, dass es im Gespräch zueiner Art »Performance« kommt (Buchholz, 2002; Danckwardt, 2013), zu einerArt szenischer Aufführung von kaum erinnerbaren Dramen in Form von Insze-nierungen oder »enactments«, ist in den letzten Jahren sehr entwickelt worden.Es tut weh, aber wir mussten lernen, dass unsere Aufklärung hier nicht unbedingthilft. Wenn – um ein schlichtes Beispiel zu nennen – ein junger Mann mit seinemTherapeuten einen autoritären Vater-Sohn-Konflikt wiederbelebt, soll der Thera-peut ihn dann einfach auf seinen Irrtum aufmerksam machen? Der junge Mannwürde zuRecht antworten, dass er selbst wisse, dass seinTherapeut nicht seinVaterist, und dass er es nicht mag, so belehrt zu werden – und der Vater-Sohn-Konfliktwürde sich in diese diskursive Aufklärung hinein fortsetzen. Nein, es zeichnet ge-rade psychoanalytische Therapeuten aus, dass sie hier eine andereHandhabung desParadoxons lernen: dass sie zugleich Vater und kein Vater sind. Therapeuten kom-munizieren im Grunde beständig: »Nein, das kannst du nicht mit mir machen. –Ja, das kannst du aus mir machen.« Man könnte sehr schöne Beispiele für diegeschickte analytische Handhabung dieses Paradoxons an wörtlichen Beispielensammeln.Wennwir in der Ausbildung lernen, dass wir dieÜbertragung annehmensollen, dann müssen wir zugleich lernen, sie nicht anzunehmen. Die Übertragungist unser Name für ein komplex zu handhabendes Paradoxon intimisierter, indivi-dualisierter Interaktion. Unsere Debatten über Übertragungskonzepte bieten unsvariantenreiche Lösungen an. Aber wofür? Dafür, dass die Übertragung eine »ge-brauchte Beziehung« im doppelten Wortsinne ist: »second hand« und dringendbenötigt.

Viertes Paradox – Individualisierte, intimisierte Interaktion

Es kommt unvermeidlich zu einem nächsten Paradox, dem der persönlichen Begeg-nung in einem a-personalen, formellen Rahmen. Es durchzieht die gesamte Behand-lung vom ersten Augenblick an; jeder Klientmöchte wissen, wie seine Therapeutinoder sein Therapeut als Person ist, über den professionellen Rahmen hinaus – aberwehe, wenn der Therapeut diesem Verlangen nachgibt! Klienten wollen professio-nell behandelt werden, sie möchten Methode und Technik kennenlernen, um sie

Michael B. Buchholz

104

mitnehmen zu können. Bliebe aber alles nurMethode und Technik, fehlte das Salzin der Suppe. Jüngere Therapeuten neigen nach meiner Erfahrung zu sehr dazu,das persönliche oder das technische Moment überzubetonen; erfahrenere Thera-peuten wissen, dass Momente persönlicher Begegnung besser eingebettet werdenin Strecken produktiver Arbeit. Psychoanalytiker haben jahrelang die Neutralitätbesonders herausgestellt, eher existenzialistisch orientierte Schulen die persönli-che Begegnung, andere die »Technik«. Heute sehen wir eher das Dilemma, wiedie Einheit dieser Differenzen zu formulieren wäre und können das nicht immer,aber wir handhaben das Paradoxon besser. Wir lösen dieses Paradoxon in der Re-gel, wenn wir die spielerische Dimension der therapeutischen Kommunikationentdecken.

Zu viel persönlicher Kontakt zu Beginn einer therapeutischen Begegnung mo-bilisiert unter Umständen zu viel Beschämung, zu wenig lässt die Therapie nichtin Gang kommen. Wir sehen: Es kommt nicht auf die Identität, sondern auf dieIndividualität der therapeutischen Dyade an, mit hohen Graden an Intimität undkunstvollerHandhabung interaktiver Dichte.

Fünftes Paradox – Der Therapeut bleibt Patient

Hier spielt nun das nächste Paradoxon hinein. Es handelt davon, dass derTherapeutin gewisser Weise immer Patient bleibt: Der Therapeut überlebt nur, wenn er zu-gleich immer auch Patient ist, wenn er bei sich etwas findet, das dem nahekommt,wovon sein Patient spricht, etwas, das er versteht und kennt und dessen Andersheiter dennoch annehmen kann. Indem er den anderen »liebt«, kann er erst neutralwerden. Meiner Ansicht nach hat das damit zu tun, dass eine Mutter immer schonweiß, wie es war, ein Baby zu sein; das Baby kann aber nicht wissen, wie es ist,eine Mutter zu sein. Diese Asymmetrie schafft allerlei Gefahren, denn natürlichmacht sie dem Therapeuten das grandiose Angebot, alles mögliche auf seinen Pa-tienten zu projizieren, von dem er denkt, dass er dies erlebt haben müsse. Aberwie in der Mutter-Säugling-Interaktion ist das nicht schädlich, wenn die darausresultierenden Fehlwahrnehmungen feinfühlig und prompt »repariert« werdenkönnen.Diemikroanalytischen Studien therapeutischer Prozesse zeigen uns jeden-falls deutlich, wie hier Regulierungen erfolgen, die aber grundsätzlich den anderenverfehlende Wahrnehmungen als unvermeidbar erscheinen lassen. Warum das soist? Weil in derWahrnehmung des anderen immer Sinn-Zuschreibung steckt. Nurwenn den Handlungen von Kindern und Patienten Intentionalität und Sinn zuge-schrieben wird, bestätigt sich ihnen die Erwartung, dass auch das, was andere tun,von Absichten getragen ist. Absicht und Sinn als zentrale Regulative zu erwarten,konstituiert das Humanum schlechthin (Levinson, 2006), aber es ist immer auchentgleisungsfähig.

Identität? Individualisierung, Intimität, Interaktion!

105

Sechstes Paradox – Die Realität der Illusion und die Illusion der Realität

SinnundSinnzuschreibungverweisen auf eine spezifischeDimensionder therapeu-tischen Kommunikation: Sie findet in einem Raum der kreativen Illusionsbildungstatt, die zugleich als höchst real erfahren wird. Dieses Paradoxon von der Reali-tät der Illusion ist unverzichtbar. Ein Patient, der nicht glauben könnte, dass derTherapeut ihn (oder sie) persönlich meint und anspricht, könnte von der Thera-pie nicht profitieren. Gefühle von Zu- oder Abneigung zum Therapeuten werdenals höchst real erfahren. Neutralität könnte man in diesem Zusammenhang alskommunikative Verantwortung des Therapeuten definieren, die Illusion im Sin-ne eines potenziellen Raumes (Ogden, 2004) aufrechtzuerhalten – mit dem Zielweiterer Verhandlungen (Pizer, 1998). Es muss immer alles möglich sein, ohneje realisiert zu werden. Analytiker fördern, was Robert Musil als »Möglichkeits-sinn« dem »Wirklichkeitssinn« gegenüberstellte. Die Erlaubnis, ja geradezu dieErmöglichung der Illusion fördert paradoxerweise den »sense of being real«. DieIllusion erst, einen anderen beständig neben sich zu haben, hilft manchem schwe-rer verstörtenMenschen dazu, real werden zu können. RäumlicheMetaphern einer»Innenwelt« gegenüber einer »äußeren Realität« sind unsere Standardlösungenfür dies Paradox und wir sollten überlegen, ob wir weiter in solchen Metapherndenken wollen oder aber sie ganz abräumen – man kann ja Gedanken »haben«,aber in welchem Sinne wären sie »innen«? Die Rede von »eigenen« Gedan-ken und Gefühlen gegenüber solchen, die man übernommen hat oder die einemaufgedrängt wurden, macht einen hilfreichen Unterschied; sie enthüllt Machtver-hältnisse, die in der räumlichenMetaphorik unsichtbar bleiben.

Jedoch ist es nur die Sicherheit der therapeutischen Beziehung, die alles mög-lich hält, ohne es realisieren zu müssen, die Patienten den Ausbruch und Aufbruchzu jener Freiheit ermöglicht, die durch Therapie erreicht werden kann; nur untersolchen Bedingungen können Patienten gegen die Fehler ihres Therapeuten pro-testieren und ihnmehr undmehr zu kritisieren wagen.Wenn sie das dann geschaffthaben, werden sie merken, dass sie ihn nicht mehr brauchen – und ihm (unter an-sonsten glücklichen Umständen) zutiefst dankbar dafür sein.

Weitere Paradoxien

Ich habe Paradoxien skizziert, die wir prozessual mehr oder weniger gekonnt hand-haben, wenn wir mit einer Patientin jenes kommunikative System aufbauen, daswir dann als »Psychotherapie« bezeichnen. Leicht ließen sich weitere Paradoxienbeschreiben, wie die von Paula Heimann (1978) beschriebene »Kunst, natürlichzu sein«, oder das Paradox von der therapeutischen Autorität, die sowohl führt alsauch folgt.

Michael B. Buchholz

106

Zudiesen Paradoxien innerhalb unserer Behandlungszimmer könnteman auchnoch jene auflisten, die sich aus der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung ergeben.Sozialwissenschaftler sehen uns auf dem Weg der Professionalisierung durch dasPsychotherapeutengesetz von 1999 von gleichzeitigen De-Professionalisierungs-schüben getroffen, für die wir kaum diskursive Sensibilität entwickeln (Thom& Ochs, 2013). Wenn ein einst emanzipatorisches Ideal wie das der Selbstver-wirklichung zu einer normativen Scheidelinie geworden ist, wonach Gesunde sichvonKranken unterscheiden; wenn Selbstoptimierung das neue psychotherapiekul-turgestützte Leitwort für das wird, was früher Leistungsdruck hieß; wenn eine»therapy culture« (Flick, 2013) psychotherapeutischeDiskurse universell verbrei-tet hat und Talkmaster die bestqualifizierten Meister der einst emanzipatorischenEnt-Tabuisierung geworden sind, dann muss man durchaus paradox fragen, ob diePsychotherapie insgesamt an ihrem Erfolge scheitert?

Was folgt?

Bleiben wir aber bei den internen Paradoxa, bei denen, die uns im Behandlungs-zimmer begegnen, dann sehen wir, wie jedes gekonnt3 gehandhabte Paradoxon unsgleichsam auf ein höheres Funktionsniveau schleudert. Wir machen Erfahrungenund verarbeiten sie unvermeidlich denkend. Und wenn wir sie nicht machen, müs-sen wir ebenfalls zu denken beginnen – oder das System bricht zusammen. Dannwird aus Therapie bloßes Reden, Kaffeklatsch oder Betroffenheitslyrik.Wir leistenuns psychische Souveränität, um in denWirrnissen des kommunikativen Dschun-gels nicht unterzugehen.

Die therapeutische Beziehung im potenziellen Raum ist ständig von zwei Ge-fahren bedroht: von der Ordnung und von der Unordnung. Identität ist in meinenAugen ein Konzept, dass sich zu sehr auf die Seite der gewaltsam erzeugten Ord-nung schlägt. Individualisierte und intimisierte Interaktion bilden dasGegenstück.Sich in derenUnordnung nicht zu verwirren, ist eineKunst, bei der die Rettung aufdie Identitätsinsel einer Flucht gleich käme. Wenn es so etwas wie ein Paradoxongibt, kann man es dennoch nicht sehen, man muss es denken. Und es entsteht nurbeim Denken. Einmal entdeckt, kann es nur gelebt und darin reflektiert werden.Soweit wir nicht an den Paradoxien zerbrechen, entwickeln wir unvermeidlich the-rapeutische Resilienz, steigern in einem weiteren Paradox Widerstandsfähigkeitund Sensibilität zugleich. Wir wandern in ein neues Paradoxon, formulieren neueMetaphern zur Lösung und entkommen uns am Ende doch nicht. Dann sind wiruns selbst zurückgegeben.

3 »Können« – das ist in meiner Professionstheorie (Buchholz 1999) die entscheidende Unter-scheidung zwischen Profession und wissenschaftlichem »Wissen«.

Identität? Individualisierung, Intimität, Interaktion!

107

Literatur

Bernfeld, S. (1929). Der soziale Ort und seine Bedeutung für Neurose, Verwahrlosung und Päd-agogik (Neuauflage 1974). In L. v. Werder & R. Wolff (Hrsg.), Antiautoritäre Erziehung undPsychoanalyse. Bd. 2. Frankfurt/M., Berlin, Wien: Ullstein.

Blumenberg, H. (1986). Lebenszeit undWeltzeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp.Bonomi, C. (2013). Withstanding Trauma: The Significance of Emma Eckstein’s Circumcision to

Freud’s Irma Dream. The Psychoanalytic Quarterly, 82(3), 689–740.Brothers, D. (2008). Toward a psychology of uncertainty. Trauma-centered psychoanalysis. (Psycho-

analytic inquiry book series: vol. 27). New York: Analytic Press.Bruyn, G. de (2010). Die Zeit der schweren Not. Schicksale aus dem Kulturleben Berlins 1807–1815.

Frankfurt/M.: S. Fischer.Buchholz, M. B. (1999). Psychotherapie als Profession. Gießen: Psychosozial-Verlag.Buchholz, M. B. (2002). Welche Diagnostik hilft im therapeutischen Prozeß? In G. Kruse & S. Gunkel

(Hrsg.), Sprache und Handeln –Was bewirkt die Wirklichkeit? Hannover: Hannoversche Ärzte-Verlags-Union.

Buchholz, M. B. (2006). Vorlesungen und einführende Schriften. In H. M. Lohmann & J. Pfeiffer(Hrsg.), Freud-Handbuch. Leben –Werk –Wirkung (S. 94–105). Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler.

Carveth, D. L. (1993). Die Metaphern des Analytikers. Eine dekonstruktionistische Perspektive. InM. B. Buchholz (Hrsg.), Metaphernanalyse. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Cassirer, E. (1927). Individuum und Kosmos. Darmstadt: WBG. (Unveränd. Nachdruck 1977)Danckwardt, J. F. (2013). Performance. Zur Begriffsentwicklung, Konzeptgeschichte und zum Erklä-

rungs- und Gebrauchswert in der Psychoanalyse. Jahrbuch der Psychoanalyse, 66, 147–170.Eugenides, J. (2003). Middlesex. Reinbek: Rowohlt.Ferguson, N. (2006). Krieg der Welt. Was ging schief im 20. Jahrhundert? Berlin: Propyläen.Ferro, A. (2004). Interpretation: Signals form the Analytic Field and Emotional Transformations. In-

ternational Forum of Psychoanalysis, 13, 31–39.Flick, S. (2013). Paradoxien der Psychotherapie. Psychoterapeut_innen und die Kultur des Thera-

peutischen. Zeitschrift für das Unbewusste in Organisation und Kultur, 16(3+4), 111–128.Floerke, H. (1916). DeutschesWesen im Spiegel der Zeiten. Berlin: Otto Reichl Verlag.Freud, S. (1900a). Die Traumdeutung. GW II/III.Freud, S. (1916–17a). Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. GW XI.Freud, S. (1919a). Wege der psychoanalytischen Therapie. GW XII, S. 181–194.Freud, S. (1927a). Nachwort zur Frage der Laienanalyse. GW XIV, S. 287–296.Heimann, P. (1978). Über die Notwendigkeit für den Analytiker mit seinen Patienten natürlich zu

sein. In S. Drews, R. Klüwer et al. (Hrsg.), Provokation und Toleranz. Festschrift für A.Mitscherlichzum 70. Geburtstag. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Hendriks-Jansen, H. (1996). Catching ourselves in the act: Situated activity, interactive emergence,evolution, and human thought. Complex adaptive systems. Cambridge/Mass: MIT Press.

Herrmann, A. P. (2014): Lehranalyse und Institution – eine Paradoxie. Psyche – Z Psychoanal, 68,1057–1084.

Herrndorf, W. (2012): Tschick: Roman (1. Aufl.). Reinbek: Rowohlt TB.Holz, D. [Pseudonym von Walter Benjamin] (1937). Deutsche Menschen. Luzern: Vita Nova.Jahn, F. L. (1810). Das Deutsche Volksthum. Lübeck: Niemann-Verlag.James, W. (1890). The principles of psychology. New York: DoverKlapdor, H. (Hrsg.). (2007). Ich bin ein unheilbarer Europäer. Briefe aus dem Exil. Berlin: Aufbau-Verlag.Leikert, S. (2011). Kinästhetische Semantik. Der Wahrnehmungsakt und die ihm korrespondieren-

de Form der psychischen Organisation. Psyche – Z Psychoanal, 65, 409–438.

Michael B. Buchholz

108

Leonhardt, J. (2014). Die Büchse der Pandora. Geschichte des ErstenWeltkriegs. München: C. H. Beck.Levinson, S. C. (2006). On the Human »Interaction Engine«. In S. C. Levinson & N. J. Enfield (Hrsg.),

Wenner-Gren Center International symposium series. Roots of human sociality. Culture, cogni-tion and interaction. Oxford: Berg Publishers, S. 39–69.

Mahler-Bungers, A. (2010). Film-Revue: Tanz der Vampire von Roman Polanski (1967). Psyche – ZPsychoanal, 64, 359–367.

Moser, K. (2000). Metaphern des Selbst. Wie Sprache, Umwelt und Selbstkognition zusammenhängen.Lengerich, Berlin, Riga: Pabst Publishers.

Niethammer, L. (2000). Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. Rein-bek: Rowohlt.

Ogden, T. H. (2004). On holding and containing, being and dreaming. International Journal of Psy-choanalysis, 85, 1349–1364.

Owens, T. J. (2006). Self and Identity. In J. D. DeLamater (Hrsg.), Handbook of social psychology(S. 205–233). New York: Springer.

Pizer, S. A. (1998). Building Bridges – The Negotiation of Paradox in Psychoanalysis. Hillsdale/NJ, Lon-don: The Analytic Press.

Poppe, C. (2014). Doing testimony – Recipient design in Zeitzeugeninterviews (Bachelor Arbeit). In-ternational Psychoanalytic University, Berlin.

Schwartz, M. (2013). Imperiale Verflechtung und ethnische ›Säuberung‹. Zur Transformationder osteuropäischen Vielvölkerreiche durch ethnonationalistische Gewaltpolitik im ErstenWeltkrieg. In P. Hoeres, A. Owzar & C. Schöer (Hrsg.), Herrschaftsverlust und Machtverfall.(S. 271–292). München: Oldenbourg.

Seiffge-Krenke, I. (2014). Identität im Wandel und therapeutische Herausforderungen. Forum derPsychoanalyse, 30(1), 85–108.

Spence, D. P. (1993). Die Sherlock-Holmes-Tradition: die narrative Metapher. In M. B. Buchholz(Hrsg.), Metaphernanalyse. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Stern, D. N. (2004). The PresentMoment in Psychotherapy and Everyday Life. New York, London: W. W.Norton & Company.

Stroczan, K., & Bayer, L. (2004). Es gibt keine Eltern. Vom Drama zur Tragödie in Polanskis Filmen.Psyche – Z Psychoanal, 58, 1182–1196.

Thom, J., & Ochs, M. (2013). Der Typus des postmodernen Professionellen – ein Porträt Psycholo-gischer Psychotherapeuten? Psychotherapeutenjournal, 12(4), 381–387.

Thomé, H. (1998). Freud als Erzähler. Zu literarischen Elementen im ›Bruchstück einer Hysterie-Analyse‹. In L. Danneberg & J. Niederhauser (Hrsg.), Die Darstellungsformen derWissenschaf-ten im Kontrast: Aspekte der Methodik, Theorie und Empirie (S. 471–493). Tübingen: Mohr.

Tronick, E. (2007). The Neurobehavioral and Social-Emotional Development of Infants and Children.New York, London: W. W. Norton.

Tuckett, D. (1993). Some thoughts on the presentation and discussion of the clinical material ofpsychoanalysis. International Journal of Psychoanalysis, 74, 1175–1189.

van het Reve, K. (1994). Dr. Freud und Sherlock Holmes. (Hrsg. u. eingel. v. G. Busse). Frankfurt/M.:Fischer TB.

Wallerstein, R. S. (1986). Forty-Two Lives in Treatment. A Study of Psychoanalysis and Psychotherapy.New York: The Guilford Press.

Winnicott, D. W. (Hrsg.). (1974). Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. München: Kindler.Zimbardo, P. G. (2007). The Lucifer effect: Understanding how good people turn evil (1. Aufl.). New

York: Random House.

Identität? Individualisierung, Intimität, Interaktion!

109