hahn, j., weiser, göttlicher mensch oder scharlatan das bild des apollonius von tyana bei ..., in...
TRANSCRIPT
Sonderdruck aus:
Literarische Konstituierung von Identifikationsfiguren
in der Antike herausgegeben von
Barbara Aland, Johannes Hahn und Christian Ronning
Mohr Siebeck 2003
Dieser Sonderdruck ist im Buchhandel nicht erhältlich.
----- --- ------
Sonderdruck aus:
Literarische Konstituierung von Identifikationsfiguren
in der Antike herausgegeben von
Barbara Aland, Johannes Hahn und Christian Ronning
Mohr Siebeck 2003
Weiser, göttlicher Mensch oder Scharlatan? Das Bild des Apollonius von Tyana bei Heiden und Christen
von
JOHANNES HAHN
„Gibt es unter den Menschen einen, der heiliger, verehrungswürdiger, altehrwürdiger und göttlicher ist als jener Mann (Apollonius)? Er hat Tote wieder zum Leben erweckt, er hat vieles gewirkt und gesprochen, was über menschliches Vermögen hinausgeht. Wer sich darüber unterrichten möchte, möge die griechischen Bücher lesen, die über sein Leben geschrieben worden sind."1
Dieses Diktum, vorgeblich von einem Autor des späten 3. Jahrhunderts geäußert, tatsächlich aber wohl um 400 n. Chr. niedergeschrieben, umreißt den Gegenstand der folgenden Überlegungen - Aspekte der Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte des Apollonius von Tyana, einer Persönlichkeit des 1. Jahrhunderts n. Chr. - und eröffnet einen ersten Einstieg in die damit verbundenen Probleme, nämlich die heftigen antiken Auseinandersetzungen um diesen Weisen und Wundertäter. Denn jener Apollonius -Magier, Philosoph oder Scharlatan? -, den der Verfasser der Historia Augusta als spätantiken heidnischen Heiligen und Theurgen apostrophierte, war zeit seines Lebens, vor allem seines Nachlebens, umstritten.
In das grelle Rampenlicht religiöser und ideologischer Auseinandersetzungen geriet Apollonius dabei erst in der Zeit der Tetrarchie, gewissermaßen am Vorabend der konstantinischen Wende, als sich wohl kurz nach Beginn des 4. Jahrhunderts, vielleicht 302/3 n. Chr., ein hoher kaiserlicher Beamter und maßgeblicher Beteiligter der diokletianischen Christenverfol-
1 HA, Aur. 24,8: quid enim illo viro sanctius, venerabilius, antiquius diviniusque inter homines fuit? ille mortuis reddidit vitam, ille multa ultra homines et fecit et dixit. quae qui velit nasse, Graecos legat libros, qui de eius vita conscripti sunt. Zu dieser Stelle und ihrem weiteren Bedeutungszusammenhang in dem Geschichtswerk und - möglicherweise - der heidnisch-christlichen Auseinandersetzung in der Spätantike siehe H. BRANDT, Die ,heidnische Vision' Aurelians (HA, A 24, 2-8) und die ,christliche Vision' Konstantins des Großen, in: Historiae Augustae. Colloquium Maceratense. Atti dei convegni intemazionali sulla "Historia Augusta". 1992, a cura di G. Bonamente/G. Paci, Historiae Augustae colloquia N.S. 3 = Munera 4, Bari 1995, 107-117.
88 Johannes Hahn
gungen, Hierokles2, in einer gegen die Christen gerichteten Kampfschrift mit dem Titel Philaletes, „Wahrheitsliebhaber", seiner bediente, um die Einzigartigkeit Christi als göttlichen Menschen zu attackieren3. Diese Polemik veranlaßte den christlichen Schriftsteller Eusebius dazu, umgehend eine Schrift unter dem Titel Gegen die Lebensbeschreibung des Apollonius, verfaßt von Philostrat, anläßlich der von Hierokles gezogenen Parallele zwischen jenem und Christus zu verfassen - eine furiose, wenn auch wenig sachhaltige oder überzeugende Widerlegung, die zugleich unsere Hauptquelle für die Argumente der verlorenen Schrift des Hierokles darstellt4. Hierokles hatte nicht nur den Apollonius Jesus gegenübergestellt und die Apollonius-Schrift des Philostrat den Evangelien; auch die Leichtgläubigkeit der Christen angesichts der doch bescheidenen Wunder Christi wurde von ihm angegriffen, insbesondere aber die göttliche Natur Christi grundsätzlich bestritten. Dieser christlichen Auffassung stellte der heidnische Autor das Konzept eines den Göttern gefälligen und göttlich inspirierten Menschen entgegen, wie ihn der große Wundertäter Apollonius in herausragender Weise repräsentierte5•
Diese wichtige Kontroverse wird später aber noch einmal aufgegriffen werden, soll hier jedoch zunächst nicht weiter auf ihre Relevanz für die leitende Fragestellung hin untersucht werden; vielmehr soll das Problem der Identifikationsfigur und Mittlergestalt und ihrer literarischen Konstituierung zunächst auf der Ebene weiterverfolgt werden, auf die - ein bemerkenswerter Zug der Auseinandersetzung zwischen Hierokles und Eusebius - bereits die beiden Kontrahenten als Quellenbasis bzw. literarische Tra-
2 Hierzu M. DZIELSKA, Apollonius of Tyana in Legend and History, Rome 1986, 153 ff.; A. KOFSKY, Eusebius of Caesarea against Paganism, Jewish and Christian Perspectives Series 3, Leiden 2000, 58 ff. (mit Details). Zur Person des Hierokles und zur mutmaßlichen Datierung der Schrift siehe vor allem T.D. BARNES, Sossianus Hierocles and the Antecedents of the Great Persecution, HSCP 80, 1976, 239-252; vgl. aber M. FORRAT, Introduction, in: Eusebe de Cesaree, Contre Hierocles, hg. v. M. Forrat/E. des Places, SC 333, Paris 1986, 20-24, und A. KOFSKY, a.a.0., 63 f.
3 Hierokles war dabei nicht der erste, der sich der Person des Apollonius (und der Schrift des Philostrat) bediente, um sie polemisch gegen die Christen ins Feld zu führen: Der Platoniker Porphyrius hatte wenig früher in Contra Christianos gleichfalls Apollonius (und Apuleius) als Beispiele von Wundertätern, die in ihrem thaumaturgischen Wirken dem Jesus der Evangelien weit überlegen gewesen seien, benannt. Hierzu M. DZIELSKA, Apollonius ofTyana (wie Anm. 2), 96-99.
4 Edition: Eusebe de Cesaree, Contre Hierocles (wie Anm. 2). Siehe hierzu - neben Einleitung und Kommentar der Edition - M. DZIELSKA, Apollonius of Tyana (wie Anm. 2), bes. 153 ff.; A. MENDELSON, Eusebius and the Posthumous Career of Apollonius of Tyana, in: Eusebius, Christianity and Judaism, hg. v. H.W. Attridge/G. Hata, Detroit (Mich.) 1992, 510-522; A. KOFSKY, Eusebius ofCaesarea (wie Anm. 2), 58 ff.
5 Programmatisch in der Wiedergabe des Philaletes des Hierokles in Eus., Hierocl. 2.
Weiser, göttlicher Mensch oder Scharlatan? 89
dition hatten rekurrieren müssen6: die Schrift des Philostrat über Apollonius, verfaßt wohl um 220 n. Chr.7, also fast ein Jahrhundert zuvor.
Vorab möchte ich betonen, daß Gegenstand dieser Analyse nicht so sehr literarische Gestaltungstechniken in der Apollonius-Überlieferung sind. Ziel und Programm der folgenden Ausführungen - die einen V ersuch darstellen, historisch relevante Parameter der literarischen Ausgestaltung einer Persönlichkeit des öffentlichen Lebens freizulegen - ist vielmehr, erstens Traditionsstränge, historische Voraussetzungen und zeitgenössische Rahmenbedingungen zu erschließen, welche als formende Kräfte die Darstellung des Apollonius, seiner Rolle und seines Wirkens in seinem Umfeld entscheidend bestimmten. Im engeren gehört hierzu zweitens die Analyse des literarischen, insbesondere kulturellen und auch theologischen Diskurses in seiner überlieferungsgeschichtlichen Wirksamkeit, der sich alsbald um die Figur des Apollonius entspann. Schließlich ist drittens aber auch die Frage nach der historischen und diskursiven Wirksamkeit von Überlieferungen und Traditionslinien zu stellen, die keinen oder nur schattenhaften Eingang in die weitere Ausgestaltung der Apolloniusfigur gefunden haben bzw. die in der trümmerhaften Überlieferung der spätantiken Literatur nicht bewahrt worden sind. Diese verweisen auf leicht übersehene Realitäten und Bedeutungsfelder der Apollonius-Tradition, die jedoch entscheidende komplementäre Bereiche zum nur ausschnitthaft fokussierenden literarischen Apollonius-Diskurs zu benennen imstande ist. All dies kann angesichts der Vielfalt der Überlieferungen und der zahlreichen relevanten Bezüge und Verlaufslinien nicht in der ganzen Breite der möglichen Beweisführungen und entsprechenden Dokumentation erfolgen, sondern muß um der Klarheit des Arguments willen sich auf das Sichtbarmachen der wesentlichen Strukturen und Zusammenhänge beschränken.
Das primär historische Erkenntnisziel, das hier verfolgt wird, muß dabei in einem zentralen Punkt unerfüllt bleiben: Der historische Apollonius entzieht sich ungeachtet einer vielfältigen späteren Tradition vollständig unserer Wahrnehmung. Über seine Lebenszeit - das erste Jahrhundert-, seine Herkunft aus dem kappadokischen Tyana, den zweifelsfreien Aufenthalt in einer Handvoll griechischer Poleis und die Überlieferung einer aufsehener-
6 Dies ergibt sich bei Eusebius aus Hierocl. 3 und explizit aus der Formulierung Hierocl. 4,30 f. (sowie passim), bei Hierokles aus Hierocl. 2,27-29, wo dieser einerseits das Werk des Maximus von Aigai nennt, andererseits den von Philostrat erfundenen (s.u. Anm. 13) Damis als Begleiter und Schriftzeugen des Apollonius, schließlich aber das Werk Philostrats als Referenz nennt.
7 Zur Datierung siehe F. SOLMSEN, Art. Philostratos, RE XXII, 1941, 125-177, hier 139; sowie J.-J. FLINTERMAN, Power, Paideia & Pythagoreanism. Greek Identity, Conceptions of the Relationship between Philosophers and Monarchs and Political Ideas in Philostratus' Life of Apollonius, Dutch Monographs on Ancient History and Archaeology 13, Amsterdam 1995, 26 und 221 (wahrscheinlich nach 222 n. Chr.).
90 Johannes Hahn
regenden Wundertätigkeit hinaus sind keine gesicherten Feststellungen zu seiner Person und seinem historischen Wirken möglich8. Zeitgenössische Quellen zu Apollonius fehlen vielleicht gänzlich: Die unter seiner Autorschaft firmierenden zahlreichen Briefe sind zumindest überwiegend unecht9, die ihm zugeschriebenen, aber verlorenen Werke, eine Lebensbeschreibung des Pythagoras, Orakelsprüche, eine Schrift Über die Opfer (hieraus ist ein Zitat bewahrt10) und ein Testament sind in ihrer Echtheit umstritten11 •
Der uns faßbare Apollonius ist ausschließlich der über ein Jahrhundert später von dem griechischen Literaten und Sophisten Philostrat in einer umfänglichen Schrift programmatisch ausgestaltete pythagoreische Weise. Allerdings konnte Philostrat nicht frei die ihm vorliegenden Überlieferungen zu einem autoritativen biographischen Werk verarbeiten. Seine Schrift ist stark von der Auseinandersetzung mit einer reichen und divergierenden Traditionsbildung bestimmt, die ihn sowohl in der zu wählenden literarischen Form wie in der Einordnung und Bewertung seines Helden zu Entscheidungen zwang.
Konnte die Schrift eines Maximus von Aigai über den frühen Apollonius ihm offenbar als Steinbruch für Episoden um den Tyaneer dienen, so warfen die 4 Bände Erinnerungen an Apollonius aus Tyana, den Magier und Philosophen des Moiragenes12, der vehementen Kritik Philostrats an der angeblichen Ignoranz ihres Autors nach zu schließen - dem tatsächlich wohl das erst zu verdrängende Standardwerk über Apollonius zu verdanken war - nach Gehalt und Perspektive gewichtigere Probleme auf. Phi-
8 Die optimistische Grundauffassung von F. GROSSO, La «Vita di Apollonio di Tiana» come fonte storica, Acme 7, 1954, 331-532, hinsichtlich einer grundsätzlichen Authentizität der Persönlichkeit des in der Vita geschilderten Apollonius und der dort dargestellten Begebenheiten wird in der Forschung einhellig abgelehnt. Als quellenkritisch grundlegend anerkannt ist vielmehr die Analyse von E. MEYER, Apollonios von Tyana und die Biographie des Philostratos, Hermes 52, 1917, 371-424 (Ndr. in: DERS., Kleine Schriften, II, Halle 1924, 131-191 ). Vgl. E.L. BOWIE, Apollonius of Tyana: Tradition and Reality, in: ANRW II 16.2 (1978), 1652-1699, bes. 1653 ff.
9 Zu diesem Problemfeld siehe die abgewogenen Feststellungen von R.J. PENELLA (Hg.), The Letters of Apollonius of Tyana. A Critical Text with Prolegomena, Translation and a Commentary, Leiden 1979, 23-29, im Kontext seiner Edition und Kommentierung der Briefe. Vgl. J.-J. FLINTERMAN, Power (wie Anm. 6), 70-72.
10 Fragment bei Eus., p.e. IV 12,13 (vermittelt über die Lektüre des Porphyrius). 11 Hierzu zusammenfassend J.-J. FLINTERMAN, Power (wie Anm. 7), 67 ff. Bestritten
wird die Nachricht der Suda von der Existenz einer Pythagoras-Vita aus der Feder des Apollonius durch P. GORMAN, The "Apollonius" of the Neoplatonic Biographies of Pythagoras, Mnemosyne 38, 1985, 130-144.
12 Hierzu gut E.L. Bowrn, Apollonius (wie Anm. 8), 1674, sowie D.H. RAYNOR, Moeragenes and Philostratus. Two Views of Apollonius of Tyana, CQ 34, 1984, 222-226.
Weiser, göttlicher Mensch oder Scharlatan? 91
lostrat reagierte hierauf nicht mit der Abfassung eines Bios, also einer festen literarischen Konventionen folgenden Darstellung des Lebens seines Protagonisten. Vielmehr verschaffte er seinem Werk dadurch Originalität und sachliches Gewicht, daß er zum einen eine Lebensgeschichte des Apollonius verfaßte, die gattungsmäßig Biographie, Aretalogie und Reiseroman miteinander verband. Zum anderen behauptete er, sich auf eine erstrangige Quelle zu stützen, nämlich die holperigen, zuverlässigen Aufzeichnungen eines Apollonius-Schülers namens Damis. Dessen Hypomnemata seien ihm von Kaiserin Iulia Domna, deren Intellektuellenzirkel Philostrat lange Jahre angehörte, mit dem Auftrag übergeben worden, sie in angemessene literarische Form zu bringen. Tatsächlich konnte schon Eduard Meyer diese Damis-Quelle als literarische Fiktion erweisen13. Die in diesen Feststellungen und Aussagen sich bereits deutlich abzeichnende Gemengelage von kursierenden Quellen und Traditionen, konkurrierenden Darstellungen und Fiktionen sowie zu ihrer Publikation gewählten literarischen Ausdrucksformen verweist nachhaltig auf einen vielschichtigen Diskurs und zeitgenössischen Deutungsstreit um die Person und Bewerturig des Apollonius, in dem sich Philostrat mit seinem Werk zu positionieren und durchzusetzen hatte.
Philostrats Schrift verfolgt gleichermaßen literarische Ambitionen und einen apologetischen Zweck14. Sie tritt einer Auffassung entgegen, die Apollonius als Magier (µciyoc;) deutete und seine Wundertaten und Prophezeiungen in den Mittelpunkt seines Wirkens stellte - eine Perspektive, die den Tyaneer damit zugleich jedoch auch dem naheliegenden Vorwurf der yorrrnia, der betrügerischen Zauberei und Scharlatanerie, aussetzte, wie ihn etwa eine Generation vor Philostrat Lukian in schärfster Form äußerte15. Das verhängnisvolle Wirken dieses Typus, eines vorgeblich mit göttlichen Kräften begabten, ja gottähnlichen Mittlers, tatsächlich aber Betrügers, der sich schwarzer Magie und Zaubertricks bedient, parodiert und seziert der Satiriker Lukian in der Person eines Enkelschülers des Apollonius, Alexander von Abonuteichos, der sich sogar zur Installierung eines einträglichen eigenen Kultes verstieg16. Lukians Attacke - nicht zu-
13 Philostr., VA 1 3 zu Vorlage und literarischem Auftrag. Hierzu E.L. Bowrn, Apollonius (wie Anm. 7), 1663-1666 und 1670; vgl. E. MEYER, Apollonius von Tyana (wie Anm. 7). Zusammenfassend siehe auch SOLMSEN, Philostratos (wie Anm. 7), 147 ff. G. ANDERSON, Philostratus. Biography and Beiles Lettres in the Third Century A.D„ London 1986, 155 ff., steht mit seinem Versuch, der „Damis-Quelle" wieder eine gewisse Authentizität zuzusprechen, wohl allein.
14 Zum apologetischen Zug der Vita Apollonii siehe jetzt S. SWAIN, Defending Hellenism: Philostratus' In Honour of Apollonius, in: Apologetics in the Roman Empire, hg. v. M.J. Edwards/M.D. Goodman/S.R.F. Price, Oxford 1999, 157-196, insbesondere 189 ff.
l5 M. DZIELSKA, Apollonius ofTyana (wie Anm. 2), 86-93. 16 Lukian., Alex. sive Pseudomantis, passim (zu Apollonius 5 f.).
92 Johannes Hahn
fällig einem epikureischen Philosophen und Verfasser einer Schrift Kma µuymv, Celsus, gewidmet - verweist auf philosophische Kreise, die sich um 180 polemisch mit zweifelhaften Charismatikern und „Wundertätern" auseinandersetzten, zu denen sie offenbar auch Apollonius, und zwar als einflußreichen Lehrer pseudo-pythagoreischer Scharlatane, zählten.
Der populären und zugleich heftig attackierten Apollonius-Tradition und -verehrung setzte Philostrat einen ganz anders gearteten Apollonius entgegen, nämlich einen pythagoreischen Philosophen, der durch sittliche Tätigkeit und reformerische Lehren hervortritt und dessen wahrhaft göttliche Natur und außerordentliche Fähigkeit, Wunder zu tun und die Zukunft zu schauen, auf dem Erwerb einer beispiellosen Weisheit beruhen, die nicht zuletzt durch extreme pythagoreische Lebensführung - Askese, V egetarismus, jahrelanges Schweigen - gewonnen wurde und ihn hierüber zu einem 9e1o<; Cx.vftp werden ließ. Des Apollonius unerhörte Fähigkeiten und Taten wurden mithin bewirkt Kma crocpiav, nicht µuyq> i:sxvn17.
An diesem Konzept, das streckenweise in unmittelbarer Auseinandersetzung mit den konkurrierenden Vorstellungen von Apollonius als Magier oder Zauberer entwickelt wird, sind verschiedene Aspekte bemerkenswert. Zunächst kann Philostrat selbst keinesfalls als Propagandist oder auch nur Anhänger der pythagoreischen Lehre bezeichnet werden, wie auch eigentlich philosophische Positionen jenseits populärer Allgemeinplätze in der Schrift nicht vertieft werden18• Die gelegentliche Hervorhebung pythagoreischer Züge - so die weiße Leinenkleidung des Apollonius, sein Verzicht auf Weingenuß und auf Speisen tierischen Ursprungs, sein Glaube an Seelenwanderung u.a. - bemüht nur gängige Topoi, verfolgt darin aber keine anderen Zwecke als die Evokation literarischen Kolorits19• So steht in Philostrats Darstellung immer die literarische Absicht und romanhafte Ausgestaltung im Vordergrund, welche sogar die Einbeziehung von - im Sinne der philostrateischen Polemik gegen µayda und yoTJi:da - anstößigen, aber eben effektvollen Episoden nicht ausschließt. Immerhin werden von dem Autor einzelne, in der älteren Tradition offenkundig betonte Elemente übergangen, so das auch von Moiragenes bezeugte Interesse des Apolloni-
17 Philostr., VA 1 2. Auch die prophetische Gabe des Tyaneers beruht so nicht etwa auf µavwia, sondern crocpia: eingehend entwickelt in V 11; vgl. F. SOLMSEN, Philostratos (wie Anm. 7), 142. Zahlreiche kursierende Wundererzählungen werden von Philostrat entsprechend umgedeutet, so - neben der Hellseherei gleichzeitiger weitentfernter Ereignisse (V 30; VIII 26) - Exorzismen (IV 20.25), Totenerweckung (IV 45 - mit bemerkenswerter Diskussion), die Bezwingung einer Pest in Ephesus (IV 10) oder die Begegnung mit einer Empusa (II 4).
18 Möglicherweise hat Philostrat hier ein im Umfeld des Zirkels der Iulia Domna vertretenes Konzept übernommen - an einen entsprechenden Auftrag der Kaiserin selbst ist schon angesichts der Formulierung in der Einleitung (1 3) nicht zu denken.
19 Siehe G. ANDERSON, Philostratus (wie Anm. 13), 136 f.
Weiser, göttlicher Mensch oder Scharlatan? 93
US für Astrologie bzw. die µavrnia uai-iprov, aber ebenso des Apollonius Zaubermittel gegen Stürme, Erdbeben, Ungeziefer und dergleichen, also Techniken und Talismane, deren magische Komponenten oder Natur kaum zu bestreiten waren20.
Zugleich rezipiert Philostrats Erzählung weitgespannte Erwartungshorizonte, die sich im volkstümlichen, aber auch gebildeten Denken der Zeit gleich mit einem ganzen Spektrum von Personengruppen - Philosophen, Wunderheilern, Magiern u.a. - verbanden, die als herausragende spirituelle Bezugspunkte ihrer Umwelt, mithin charismatische Figuren, weitreichende identitätsstiftende Funktionen und vielfältige - sozial, kulturell, politisch - mediatorische Aufgaben wahrnahmen. Öffentliche Wundertätigkeit zählte hier ebenso zu ihrem Repertoire wie Schlichterfunktionen und ausgedehnte Reisen21 • Nur der letztgenannte Aspekt soll hier kurz exemplarisch beleuchtet werden, um die Stilisierung des Apollonius als wahrer Philosoph durch Philostrat zu verdeutlichen.
Der philostrateische Apollonius begibt sich nach Arabien, Babylon, Indien, Kleinasien, Athen, Sparta, Rom, Gades, Libyen und Ägypten22• Nicht zufällig sind es zugleich die Ziele, die auch von den bedeutendsten Philosophen und Sophisten der hohen Kaiserzeit gerne aufgesucht wurden oder deren Besuch ihnen nachgesagt wurde, ein Sachverhalt, den Philostrat selbst biographisch in seinem anderen Hauptwerk, den Vitae Sophistarum, herausgearbeitet hat23 . Apollonius allerdings arbeitet den gesamten Kanon spirituell einschlägiger Stätten und Randregionen der bekannten Welt ab und eignet sich - hierin ein wahrer Planetiades, Weltenwanderer, wie der sprechende Beiname eines kynischen Wanderphilosophen des 2. Jahrhunderts lautete24 - damit in idealer Vollständigkeit das gesamte Spektrum aller je von Menschen gewonnenen Wissenstraditionen und Erkenntnistechniken an.
20 F. SOLMSEN, Philostratos (wie Anm. 6), 142. 21 Zur ausgedehnten Mittiertätigkeit des Apollonius, insbesondere in politischen Kon
texten, siehe die Zusammenstellung und Diskussion der Fälle bei J.-J. FLINTERMAN, Power (wie Anm. 6), 107-116.
22 J. ELSNER, Hagiographie Geography. Travel and Allegory in the Life of Apollonius of Tyana, JHS 117, 1997, 22-37, hier 22 f., mit weiteren Nachweisen und fruchtbarer Diskussion; siehe auch G. ANDERSON, Philostratus (wie Anm. 13), 199-226; DERS., Sage, Saint and Sophist. Holy Men and their Associates in the Early Roman Empire, London/New York 1994, 167-177.
23 G. ANDERSON, Philostratus (wie Anm. 13), 129; DERS., The Second Sophistic, London 1993, 28 ff.; M. DZIELSKA, Apollonius ofTyana (wie Anm. 2), 186.
24 Didymos Planetiades: Plut., de def. or. 7 (Mor. 413A). Zur Bedeutung konsequenter philosophischer Wandertätigkeit siehe J. HAHN, Der Philosoph und die Gesellschaft. Selbstverständnis, öffentliches Auftreten und populäre Erwartungen in der hohen Kaiserzeit, HABES 7, Stuttgart 1989, 167 ff. und 176 ff.
94 Johannes Hahn
Diese Vereinigung und Vollendung sämtlichen Wissens in der Gestalt des Apollonius findet ihren Ausdruck in weiteren Facetten. Philostrat läßt seinen Apollonius - auch hierin älteren populären Vorstellungen folgend25
- auf die berühmtesten Weisen seiner Zeit, auf Vertreter aller philosophischen Schulen und auf Repräsentanten heiligen Wissens wie Brahmanen und Gymnosophisten treffen und in Zwiegespräche mit ihnen eintreten. Regelmäßig ist es Apollonius, der sich dabei als der wahre oder doch seinem Gegenüber überlegene Weise hervortut oder von diesem ausdrücklich als Sachwalter göttlichen Wissens anerkannt wird. Dabei stellt er seine Überlegenheit in allen nur denkbaren Gebieten unter Beweis; er erscheint, wie es Graham Anderson zugespitzt formuliert, als „the superman's superman"26.
Ich muß darauf verzichten, hier im einzelnen darzulegen, daß auch spezifischere, in ihren Kernen für die Apollonius-Frage teils ungemein wertvolle Überlieferungen in Philostrats Werk eingingen: Erklärtermaßen berücksichtigte er auch lokale Traditionen von Städten und Tempeln, in denen Apollonius - wie etwa bei der Abwehr einer Pestepidemie in Ephesos - gewirkt hatte27• Diese Episoden bewahren zuweilen eigentümliche Wahrnehmungsperspektiven, dokumentieren vor allem aber, gerade in Verbindung mit inschriftlichen Zeugnissen28, die anhaltende Verehrung des Weisen - fast durchgängig allerdings als Wundermann.
Die umfängliche Rezeption zahlreicher literarischer wie philosophischer, religiöser und auch volkstümlicher Vorstellungsmuster von außerordentlichen, ja mit übermenschlichem Wissen und Fähigkeiten begabten Persönlichkeiten - seien sie charismatische Weise, Propheten oder Wundermänner - markiert die Apollonius-Schrift des Philostrat als bemerkenswerten Spiegel und Element eines lebendigen zeitgenössischen Diskurses über den vollendeten Weisen in seinem Verhältnis zu seinen Mitmenschen und zur göttlichen Sphäre - ein Diskurs, der sich nicht zufällig
25 Siehe J. HAHN, Philosoph und Gesellschaft (wie Anm. 24), 109 ff., bes. 117 f. 26 G. ANDERSON, Philostratus (wie Anm. 13), 136. 27 Philostrat erklärt VA I 2 f., daß er die Lokaltraditionen von Städten und Tempeln,
in denen Apollonius aufgetreten war, gesammelt habe. Eine ganze Reihe der im weiteren Werk überlieferten Episoden um den Tyaneer werden explizit mit diesen Quellen in Verbindung gebracht, so VI 43 und VIII 19. Bei weiteren scheint dies ebenso zuzutreffen, so IV 3 und 10; VIII 26. Insbesondere enthalten IV 1-33 und VI 36-43 Berichte über Apollonius' Aktivitäten in Griechenland und Kleinasien, die angesichts der fehlenden chronologischen Ordnung Lokaltraditionen entnommen sein dürften. Siehe F. SOLMSEN, Philostratos (wie Anm. 6), 147. Vgl. E.L. Bowrn, Apollonius (wie Anm. 8), 1666.
28 Siehe hierzu C.P. JONES, A Martyria for Apollonius of Tyana, Chiron 12, 1982, 137-144; DERS., An Epigram on Apollonius of Tyana, JHS 100, 1980, 190-194; M. DZIELSKA, Apollonius ofTyana (wie Anm. 2), 64 ff.
Weiser, göttlicher Mensch oder Scharlatan? 95
im 2. und 3. Jahrhundert angesichts zunehmender religiöser Orientierungslosigkeit und spiritueller Verunsicherung außerordentlich intensivierte.
Darüber hinaus stellt die Schrift ihrerseits einen markanten Beitrag zu diesem Diskurs dar, indem sie in ihrer Darstellung des Apollonius - teilweise zweifellos unter Rückgriff auf die ältere Tradition - auch spezifische Akzente setzt, dem idealen Weisen bestimmte bevorzugte Rollen zuweist und eigentümliche Ausprägungen vornimmt. Zunächst ist hervorzuheben, daß der philostrateische Apollonius eine eminent öffentliche Figur ist, die unermüdlich tätig ist, das Wort ergreift, interveniert, mahnt und lehrt. Bereits die Brieftradition gab dies unzweifelhaft vor, entwickelte es allerdings vornehmlich in ethischen Belangen29. Philostrat akzentuiert hingegen darüber hinaus die - politisch wie kulturell verstanden - hellenische Mission seines Protagonisten. Griechische Geschichte und Sprache liegen diesem am Herzen, er appelliert an griechische Poleis und seine Landsleute immer wieder, ihre hellenische Identität zu verteidigen und zu pflegen, ungriechische Neuerungen aber aufzugeben sowie den inneren Frieden zu wahren30. Die Gewißheit der Überlegenheit des Griechentums, seiner Kultur und soziopolitischen Organisation ist in seiner Botschaft und seinem Wirken zugleich allgegenwärtig.
Fast alle diese Facetten lassen sich in der Brieftradition um Apollonius wiederfinden (die teilweise allerdings nur im philostrateischen Werk „bewahrt" ist und - jedenfalls einzelne Schreiben - durchaus auf seine Invention zurückgehen kann31); doch fällt etwa auf, daß in keinem der Briefe Apollonius über die Rhetorik oder die griechische Sprache spricht. Noch aufschlußreicher ist vielleicht die Umdeutung, die Philostrat in bezug auf eine in der älteren Brieftradition vorgefundene Kritik des Apollonius am zeitgenössischen Griechentum vornimmt. Dort verurteilt der Weise die unter griechischen Aristokraten um sich greifende Sitte, römische Namen anzunehmen, als Verrat an den Traditionen und Symbolen ihrer hellenischen Identität - "CU "CWV 7tpoy6vcov cruµßoA,a - und erklärt, daß solchen Männern später von ihren Vorfahren mit Recht die Aufnahme in ihre Gräber verweigert werde. Philostrat paraphrasiert diesen zensorischen Brief des Apollonius allerdings dahingehend, daß dieser einen Fall von ßapßaptcrµ6c;, also einen eklatanten Verstoß gegen die Reinheit der griechischen Sprache, damit gebrandmarkt habe32 - der ursprüngliche scharfe
29 J.-J. FLINTERMAN, Power (wie Anm. 7), 97. 30 J.-J. FLINTERMAN, Power (wie Anm. 7), 90 ff. 31 Erscheinen verschiedene Briefe immanent plausibel, so sind andere von Philostrat
allein angeführte Schreiben bereits aus historischen Gründen obsolet: R.J. PENELLA, Letters of Apollonius (wie Anm. 9), 24 f„ mit Details.
32 Ap. Ty., ep. 71; M. DZIELSKA, Apollonius ofTyana (wie Anm. 2); Philostr„ VA IV 5.
96 Johannes Hahn
Vorwurf, Verrat an der gesamten sozialen wie kulturellen Identität begangen zu haben, ist so verwischt.
Das augenfällige philostrateische Konzept eines „hellenischen" Apollonius - und zwar in pointierter Fokussierung auf Sprache und Kultur - findet bemerkenswerte Parallelen in den Biographien der Sophisten und Philosophen aus der Feder desselben Verfassers. So ist es kein Zufall, daß es hier wie dort die literarische und rhetorische Kultur, die nm8da, ist, der die Schlüsselrolle im unablässigen Kampf um die Bewahrung der griechischen Identität zufällt - und Apollonius eine grundlegende Funktion in ihrer Vermittlung und Propagierung. Von Jugend an, heißt es, habe er, anders als seine kappadokischen Landsleute, nur reines Attisch gesprochen33 .
Später gilt seine rednerische Überzeugungskraft als unwiderstehlich, und sein Auftreten in den Poleis Kleinasiens bewirkt gar eine Blüte der vernachlässigten Rhetorik. Apollonius als Philosoph sophistischer Prägung -dies erhebt ihn zur Identitätsfigur der überlegenen, wiewohl von innen her bedroht erscheinenden griechischen Kultur seiner Zeit und bestimmt ihn zum Prediger und Vermittler hellenischen Geistes im fernen Indien ebenso wie in Ägypten oder Spanien. Und nicht anders als die Sophisten seiner Zeit in seinem biographischen Sammelwerk konturiert Philostrat Apollonius als politisch aktiven, ja gestaltenden Intellektuellen, der mit römischen Kaisern in Verbindung tritt, sie über die rechte Herrschaftsform belehrt, sie zurechtweist oder ihnen Ratschläge für den rechten Umgang mit griechischen Poleis gibt34.
Neben dieser systematischen Anverwandlung des Apollonius zu einem Protagonisten der Zweiten Sophistik der Zeit des Philostrat - als deren Namengeber, wichtigster Chronist und Propagandist ebendieser Autor späteren Generationen gelten sollte - fällt die Stilisierung des pythagoreischen Philosophen als religiöser Reformer, ein wichtiges Element der älteren Tradition und zugleich zweifellos des Selbstverständnisses des historischen Apollonius, wie seine Schrift IIepl. 0ucricov ausweist, deutlich ab.
33 Philostr., VA I 7. Hierzu gut J.-J. FLINTERMAN, Power (wie Anm. 7), 91. 34 Siehe besonders Philostr., VA V 27 ff. (Begegnung mit Vespasian in Alexandria),
der Kontakt mit Vespasians Sohn und Nachfolger Titus anläßlich der Eroberung Jerusalems 70 n. Chr. (VI 29) sowie die Diskussionen des Apollonius mit den Brahmanen (III 16 ff.). Besonders hervorgehoben (und durch die schließliche Apotheose des Apollonius als Klimax des Werkes bestimmt) ist die Konfrontation des Tyaneers mit dem Tyrannen Domitian in den Büchern VII-VIII. Zu dieser Einbettung des Apollonius in die Reichsgeschichte in den Büchern IV-VIII beachte J.-J. FLINTERMAN, Power (wie Anm. 7), 130-161. Vgl. insgesamt E. RAwsoN, Roman Rulers and the Philosophie Adviser, in: Philosophia Togata. Essays on Philosophy and Roman Society, hg. v. M. Griffith/J. Bames, Oxford 1989, 233-258, bes. 238; J. HAHN, Philosoph und Gesellschaft (wie Anm. 24), 184 und 187 f. (mit weiteren Belegen); G. ANDERSON, Sage, Saint and Sophist (wie Anm. 21), 151-162; J.-J. FLINTERMAN, Power (wie Anm. 7), 165 f. mit Anm. 193.
Weiser, göttlicher Mensch oder Scharlatan? 97
Zwar spiegeln zahlreiche Episoden das religiöse Engagement des Tyaneers: Apollonius besucht Tempel, übt Kritik an den religiösen Bräuchen der Zeit, reformiert Kulte und geißelt den Mangel an Frömmigkeit unter den Griechen seiner Zeit35. All dies verbindet sich mit einem nicht erst von Philostrat betonten außergewöhnlichen Verhältnis des Apollonius zu den Göttern, das bereits die von Vorzeichen und Wundern bestimmten Umstände seiner Geburt programmatisch ankündigen. Und es war die Aktivität als Wundertäter - der Philostrat in seinem Bemühen um Stilisierung eines philosophischen Apollonius allerdings mit einer bemerkenswerten Distanz gegenübersteht36 -, die Apollonius in den Augen seiner Umgebung als Mediator übernatürlicher Kräfte und göttlichen Willens auswies.
Der scheinbare religiöse Konservatismus des Apollonius, der in Einklang steht mit seinem Bemühen um Bewahrung der althergebrachten kulturellen und politischen Identität des zeitgenössischen Griechentums, weist allerdings Brüche und Widersprüche auf. Seine vehement vorgetragene -pythagoreische - Forderung nach unblutigen Opfern ist unvereinbar mit dem religiösen Traditionalismus37. Vollends idiosynkratische Züge erhält die öffentliche Religiosität des Apollonius durch dessen bevorzugte Verehrung des Helios. Dies spiegelt neuerlich philostrateisch-zeitgenössische Einflüsse, ja vielleicht sogar unmittelbar kaiserliche Religionspolitik, insofern die Helios-Verehrung unter den severischen Kaisern und ihren Nachfolgern einen außerordentlichen Aufschwung erfuhr. Nicht auszuschließen ist, daß lulia Domna selbst den Anstoß zu dieser Tendenz der von ihr in Auftrag gegebenen Apollonius-Schrift gab38•
35 Apollonius als religiöser Lehrer programmatisch in den Briefen: epp. 65-67. In der Vita des Philostrat siehe v.a. I 10 f.; V 25.28. Tempelbesuche: IV 11 ff.; IV 34; V 43. Hierzu E. KOSKENNIEMI, Die religiösen Tendenzen des Philostratos in der Vita des Apollonii Tyanensis, in: Literatur und Philosophie in der Antike, hg. v. E. Koskenniemi/S. Jäkel/V. Pyykkö, Turku 1986, 107-117, hier l 11 f.; DERS., Der philostrateische Apollonios, Helsinki 1991, 70 ff. Beachte auch J. ELSNER, Hagiographie Geography (wie Anm. 22), 25 f.
36 So ist es schwerlich ein Zufall, daß Philostrat ungeachtet der von ihm verschiedentlich bewahrten Berichte, die die göttlichen Züge des Apollonius hervorheben (seine divinatorischen Fähigkeiten, Wunder etc.), gerade am Ende seiner Schrift eine unzweideutig kritische Haltung gegenüber einem solchen Apollonius-Bild deutlich werden läßt: Seine Darstellung des Todes des Apollonius (VA IV 31 ), die drei unterschiedliche Versionen referiert, distanziert sich deutlich von derjenigen, die eine Apotheose einschließt, und bietet zugleich auch eine rein profane Tradition. Vgl. A. MENDELSON, Eusebius (wie Anm. 4), 514 f„ mit weiteren Hinweisen.
37 Philostr„ VA I 10; V 25; vgl. auch VIII 7,10. 38 G. PETZKE, Die Traditionen über Apollonius von Tyana und das Neue Testament,
Leiden 1970, 64 f.; E. KOSKENNIEMI, Religiöse Tendenzen (wie Anm. 35), 108 ff„ mit Belegen und Diskussion. Vgl. auch W. SPEYER, Zum Bild des Apollonios von Tyana bei Heiden und Christen, JbAC 17, 1974, 47-63, hier 49 f. (Ndr. in: DERS„ Frühes Christen-
98 Johannes Hahn
Vergeblich sucht man dagegen im Umfeld des philostrateischen Apollonius einen Hinweis auf das Christentum oder Christus. So offenkundig auch manche Parallelen des Lebens und Wirkens des Apollonius in der Schilderung des Philostrat zu der Darstellung des Lebens Jesu in den Evangelien (aber auch zur Stilisierung des Lebens der Apostel in den apokryphen Akten) scheinen39, so gibt es keine stichhaltigen Argumente dafür, daß der Verfasser der Vita Apollonii eine antichristliche Tendenz verfolgt hätte, wie sie seinem Text von spätantiken Exegeten, so Hierokles und Eusebius, beigelegt wurde. Ein Interesse am Christentum ist bei Philostrat mithin nicht gegeben oder wird zumindest nicht sichtbar - und spielt übrigens auch in seinen Sophistenviten keinerlei Rolle. Allerdings sollte auch Philostrats Darstellung des religiösen Wirkens des Apollonius nicht überschätzt werden: Mit dem Pythagoreismus seines Helden verbindet ihn persönlich nichts, und das gilt wohl auch für dessen religiöse Tätigkeitsfelder. Philostrats Interesse ist ein apologetisches (hier sind ihm manche Züge des Apollonius eher hinderlich), literarisches und schließlich ein kulturelles im umfassenden Verständnis des Begriffes eA.A. riv1crµ6c; seiner Zeit. So ist es ihm in seinem Werk in erster Linie um die Ausgestaltung einer kulturellen Identitätsfigur und Mittiergestalt zu tun, die aus dem verfügbaren Material der Apollonius-Figur und unter Rücksichtnahme auf zentrale Elemente dieser Tradition, insbesondere der Wundererzählungen, modelliert wird.
Die Schrift des Philostrat, unsere - von einzelnen Briefen sowie Testimonia abgesehen - früheste konturierte Apollonius-Tradition und -Ausgestaltung, nimmt ihren Ausgangspunkt, wie dies bereits das apologetische Programm am Anfang des Werkes verdeutlicht, von einem bereits lebendigen Diskurs um den Prediger und Wundermann aus Tyana, seinem Wirken und dessen Verständnis. Die folgende Überlieferungsgeschichte hat dafür gesorgt, daß die Auftragsarbeit des Philostrat zum wirkungsmächtigsten Beitrag dieses Diskurses, ja zu seiner weiteren Grundlage wurde. Sie verdrängte andere literarische Entwürfe und Positionen, obwohl sie ein zwar schillerndes, aber doch kein schlüssiges Bild und Deutungsschema des Apollonius entwarf - als ein Stück Literatur aber auch nicht entwerfen mußte.
Wenn Philostrats Schrift auch den weiteren literarischen Diskurs um Apollonius in der Spätantike, nun unter der Perspektive dezidierter christlich-heidnischer Kontroverse, dominierte, so hatte sie doch - dies ist wich-
turn im antiken Strahlungsfeld. Ausgewählte Aufsätze, Tübingen 1989, 176-192, hier 178 f.).
39 E. KOSKENNIEMI, Apollonios von Tyana in der neutestamentlichen Exegese, Tübingen 1994, 189 ff.
Weiser, göttlicher Mensch oder Scharlatan? 99
tig zu sehen - keineswegs alle Bedeutungshorizonte ihrer Zeit rezipiert geschweige denn in ihrer Akzentsetzung berücksichtigt. Die tatsächliche kultische Verehrung des Apollonius im religiösen Leben kommt in ihr, die das Wirken des Philosophen in biographischer Intention schildert, nur andeutungsweise zum Ausdruck. Gerade diese Verehrung bedeutete aber für christliche Autoren des 3. und beginnenden 4. Jahrhunderts einen entscheidenden Impetus, sich mit der Figur des Wundermannes auseinanderzusetzen.
Spätestens seit dem ausgehenden 2. Jahrhundert bezeugen literarische, aber auch epigraphische Quellen eine verbreitete kultische Verehrung des Apollonius. Philostrat selbst erwähnt sogar einen entsprechenden Versuch, der noch zu Lebzeiten des Tyaneers unternommen worden sei40• Verschiedene, auch inschriftliche Indizien weisen darauf hin, daß Apollonius in verschiedenen Städten - so in Ephesos, Aigai und Tarsos -, denen sein wundertätiges Wirken zugute gekommen war, zumindest nach seinem Tod kultische Verehrung entgegengebracht wurde, und ein inschriftliches Epigramm, das einen Kultbau des Apollonius geziert haben könnte, hebt elegisch seine übermenschliche, gottnahe Erscheinung - Heros oder Gott -hervor41 .
Ein in Kultfragen nüchterner Beobachter und Zeitzeuge (und zugleich Zeitgenosse des Philostrat), der Historiker Cassius Dio, überliefert, daß Kaiser Caracalla dem Weisen in Tyana, dessen Geburtsstadt, ein beeindruckendes Heroon habe errichten lassen42, und bekundet so die Verehrung, die Apollonius gerade auch in höchsten Kreisen genoß. Über Iulia Domnas genaue Beziehung zu Apollonius, dessen zeitgemäße, nämlich aktuellen Stilvorstellungen folgende literarische Darstellung sie dem Phi-
40 Philostr., VA IV 31: Apollonius verweigert sich der Absicht der Spartaner, ihn kultisch zu verehren.
41 In Ephesos, wo er gemäß einer lokalen Tradition gestorben sein soll (VIII 30), wurde Apollonius Lact., Inst. V 3,14 f., zufolge unter dem Namen Herakles Alexikakos verehrt (zur Deutung der Passage E.L. Bowrn, Apollonius [wie Anm. 8), 1687). Das zitierte Epigramm stammt wohl aus dem kilikischen Aigai, datiert offenbar in das 3. oder 4. Jh. und scheint einen Bau geziert zu haben, der eine Statue des Apollonius barg: C.P. JONES, Epigram (wie Anm. 28), bes. 193. Zur Interpretation vgl. auch N.J. RiCHARDSON/P. BURIAN, The Epigram on Apollonius of Tyana, GRBS 22, 1981, 283-285. Vgl. aber einschränkend D. POTTER, Recent Inscriptions from Fiat Cilicia, JRA 2, 1989, 309 f. (unter Einbeziehung von Überlegungen von G. Dagron).
42 Cass. Dio LXXVII 18,4 (vgl. LXVII 18,1 f.); vgl. F. MILLAR, A Study of Cassius Dio, Oxford 1964, 19 f. Es ist davon auszugehen, daß der Kult des Apollonius in seiner Heimatstadt bereits vor dieser kaiserlichen Stiftung florierte. Zudem könnte die (auf Autopsie beruhende) Rede des Philostrat (Ap. VIII 31) im letzten Satz seines Werkes von ii:pa, die die Kaiser in Tyana dem Apollonius errichteten, sogar auf die Existenz eines weiteren kaiserlichen (Vorläufer-)Baus verweisen: M. DZIELSKA, Apollonius of Tyana (wie Anm. 2), 56 ff.
100 Johannes Hahn
lostrat ans Herz legte, läßt sich nur mutmaßen. Alexander Severus soll sogar eine Statuette des Apollonius neben solchen des Christus, Abraham und Orpheus in seinem Lararium aufgestellt haben, während Kaiser Aurelian durch eine Erscheinung des Apollonius an einer Zerstörung Tyanas gehindert worden sei43. Die beiden letzteren Zeugnisse sind angesichts der Zeitstellung der Historia Augusta und ihrer offen antichristlichen Tendenz zwar von zweifelhafter Historizität, immerhin aber belegen sie eine bemerkenswerte Funktionalisierung der Apollonius-Figur im heidnischchristlichen Diskurs der Spätantike. Der kommentierende Hinweis des anonymen Verfassers des Geschichtswerkes auf die zahlreichen Tempel, in denen Apollonius verehrt werde, ist jedenfalls angesichts der oben angeführten Evidenz unbedingt ernst zu nehmen44•
Spätestens in Verbindung mit dem von Hierokles um 300 n. Chr. vorgenommenen Vergleich von Apollonius mit Christus gerät der Tyaneer schließlich in das polemische Visier christlicher Autoren. Auftakt zu dieser religiös fokussierenden Debatte mag dabei die intensive Benutzung von Schriften des Apollonius - Vita des Pythagoras, Schrift über die Opfer, Briefe - durch den Neuplatoniker Porphyrius gewesen sein, der sich ihrer mehrfach in seinem uns nur noch fragmentarisch überlieferten CEuvre bediente und sie dabei auch für seine Polemik gegen das Christentum und Jesus als dessen Stifter heranzog45• Doch offenbar rückte erst Hierokles Apollonius den Wundertäter in den Mittelpunkt des heidnisch-christlichen Schlagabtausches - und dies allein auf der Basis der Vita Apollonii des Philostrat. Diese erfuhr von nun an eine breite Rezeption und ließ andere Darstellungen, etwa die Apollonius-Schrift des Moiragenes, die der Kirchenlehrer Origenes noch 248 n. Chr. herangezogen hatte46
, in Vergessenheit geraten.
Dieser religiös aufgeladene Diskurs um Apollonius zeigt dabei bemerkenswerte Züge. Erstens stützt er sich zwar auf die Schrift des Philostrat,
43 HA, Al. Sev. 29,2; M.A. VILLACAMPA RUBIO, EI valor hist6rico de la Vita Alexandri Severi en los Scriptores Historiae Augustae, Zaragoza 1988, 158 ff. HA, Aur. 24,2-9; H. BRANDT, ,Heidnische Vision' (wie Anm. 1).
44 Vgl. den Hinweis des Lact„ Inst. V 3, auf die Verehrung des Apollonius als Apollonius Alexicacus in Ephesus sowie die oben (Anm. 41) genannten Inschriften. Zur Aussage der Historia Augusta siehe oben Anm. l.
45 Zusammenstellung und Diskussion der einschlägigen Fragmente bei T.D. BARNES, Porphyry Against the Christians: Date and the Attribution of Fragments, JThS 24, 1973, 424-442. Problematisch ist die Datierung der Schrift und ihrer Publikation: Die gängige Datierung um 270 n. Chr. wird von Bames in Zweifel gezogen und eine spätere Publikation erwogen. A. KOFSKY, Eusebius of Caesarea (wie Anm. 2), 60, weist darauf hin, daß die meisten der von Hierokles angeführten Argumente - auch der Vergleich von Apollonius und Jesus - bereits in der Schrift des Porphyrius gegen die Christen enthalten waren.
46 Or„ Cels. IV 41 (mit eindeutiger Charakterisierung des Apollonius als Zauberer).
Weiser, göttlicher Mensch oder Scharlatan? 101
doch ignorieren christliche wie heidnische Autoren den eigentlich philostrateischen Apollonius und bedienen sich nur der Episoden und Kennzeichnungen, die Apollonius als Wundertäter thematisieren - ein Wirkungsfeld, das Philostrat mühsam von dem Magievorwurf zu lösen versucht und mit seinem Konzept eines übermenschlichen Wissens des Apollonius als dezidiert philosophischen Wesenszug zu assimilieren sich bemüht hatte47. Zweitens fällt damit die Diskussion, wenn auch unter gewandelten Vorzeichen, wieder in die Auseinandersetzung um den Charakter und die Herkunft der Wunderfähigkeit des Apollonius zurück. Drittens implizierte die Streitfrage, ob Philosoph, Magier (µayrn;) oder Scharlatan (y611<;), im Kontext des 4. Jahrhunderts und der rapiden Kriminalisierung jeglicher Magie unter den christlichen Kaisern nun eine Gratwanderung ganz neuer Qualität und Bedrohlichkeit: Bereits die Anwendung dieser zuvor nur partiell (µayo<;) spezifischen und insofern - ungeachtet ihrer meist negativen Tendenz (yÜTJ<;) - doch auch offenen, juristisch zudem fragwürdigen Begriffe bedeutete nicht länger die Diffamierung einer Person, sondern evozierte ihre Vernichtung48• Und schließlich viertens: Die skizzierte, auf die Wunder- und Magiefrage reduzierte christlichheidnische Apollonius-Diskussion des 4. Jahrhunderts markiert ein endgültiges Zerbrechen des Apollonius-Diskurses, den Philostrat, bei eigenen Akzentsetzungen, in seinem Werk doch zumindest skizzenhaft noch in der Breite seiner Facetten und Bedeutungszusammenhänge gespiegelt hatte. Dieses Zerbrechen wird unmittelbar sichtbar und markant faßbar in der eingangs dargelegten Polemik zwischen Hierokles und Eusebius; sie reduziert das facettenreiche Phänomen Apollonius nun auf seine Wundertätigkeit und deren Ursprung und Qualifikation im religiös-ideologischen W ettbewerb49•
Tatsächlich wurde ein weiterer Apollonius-Diskurs, offenkundig unberührt von diesen Diskussionen, auch noch in den abgeschlossenen Zirkeln
47 Bereits Hierokles führte, wie das bei Eusebius (Hierocl. 2) bewahrte lange Zitat verdeutlicht, die Zahl und Art der Wunder des Apollonius als das entscheidende Argument gegen den Jesus der Christen und die Leichtgläubigkeit seiner Anhänger ins Feld, hielten diese ihren Religionsstifter doch aufgrund weit bescheidenerer Taten bereits für einen Gott, während Apollonius den Heiden nur als gottgefällig galt.
48 Vgl. hierzu detailliert M.TH. FöGEN, Die Enteignung der Wahrsager. Studien zum kaiserlichen Wissensmonopol in der Spätantike, Frankfurt 1993, passim (spezifisch zu Apollonius 210 ff.). Siehe auch M.W. DICIGE, Magie and Magicians in the Greco-Roman World, London 2001, 251 ff. Zum Begriffsfeld und seinen Tendenzen siehe - mit weiterführenden Hinweisen - auch J.-J. FLINTERMAN, Power (wie Anm. 7), 59 ff.
49 Dabei kann sich, wie die Überlegungen in Hierocl. 3 zeigen, bemerkenswerterweise auch ein christlicher Autor wie Eusebius dem Problem der Göttlichkeit des Apollonius, seiner Verortung zwischen Mensch und Gott, das bereits Philostrat beschäftigte, angesichts der außerordentlichen Taten des Tyaneers nicht entziehen.
102 Johannes Hahn
griechischer Intellektueller der Oberschicht seit dem 3. Jahrhundert gepflegt. Die Feststellung des Eunapius um 400 n. Chr., „Apollonius war nicht nur Philosoph, sondern ein Halbgott, zwischen Mensch und Gott"50,
später ergänzt durch die Bemerkung, daß einige ihn als Gott verehrten, führt in die Kreise der Neuplatoniker, in denen pythagoreisches Gedankengut - und die Pythagoras-Vita des Apollonius, von Porphyrius wie lamblichus intensiv konsultiert51 - großen Anklang fand. So unscharf - und zudem durch den programmatischen neuplatonischen Rückgriff auf die Figur des Pythagoras überlagert - dieses Bild angesichts der fragmentarischen Überlieferung in diesen Kreisen auch bleibt, so steht doch außer Zweifel, daß jene Neuplatoniker sich primär für die religiös-theologischen und thaumaturgischen Aspekte des W erkes52 und Lebens des Apollonius interessierten - also für jene Facetten seines Wirkens, an denen Philostrat im Sinne seines ,hellenischen' Apollonius gerade kein Interesse haben durfte. Diese Spuren können hier nicht im einzelnen verfolgt werden. Doch sei darauf hingewiesen, daß die Neuplatoniker eingehend diskutierten, wie ein direkter Kontakt mit der Gottheit hergestellt werden könne, über welche theurgischen und hieratischen Techniken - also magisch-mystische und asketische Praktiken - eine Vereinigung des inspirierten Philosophen mit den Göttern möglich wäre53 . Daß hier neben Pythagoras auch Apollonius - zudem Propagandist des Pythagoras - eine archetypische Bedeutung zukommen konnte, liegt auf der Hand.
Diese Verbindung ist unlängst durch einen spektakulären Grabungsbefund bestätigt und zudem in einem außerordentlich aufschlußreichen Kontext verortet worden. Die Freilegung eines großen Gebäudekomplexes, wahrscheinlich das Akademiegebäude einer bedeutenden Philosophenschule, im Zentrum des karischen Aphrodisias, einem Brennpunkt paganer Kul-
50 Eun., VS 454. 51 Porph., VP 1 f.; Iamb., VP 254. Siehe P. Cox, Biography in Late Antiquity. A
Quest for the Holy Man, Berkeley 1983, 20 ff. und 34 ff.; M.J. EDWARDS, Birth, Death, and Divinity in Porphyry's Life of Plotinus, in: Greek Biography and Panegyric in Late Antiquity, hg. v. T. Hägg/Ph. Rousseau, The Transformation ofthe Classical Heritage 31, Berkeley u.a. 2000, 52-71, hier 54 f. Die Frage der Authentizität dieser Pythagoras-Vita, in der Forschung umstritten (siehe zusammenfassend J.-J. FLINTERMANN, Power [wie Anm. 7], 77-79), ist für die hier verfolgte Argumentation von untergeordneter Bedeutung: Nicht nur die Suda (s.v. A 3420), sondern auch spätantike Autoren (beachte zusätzlich nun vor allem die im folgenden dargelegte wichtige archäologische Evidenz aus Aphrodisias!) hielten die unter dem Namen des/eines Apollonius kursierende Vita des Pythagoras für eine Schrift des Tyaneers.
52 Über Porphyrius besitzen wir das einzige erhaltene Fragment aus der Schrift Über die Opfer des Apollonius (s. Anm. 10).
53 Siehe hierzu G. SHAW, Theurgy. Rituals of Unification in the Neoplatonism of Iamblichus, Traditio 41, 1985, 1-28, passim; G. FOWDEN, The Egyptian Hermes. A Historical Approach to the Late Pagan Mind, Cambridge 1986, 126-134.
Weiser, göttlicher Mensch oder Scharlatan? 103
tur und Bildung in der Spätantike, brachte ein Dutzend großer marmorner Medaillons mit Porträtbüsten aus dem 5. Jahrhundert zutage, die der architektonischen Ausschmückung des zentralen Hörsaals dienten54• Diese Kunstwerke in ungewöhnlicher Qualität bieten, heute teils zerstört, Porträts der bedeutendsten Denker und Politiker der klassischen griechischen Kultur, ergänzt durch solche zeitgenössischer anonymer Philosophen. Neben Pindar, Sokrates, Aristoteles fanden sich Alkibiades und Alexander, weiterhin - unbenannt - ein Sophist, zeitgenössische Philosophen sowie, für die hiesige Themenstellung entscheidend, ein stark beschädigtes Medaillon mit verlorener Büste: Die Umschrift bezeichnet die verlorene Persönlichkeit als Apollonius, und es steht außer Frage, daß es sich um den Tyaneer handelt, denn sein dekoratives Pendant, als solches ausgewiesen nicht nur durch die naheliegende spirituelle Paarung, sondern auch durch Ähnlichkeiten in der handwerklichen Oberflächenbearbeitung, in Ornat u.a.55, stellt eine Porträtbüste des Pythagoras dar, die gleichfalls dem Ensemble angehörte.
Ich muß mich auf einen knappen Kommentar beschränken: Die Aufnahme des Apollonius in dieses außerordentliche Ensemble historischer und kultureller Größen des Griechentums56 verkündet gewissermaßen augenfällig eine unzweideutige Botschaft: Der Philosoph Apollonius zählt für die Angehörigen der verbliebenen paganen Elite der Epoche zu den zentralen Identitätsfiguren, d.h. den für die Bestimmung der eigenen kulturellen und historischen Identität in einer Zeit des tiefgreifenden Wandels verbliebenen personalisierten geistigen Bezugspunkten. Im gegebenen Zusammenhang wird seine Bedeutung als eminente Bezugsgröße für intellektuelle Kreise der traditionalistischen spätantiken Elite noch näher bestimmt durch seine explizite Paarung mit Pythagoras. Dieser figurierte als „patron saint"57 des theurgisch orientierten Neuplatonismus und galt mit seinem
54 Zu Fundort, Fundstücken und Fundumständen samt ausführlicher Diskussion der Befunde und ihrer Interpretation R.R.R. SMITH, Late Roman Philosopher Portraits at Aphrodisias, JRS 80, 1990, 127-155, passim - mit Fotos aller geborgenen Porträts auf den Tafeln VI-XVI, darunter Abbildungen der beiden hier interessierenden Büsten des Apollonius und des Pythagoras auf Tafel XI-, und DERS„ Late Roman Philosophers, in: Aphrodisias Papers 2. The Theater, a Sculptor's Workshop, Philosophers, and CoinTypes. Including the Papers Given at the 3rct International Aphrodisias Colloquium Held at New York University on 7 and 8 April, 1989, hg. v. R.R.R. Smith/K.T. Erim, JRA Suppl. Ser. 2, Ann Arbor 1991, 144-158.
55 R.R.R. SMITH, Late Roman Philosopher Portraits (wie Anm. 54), 141 f. 56 Es ist evident, daß der Kreis der geborgenen und identifizierbaren Porträts unvoll
ständig ist: Es fehlt die Büste Platons, die in einem solchermaßen neuplatonischen Kontext nicht gefehlt haben kann. Siehe R.R.R. SMITH, Late Roman Philosopher Portraits (wie Anm. 54), 143.
57 R.R.R. SMITH, Late Roman Philosopher Portraits (wie Anm. 54), 143.
104 Johannes Hahn
unerreichten Wissen und seinen praktischen Fähigkeiten in Fragen des Götterkultes und der Mysterien gleichermaßen als Archetypus wie Paradigma des spirituellen Philosophen. Hiervon zeugen nicht zuletzt die entsprechend hagiographisch ausgestalteten Biographien aus der Feder bedeutender Neuplatoniker und die dezidiert pythagoreisierenden Züge ihres Philosophierens58• Diese spezifische Ausdeutung des Pythagoras verbindet sich im vorliegenden Zusammenhang mit der Figur des Apollonius: Es ist der Pythagoreer Apollonius mit seinem weisheitsmäßigen wie thaumaturgischen Zugang zum Göttlichen, der hier abgebildet erscheint und zugleich - neben Platon und Pythagoras - als einer der Väter des Neuplatonismus beansprucht wird59• Doch wird mit der Einbindung seines Bildnisses in die Galerie der Geistesgrößen der hellenischen Kultur zugleich auch seine selbstverständliche Zugehörigkeit zur Welt der nmöda. programmatisch artikuliert.
Die Ausstrahlung und Rezeption des Apollonius in der Kultur der paganen Eliten des spätantiken Imperiums beschränkte sich allerdings nicht auf den griechischen Osten oder neuplatonische Zirkel. Für das ausgehende 4. Jahrhundert läßt sich in der römischen Senatsaristokratie ein sprunghaft steigendes Interesse an dem griechischen Weisen erkennen. Dessen Popularität in diesen Kreisen verdeutlicht zunächst die Wiedergabe seines Porträts auf Kontomiaten, also in der stadtrömischen Aristokratie des späten 4. Jahrhunderts anläßlich des Neujahrsfestes zirkulierenden Geschenkrnedaillons60.
Unter den vielen hier abgebildeten Motiven erscheinen zunächst die Bildnisse mehrerer griechischer und römischer Philosophen und Autoren als eine frühe Gruppe. Bemerkenswert ist, daß Porträts des Apuleius und des Apollonius erst zwei Jahrzehnte später, um 395 n. Chr., geprägt wurden. Dies mag darauf hinweisen, daß beide vornehmlich in ihrer Eigenschaft als Magier für die Münzbilder ausgewählt wurden61 . Doch nicht nur
58 D.J. O'MEARA, Pythagoras Revived. Mathematics and Philosophy in Late Antiquity, Oxford 1989, 2 ff. und passim. Zur biographischen Tradition und dem Beitrag der Neuplatoniker siehe P. Cox, Biography (wie Anm. 51), besonders 32 ff.
59 Die wohl bemerkenswerteste und ausdrucksvollste Büste in der Porträtgalerie ist die eines zeitgenössischen Neuplatonikers, der als inspirierter, visionärer Denker dargestellt wird: R.R.R. SMITH, Late Roman Philosopher Portraits (wie Anm. 54), 144-146 mit Tafeln XII und XIII - „perhaps the finest sculptured image of a late antique sage to have come down to us" (144).
60 F.P. MITTAG, Alte Köpfe in neuen Händen. Urheber und Funktion der Kontorniaten, Ant. R. 3, Bd. 38, Bonn 1999, 115 f. und 159-164.
61 Apuleius, Autor von De magia, wurde in der Spätantike vor allem als Magier geschätzt: F.P. MITTAG, Alte Köpfe (wie Anm. 60), 115 und 163 f. Pythagoras ist offenbar nur auf der Rückseite eines gegossenen Kontorniaten überliefert: a.a.O., 163. Apollonius und Apuleius scheinen auch sonst im gebildeten Diskurs dieser Zeit verschiedentlich als
Weiser, göttlicher Mensch oder Scharlatan? 105
angesichts der Unsicherheiten der Datierung der Medaillons sollte man darauf verzichten, die Abbildung dieser beiden Repräsentanten von im christlichen Imperium verbotenen magischen Praktiken in einem Zusammenhang mit der sogenannten heidnischen Reaktion unter Eugenius sehen zu wollen62.
Einer der hervorragendsten Vertreter dieser Gruppe, Nicomachus Flavianus, Konsul im Jahr 394 n. Chr„ übersetzte zudem die ApolloniusSchrift des Philostrat ins Lateinische. Dies spiegelt neuerlich, daß die kulturell-politische Ausdeutung dieses Autors jedenfalls in Kreisen der paganen Aristokratie der Spätantike das Apollonius-Verständnis weiter prägte63. Das weitere literarische Schicksal des Apollonius bzw. Philostrat im Westen ist so gut wie nicht mehr zu fassen; es lassen sich nur Hypothesen darüber aufstellen. Nur ein karger Hinweis auf eine offenbar anhaltende, dabei allerdings sicherlich nicht neuplatonischen Deutungsmustem folgende, vielmehr unabhängige diskursive Rezeption der Figur des Tyaneers existiert und weist in den gallischen Raum. Die Notiz legt eine Aneignung des Weisen als kulturelle Identifikationsfigur nahe, und zwar durch eine in ihrer physischen Existenz bedrohte traditionelle Elite: Im westgotisch besetzten Südgallien beschäftigte sich Sidonius Apollinaris, der Bitte eines Freundes folgend, mit einer Überarbeitung der Philostrat-Übertragung des Nicomachus Flavianus. Als Vorlage diente ihm eine bereits von der Hand eines Standesgenossen korrigierte Fassung des Nicomachus-Textes64. All dies läßt auf eine verbreitete Lektüre der Lebensbeschreibung in der gallorömischen Aristokratie schließen.
Doch darf nicht vergessen werden, daß Apollonius in der Spätantike nicht nur Brennpunkt einer religiösen und kulturellen Diskussion war. Als weit nachhaltiger sollte sich eine dritte Linie des ursprünglichen Apolloni-
Magier einander zur Seite gestellt worden zu sein: Ein Briefpartner des Augustinus nötigte diesen, „über die Wunder der Zauberer Apollonius und Apuleius" zu sprechen (August„ ep. 136,1).
62 Die wirkungsmächtige These A. Alföldis von den Kontomiaten als Zeugnissen einer heidnischen Reaktion der stadtrömischen Aristokratie; hierzu nun zusammenfassend F.P. MITTAG, Alte Köpfe (wie Anm. 60), 215 ff. Zur Problematik der Datierung a.a.O„ 217-219.
63 Hierzu eingehend, allerdings in mancher Hinsicht nicht überzeugend, M. DZIELSKA, Apollonius ofTyana (wie Anm. 2), 164 ff.
64 Sidon„ ep. 8,3,1. Dieser ältere senatorische Standesgenosse, Tascius Victorianus, machte sich als Herausgeber der ersten Dekade des Livius einen Namen, die er den Symmachi dedizierte.
106 Johannes Hahn
us-Diskurses erweisen, die allerdings kaum Niederschlag in der literarischen Überlieferung gefunden hat: die volkstümliche65 .
Erst Eusebius gibt beiläufig davon Kenntnis, daß zu seiner eigenen Zeit zauberkräftige Objekte des Tyaneers existierten; von Philostrat waren diese - wie wir gesehen haben: aus durchsichtigen Gründen - in dessen monumentaler Darstellung des Lebens und Wirkens des Apollonius ohne Erwähnung geblieben66• Die Talismane gegen Schlangen- oder Skorpionsplagen, die Apollonius in Städten und ländlichen Regionen des Ostens aufgestellt hatte bzw. die seiner Tätigkeit zugeschrieben wurden, bewahrten ihre apotropäische Wirkung (oder doch den populären Glauben an diese) noch weit in die byzantinische Zeit hinein. Die arabischen Quellen kennen Apollonius später als „Meister der Talismane", und ihr Verfertiger galt als der Magier schlechthin67•
Im spätantiken Syrien meinte ein christlicher Autor sogar eine schlüssige Erklärung für die Wirksamkeit der Talismane angeben zu müssen: Apollonius habe sich die natürlichen Kräfte der Dinge zunutze gemacht, und Gott lasse die Talismane weiterbestehen, weil sie den Menschen im Materiellen helfen könnten68• Derselbe Autor beharrt allerdings wiederum darauf, daß Gott die Orakel einer Statue des Apollonius, die verlangten, den Tyaneer als einen Gott zu verehren, zum Schweigen gebracht habe69•
Auch diese Äußerung spiegelt zweifelsfrei einschlägige zeitgenössische und populäre Traditionen.
Es scheint, daß diese zähe volkstümliche Verehrung wiederum auch ihre Wirkung bei christlichen Predigern und Bischöfen zeitigte. Selbst Eusebius nennt Apollonius ungeachtet seiner Polemik gegen Hierokles „einen in menschlichen Dingen sehr weisen Mann", und weitere christliche Zeitge-
65 Einige Stränge der zu Beginn des 3. Jahrhunderts kursierenden mündlichen Überlieferung zu Apollonius gingen immerhin in die Darstellung des Philostrat ein; siehe besonders VA 1 2 (sowie oben Anm. 27).
66 Eus., Hierocl. 44. 67 U. WEISSER, Das ,Buch über das Geheimnis der Schöpfung' von Pseudo
Apollonios von Tyana, Berlin/New York 1980, 21 ff. 68 Ps.-Just., qu. et resp. 24 (PG 6, 1269 f.): „Wenn Gott der Schöpfer und Herr der
Schöpfung ist, wie können dann die Talismane des Apollonius in den Teilen der Schöpfung Kraft haben? Denn, wie wir sehen, verhindern sie den Andrang des Meeres, die Gewalt der Winde und die Angriffe der Mäuse und der wilden Tiere. Und wenn die Wunder des Herrn nur in der Erzählung berichtet werden, die meisten Taten des Apollonius aber in den Gegenständen selbst gezeigt werden, wie sollen sie da nicht den Betrachter täuschen?" Zu einer gleichfalls differenzierenden Einordnung des Wirkens des Apollonius durch einen christlichen syrischen (oder palästinischen?) Autor vom Beginn des 6. Jh., Ps.-Nonnos (ad Greg. Naz. or. 1 c. Jul. 70 [PG 36, 1021 B/D]), siehe W. SPEYER, Zum Bild des Apollonios von Tyana (wie Anm. 38), 56.
69 Ps.-Just., qu. et resp. 24 (PG 6, 1269 f.).
Weiser, göttlicher Mensch oder Scharlatan? 107
nossen äußern sich gleichfalls differenzierend70. Die christlichen Autoren der Spätantike zollen mit solchen Urteilen einer lebendigen, im unmittelbaren Umfeld ihrer Gemeinden gepflegten volkstümlichen Verehrung des Tyaneers Tribut. Zugleich konzedieren sie implizit eine legitime Wirkungsmacht des Apollonius als Magier - nicht Scharlatan! - und Mediator übernatürlicher Kräfte. Dieser ,tolerierte' Apollonius ist allerdings nicht derjenige, der in der gebildeten apologetischen Kontroverse um wahre Wundertätigkeit als paganer Gegenentwurf zu Jesus Christus heftig bekämpft wurde: Apollonius fügte sich vielmehr nun in die rapide wachsende Schar von Heiligen und Nothelfern ein, deren Anrufung die Kirche ihren Gläubigen in den Nöten des Alltagslebens zugestehen mußte.
Weniger den Wandlungen des literarischen Apollonius-Diskurses als den so schwer faßbaren volkstümlichen Vorstellungen vom Auftreten und Wirken dieses Wundermannes wird schließlich dessen Erscheinen in einem Kontext ganz anderer Art zu schulden sein: Spätestens in mittelbyzantinischer Zeit fand Apollonius Aufnahme im Kreis jener heidnischen Weisen, die als Zeugen Christi und seiner Kirche gelten durften und so sogar in das Bildprogramm byzantinischer Kirchenmalerei eingingen71
. Vor dem Hintergrund der oben dargelegten vehementen Ablehnung des Tyaneers durch die Kirchenväter bewerkstelligte die populäre Apologetik hier in nachgerade ironischer Wendung eine bemerkenswerte Versöhnung des paganen Wundermannes mit dem Wirken Jesu.
Auch diese überraschende Facette eines positiven christlichen Apollonius-Diskurses muß sicher auf pagane Stränge der Apollonius-Tradition zurückgeführt werden. Die außerordentlichen prophetischen Fähigkeiten des Tyaneers zählen zum ursprünglichen Bestand der ApolloniusÜberlieferung. Nicht anders als die Zeugnisse der Wundertätigkeit fanden die Weissagungen des Apollonius weite Resonanz. Während aber erstere, die naturgemäß den Vorwurf der Zauberei auf sich ziehen konnten, etwa in der Darstellung des Philostrat nach Möglichkeit eliminiert oder rationalisiert wurden, waren die Visionen als eines 8doc; avfip würdige (und vertraute) inspirierte Emanationen kaum anstößig und so auch für den literarischen Chronisten des Tyaneers ohne weiteres biographiefähig. Außerhalb
70 Eus„ Hierocl. 5. Hierzu - wie auch zu weiteren, hier nicht ausgeführten Äußerungen spätantiker christlicher Autoren - M. DZIELSKA, Apollonius of Tyana (wie Anm. 2), 163 ff. Augustinus bestritt empört, daß der Tyaneer über Christus gestellt werden könne, doch sei er immerhin mehr wert als Iuppiter: August„ ep. 138,18; vgl. ep. 136,1; 102,32. Zum Zeugnis des Augustinus beachte P. DE LABRIOLLE, La reaction paienne. Etude sur la polemique antichretienne du!°' au VI° siede, Paris 91950 (1. Aufl. 1934), 454 ff„ sowie M. DZIELSKA, a.a.O„ 179.
71 A. VON PREMERSTEIN, Griechisch-heidnische Weise als Verkünder christlicher Lehre, in: Festschrift der Nationalbibliothek in Wien, Wien 1926, 658 f.; vgl. K. GROSS, Art. Apollonius v. Tyana, RAC I, 1950, 529-533, hier 531.
108 Johannes Hahn
des literarischen Diskurses kursierte aber offensichtlich zudem die Vorstellung dezidierter Orakel (0scrnicrµa:ta) des Apollonius in breiten Bevölkerungskreisen 72• Verschiedene spätantike christliche Autoren mühten sich mit der Einordnung und Bewertung dieser Sprüche ab, konnten sich aber, wie schon bei den Talismanen des Apollonius, zu keiner kategorischen Verurteilung entschließen 73•
Die letzten Beobachtungen unterstreichen die Bedeutung außerliterarischer Überlieferungen und Traditionsbildungen für die Ausgestaltung von Identifikationsfiguren, verdeutlichen aber ebenso die Interpretationsspielräume und Vereinnahmungsmöglichkeiten im Umgang mit ihnen. Vor allem veranschaulichen sie den bemerkenswerten Einfluß, den populäre Traditionen auf Prozesse der literarischen Ausformung und sachlichen Differenzierung nehmen können. Zudem zeigen sie, wie nachhaltig lebendige volkstümliche Verehrung auch auf eine fortdauernde diskursive Auseinandersetzung um eine solche Figur einwirken kann.
Der literarische Apollonius erweist sich hierbei hinsichtlich seiner Umdeutungen methodisch wie inhaltlich als besonders aufschlußreich, stellt sich doch der um diese Figur gesponnene Diskurs als ungemein vielschichtig und mannigfaltig aufgeladen dar. Die Figur unterliegt extremen Wandlungen: Apollonius erscheint als pythagoreischer Weiser, als Philosoph, als 0doc; avfip, als religiöser Reformer oder hellenischer Propagandist, als Scharlatan, als Zauberer und Repräsentant schwarzer Magie. Die krasse Gegensätzlichkeit mancher dieser Konzepte beruht dabei weniger auf einer differierenden Beurteilung des konkreten Tuns des Apollonius als vielmehr auf der Strittigkeit jener Tätigkeitsmerkmale, die die Außerordentlichkeit seines Wirkens hervorheben und beglaubigen sollten: Wunder und Prophezeiungen als Ausfluß göttlicher Inspiration. Die religiösen und theologischen Implikationen dieses durchaus traditionellen, allerdings pointiert artikulierten Anspruchs ließen im Kontext der sich zuspitzenden
72 Vgl. Suda s.v. Apollonius (1 307,20 Adler) sowie Ps.-Georg. Codin., Patria Konstantinoupoleos 2,79 (l 191,15 ff. Präger) (10. Jh.), der eherne Säulen in Byzanz erwähnt, auf denen Apollonius seine Weissagungen angebracht habe. Hierzu W. SPEYER, Zum Bild des Apollonios von Tyana (wie Anm. 38), 55 ff. mit Anm. 54 und 103.
73 Mochte der eine Autor (Ps.-Nonnos, ad Greg. Naz. or. 1 c. Iul. 70 [PG 36, 1021 B/D]) den Orakeln des Apollonius noch gute Zwecke zubilligen, so verweigerte sich ein anderer diesen erst, als sie die göttliche Natur des Apollonius explizierten und dessen kultische Verehrung einforderten (Ps.-Just„ quaest. et resp. 24; siehe auch oben S. 106 mit Anm. 69). Vgl. W. SPEYER, Zum Bild des Apollonios von Tyana (wie Anm. 38), 55, mit eingehender Diskussion. Speyer möchte eine heidnische Vorlage für Ps.-Nonnos annehmen. In Zusammenschau mit der verzweigten lokalen Überlieferung zu Apollonius in Städten des östlichen Mittelmeerraums - und auch dem Duktus der Quellenäußerung -spricht allerdings weit mehr für die Annahme einer mündlichen Überlieferung, mit der sich der unbekannte christliche Schriftsteller auseinandersetzt.
Weiser, göttlicher Mensch oder Scharlatan? 109
christlich-paganen Auseinandersetzung um das Problem von Göttlichkeit und Einzigartigkeit diese Facette des Apollonius-Bildes - scheinbar - die Oberhand gewinnen, konnten aber, bei genauer Betrachtung, die verschiedenen anderen Wahrnehmungsweisen und Geltungsbereiche des Tyaneers
. nie verdrängen.
Der Versuch, die Apollonius-Überlieferung vor diesem Hintergrund auf maßgebliche historische Voraussetzungen und Zusammenhänge hin zu untersuchen, hat, so hoffe ich, die komplexe Vielschichtigkeit des hier wirksamen Apollonius-Diskurses aufzeigen können. Die literarische Ebene dieses Diskurses, die sich, gerade da der historische Apollonius kaum noch faßbar war, seiner Person gewissermaßen als beschreibbarer Folie bedienen konnte und sie zur weiteren Ausgestaltung - oder auch: Konstituierung - einer Identitätsfigur und Mittlergestalt nutzte, erwies sich dabei als das Ergebnis verschiedener Faktoren, und zwar 1. der jeweils vorgefundenen literarischen Entwürfe und der Auseinandersetzung mit ihnen, 2. der Rezeption zeitgenössisch kursierender Sichtweisen und Traditionen (vor allem auch lokaler und volkstümlicher), 3. der eigenen Prägung und Interessen oder Ziele des Autors sowie seiner Wahlmöglichkeiten, 4. der Prägekraft des gewählten literarischen Genus (Vita, Roman etc.). Und schließlich, 5„ finden auch zeitgenössische - religiöse, kulturelle, soziale und politische - Bedingungen, bewußt oder unbewußt, Eingang in das Bild der Figur, die den Lesern als der wahre Apollonius vorgestellt wird.