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Sonderdruck aus: Literarische Konstituierung von Identifikationsfiguren in der Antike herausgegeben von Barbara Aland, Johannes Hahn und Christian Ronning Mohr Siebeck 2003 Dieser Sonderdruck ist im Buchhandel nicht erhältlich.

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Sonderdruck aus:

Literarische Konstituierung von Identifikationsfiguren

in der Antike herausgegeben von

Barbara Aland, Johannes Hahn und Christian Ronning

Mohr Siebeck 2003

Dieser Sonderdruck ist im Buchhandel nicht erhältlich.

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Sonderdruck aus:

Literarische Konstituierung von Identifikationsfiguren

in der Antike herausgegeben von

Barbara Aland, Johannes Hahn und Christian Ronning

Mohr Siebeck 2003

Weiser, göttlicher Mensch oder Scharlatan? Das Bild des Apollonius von Tyana bei Heiden und Christen

von

JOHANNES HAHN

„Gibt es unter den Menschen einen, der heiliger, verehrungswürdiger, altehrwür­diger und göttlicher ist als jener Mann (Apollonius)? Er hat Tote wieder zum Le­ben erweckt, er hat vieles gewirkt und gesprochen, was über menschliches Ver­mögen hinausgeht. Wer sich darüber unterrichten möchte, möge die griechischen Bücher lesen, die über sein Leben geschrieben worden sind."1

Dieses Diktum, vorgeblich von einem Autor des späten 3. Jahrhunderts geäußert, tatsächlich aber wohl um 400 n. Chr. niedergeschrieben, umreißt den Gegenstand der folgenden Überlegungen - Aspekte der Überliefe­rungs- und Wirkungsgeschichte des Apollonius von Tyana, einer Persön­lichkeit des 1. Jahrhunderts n. Chr. - und eröffnet einen ersten Einstieg in die damit verbundenen Probleme, nämlich die heftigen antiken Auseinan­dersetzungen um diesen Weisen und Wundertäter. Denn jener Apollonius -Magier, Philosoph oder Scharlatan? -, den der Verfasser der Historia Au­gusta als spätantiken heidnischen Heiligen und Theurgen apostrophierte, war zeit seines Lebens, vor allem seines Nachlebens, umstritten.

In das grelle Rampenlicht religiöser und ideologischer Auseinanderset­zungen geriet Apollonius dabei erst in der Zeit der Tetrarchie, gewisser­maßen am Vorabend der konstantinischen Wende, als sich wohl kurz nach Beginn des 4. Jahrhunderts, vielleicht 302/3 n. Chr., ein hoher kaiserlicher Beamter und maßgeblicher Beteiligter der diokletianischen Christenverfol-

1 HA, Aur. 24,8: quid enim illo viro sanctius, venerabilius, antiquius diviniusque inter homines fuit? ille mortuis reddidit vitam, ille multa ultra homines et fecit et dixit. quae qui velit nasse, Graecos legat libros, qui de eius vita conscripti sunt. Zu dieser Stelle und ihrem weiteren Bedeutungszusammenhang in dem Geschichtswerk und - möglicherweise - der heidnisch-christlichen Auseinandersetzung in der Spätantike siehe H. BRANDT, Die ,heidnische Vision' Aurelians (HA, A 24, 2-8) und die ,christliche Vision' Konstantins des Großen, in: Historiae Augustae. Colloquium Maceratense. Atti dei convegni intema­zionali sulla "Historia Augusta". 1992, a cura di G. Bonamente/G. Paci, Historiae Augu­stae colloquia N.S. 3 = Munera 4, Bari 1995, 107-117.

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gungen, Hierokles2, in einer gegen die Christen gerichteten Kampfschrift mit dem Titel Philaletes, „Wahrheitsliebhaber", seiner bediente, um die Einzigartigkeit Christi als göttlichen Menschen zu attackieren3. Diese Po­lemik veranlaßte den christlichen Schriftsteller Eusebius dazu, umgehend eine Schrift unter dem Titel Gegen die Lebensbeschreibung des Apolloni­us, verfaßt von Philostrat, anläßlich der von Hierokles gezogenen Paralle­le zwischen jenem und Christus zu verfassen - eine furiose, wenn auch wenig sachhaltige oder überzeugende Widerlegung, die zugleich unsere Hauptquelle für die Argumente der verlorenen Schrift des Hierokles dar­stellt4. Hierokles hatte nicht nur den Apollonius Jesus gegenübergestellt und die Apollonius-Schrift des Philostrat den Evangelien; auch die Leicht­gläubigkeit der Christen angesichts der doch bescheidenen Wunder Christi wurde von ihm angegriffen, insbesondere aber die göttliche Natur Christi grundsätzlich bestritten. Dieser christlichen Auffassung stellte der heidni­sche Autor das Konzept eines den Göttern gefälligen und göttlich inspirier­ten Menschen entgegen, wie ihn der große Wundertäter Apollonius in he­rausragender Weise repräsentierte5•

Diese wichtige Kontroverse wird später aber noch einmal aufgegriffen werden, soll hier jedoch zunächst nicht weiter auf ihre Relevanz für die leitende Fragestellung hin untersucht werden; vielmehr soll das Problem der Identifikationsfigur und Mittlergestalt und ihrer literarischen Konstitu­ierung zunächst auf der Ebene weiterverfolgt werden, auf die - ein bemer­kenswerter Zug der Auseinandersetzung zwischen Hierokles und Eusebius - bereits die beiden Kontrahenten als Quellenbasis bzw. literarische Tra-

2 Hierzu M. DZIELSKA, Apollonius of Tyana in Legend and History, Rome 1986, 153 ff.; A. KOFSKY, Eusebius of Caesarea against Paganism, Jewish and Christian Per­spectives Series 3, Leiden 2000, 58 ff. (mit Details). Zur Person des Hierokles und zur mutmaßlichen Datierung der Schrift siehe vor allem T.D. BARNES, Sossianus Hierocles and the Antecedents of the Great Persecution, HSCP 80, 1976, 239-252; vgl. aber M. FORRAT, Introduction, in: Eusebe de Cesaree, Contre Hierocles, hg. v. M. Forrat/E. des Places, SC 333, Paris 1986, 20-24, und A. KOFSKY, a.a.0., 63 f.

3 Hierokles war dabei nicht der erste, der sich der Person des Apollonius (und der Schrift des Philostrat) bediente, um sie polemisch gegen die Christen ins Feld zu führen: Der Platoniker Porphyrius hatte wenig früher in Contra Christianos gleichfalls Apolloni­us (und Apuleius) als Beispiele von Wundertätern, die in ihrem thaumaturgischen Wirken dem Jesus der Evangelien weit überlegen gewesen seien, benannt. Hierzu M. DZIELSKA, Apollonius ofTyana (wie Anm. 2), 96-99.

4 Edition: Eusebe de Cesaree, Contre Hierocles (wie Anm. 2). Siehe hierzu - neben Einleitung und Kommentar der Edition - M. DZIELSKA, Apollonius of Tyana (wie Anm. 2), bes. 153 ff.; A. MENDELSON, Eusebius and the Posthumous Career of Apollonius of Tyana, in: Eusebius, Christianity and Judaism, hg. v. H.W. Attridge/G. Hata, Detroit (Mich.) 1992, 510-522; A. KOFSKY, Eusebius ofCaesarea (wie Anm. 2), 58 ff.

5 Programmatisch in der Wiedergabe des Philaletes des Hierokles in Eus., Hierocl. 2.

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dition hatten rekurrieren müssen6: die Schrift des Philostrat über Apolloni­us, verfaßt wohl um 220 n. Chr.7, also fast ein Jahrhundert zuvor.

Vorab möchte ich betonen, daß Gegenstand dieser Analyse nicht so sehr literarische Gestaltungstechniken in der Apollonius-Überlieferung sind. Ziel und Programm der folgenden Ausführungen - die einen V ersuch dar­stellen, historisch relevante Parameter der literarischen Ausgestaltung ei­ner Persönlichkeit des öffentlichen Lebens freizulegen - ist vielmehr, er­stens Traditionsstränge, historische Voraussetzungen und zeitgenössische Rahmenbedingungen zu erschließen, welche als formende Kräfte die Dar­stellung des Apollonius, seiner Rolle und seines Wirkens in seinem Um­feld entscheidend bestimmten. Im engeren gehört hierzu zweitens die Ana­lyse des literarischen, insbesondere kulturellen und auch theologischen Diskurses in seiner überlieferungsgeschichtlichen Wirksamkeit, der sich alsbald um die Figur des Apollonius entspann. Schließlich ist drittens aber auch die Frage nach der historischen und diskursiven Wirksamkeit von Überlieferungen und Traditionslinien zu stellen, die keinen oder nur schat­tenhaften Eingang in die weitere Ausgestaltung der Apolloniusfigur gefun­den haben bzw. die in der trümmerhaften Überlieferung der spätantiken Literatur nicht bewahrt worden sind. Diese verweisen auf leicht übersehe­ne Realitäten und Bedeutungsfelder der Apollonius-Tradition, die jedoch entscheidende komplementäre Bereiche zum nur ausschnitthaft fokussie­renden literarischen Apollonius-Diskurs zu benennen imstande ist. All dies kann angesichts der Vielfalt der Überlieferungen und der zahlreichen rele­vanten Bezüge und Verlaufslinien nicht in der ganzen Breite der mögli­chen Beweisführungen und entsprechenden Dokumentation erfolgen, son­dern muß um der Klarheit des Arguments willen sich auf das Sichtbarma­chen der wesentlichen Strukturen und Zusammenhänge beschränken.

Das primär historische Erkenntnisziel, das hier verfolgt wird, muß dabei in einem zentralen Punkt unerfüllt bleiben: Der historische Apollonius ent­zieht sich ungeachtet einer vielfältigen späteren Tradition vollständig unse­rer Wahrnehmung. Über seine Lebenszeit - das erste Jahrhundert-, seine Herkunft aus dem kappadokischen Tyana, den zweifelsfreien Aufenthalt in einer Handvoll griechischer Poleis und die Überlieferung einer aufsehener-

6 Dies ergibt sich bei Eusebius aus Hierocl. 3 und explizit aus der Formulierung Hie­rocl. 4,30 f. (sowie passim), bei Hierokles aus Hierocl. 2,27-29, wo dieser einerseits das Werk des Maximus von Aigai nennt, andererseits den von Philostrat erfundenen (s.u. Anm. 13) Damis als Begleiter und Schriftzeugen des Apollonius, schließlich aber das Werk Philostrats als Referenz nennt.

7 Zur Datierung siehe F. SOLMSEN, Art. Philostratos, RE XXII, 1941, 125-177, hier 139; sowie J.-J. FLINTERMAN, Power, Paideia & Pythagoreanism. Greek Identity, Con­ceptions of the Relationship between Philosophers and Monarchs and Political Ideas in Philostratus' Life of Apollonius, Dutch Monographs on Ancient History and Archaeology 13, Amsterdam 1995, 26 und 221 (wahrscheinlich nach 222 n. Chr.).

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regenden Wundertätigkeit hinaus sind keine gesicherten Feststellungen zu seiner Person und seinem historischen Wirken möglich8. Zeitgenössische Quellen zu Apollonius fehlen vielleicht gänzlich: Die unter seiner Autor­schaft firmierenden zahlreichen Briefe sind zumindest überwiegend un­echt9, die ihm zugeschriebenen, aber verlorenen Werke, eine Lebensbe­schreibung des Pythagoras, Orakelsprüche, eine Schrift Über die Opfer (hieraus ist ein Zitat bewahrt10) und ein Testament sind in ihrer Echtheit umstritten11 •

Der uns faßbare Apollonius ist ausschließlich der über ein Jahrhundert später von dem griechischen Literaten und Sophisten Philostrat in einer umfänglichen Schrift programmatisch ausgestaltete pythagoreische Weise. Allerdings konnte Philostrat nicht frei die ihm vorliegenden Überlieferun­gen zu einem autoritativen biographischen Werk verarbeiten. Seine Schrift ist stark von der Auseinandersetzung mit einer reichen und divergierenden Traditionsbildung bestimmt, die ihn sowohl in der zu wählenden literari­schen Form wie in der Einordnung und Bewertung seines Helden zu Ent­scheidungen zwang.

Konnte die Schrift eines Maximus von Aigai über den frühen Apol­lonius ihm offenbar als Steinbruch für Episoden um den Tyaneer dienen, so warfen die 4 Bände Erinnerungen an Apollonius aus Tyana, den Magier und Philosophen des Moiragenes12, der vehementen Kritik Philostrats an der angeblichen Ignoranz ihres Autors nach zu schließen - dem tatsächlich wohl das erst zu verdrängende Standardwerk über Apollonius zu verdan­ken war - nach Gehalt und Perspektive gewichtigere Probleme auf. Phi-

8 Die optimistische Grundauffassung von F. GROSSO, La «Vita di Apollonio di Tiana» come fonte storica, Acme 7, 1954, 331-532, hinsichtlich einer grundsätzlichen Authenti­zität der Persönlichkeit des in der Vita geschilderten Apollonius und der dort dargestell­ten Begebenheiten wird in der Forschung einhellig abgelehnt. Als quellenkritisch grund­legend anerkannt ist vielmehr die Analyse von E. MEYER, Apollonios von Tyana und die Biographie des Philostratos, Hermes 52, 1917, 371-424 (Ndr. in: DERS., Kleine Schrif­ten, II, Halle 1924, 131-191 ). Vgl. E.L. BOWIE, Apollonius of Tyana: Tradition and Re­ality, in: ANRW II 16.2 (1978), 1652-1699, bes. 1653 ff.

9 Zu diesem Problemfeld siehe die abgewogenen Feststellungen von R.J. PENELLA (Hg.), The Letters of Apollonius of Tyana. A Critical Text with Prolegomena, Transla­tion and a Commentary, Leiden 1979, 23-29, im Kontext seiner Edition und Kommentie­rung der Briefe. Vgl. J.-J. FLINTERMAN, Power (wie Anm. 6), 70-72.

10 Fragment bei Eus., p.e. IV 12,13 (vermittelt über die Lektüre des Porphyrius). 11 Hierzu zusammenfassend J.-J. FLINTERMAN, Power (wie Anm. 7), 67 ff. Bestritten

wird die Nachricht der Suda von der Existenz einer Pythagoras-Vita aus der Feder des Apollonius durch P. GORMAN, The "Apollonius" of the Neoplatonic Biographies of Py­thagoras, Mnemosyne 38, 1985, 130-144.

12 Hierzu gut E.L. Bowrn, Apollonius (wie Anm. 8), 1674, sowie D.H. RAYNOR, Moeragenes and Philostratus. Two Views of Apollonius of Tyana, CQ 34, 1984, 222-226.

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lostrat reagierte hierauf nicht mit der Abfassung eines Bios, also einer fe­sten literarischen Konventionen folgenden Darstellung des Lebens seines Protagonisten. Vielmehr verschaffte er seinem Werk dadurch Originalität und sachliches Gewicht, daß er zum einen eine Lebensgeschichte des Apollonius verfaßte, die gattungsmäßig Biographie, Aretalogie und Reise­roman miteinander verband. Zum anderen behauptete er, sich auf eine erst­rangige Quelle zu stützen, nämlich die holperigen, zuverlässigen Auf­zeichnungen eines Apollonius-Schülers namens Damis. Dessen Hypo­mnemata seien ihm von Kaiserin Iulia Domna, deren Intellektuellenzirkel Philostrat lange Jahre angehörte, mit dem Auftrag übergeben worden, sie in angemessene literarische Form zu bringen. Tatsächlich konnte schon Eduard Meyer diese Damis-Quelle als literarische Fiktion erweisen13. Die in diesen Feststellungen und Aussagen sich bereits deutlich abzeichnende Gemengelage von kursierenden Quellen und Traditionen, konkurrierenden Darstellungen und Fiktionen sowie zu ihrer Publikation gewählten literari­schen Ausdrucksformen verweist nachhaltig auf einen vielschichtigen Dis­kurs und zeitgenössischen Deutungsstreit um die Person und Bewerturig des Apollonius, in dem sich Philostrat mit seinem Werk zu positionieren und durchzusetzen hatte.

Philostrats Schrift verfolgt gleichermaßen literarische Ambitionen und einen apologetischen Zweck14. Sie tritt einer Auffassung entgegen, die Apollonius als Magier (µciyoc;) deutete und seine Wundertaten und Pro­phezeiungen in den Mittelpunkt seines Wirkens stellte - eine Perspektive, die den Tyaneer damit zugleich jedoch auch dem naheliegenden Vorwurf der yorrrnia, der betrügerischen Zauberei und Scharlatanerie, aussetzte, wie ihn etwa eine Generation vor Philostrat Lukian in schärfster Form äu­ßerte15. Das verhängnisvolle Wirken dieses Typus, eines vorgeblich mit göttlichen Kräften begabten, ja gottähnlichen Mittlers, tatsächlich aber Betrügers, der sich schwarzer Magie und Zaubertricks bedient, parodiert und seziert der Satiriker Lukian in der Person eines Enkelschülers des Apollonius, Alexander von Abonuteichos, der sich sogar zur Installierung eines einträglichen eigenen Kultes verstieg16. Lukians Attacke - nicht zu-

13 Philostr., VA 1 3 zu Vorlage und literarischem Auftrag. Hierzu E.L. Bowrn, Apol­lonius (wie Anm. 7), 1663-1666 und 1670; vgl. E. MEYER, Apollonius von Tyana (wie Anm. 7). Zusammenfassend siehe auch SOLMSEN, Philostratos (wie Anm. 7), 147 ff. G. ANDERSON, Philostratus. Biography and Beiles Lettres in the Third Century A.D„ Lon­don 1986, 155 ff., steht mit seinem Versuch, der „Damis-Quelle" wieder eine gewisse Authentizität zuzusprechen, wohl allein.

14 Zum apologetischen Zug der Vita Apollonii siehe jetzt S. SWAIN, Defending Helle­nism: Philostratus' In Honour of Apollonius, in: Apologetics in the Roman Empire, hg. v. M.J. Edwards/M.D. Goodman/S.R.F. Price, Oxford 1999, 157-196, insbesondere 189 ff.

l5 M. DZIELSKA, Apollonius ofTyana (wie Anm. 2), 86-93. 16 Lukian., Alex. sive Pseudomantis, passim (zu Apollonius 5 f.).

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fällig einem epikureischen Philosophen und Verfasser einer Schrift Kma µuymv, Celsus, gewidmet - verweist auf philosophische Kreise, die sich um 180 polemisch mit zweifelhaften Charismatikern und „Wundertätern" auseinandersetzten, zu denen sie offenbar auch Apollonius, und zwar als einflußreichen Lehrer pseudo-pythagoreischer Scharlatane, zählten.

Der populären und zugleich heftig attackierten Apollonius-Tradition und -verehrung setzte Philostrat einen ganz anders gearteten Apollonius entgegen, nämlich einen pythagoreischen Philosophen, der durch sittliche Tätigkeit und reformerische Lehren hervortritt und dessen wahrhaft göttli­che Natur und außerordentliche Fähigkeit, Wunder zu tun und die Zukunft zu schauen, auf dem Erwerb einer beispiellosen Weisheit beruhen, die nicht zuletzt durch extreme pythagoreische Lebensführung - Askese, V e­getarismus, jahrelanges Schweigen - gewonnen wurde und ihn hierüber zu einem 9e1o<; Cx.vftp werden ließ. Des Apollonius unerhörte Fähigkeiten und Taten wurden mithin bewirkt Kma crocpiav, nicht µuyq> i:sxvn17.

An diesem Konzept, das streckenweise in unmittelbarer Auseinander­setzung mit den konkurrierenden Vorstellungen von Apollonius als Magier oder Zauberer entwickelt wird, sind verschiedene Aspekte bemerkenswert. Zunächst kann Philostrat selbst keinesfalls als Propagandist oder auch nur Anhänger der pythagoreischen Lehre bezeichnet werden, wie auch eigent­lich philosophische Positionen jenseits populärer Allgemeinplätze in der Schrift nicht vertieft werden18• Die gelegentliche Hervorhebung pythago­reischer Züge - so die weiße Leinenkleidung des Apollonius, sein Verzicht auf Weingenuß und auf Speisen tierischen Ursprungs, sein Glaube an See­lenwanderung u.a. - bemüht nur gängige Topoi, verfolgt darin aber keine anderen Zwecke als die Evokation literarischen Kolorits19• So steht in Phi­lostrats Darstellung immer die literarische Absicht und romanhafte Aus­gestaltung im Vordergrund, welche sogar die Einbeziehung von - im Sinne der philostrateischen Polemik gegen µayda und yoTJi:da - anstößigen, aber eben effektvollen Episoden nicht ausschließt. Immerhin werden von dem Autor einzelne, in der älteren Tradition offenkundig betonte Elemente übergangen, so das auch von Moiragenes bezeugte Interesse des Apolloni-

17 Philostr., VA 1 2. Auch die prophetische Gabe des Tyaneers beruht so nicht etwa auf µavwia, sondern crocpia: eingehend entwickelt in V 11; vgl. F. SOLMSEN, Philostra­tos (wie Anm. 7), 142. Zahlreiche kursierende Wundererzählungen werden von Philostrat entsprechend umgedeutet, so - neben der Hellseherei gleichzeitiger weitentfernter Ereig­nisse (V 30; VIII 26) - Exorzismen (IV 20.25), Totenerweckung (IV 45 - mit bemer­kenswerter Diskussion), die Bezwingung einer Pest in Ephesus (IV 10) oder die Begeg­nung mit einer Empusa (II 4).

18 Möglicherweise hat Philostrat hier ein im Umfeld des Zirkels der Iulia Domna ver­tretenes Konzept übernommen - an einen entsprechenden Auftrag der Kaiserin selbst ist schon angesichts der Formulierung in der Einleitung (1 3) nicht zu denken.

19 Siehe G. ANDERSON, Philostratus (wie Anm. 13), 136 f.

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US für Astrologie bzw. die µavrnia uai-iprov, aber ebenso des Apollonius Zaubermittel gegen Stürme, Erdbeben, Ungeziefer und dergleichen, also Techniken und Talismane, deren magische Komponenten oder Natur kaum zu bestreiten waren20.

Zugleich rezipiert Philostrats Erzählung weitgespannte Erwartungs­horizonte, die sich im volkstümlichen, aber auch gebildeten Denken der Zeit gleich mit einem ganzen Spektrum von Personengruppen - Philoso­phen, Wunderheilern, Magiern u.a. - verbanden, die als herausragende spirituelle Bezugspunkte ihrer Umwelt, mithin charismatische Figuren, weitreichende identitätsstiftende Funktionen und vielfältige - sozial, kultu­rell, politisch - mediatorische Aufgaben wahrnahmen. Öffentliche Wun­dertätigkeit zählte hier ebenso zu ihrem Repertoire wie Schlichterfunktio­nen und ausgedehnte Reisen21 • Nur der letztgenannte Aspekt soll hier kurz exemplarisch beleuchtet werden, um die Stilisierung des Apollonius als wahrer Philosoph durch Philostrat zu verdeutlichen.

Der philostrateische Apollonius begibt sich nach Arabien, Babylon, In­dien, Kleinasien, Athen, Sparta, Rom, Gades, Libyen und Ägypten22• Nicht zufällig sind es zugleich die Ziele, die auch von den bedeutendsten Philo­sophen und Sophisten der hohen Kaiserzeit gerne aufgesucht wurden oder deren Besuch ihnen nachgesagt wurde, ein Sachverhalt, den Philostrat selbst biographisch in seinem anderen Hauptwerk, den Vitae Sophistarum, herausgearbeitet hat23 . Apollonius allerdings arbeitet den gesamten Kanon spirituell einschlägiger Stätten und Randregionen der bekannten Welt ab und eignet sich - hierin ein wahrer Planetiades, Weltenwanderer, wie der sprechende Beiname eines kynischen Wanderphilosophen des 2. Jahrhun­derts lautete24 - damit in idealer Vollständigkeit das gesamte Spektrum aller je von Menschen gewonnenen Wissenstraditionen und Erkenntnis­techniken an.

20 F. SOLMSEN, Philostratos (wie Anm. 6), 142. 21 Zur ausgedehnten Mittiertätigkeit des Apollonius, insbesondere in politischen Kon­

texten, siehe die Zusammenstellung und Diskussion der Fälle bei J.-J. FLINTERMAN, Po­wer (wie Anm. 6), 107-116.

22 J. ELSNER, Hagiographie Geography. Travel and Allegory in the Life of Apollonius of Tyana, JHS 117, 1997, 22-37, hier 22 f., mit weiteren Nachweisen und fruchtbarer Diskussion; siehe auch G. ANDERSON, Philostratus (wie Anm. 13), 199-226; DERS., Sage, Saint and Sophist. Holy Men and their Associates in the Early Roman Empire, London/New York 1994, 167-177.

23 G. ANDERSON, Philostratus (wie Anm. 13), 129; DERS., The Second Sophistic, London 1993, 28 ff.; M. DZIELSKA, Apollonius ofTyana (wie Anm. 2), 186.

24 Didymos Planetiades: Plut., de def. or. 7 (Mor. 413A). Zur Bedeutung konsequen­ter philosophischer Wandertätigkeit siehe J. HAHN, Der Philosoph und die Gesellschaft. Selbstverständnis, öffentliches Auftreten und populäre Erwartungen in der hohen Kaiser­zeit, HABES 7, Stuttgart 1989, 167 ff. und 176 ff.

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Diese Vereinigung und Vollendung sämtlichen Wissens in der Gestalt des Apollonius findet ihren Ausdruck in weiteren Facetten. Philostrat läßt seinen Apollonius - auch hierin älteren populären Vorstellungen folgend25

- auf die berühmtesten Weisen seiner Zeit, auf Vertreter aller philosophi­schen Schulen und auf Repräsentanten heiligen Wissens wie Brahmanen und Gymnosophisten treffen und in Zwiegespräche mit ihnen eintreten. Regelmäßig ist es Apollonius, der sich dabei als der wahre oder doch sei­nem Gegenüber überlegene Weise hervortut oder von diesem ausdrücklich als Sachwalter göttlichen Wissens anerkannt wird. Dabei stellt er seine Überlegenheit in allen nur denkbaren Gebieten unter Beweis; er erscheint, wie es Graham Anderson zugespitzt formuliert, als „the superman's su­perman"26.

Ich muß darauf verzichten, hier im einzelnen darzulegen, daß auch spe­zifischere, in ihren Kernen für die Apollonius-Frage teils ungemein wert­volle Überlieferungen in Philostrats Werk eingingen: Erklärtermaßen be­rücksichtigte er auch lokale Traditionen von Städten und Tempeln, in de­nen Apollonius - wie etwa bei der Abwehr einer Pestepidemie in Ephesos - gewirkt hatte27• Diese Episoden bewahren zuweilen eigentümliche Wahr­nehmungsperspektiven, dokumentieren vor allem aber, gerade in Verbin­dung mit inschriftlichen Zeugnissen28, die anhaltende Verehrung des Wei­sen - fast durchgängig allerdings als Wundermann.

Die umfängliche Rezeption zahlreicher literarischer wie philosophi­scher, religiöser und auch volkstümlicher Vorstellungsmuster von außeror­dentlichen, ja mit übermenschlichem Wissen und Fähigkeiten begabten Persönlichkeiten - seien sie charismatische Weise, Propheten oder Wun­dermänner - markiert die Apollonius-Schrift des Philostrat als bemer­kenswerten Spiegel und Element eines lebendigen zeitgenössischen Dis­kurses über den vollendeten Weisen in seinem Verhältnis zu seinen Mit­menschen und zur göttlichen Sphäre - ein Diskurs, der sich nicht zufällig

25 Siehe J. HAHN, Philosoph und Gesellschaft (wie Anm. 24), 109 ff., bes. 117 f. 26 G. ANDERSON, Philostratus (wie Anm. 13), 136. 27 Philostrat erklärt VA I 2 f., daß er die Lokaltraditionen von Städten und Tempeln,

in denen Apollonius aufgetreten war, gesammelt habe. Eine ganze Reihe der im weiteren Werk überlieferten Episoden um den Tyaneer werden explizit mit diesen Quellen in Ver­bindung gebracht, so VI 43 und VIII 19. Bei weiteren scheint dies ebenso zuzutreffen, so IV 3 und 10; VIII 26. Insbesondere enthalten IV 1-33 und VI 36-43 Berichte über Apol­lonius' Aktivitäten in Griechenland und Kleinasien, die angesichts der fehlenden chrono­logischen Ordnung Lokaltraditionen entnommen sein dürften. Siehe F. SOLMSEN, Phi­lostratos (wie Anm. 6), 147. Vgl. E.L. Bowrn, Apollonius (wie Anm. 8), 1666.

28 Siehe hierzu C.P. JONES, A Martyria for Apollonius of Tyana, Chiron 12, 1982, 137-144; DERS., An Epigram on Apollonius of Tyana, JHS 100, 1980, 190-194; M. DZIELSKA, Apollonius ofTyana (wie Anm. 2), 64 ff.

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im 2. und 3. Jahrhundert angesichts zunehmender religiöser Orientierungs­losigkeit und spiritueller Verunsicherung außerordentlich intensivierte.

Darüber hinaus stellt die Schrift ihrerseits einen markanten Beitrag zu diesem Diskurs dar, indem sie in ihrer Darstellung des Apollonius - teil­weise zweifellos unter Rückgriff auf die ältere Tradition - auch spezifische Akzente setzt, dem idealen Weisen bestimmte bevorzugte Rollen zuweist und eigentümliche Ausprägungen vornimmt. Zunächst ist hervorzuheben, daß der philostrateische Apollonius eine eminent öffentliche Figur ist, die unermüdlich tätig ist, das Wort ergreift, interveniert, mahnt und lehrt. Be­reits die Brieftradition gab dies unzweifelhaft vor, entwickelte es aller­dings vornehmlich in ethischen Belangen29. Philostrat akzentuiert hingegen darüber hinaus die - politisch wie kulturell verstanden - hellenische Mis­sion seines Protagonisten. Griechische Geschichte und Sprache liegen die­sem am Herzen, er appelliert an griechische Poleis und seine Landsleute immer wieder, ihre hellenische Identität zu verteidigen und zu pflegen, ungriechische Neuerungen aber aufzugeben sowie den inneren Frieden zu wahren30. Die Gewißheit der Überlegenheit des Griechentums, seiner Kul­tur und soziopolitischen Organisation ist in seiner Botschaft und seinem Wirken zugleich allgegenwärtig.

Fast alle diese Facetten lassen sich in der Brieftradition um Apollonius wiederfinden (die teilweise allerdings nur im philostrateischen Werk „be­wahrt" ist und - jedenfalls einzelne Schreiben - durchaus auf seine Inven­tion zurückgehen kann31); doch fällt etwa auf, daß in keinem der Briefe Apollonius über die Rhetorik oder die griechische Sprache spricht. Noch aufschlußreicher ist vielleicht die Umdeutung, die Philostrat in bezug auf eine in der älteren Brieftradition vorgefundene Kritik des Apollonius am zeitgenössischen Griechentum vornimmt. Dort verurteilt der Weise die unter griechischen Aristokraten um sich greifende Sitte, römische Namen anzunehmen, als Verrat an den Traditionen und Symbolen ihrer helleni­schen Identität - "CU "CWV 7tpoy6vcov cruµßoA,a - und erklärt, daß solchen Männern später von ihren Vorfahren mit Recht die Aufnahme in ihre Grä­ber verweigert werde. Philostrat paraphrasiert diesen zensorischen Brief des Apollonius allerdings dahingehend, daß dieser einen Fall von ßapßaptcrµ6c;, also einen eklatanten Verstoß gegen die Reinheit der grie­chischen Sprache, damit gebrandmarkt habe32 - der ursprüngliche scharfe

29 J.-J. FLINTERMAN, Power (wie Anm. 7), 97. 30 J.-J. FLINTERMAN, Power (wie Anm. 7), 90 ff. 31 Erscheinen verschiedene Briefe immanent plausibel, so sind andere von Philostrat

allein angeführte Schreiben bereits aus historischen Gründen obsolet: R.J. PENELLA, Letters of Apollonius (wie Anm. 9), 24 f„ mit Details.

32 Ap. Ty., ep. 71; M. DZIELSKA, Apollonius ofTyana (wie Anm. 2); Philostr„ VA IV 5.

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Vorwurf, Verrat an der gesamten sozialen wie kulturellen Identität began­gen zu haben, ist so verwischt.

Das augenfällige philostrateische Konzept eines „hellenischen" Apollo­nius - und zwar in pointierter Fokussierung auf Sprache und Kultur - fin­det bemerkenswerte Parallelen in den Biographien der Sophisten und Phi­losophen aus der Feder desselben Verfassers. So ist es kein Zufall, daß es hier wie dort die literarische und rhetorische Kultur, die nm8da, ist, der die Schlüsselrolle im unablässigen Kampf um die Bewahrung der griechi­schen Identität zufällt - und Apollonius eine grundlegende Funktion in ihrer Vermittlung und Propagierung. Von Jugend an, heißt es, habe er, an­ders als seine kappadokischen Landsleute, nur reines Attisch gesprochen33 .

Später gilt seine rednerische Überzeugungskraft als unwiderstehlich, und sein Auftreten in den Poleis Kleinasiens bewirkt gar eine Blüte der ver­nachlässigten Rhetorik. Apollonius als Philosoph sophistischer Prägung -dies erhebt ihn zur Identitätsfigur der überlegenen, wiewohl von innen her bedroht erscheinenden griechischen Kultur seiner Zeit und bestimmt ihn zum Prediger und Vermittler hellenischen Geistes im fernen Indien ebenso wie in Ägypten oder Spanien. Und nicht anders als die Sophisten seiner Zeit in seinem biographischen Sammelwerk konturiert Philostrat Apolloni­us als politisch aktiven, ja gestaltenden Intellektuellen, der mit römischen Kaisern in Verbindung tritt, sie über die rechte Herrschaftsform belehrt, sie zurechtweist oder ihnen Ratschläge für den rechten Umgang mit griechi­schen Poleis gibt34.

Neben dieser systematischen Anverwandlung des Apollonius zu einem Protagonisten der Zweiten Sophistik der Zeit des Philostrat - als deren Namengeber, wichtigster Chronist und Propagandist ebendieser Autor spä­teren Generationen gelten sollte - fällt die Stilisierung des pythagoreischen Philosophen als religiöser Reformer, ein wichtiges Element der älteren Tradition und zugleich zweifellos des Selbstverständnisses des histori­schen Apollonius, wie seine Schrift IIepl. 0ucricov ausweist, deutlich ab.

33 Philostr., VA I 7. Hierzu gut J.-J. FLINTERMAN, Power (wie Anm. 7), 91. 34 Siehe besonders Philostr., VA V 27 ff. (Begegnung mit Vespasian in Alexandria),

der Kontakt mit Vespasians Sohn und Nachfolger Titus anläßlich der Eroberung Jerusa­lems 70 n. Chr. (VI 29) sowie die Diskussionen des Apollonius mit den Brahmanen (III 16 ff.). Besonders hervorgehoben (und durch die schließliche Apotheose des Apollonius als Klimax des Werkes bestimmt) ist die Konfrontation des Tyaneers mit dem Tyrannen Domitian in den Büchern VII-VIII. Zu dieser Einbettung des Apollonius in die Reichsge­schichte in den Büchern IV-VIII beachte J.-J. FLINTERMAN, Power (wie Anm. 7), 130-161. Vgl. insgesamt E. RAwsoN, Roman Rulers and the Philosophie Adviser, in: Phi­losophia Togata. Essays on Philosophy and Roman Society, hg. v. M. Griffith/J. Bames, Oxford 1989, 233-258, bes. 238; J. HAHN, Philosoph und Gesellschaft (wie Anm. 24), 184 und 187 f. (mit weiteren Belegen); G. ANDERSON, Sage, Saint and Sophist (wie Anm. 21), 151-162; J.-J. FLINTERMAN, Power (wie Anm. 7), 165 f. mit Anm. 193.

Weiser, göttlicher Mensch oder Scharlatan? 97

Zwar spiegeln zahlreiche Episoden das religiöse Engagement des Tya­neers: Apollonius besucht Tempel, übt Kritik an den religiösen Bräuchen der Zeit, reformiert Kulte und geißelt den Mangel an Frömmigkeit unter den Griechen seiner Zeit35. All dies verbindet sich mit einem nicht erst von Philostrat betonten außergewöhnlichen Verhältnis des Apollonius zu den Göttern, das bereits die von Vorzeichen und Wundern bestimmten Um­stände seiner Geburt programmatisch ankündigen. Und es war die Aktivität als Wundertäter - der Philostrat in seinem Bemühen um Stilisierung eines philosophischen Apollonius allerdings mit einer bemerkenswerten Distanz gegenübersteht36 -, die Apollonius in den Augen seiner Umgebung als Mediator übernatürlicher Kräfte und göttlichen Willens auswies.

Der scheinbare religiöse Konservatismus des Apollonius, der in Ein­klang steht mit seinem Bemühen um Bewahrung der althergebrachten kul­turellen und politischen Identität des zeitgenössischen Griechentums, weist allerdings Brüche und Widersprüche auf. Seine vehement vorgetragene -pythagoreische - Forderung nach unblutigen Opfern ist unvereinbar mit dem religiösen Traditionalismus37. Vollends idiosynkratische Züge erhält die öffentliche Religiosität des Apollonius durch dessen bevorzugte Vereh­rung des Helios. Dies spiegelt neuerlich philostrateisch-zeitgenössische Einflüsse, ja vielleicht sogar unmittelbar kaiserliche Religionspolitik, inso­fern die Helios-Verehrung unter den severischen Kaisern und ihren Nach­folgern einen außerordentlichen Aufschwung erfuhr. Nicht auszuschließen ist, daß lulia Domna selbst den Anstoß zu dieser Tendenz der von ihr in Auftrag gegebenen Apollonius-Schrift gab38•

35 Apollonius als religiöser Lehrer programmatisch in den Briefen: epp. 65-67. In der Vita des Philostrat siehe v.a. I 10 f.; V 25.28. Tempelbesuche: IV 11 ff.; IV 34; V 43. Hierzu E. KOSKENNIEMI, Die religiösen Tendenzen des Philostratos in der Vita des Apol­lonii Tyanensis, in: Literatur und Philosophie in der Antike, hg. v. E. Koskenniemi/S. Jäkel/V. Pyykkö, Turku 1986, 107-117, hier l 11 f.; DERS., Der philostrateische Apollo­nios, Helsinki 1991, 70 ff. Beachte auch J. ELSNER, Hagiographie Geography (wie Anm. 22), 25 f.

36 So ist es schwerlich ein Zufall, daß Philostrat ungeachtet der von ihm verschiedent­lich bewahrten Berichte, die die göttlichen Züge des Apollonius hervorheben (seine divi­natorischen Fähigkeiten, Wunder etc.), gerade am Ende seiner Schrift eine unzweideutig kritische Haltung gegenüber einem solchen Apollonius-Bild deutlich werden läßt: Seine Darstellung des Todes des Apollonius (VA IV 31 ), die drei unterschiedliche Versionen referiert, distanziert sich deutlich von derjenigen, die eine Apotheose einschließt, und bietet zugleich auch eine rein profane Tradition. Vgl. A. MENDELSON, Eusebius (wie Anm. 4), 514 f„ mit weiteren Hinweisen.

37 Philostr„ VA I 10; V 25; vgl. auch VIII 7,10. 38 G. PETZKE, Die Traditionen über Apollonius von Tyana und das Neue Testament,

Leiden 1970, 64 f.; E. KOSKENNIEMI, Religiöse Tendenzen (wie Anm. 35), 108 ff„ mit Belegen und Diskussion. Vgl. auch W. SPEYER, Zum Bild des Apollonios von Tyana bei Heiden und Christen, JbAC 17, 1974, 47-63, hier 49 f. (Ndr. in: DERS„ Frühes Christen-

98 Johannes Hahn

Vergeblich sucht man dagegen im Umfeld des philostrateischen Apollo­nius einen Hinweis auf das Christentum oder Christus. So offenkundig auch manche Parallelen des Lebens und Wirkens des Apollonius in der Schilderung des Philostrat zu der Darstellung des Lebens Jesu in den Evangelien (aber auch zur Stilisierung des Lebens der Apostel in den apokryphen Akten) scheinen39, so gibt es keine stichhaltigen Argumente dafür, daß der Verfasser der Vita Apollonii eine antichristliche Tendenz verfolgt hätte, wie sie seinem Text von spätantiken Exegeten, so Hierokles und Eusebius, beigelegt wurde. Ein Interesse am Christentum ist bei Phi­lostrat mithin nicht gegeben oder wird zumindest nicht sichtbar - und spielt übrigens auch in seinen Sophistenviten keinerlei Rolle. Allerdings sollte auch Philostrats Darstellung des religiösen Wirkens des Apollonius nicht überschätzt werden: Mit dem Pythagoreismus seines Helden verbin­det ihn persönlich nichts, und das gilt wohl auch für dessen religiöse Tä­tigkeitsfelder. Philostrats Interesse ist ein apologetisches (hier sind ihm manche Züge des Apollonius eher hinderlich), literarisches und schließlich ein kulturelles im umfassenden Verständnis des Begriffes eA.A. riv1crµ6c; seiner Zeit. So ist es ihm in seinem Werk in erster Linie um die Ausgestal­tung einer kulturellen Identitätsfigur und Mittiergestalt zu tun, die aus dem verfügbaren Material der Apollonius-Figur und unter Rücksichtnahme auf zentrale Elemente dieser Tradition, insbesondere der Wundererzählungen, modelliert wird.

Die Schrift des Philostrat, unsere - von einzelnen Briefen sowie Testi­monia abgesehen - früheste konturierte Apollonius-Tradition und -Ausgestaltung, nimmt ihren Ausgangspunkt, wie dies bereits das apologe­tische Programm am Anfang des Werkes verdeutlicht, von einem bereits lebendigen Diskurs um den Prediger und Wundermann aus Tyana, seinem Wirken und dessen Verständnis. Die folgende Überlieferungsgeschichte hat dafür gesorgt, daß die Auftragsarbeit des Philostrat zum wirkungs­mächtigsten Beitrag dieses Diskurses, ja zu seiner weiteren Grundlage wurde. Sie verdrängte andere literarische Entwürfe und Positionen, obwohl sie ein zwar schillerndes, aber doch kein schlüssiges Bild und Deutungs­schema des Apollonius entwarf - als ein Stück Literatur aber auch nicht entwerfen mußte.

Wenn Philostrats Schrift auch den weiteren literarischen Diskurs um Apollonius in der Spätantike, nun unter der Perspektive dezidierter christ­lich-heidnischer Kontroverse, dominierte, so hatte sie doch - dies ist wich-

turn im antiken Strahlungsfeld. Ausgewählte Aufsätze, Tübingen 1989, 176-192, hier 178 f.).

39 E. KOSKENNIEMI, Apollonios von Tyana in der neutestamentlichen Exegese, Tü­bingen 1994, 189 ff.

Weiser, göttlicher Mensch oder Scharlatan? 99

tig zu sehen - keineswegs alle Bedeutungshorizonte ihrer Zeit rezipiert geschweige denn in ihrer Akzentsetzung berücksichtigt. Die tatsächliche kultische Verehrung des Apollonius im religiösen Leben kommt in ihr, die das Wirken des Philosophen in biographischer Intention schildert, nur an­deutungsweise zum Ausdruck. Gerade diese Verehrung bedeutete aber für christliche Autoren des 3. und beginnenden 4. Jahrhunderts einen entschei­denden Impetus, sich mit der Figur des Wundermannes auseinanderzuset­zen.

Spätestens seit dem ausgehenden 2. Jahrhundert bezeugen literarische, aber auch epigraphische Quellen eine verbreitete kultische Verehrung des Apollonius. Philostrat selbst erwähnt sogar einen entsprechenden Versuch, der noch zu Lebzeiten des Tyaneers unternommen worden sei40• Verschie­dene, auch inschriftliche Indizien weisen darauf hin, daß Apollonius in verschiedenen Städten - so in Ephesos, Aigai und Tarsos -, denen sein wundertätiges Wirken zugute gekommen war, zumindest nach seinem Tod kultische Verehrung entgegengebracht wurde, und ein inschriftliches Epi­gramm, das einen Kultbau des Apollonius geziert haben könnte, hebt ele­gisch seine übermenschliche, gottnahe Erscheinung - Heros oder Gott -hervor41 .

Ein in Kultfragen nüchterner Beobachter und Zeitzeuge (und zugleich Zeitgenosse des Philostrat), der Historiker Cassius Dio, überliefert, daß Kaiser Caracalla dem Weisen in Tyana, dessen Geburtsstadt, ein beein­druckendes Heroon habe errichten lassen42, und bekundet so die Vereh­rung, die Apollonius gerade auch in höchsten Kreisen genoß. Über Iulia Domnas genaue Beziehung zu Apollonius, dessen zeitgemäße, nämlich aktuellen Stilvorstellungen folgende literarische Darstellung sie dem Phi-

40 Philostr., VA IV 31: Apollonius verweigert sich der Absicht der Spartaner, ihn kul­tisch zu verehren.

41 In Ephesos, wo er gemäß einer lokalen Tradition gestorben sein soll (VIII 30), wurde Apollonius Lact., Inst. V 3,14 f., zufolge unter dem Namen Herakles Alexikakos verehrt (zur Deutung der Passage E.L. Bowrn, Apollonius [wie Anm. 8), 1687). Das zitierte Epigramm stammt wohl aus dem kilikischen Aigai, datiert offenbar in das 3. oder 4. Jh. und scheint einen Bau geziert zu haben, der eine Statue des Apollonius barg: C.P. JONES, Epigram (wie Anm. 28), bes. 193. Zur Interpretation vgl. auch N.J. RiCHARDSON/P. BURIAN, The Epigram on Apollonius of Tyana, GRBS 22, 1981, 283-285. Vgl. aber einschränkend D. POTTER, Recent Inscriptions from Fiat Cilicia, JRA 2, 1989, 309 f. (unter Einbeziehung von Überlegungen von G. Dagron).

42 Cass. Dio LXXVII 18,4 (vgl. LXVII 18,1 f.); vgl. F. MILLAR, A Study of Cassius Dio, Oxford 1964, 19 f. Es ist davon auszugehen, daß der Kult des Apollonius in seiner Heimatstadt bereits vor dieser kaiserlichen Stiftung florierte. Zudem könnte die (auf Autopsie beruhende) Rede des Philostrat (Ap. VIII 31) im letzten Satz seines Werkes von ii:pa, die die Kaiser in Tyana dem Apollonius errichteten, sogar auf die Existenz eines weiteren kaiserlichen (Vorläufer-)Baus verweisen: M. DZIELSKA, Apollonius of Tyana (wie Anm. 2), 56 ff.

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lostrat ans Herz legte, läßt sich nur mutmaßen. Alexander Severus soll so­gar eine Statuette des Apollonius neben solchen des Christus, Abraham und Orpheus in seinem Lararium aufgestellt haben, während Kaiser Aure­lian durch eine Erscheinung des Apollonius an einer Zerstörung Tyanas gehindert worden sei43. Die beiden letzteren Zeugnisse sind angesichts der Zeitstellung der Historia Augusta und ihrer offen antichristlichen Tendenz zwar von zweifelhafter Historizität, immerhin aber belegen sie eine be­merkenswerte Funktionalisierung der Apollonius-Figur im heidnisch­christlichen Diskurs der Spätantike. Der kommentierende Hinweis des anonymen Verfassers des Geschichtswerkes auf die zahlreichen Tempel, in denen Apollonius verehrt werde, ist jedenfalls angesichts der oben ange­führten Evidenz unbedingt ernst zu nehmen44•

Spätestens in Verbindung mit dem von Hierokles um 300 n. Chr. vorge­nommenen Vergleich von Apollonius mit Christus gerät der Tyaneer schließlich in das polemische Visier christlicher Autoren. Auftakt zu dieser religiös fokussierenden Debatte mag dabei die intensive Benutzung von Schriften des Apollonius - Vita des Pythagoras, Schrift über die Opfer, Briefe - durch den Neuplatoniker Porphyrius gewesen sein, der sich ihrer mehrfach in seinem uns nur noch fragmentarisch überlieferten CEuvre be­diente und sie dabei auch für seine Polemik gegen das Christentum und Jesus als dessen Stifter heranzog45• Doch offenbar rückte erst Hierokles Apollonius den Wundertäter in den Mittelpunkt des heidnisch-christlichen Schlagabtausches - und dies allein auf der Basis der Vita Apollonii des Philostrat. Diese erfuhr von nun an eine breite Rezeption und ließ andere Darstellungen, etwa die Apollonius-Schrift des Moiragenes, die der Kir­chenlehrer Origenes noch 248 n. Chr. herangezogen hatte46

, in Vergessen­heit geraten.

Dieser religiös aufgeladene Diskurs um Apollonius zeigt dabei bemer­kenswerte Züge. Erstens stützt er sich zwar auf die Schrift des Philostrat,

43 HA, Al. Sev. 29,2; M.A. VILLACAMPA RUBIO, EI valor hist6rico de la Vita Ale­xandri Severi en los Scriptores Historiae Augustae, Zaragoza 1988, 158 ff. HA, Aur. 24,2-9; H. BRANDT, ,Heidnische Vision' (wie Anm. 1).

44 Vgl. den Hinweis des Lact„ Inst. V 3, auf die Verehrung des Apollonius als Apol­lonius Alexicacus in Ephesus sowie die oben (Anm. 41) genannten Inschriften. Zur Aus­sage der Historia Augusta siehe oben Anm. l.

45 Zusammenstellung und Diskussion der einschlägigen Fragmente bei T.D. BARNES, Porphyry Against the Christians: Date and the Attribution of Fragments, JThS 24, 1973, 424-442. Problematisch ist die Datierung der Schrift und ihrer Publikation: Die gängige Datierung um 270 n. Chr. wird von Bames in Zweifel gezogen und eine spätere Publika­tion erwogen. A. KOFSKY, Eusebius of Caesarea (wie Anm. 2), 60, weist darauf hin, daß die meisten der von Hierokles angeführten Argumente - auch der Vergleich von Apollo­nius und Jesus - bereits in der Schrift des Porphyrius gegen die Christen enthalten waren.

46 Or„ Cels. IV 41 (mit eindeutiger Charakterisierung des Apollonius als Zauberer).

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doch ignorieren christliche wie heidnische Autoren den eigentlich philo­strateischen Apollonius und bedienen sich nur der Episoden und Kenn­zeichnungen, die Apollonius als Wundertäter thematisieren - ein Wir­kungsfeld, das Philostrat mühsam von dem Magievorwurf zu lösen ver­sucht und mit seinem Konzept eines übermenschlichen Wissens des Apol­lonius als dezidiert philosophischen Wesenszug zu assimilieren sich be­müht hatte47. Zweitens fällt damit die Diskussion, wenn auch unter gewan­delten Vorzeichen, wieder in die Auseinandersetzung um den Charakter und die Herkunft der Wunderfähigkeit des Apollonius zurück. Drittens implizierte die Streitfrage, ob Philosoph, Magier (µayrn;) oder Scharlatan (y611<;), im Kontext des 4. Jahrhunderts und der rapiden Kriminalisierung jeglicher Magie unter den christlichen Kaisern nun eine Gratwanderung ganz neuer Qualität und Bedrohlichkeit: Bereits die Anwendung dieser zuvor nur partiell (µayo<;) spezifischen und insofern - ungeachtet ihrer meist negativen Tendenz (yÜTJ<;) - doch auch offenen, juristisch zudem fragwürdigen Begriffe bedeutete nicht länger die Diffamierung einer Per­son, sondern evozierte ihre Vernichtung48• Und schließlich viertens: Die skizzierte, auf die Wunder- und Magiefrage reduzierte christlich­heidnische Apollonius-Diskussion des 4. Jahrhunderts markiert ein endgül­tiges Zerbrechen des Apollonius-Diskurses, den Philostrat, bei eigenen Akzentsetzungen, in seinem Werk doch zumindest skizzenhaft noch in der Breite seiner Facetten und Bedeutungszusammenhänge gespiegelt hatte. Dieses Zerbrechen wird unmittelbar sichtbar und markant faßbar in der eingangs dargelegten Polemik zwischen Hierokles und Eusebius; sie redu­ziert das facettenreiche Phänomen Apollonius nun auf seine Wundertätig­keit und deren Ursprung und Qualifikation im religiös-ideologischen W ettbewerb49•

Tatsächlich wurde ein weiterer Apollonius-Diskurs, offenkundig unbe­rührt von diesen Diskussionen, auch noch in den abgeschlossenen Zirkeln

47 Bereits Hierokles führte, wie das bei Eusebius (Hierocl. 2) bewahrte lange Zitat verdeutlicht, die Zahl und Art der Wunder des Apollonius als das entscheidende Argu­ment gegen den Jesus der Christen und die Leichtgläubigkeit seiner Anhänger ins Feld, hielten diese ihren Religionsstifter doch aufgrund weit bescheidenerer Taten bereits für einen Gott, während Apollonius den Heiden nur als gottgefällig galt.

48 Vgl. hierzu detailliert M.TH. FöGEN, Die Enteignung der Wahrsager. Studien zum kaiserlichen Wissensmonopol in der Spätantike, Frankfurt 1993, passim (spezifisch zu Apollonius 210 ff.). Siehe auch M.W. DICIGE, Magie and Magicians in the Greco-Roman World, London 2001, 251 ff. Zum Begriffsfeld und seinen Tendenzen siehe - mit weiter­führenden Hinweisen - auch J.-J. FLINTERMAN, Power (wie Anm. 7), 59 ff.

49 Dabei kann sich, wie die Überlegungen in Hierocl. 3 zeigen, bemerkenswerterweise auch ein christlicher Autor wie Eusebius dem Problem der Göttlichkeit des Apollonius, seiner Verortung zwischen Mensch und Gott, das bereits Philostrat beschäftigte, ange­sichts der außerordentlichen Taten des Tyaneers nicht entziehen.

102 Johannes Hahn

griechischer Intellektueller der Oberschicht seit dem 3. Jahrhundert ge­pflegt. Die Feststellung des Eunapius um 400 n. Chr., „Apollonius war nicht nur Philosoph, sondern ein Halbgott, zwischen Mensch und Gott"50,

später ergänzt durch die Bemerkung, daß einige ihn als Gott verehrten, führt in die Kreise der Neuplatoniker, in denen pythagoreisches Gedan­kengut - und die Pythagoras-Vita des Apollonius, von Porphyrius wie lam­blichus intensiv konsultiert51 - großen Anklang fand. So unscharf - und zudem durch den programmatischen neuplatonischen Rückgriff auf die Figur des Pythagoras überlagert - dieses Bild angesichts der fragmentari­schen Überlieferung in diesen Kreisen auch bleibt, so steht doch außer Zweifel, daß jene Neuplatoniker sich primär für die religiös-theologischen und thaumaturgischen Aspekte des W erkes52 und Lebens des Apollonius interessierten - also für jene Facetten seines Wirkens, an denen Philostrat im Sinne seines ,hellenischen' Apollonius gerade kein Interesse haben durfte. Diese Spuren können hier nicht im einzelnen verfolgt werden. Doch sei darauf hingewiesen, daß die Neuplatoniker eingehend diskutierten, wie ein direkter Kontakt mit der Gottheit hergestellt werden könne, über wel­che theurgischen und hieratischen Techniken - also magisch-mystische und asketische Praktiken - eine Vereinigung des inspirierten Philosophen mit den Göttern möglich wäre53 . Daß hier neben Pythagoras auch Apollo­nius - zudem Propagandist des Pythagoras - eine archetypische Bedeutung zukommen konnte, liegt auf der Hand.

Diese Verbindung ist unlängst durch einen spektakulären Grabungsbe­fund bestätigt und zudem in einem außerordentlich aufschlußreichen Kon­text verortet worden. Die Freilegung eines großen Gebäudekomplexes, wahrscheinlich das Akademiegebäude einer bedeutenden Philosophenschu­le, im Zentrum des karischen Aphrodisias, einem Brennpunkt paganer Kul-

50 Eun., VS 454. 51 Porph., VP 1 f.; Iamb., VP 254. Siehe P. Cox, Biography in Late Antiquity. A

Quest for the Holy Man, Berkeley 1983, 20 ff. und 34 ff.; M.J. EDWARDS, Birth, Death, and Divinity in Porphyry's Life of Plotinus, in: Greek Biography and Panegyric in Late Antiquity, hg. v. T. Hägg/Ph. Rousseau, The Transformation ofthe Classical Heritage 31, Berkeley u.a. 2000, 52-71, hier 54 f. Die Frage der Authentizität dieser Pythagoras-Vita, in der Forschung umstritten (siehe zusammenfassend J.-J. FLINTERMANN, Power [wie Anm. 7], 77-79), ist für die hier verfolgte Argumentation von untergeordneter Bedeu­tung: Nicht nur die Suda (s.v. A 3420), sondern auch spätantike Autoren (beachte zusätz­lich nun vor allem die im folgenden dargelegte wichtige archäologische Evidenz aus Aphrodisias!) hielten die unter dem Namen des/eines Apollonius kursierende Vita des Pythagoras für eine Schrift des Tyaneers.

52 Über Porphyrius besitzen wir das einzige erhaltene Fragment aus der Schrift Über die Opfer des Apollonius (s. Anm. 10).

53 Siehe hierzu G. SHAW, Theurgy. Rituals of Unification in the Neoplatonism of Iamblichus, Traditio 41, 1985, 1-28, passim; G. FOWDEN, The Egyptian Hermes. A His­torical Approach to the Late Pagan Mind, Cambridge 1986, 126-134.

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tur und Bildung in der Spätantike, brachte ein Dutzend großer marmorner Medaillons mit Porträtbüsten aus dem 5. Jahrhundert zutage, die der archi­tektonischen Ausschmückung des zentralen Hörsaals dienten54• Diese Kunstwerke in ungewöhnlicher Qualität bieten, heute teils zerstört, Por­träts der bedeutendsten Denker und Politiker der klassischen griechischen Kultur, ergänzt durch solche zeitgenössischer anonymer Philosophen. Ne­ben Pindar, Sokrates, Aristoteles fanden sich Alkibiades und Alexander, weiterhin - unbenannt - ein Sophist, zeitgenössische Philosophen sowie, für die hiesige Themenstellung entscheidend, ein stark beschädigtes Me­daillon mit verlorener Büste: Die Umschrift bezeichnet die verlorene Per­sönlichkeit als Apollonius, und es steht außer Frage, daß es sich um den Tyaneer handelt, denn sein dekoratives Pendant, als solches ausgewiesen nicht nur durch die naheliegende spirituelle Paarung, sondern auch durch Ähnlichkeiten in der handwerklichen Oberflächenbearbeitung, in Ornat u.a.55, stellt eine Porträtbüste des Pythagoras dar, die gleichfalls dem En­semble angehörte.

Ich muß mich auf einen knappen Kommentar beschränken: Die Auf­nahme des Apollonius in dieses außerordentliche Ensemble historischer und kultureller Größen des Griechentums56 verkündet gewissermaßen au­genfällig eine unzweideutige Botschaft: Der Philosoph Apollonius zählt für die Angehörigen der verbliebenen paganen Elite der Epoche zu den zentralen Identitätsfiguren, d.h. den für die Bestimmung der eigenen kultu­rellen und historischen Identität in einer Zeit des tiefgreifenden Wandels verbliebenen personalisierten geistigen Bezugspunkten. Im gegebenen Zu­sammenhang wird seine Bedeutung als eminente Bezugsgröße für intellek­tuelle Kreise der traditionalistischen spätantiken Elite noch näher bestimmt durch seine explizite Paarung mit Pythagoras. Dieser figurierte als „patron saint"57 des theurgisch orientierten Neuplatonismus und galt mit seinem

54 Zu Fundort, Fundstücken und Fundumständen samt ausführlicher Diskussion der Befunde und ihrer Interpretation R.R.R. SMITH, Late Roman Philosopher Portraits at Aphrodisias, JRS 80, 1990, 127-155, passim - mit Fotos aller geborgenen Porträts auf den Tafeln VI-XVI, darunter Abbildungen der beiden hier interessierenden Büsten des Apollonius und des Pythagoras auf Tafel XI-, und DERS„ Late Roman Philosophers, in: Aphrodisias Papers 2. The Theater, a Sculptor's Workshop, Philosophers, and Coin­Types. Including the Papers Given at the 3rct International Aphrodisias Colloquium Held at New York University on 7 and 8 April, 1989, hg. v. R.R.R. Smith/K.T. Erim, JRA Suppl. Ser. 2, Ann Arbor 1991, 144-158.

55 R.R.R. SMITH, Late Roman Philosopher Portraits (wie Anm. 54), 141 f. 56 Es ist evident, daß der Kreis der geborgenen und identifizierbaren Porträts unvoll­

ständig ist: Es fehlt die Büste Platons, die in einem solchermaßen neuplatonischen Kon­text nicht gefehlt haben kann. Siehe R.R.R. SMITH, Late Roman Philosopher Portraits (wie Anm. 54), 143.

57 R.R.R. SMITH, Late Roman Philosopher Portraits (wie Anm. 54), 143.

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unerreichten Wissen und seinen praktischen Fähigkeiten in Fragen des Götterkultes und der Mysterien gleichermaßen als Archetypus wie Para­digma des spirituellen Philosophen. Hiervon zeugen nicht zuletzt die ent­sprechend hagiographisch ausgestalteten Biographien aus der Feder bedeu­tender Neuplatoniker und die dezidiert pythagoreisierenden Züge ihres Philosophierens58• Diese spezifische Ausdeutung des Pythagoras verbindet sich im vorliegenden Zusammenhang mit der Figur des Apollonius: Es ist der Pythagoreer Apollonius mit seinem weisheitsmäßigen wie thaumatur­gischen Zugang zum Göttlichen, der hier abgebildet erscheint und zugleich - neben Platon und Pythagoras - als einer der Väter des Neuplatonismus beansprucht wird59• Doch wird mit der Einbindung seines Bildnisses in die Galerie der Geistesgrößen der hellenischen Kultur zugleich auch seine selbstverständliche Zugehörigkeit zur Welt der nmöda. programmatisch artikuliert.

Die Ausstrahlung und Rezeption des Apollonius in der Kultur der paga­nen Eliten des spätantiken Imperiums beschränkte sich allerdings nicht auf den griechischen Osten oder neuplatonische Zirkel. Für das ausgehende 4. Jahrhundert läßt sich in der römischen Senatsaristokratie ein sprunghaft steigendes Interesse an dem griechischen Weisen erkennen. Dessen Popu­larität in diesen Kreisen verdeutlicht zunächst die Wiedergabe seines Por­träts auf Kontomiaten, also in der stadtrömischen Aristokratie des späten 4. Jahrhunderts anläßlich des Neujahrsfestes zirkulierenden Geschenkrne­daillons60.

Unter den vielen hier abgebildeten Motiven erscheinen zunächst die Bildnisse mehrerer griechischer und römischer Philosophen und Autoren als eine frühe Gruppe. Bemerkenswert ist, daß Porträts des Apuleius und des Apollonius erst zwei Jahrzehnte später, um 395 n. Chr., geprägt wur­den. Dies mag darauf hinweisen, daß beide vornehmlich in ihrer Eigen­schaft als Magier für die Münzbilder ausgewählt wurden61 . Doch nicht nur

58 D.J. O'MEARA, Pythagoras Revived. Mathematics and Philosophy in Late Anti­quity, Oxford 1989, 2 ff. und passim. Zur biographischen Tradition und dem Beitrag der Neuplatoniker siehe P. Cox, Biography (wie Anm. 51), besonders 32 ff.

59 Die wohl bemerkenswerteste und ausdrucksvollste Büste in der Porträtgalerie ist die eines zeitgenössischen Neuplatonikers, der als inspirierter, visionärer Denker darge­stellt wird: R.R.R. SMITH, Late Roman Philosopher Portraits (wie Anm. 54), 144-146 mit Tafeln XII und XIII - „perhaps the finest sculptured image of a late antique sage to have come down to us" (144).

60 F.P. MITTAG, Alte Köpfe in neuen Händen. Urheber und Funktion der Kontornia­ten, Ant. R. 3, Bd. 38, Bonn 1999, 115 f. und 159-164.

61 Apuleius, Autor von De magia, wurde in der Spätantike vor allem als Magier ge­schätzt: F.P. MITTAG, Alte Köpfe (wie Anm. 60), 115 und 163 f. Pythagoras ist offenbar nur auf der Rückseite eines gegossenen Kontorniaten überliefert: a.a.O., 163. Apollonius und Apuleius scheinen auch sonst im gebildeten Diskurs dieser Zeit verschiedentlich als

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angesichts der Unsicherheiten der Datierung der Medaillons sollte man darauf verzichten, die Abbildung dieser beiden Repräsentanten von im christlichen Imperium verbotenen magischen Praktiken in einem Zusam­menhang mit der sogenannten heidnischen Reaktion unter Eugenius sehen zu wollen62.

Einer der hervorragendsten Vertreter dieser Gruppe, Nicomachus Fla­vianus, Konsul im Jahr 394 n. Chr„ übersetzte zudem die Apollonius­Schrift des Philostrat ins Lateinische. Dies spiegelt neuerlich, daß die kul­turell-politische Ausdeutung dieses Autors jedenfalls in Kreisen der paga­nen Aristokratie der Spätantike das Apollonius-Verständnis weiter präg­te63. Das weitere literarische Schicksal des Apollonius bzw. Philostrat im Westen ist so gut wie nicht mehr zu fassen; es lassen sich nur Hypothesen darüber aufstellen. Nur ein karger Hinweis auf eine offenbar anhaltende, dabei allerdings sicherlich nicht neuplatonischen Deutungsmustem folgen­de, vielmehr unabhängige diskursive Rezeption der Figur des Tyaneers existiert und weist in den gallischen Raum. Die Notiz legt eine Aneignung des Weisen als kulturelle Identifikationsfigur nahe, und zwar durch eine in ihrer physischen Existenz bedrohte traditionelle Elite: Im westgotisch be­setzten Südgallien beschäftigte sich Sidonius Apollinaris, der Bitte eines Freundes folgend, mit einer Überarbeitung der Philostrat-Übertragung des Nicomachus Flavianus. Als Vorlage diente ihm eine bereits von der Hand eines Standesgenossen korrigierte Fassung des Nicomachus-Textes64. All dies läßt auf eine verbreitete Lektüre der Lebensbeschreibung in der gallo­römischen Aristokratie schließen.

Doch darf nicht vergessen werden, daß Apollonius in der Spätantike nicht nur Brennpunkt einer religiösen und kulturellen Diskussion war. Als weit nachhaltiger sollte sich eine dritte Linie des ursprünglichen Apolloni-

Magier einander zur Seite gestellt worden zu sein: Ein Briefpartner des Augustinus nötig­te diesen, „über die Wunder der Zauberer Apollonius und Apuleius" zu sprechen (Au­gust„ ep. 136,1).

62 Die wirkungsmächtige These A. Alföldis von den Kontomiaten als Zeugnissen ei­ner heidnischen Reaktion der stadtrömischen Aristokratie; hierzu nun zusammenfassend F.P. MITTAG, Alte Köpfe (wie Anm. 60), 215 ff. Zur Problematik der Datierung a.a.O„ 217-219.

63 Hierzu eingehend, allerdings in mancher Hinsicht nicht überzeugend, M. DZIELSKA, Apollonius ofTyana (wie Anm. 2), 164 ff.

64 Sidon„ ep. 8,3,1. Dieser ältere senatorische Standesgenosse, Tascius Victorianus, machte sich als Herausgeber der ersten Dekade des Livius einen Namen, die er den Symma­chi dedizierte.

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us-Diskurses erweisen, die allerdings kaum Niederschlag in der literari­schen Überlieferung gefunden hat: die volkstümliche65 .

Erst Eusebius gibt beiläufig davon Kenntnis, daß zu seiner eigenen Zeit zauberkräftige Objekte des Tyaneers existierten; von Philostrat waren die­se - wie wir gesehen haben: aus durchsichtigen Gründen - in dessen mo­numentaler Darstellung des Lebens und Wirkens des Apollonius ohne Er­wähnung geblieben66• Die Talismane gegen Schlangen- oder Skorpionspla­gen, die Apollonius in Städten und ländlichen Regionen des Ostens aufge­stellt hatte bzw. die seiner Tätigkeit zugeschrieben wurden, bewahrten ihre apotropäische Wirkung (oder doch den populären Glauben an diese) noch weit in die byzantinische Zeit hinein. Die arabischen Quellen kennen Apol­lonius später als „Meister der Talismane", und ihr Verfertiger galt als der Magier schlechthin67•

Im spätantiken Syrien meinte ein christlicher Autor sogar eine schlüssi­ge Erklärung für die Wirksamkeit der Talismane angeben zu müssen: Apollonius habe sich die natürlichen Kräfte der Dinge zunutze gemacht, und Gott lasse die Talismane weiterbestehen, weil sie den Menschen im Materiellen helfen könnten68• Derselbe Autor beharrt allerdings wiederum darauf, daß Gott die Orakel einer Statue des Apollonius, die verlangten, den Tyaneer als einen Gott zu verehren, zum Schweigen gebracht habe69•

Auch diese Äußerung spiegelt zweifelsfrei einschlägige zeitgenössische und populäre Traditionen.

Es scheint, daß diese zähe volkstümliche Verehrung wiederum auch ihre Wirkung bei christlichen Predigern und Bischöfen zeitigte. Selbst Eusebius nennt Apollonius ungeachtet seiner Polemik gegen Hierokles „einen in menschlichen Dingen sehr weisen Mann", und weitere christliche Zeitge-

65 Einige Stränge der zu Beginn des 3. Jahrhunderts kursierenden mündlichen Überliefe­rung zu Apollonius gingen immerhin in die Darstellung des Philostrat ein; siehe besonders VA 1 2 (sowie oben Anm. 27).

66 Eus., Hierocl. 44. 67 U. WEISSER, Das ,Buch über das Geheimnis der Schöpfung' von Pseudo­

Apollonios von Tyana, Berlin/New York 1980, 21 ff. 68 Ps.-Just., qu. et resp. 24 (PG 6, 1269 f.): „Wenn Gott der Schöpfer und Herr der

Schöpfung ist, wie können dann die Talismane des Apollonius in den Teilen der Schöp­fung Kraft haben? Denn, wie wir sehen, verhindern sie den Andrang des Meeres, die Gewalt der Winde und die Angriffe der Mäuse und der wilden Tiere. Und wenn die Wunder des Herrn nur in der Erzählung berichtet werden, die meisten Taten des Apollo­nius aber in den Gegenständen selbst gezeigt werden, wie sollen sie da nicht den Betrach­ter täuschen?" Zu einer gleichfalls differenzierenden Einordnung des Wirkens des Apol­lonius durch einen christlichen syrischen (oder palästinischen?) Autor vom Beginn des 6. Jh., Ps.-Nonnos (ad Greg. Naz. or. 1 c. Jul. 70 [PG 36, 1021 B/D]), siehe W. SPEYER, Zum Bild des Apollonios von Tyana (wie Anm. 38), 56.

69 Ps.-Just., qu. et resp. 24 (PG 6, 1269 f.).

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nossen äußern sich gleichfalls differenzierend70. Die christlichen Autoren der Spätantike zollen mit solchen Urteilen einer lebendigen, im unmittelba­ren Umfeld ihrer Gemeinden gepflegten volkstümlichen Verehrung des Tyaneers Tribut. Zugleich konzedieren sie implizit eine legitime Wir­kungsmacht des Apollonius als Magier - nicht Scharlatan! - und Mediator übernatürlicher Kräfte. Dieser ,tolerierte' Apollonius ist allerdings nicht derjenige, der in der gebildeten apologetischen Kontroverse um wahre Wundertätigkeit als paganer Gegenentwurf zu Jesus Christus heftig be­kämpft wurde: Apollonius fügte sich vielmehr nun in die rapide wachsende Schar von Heiligen und Nothelfern ein, deren Anrufung die Kirche ihren Gläubigen in den Nöten des Alltagslebens zugestehen mußte.

Weniger den Wandlungen des literarischen Apollonius-Diskurses als den so schwer faßbaren volkstümlichen Vorstellungen vom Auftreten und Wirken dieses Wundermannes wird schließlich dessen Erscheinen in einem Kontext ganz anderer Art zu schulden sein: Spätestens in mittelbyzantini­scher Zeit fand Apollonius Aufnahme im Kreis jener heidnischen Weisen, die als Zeugen Christi und seiner Kirche gelten durften und so sogar in das Bildprogramm byzantinischer Kirchenmalerei eingingen71

. Vor dem Hin­tergrund der oben dargelegten vehementen Ablehnung des Tyaneers durch die Kirchenväter bewerkstelligte die populäre Apologetik hier in nachge­rade ironischer Wendung eine bemerkenswerte Versöhnung des paganen Wundermannes mit dem Wirken Jesu.

Auch diese überraschende Facette eines positiven christlichen Apollo­nius-Diskurses muß sicher auf pagane Stränge der Apollonius-Tradition zurückgeführt werden. Die außerordentlichen prophetischen Fähigkeiten des Tyaneers zählen zum ursprünglichen Bestand der Apollonius­Überlieferung. Nicht anders als die Zeugnisse der Wundertätigkeit fanden die Weissagungen des Apollonius weite Resonanz. Während aber erstere, die naturgemäß den Vorwurf der Zauberei auf sich ziehen konnten, etwa in der Darstellung des Philostrat nach Möglichkeit eliminiert oder rationali­siert wurden, waren die Visionen als eines 8doc; avfip würdige (und ver­traute) inspirierte Emanationen kaum anstößig und so auch für den literari­schen Chronisten des Tyaneers ohne weiteres biographiefähig. Außerhalb

70 Eus„ Hierocl. 5. Hierzu - wie auch zu weiteren, hier nicht ausgeführten Äußerun­gen spätantiker christlicher Autoren - M. DZIELSKA, Apollonius of Tyana (wie Anm. 2), 163 ff. Augustinus bestritt empört, daß der Tyaneer über Christus gestellt werden könne, doch sei er immerhin mehr wert als Iuppiter: August„ ep. 138,18; vgl. ep. 136,1; 102,32. Zum Zeugnis des Augustinus beachte P. DE LABRIOLLE, La reaction paienne. Etude sur la polemique antichretienne du!°' au VI° siede, Paris 91950 (1. Aufl. 1934), 454 ff„ sowie M. DZIELSKA, a.a.O„ 179.

71 A. VON PREMERSTEIN, Griechisch-heidnische Weise als Verkünder christlicher Lehre, in: Festschrift der Nationalbibliothek in Wien, Wien 1926, 658 f.; vgl. K. GROSS, Art. Apollonius v. Tyana, RAC I, 1950, 529-533, hier 531.

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des literarischen Diskurses kursierte aber offensichtlich zudem die Vorstel­lung dezidierter Orakel (0scrnicrµa:ta) des Apollonius in breiten Bevölke­rungskreisen 72• Verschiedene spätantike christliche Autoren mühten sich mit der Einordnung und Bewertung dieser Sprüche ab, konnten sich aber, wie schon bei den Talismanen des Apollonius, zu keiner kategorischen Verurteilung entschließen 73•

Die letzten Beobachtungen unterstreichen die Bedeutung außerliterari­scher Überlieferungen und Traditionsbildungen für die Ausgestaltung von Identifikationsfiguren, verdeutlichen aber ebenso die Interpretationsspiel­räume und Vereinnahmungsmöglichkeiten im Umgang mit ihnen. Vor al­lem veranschaulichen sie den bemerkenswerten Einfluß, den populäre Tra­ditionen auf Prozesse der literarischen Ausformung und sachlichen Diffe­renzierung nehmen können. Zudem zeigen sie, wie nachhaltig lebendige volkstümliche Verehrung auch auf eine fortdauernde diskursive Auseinan­dersetzung um eine solche Figur einwirken kann.

Der literarische Apollonius erweist sich hierbei hinsichtlich seiner Um­deutungen methodisch wie inhaltlich als besonders aufschlußreich, stellt sich doch der um diese Figur gesponnene Diskurs als ungemein vielschich­tig und mannigfaltig aufgeladen dar. Die Figur unterliegt extremen Wand­lungen: Apollonius erscheint als pythagoreischer Weiser, als Philosoph, als 0doc; avfip, als religiöser Reformer oder hellenischer Propagandist, als Scharlatan, als Zauberer und Repräsentant schwarzer Magie. Die krasse Gegensätzlichkeit mancher dieser Konzepte beruht dabei weniger auf einer differierenden Beurteilung des konkreten Tuns des Apollonius als vielmehr auf der Strittigkeit jener Tätigkeitsmerkmale, die die Außerordentlichkeit seines Wirkens hervorheben und beglaubigen sollten: Wunder und Prophezeiungen als Ausfluß göttlicher Inspiration. Die religiösen und theologischen Implikationen dieses durchaus traditionellen, allerdings pointiert artikulierten Anspruchs ließen im Kontext der sich zuspitzenden

72 Vgl. Suda s.v. Apollonius (1 307,20 Adler) sowie Ps.-Georg. Codin., Patria Kon­stantinoupoleos 2,79 (l 191,15 ff. Präger) (10. Jh.), der eherne Säulen in Byzanz erwähnt, auf denen Apollonius seine Weissagungen angebracht habe. Hierzu W. SPEYER, Zum Bild des Apollonios von Tyana (wie Anm. 38), 55 ff. mit Anm. 54 und 103.

73 Mochte der eine Autor (Ps.-Nonnos, ad Greg. Naz. or. 1 c. Iul. 70 [PG 36, 1021 B/D]) den Orakeln des Apollonius noch gute Zwecke zubilligen, so verweigerte sich ein anderer diesen erst, als sie die göttliche Natur des Apollonius explizierten und dessen kultische Verehrung einforderten (Ps.-Just„ quaest. et resp. 24; siehe auch oben S. 106 mit Anm. 69). Vgl. W. SPEYER, Zum Bild des Apollonios von Tyana (wie Anm. 38), 55, mit eingehender Diskussion. Speyer möchte eine heidnische Vorlage für Ps.-Nonnos annehmen. In Zusammenschau mit der verzweigten lokalen Überlieferung zu Apollonius in Städten des östlichen Mittelmeerraums - und auch dem Duktus der Quellenäußerung -spricht allerdings weit mehr für die Annahme einer mündlichen Überlieferung, mit der sich der unbekannte christliche Schriftsteller auseinandersetzt.

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christlich-paganen Auseinandersetzung um das Problem von Göttlichkeit und Einzigartigkeit diese Facette des Apollonius-Bildes - scheinbar - die Oberhand gewinnen, konnten aber, bei genauer Betrachtung, die verschie­denen anderen Wahrnehmungsweisen und Geltungsbereiche des Tyaneers

. nie verdrängen.

Der Versuch, die Apollonius-Überlieferung vor diesem Hintergrund auf maßgebliche historische Voraussetzungen und Zusammenhänge hin zu untersuchen, hat, so hoffe ich, die komplexe Vielschichtigkeit des hier wirksamen Apollonius-Diskurses aufzeigen können. Die literarische Ebe­ne dieses Diskurses, die sich, gerade da der historische Apollonius kaum noch faßbar war, seiner Person gewissermaßen als beschreibbarer Folie bedienen konnte und sie zur weiteren Ausgestaltung - oder auch: Konstitu­ierung - einer Identitätsfigur und Mittlergestalt nutzte, erwies sich dabei als das Ergebnis verschiedener Faktoren, und zwar 1. der jeweils vorge­fundenen literarischen Entwürfe und der Auseinandersetzung mit ihnen, 2. der Rezeption zeitgenössisch kursierender Sichtweisen und Traditionen (vor allem auch lokaler und volkstümlicher), 3. der eigenen Prägung und Interessen oder Ziele des Autors sowie seiner Wahlmöglichkeiten, 4. der Prägekraft des gewählten literarischen Genus (Vita, Roman etc.). Und schließlich, 5„ finden auch zeitgenössische - religiöse, kulturelle, soziale und politische - Bedingungen, bewußt oder unbewußt, Eingang in das Bild der Figur, die den Lesern als der wahre Apollonius vorgestellt wird.