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GOUCH GANDIN. Bemerkungen zur Intertextualität der Episode von 'Rotte und Harfe' im 'Tristan' Gottfrieds von Straßburg von GERD DICKE Tristan ist gerade auf der Jagd, da kommt zu Schiff Gandin nach Tintajel, ein ziemlich exaltierter irischer Ritter und Baron, der die vom Hof mit lachen unde spotten (Gottfried l , v. 13171) quittierte Marotte hat, anstelle von Waffen eine kostbar verzierte Rotte zu tragen und diese niemals abzulegen. Isolde kennt ihn von früher, denn ihr amis / was er gewesen manege wis (v. 13127f.) - mehr ist darüber nicht gesagt. Da Gandin nur für Lohn musizieren will, verspricht ihm Marke: 'welt ir iht, des ich han, daz ist allez getan. lat uns vememen iuwem list, ich gib iu, swaz iu liep ist' (v. 13193-96) Nach dem Vortrag zweier Leichs nimmt Gandin den König beim Wort und fordert unverhohlen, was ihm liep ist - nämlich die Königin. Mehr, als daß dies nicht angehe, weiß Marke auf diese Dreistigkeit des trügenrere (v. 13202) nicht zu entgegnen, und da zwar Gandin bereit ist, sein rehte (v. 13230, 13238) auf das gegebene Wort mit dem Leben zu verteidigen (min lip der ist geveilet / mit kampfe [v. 13236f.]), bei Hofe aber niemand sich findet, der sin leben / an eine wage walte geben, / noch Marke selbe enwolde / niht vehten umbe Isolde (v. 13247-50), kann sich der listige Baron unbehelligt mit der weinenden Köni- gin in sein Zelt am Hafen zurückziehen. Mit der nächsten Flut will er Markes unfreiwillige Gabe nach Irland entführen. Aber die Rechnung ist ohne den zurückgekehrten Tristan gemacht, der sich im Aufzug eines Spielmanns Gandin nun andient, Isolde mit seinem Harfenspiel zu trösten. Das beste Gewand, das im Zelt zu finden sei, will ihm der Entführer dafür zum Lohn geben. Mit dem ersten Lied versiegen Isoldes Tränen und nach dem zweiten ist die Flut so weit aufgelaufen, daß nur noch Tristans Pferd die Königin trockenen Fußes zum Schiff bringen kann. Das ermöglicht ihre Rückentführung, bei der Tristan dem 1 Gottfried von Straßburg, Tristan und Isold, hg. von F. RANKE, Berlin 1930.

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GOUCH GANDIN. Bemerkungen zur Intertextualität der Episode von 'Rotte und Harfe'

im 'Tristan' Gottfrieds von Straßburg

von GERD DICKE

Tristan ist gerade auf der Jagd, da kommt zu Schiff Gandin nach Tintajel, ein ziemlich exaltierter irischer Ritter und Baron, der die vom Hof mit lachen unde

spotten (Gottfried l , v. 13171) quittierte Marotte hat, anstelle von Waffen eine kostbar verzierte Rotte zu tragen und diese niemals abzulegen. Isolde kennt ihn von früher, denn ihr amis / was er gewesen manege wis (v. 13127f.) - mehr ist darüber nicht gesagt. Da Gandin nur für Lohn musizieren will, verspricht ihm Marke:

'welt ir iht, des ich han, daz ist allez getan. lat uns vememen iuwem list, ich gib iu, swaz iu liep ist' (v. 13193-96)

Nach dem Vortrag zweier Leichs nimmt Gandin den König beim Wort und fordert unverhohlen, was ihm liep ist - nämlich die Königin. Mehr, als daß dies nicht angehe, weiß Marke auf diese Dreistigkeit des trügenrere (v. 13202) nicht zu entgegnen, und da zwar Gandin bereit ist, sein rehte (v. 13230, 13238) auf das gegebene Wort mit dem Leben zu verteidigen (min lip der ist geveilet / mit kampfe [v. 13236f.]), bei Hofe aber niemand sich findet, der sin leben / an eine wage walte geben, / noch Marke selbe enwolde / niht vehten umbe Isolde (v. 13247-50), kann sich der listige Baron unbehelligt mit der weinenden Köni­gin in sein Zelt am Hafen zurückziehen. Mit der nächsten Flut will er Markes unfreiwillige Gabe nach Irland entführen. Aber die Rechnung ist ohne den zurückgekehrten Tristan gemacht, der sich im Aufzug eines Spielmanns Gandin nun andient, Isolde mit seinem Harfenspiel zu trösten. Das beste Gewand, das im Zelt zu finden sei, will ihm der Entführer dafür zum Lohn geben. Mit dem ersten Lied versiegen Isoldes Tränen und nach dem zweiten ist die Flut so weit aufgelaufen, daß nur noch Tristans Pferd die Königin trockenen Fußes zum Schiff bringen kann. Das ermöglicht ihre Rückentführung, bei der Tristan dem

1 Gottfried von Straßburg, Tristan und Isold, hg. von F. RANKE, Berlin 1930.

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Notiz
Dicke, Gerd: Gouch Gandin. Bemerkungen zur Intertextualität der Episode von 'Rotte und Harfe' im 'Tristan' Gottfrieds von Straßburg. In: ZfdA 127 (1998), S. 121–148.

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gouch Gandin (V. 13412) noch zuruft, er habe sich für sein Harfenspiel nur den versprochenen Lohn genommen - daz beste gewant, / das ich in dem gezelte vant (v. 1342lf.). Gandin begibt sich truric unde truresam (v. 13425) auf die Heimfahrt. Tristan bringt Isolde zurück an den Hof - ob sie unterwegs ruowe in den bluomen ntemen, will der Erzähler ane wtenen lan (v. 13434f.) - und macht Marke strenge Vorhaltungen:

'herre' sprach er 'wizze crist,

so lieb als iu diu künegin ist, so ist ez ein michel unsin, daz ir si gebet so lihte hin durch harpfen oder durch rotten. ez mac diu werlt wol spotten: wer gesach ie mere künigin durch rottenspi/ gemeine sin? her nach so bewaret daz und hüetet miner vrouwen bazf' (v. 13441-50)2

2 Von einigen kaum deutungsrelevanten Details abgesehen, stimmen die altfrz. 'Oxforder Folie' (Tristan et Yseut. Les Tristan en vers [Classiques Garnier], hg. von CH. PAYEN, Ed. rev. et augmentee, Paris 1989, S. 265-297, hier v. 763-774), die altnord. 'Tristrams Saga' (Die nordische und die englische Version der Tristan-Sage, hg. von E. KÖLBING, T. I: Tristrams Saga ok Isondar, Heilbronn 1878, hier Kap. 49f.) und modo grosso auch der altengl. 'Sir Tristrem ' (ebd., T. 2: Sir Tristrem, Heilbronn 1882, hier Str. 165-175) mit Gottfrieds Darstel­lung überein; der Hyparchetyp der sog. 'version courtoise' - der nur fragmentarisch erhaltene 'Tristan' des Thomas von Britannien - dürfte das Geschehen mithin ganz ähnlich geschildert haben (vgl. die Rekonstruktion von J. BEDIER, Le Roman de Tristan par Thomas, Poeme du XIIe Siecle, 2 Bde. [Societe des Anciens Textes Fran"ais 46], Paris 1902-05, hier Bd. I, S. 168-175). Bei Eilhart von Oberge fehlt die Episode. Daß Berol - der zweite Gewährsmann der sog. 'version commune' - sie hatte, gilt dem Mehrteil der Forschung aufgrund einer recht apokryphen Allusion der ihm nahestehenden 'Berner Folie' (ed. PAYEN, S. 247-264) als wahrscheinlich: Tristan fragt hier Y seut, ob sie sich erinnere, wer sie aus der Gefangenschaft eines gewissen Gamarien befreit habe (v. 380-383), und erwähnt kurz darauf (v. 390-393) einen Guimarant, dem er beim Versuch, ihr zur Hilfe zu kommen, die Hand abschlug. Sollten diese Namen die gleiche Person meinen (so z.B. E. BRUGGER, Zum Tristan-Roman. II: Zur Harfner-Episode, ASNS Jg. 66, Bd. 129 [1912]375-387, hier S. 386; 1. FRAPPIER, Le motif du 'don contraignant' dans la litterature du moyen äge, in: ders., Amour courtois et table ronde [Publications Romanes et Fran~aises 126], Genf 1973, S. 225-264, hier S. 243; vgl. auch I. CLUZEL, La reine Iseut et le harpeur d'Iriande, BBSIA 10 [1958]87-98; F. LECOY, L'episode du harpeur d'Iriande et la date des Tristan de Beroul et de Thomas, Romania 86 [1965]538-545), so erfolgte Yseuts Rückgewinnung in der 'version commune' statt auf die 'elegante' Weise der Thomas-Gruppe durch einen Zweikampf - eine Annahme, die sich auch auf die gleich doppelte Verwertung des Erzählmusters im afrz. 'Prosa-Tristan' stützen kann (Le Roman de Tristan en Prose, hg. von R. L. CURTIS, Bd. I, München 1963, Bd. 2, Leiden 1976, § 375-394 u. 493-512; vgl. dazu E. BAUMGARTNER, Le 'Tristan en Prose' . Essai d'interpretation d'un roman medievale [Publications Romanes et Fran~aises 133], Genf 1975, S. 108f.; A. WOLF, Gottfried von Straßburg und die Mythe von Tristan und Isolde, Darmstadt 1989, S. 283f. u. 292-298): An Marcs Hof erscheint der fremde Ritter Blioberis und bittet den König um eine Gabe. Li rois

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Nicht selten werden die Helden der höfischen Epik so wie hier in einer Weise beim gegebenen Wort genommen, die ihnen vielfach nurmehr die Wahl läßt, sich so oder so zu schädigen. Ein auf die Bitte um Gewährung einer Gabe hin gegebenes Blankoversprechen - ein rash boon (MOT. M 223: Blind promise [rash boon): Person grants wish before hearing it und Q 115: Reward: any boon that may be asked)3 - macht sie mit ihrer hier in puncto Worttreue und Verläßlichkeit geforderten Ehre erpreßbar, mag sich das 'blind' bewilligte Be­gehr im nachhinein auch als infam offenbaren und den Bittsteller disqualifi­zieren.

'was ir von vns haben wolt das geben wir uch', verspricht zum Beispiel Lancelot im deutschen 'Prosa-Lancelot'4 einer jungen Dame, die ihm gegen Lohn den Weg zu seiner geliebten Ginover weisen will. Das Fräulein erteilt die Auskunft und eröffnet dem Helden am Abend unverblümt, wie sie sich sein Versprechen erfüllt wünscht: 'darvmb bitt ich uch das ir noch hint bi mir schlaffent [ ... ], jch wil das ir das thut, oder ir hant uwer truw ver10m! 'Lancelot steht vor einem Dilemma: seiner ere zuliebe, muß er seiner Blankozusage truw bleiben und gegen seinen Willen ein Nachtquartier nehmen, das seiner ere ebenso abträglich ist wie der truw zu seiner Minnedame. Doch die demütige Selbstentehrung, in der er in der bekannten Karrenszene um der Minne willen den Schandkarren bestieg, bleibt ihm hier erspart, weil das Fräulein an seiner Aversion, ihr Bett zu teilen, die biederbkeit des Ritters erkennt und ihm in

... n'ose escondire Ee chevalier aventureus, enz Ei otroie ce qu'ilEi demande (§ 375). Der Fremde fordert die Gattin des Ritters Segurades, in die Mare und Tristan verliebt sind. Vergeblich versucht Segurades, die Entführung durch Kampf zu verhindern, während Marc untätig bleibt und sein Neffe sich aus Furcht vor dem König zurückhält. Erst nachdem ein Fräulein ihn für seine Untätigkeit öffentlich schmäht, nimmt sich Tristan der Sache an und besiegt den Entführer im Zweikampf. Doch weil er sie bei Hofe im Stich ließ, will die Dame ihrem Befreier nicht folgen, kündigt ihm ihre Liebe auf und zieht es vor, bei Blioberis zu bleiben (§ 375-394). - Tristans Minnekonkurrent Palamedes verspricht Yselt, die ermordet geglaubte Brangain zurückzubringen; Y seit will ihm dafür jedes Begehr erfüllen. Palamedes bringt Brangain, beruft sich vor Mare auf Y selts Versprechen und verlangt die Königin. Empört muß Mare die Gattin mit ihrem Verehrer ziehen lassen. Da Tristan zur Jagd ist, und da kein corni scher Ritter den Kampf gegen Palamedes wagt, nimmt ein Ritter aus Benolc, der am Hof seine Wunden kuriert, die Verfolgung auf. Palamedes besiegt ihn, doch dabei entwischt ihm Y seit, die auf einer Burg Zuflucht findet und Tristan von dort einen Boten sendet. Palamedes fängt ihn ab und zieht vor das Turmfenster, um Yselt seine Liebe aufzudrängen. Schließlich findet Tristan die Fluchtburg und es kommt zum Kampf, den aber Y seit unter­bricht, um ihrem Entführer die Frage zu stellen, ob er sie wirklich liebe; zum Beweis dafür will ihr Palamedes jedes Begehr erfüllen - und sieht sich unversehens von Y seit mit besten Grüßen an Genevre an den Artushof geschickt. Tristans schlägt vor, nicht mehr an den Hof zurückzu­kehren, doch da Yselt davor zurückschreckt, erstattet er sie Mare zurück (§ 493-512).

3 ST. THOMPSON, Motif-Index of Folk-Literature, 6 Bde., Rev. and Enlarged Ed., Kopenhagen 1955-58 [= MOT.).

4 Der Karrenritter. Episode des mhd. Prosa-Lancelot (Kleinere dt. Prosadenkmäler des Mittel­alters 10), hg. von R. KLUGE, München 1972, S. 42-46.

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plötzlicher Besinnung auf die höfischen Spielregeln das von ihr im wahrsten Sinne schamlos mißbrauchte Versprechen erläßt.

Das in der höfischen Epik allgegenwärtige und in vielerlei Spielarten begeg­nende Motiv des rash boon5 macht die Gabe - in feudalen Gesellschaften ein "fait social total"6 - und macht den Umgang mit ihr zum Indikator für die Intaktheit des höfischen Verhaltens- und Wertesystems. Es führt die Beteiligten in konfliktträchtige Situationen, die ihre Haltung und Einstellung zu tragenden Werten der höfischen Gemeinschaft (v.a. milte, maze, triuwe, ere) kenntlich machen und ihr Vermögen überprüfen, ihre Interessen, Ansprüche oder Emotio­nen im Sinne dieser Prinzipien zu regulieren. Da sich durch das rash boon in der Regel ein Begehr erfüllt, das dem Bittenden anders kaum erreichbar wäre, entfaltet das Motiv eine starke, häufig in der Peripetie mündende Handlungs­dynamik und fungiert erzähltechnisch daher sowohl als "un moyen commode pour animer le recit et produire un bouleversement" als auch als "un ressort technique destine a precipiter l'action"7. - Auch im Motivfundus des 'Tristan' hat das rash boon oder don contraignant seinen festen Platz:

Nachdem Tristan der irischen Königin seine Werbungsabsichten für Marke eröffnet hat, erbittet sie sich von Gurmun eine Gabe, die auch ihm zum Vorteil gereichen soll ('ir sult uns einer bete gewern, / ... / tuot irz, ez kumet uns allen wol' [Gottfried, v. 10631-33]). Auf Gurmuns Blankoversprechen hin ('swaz ir wellet, deist getan' [v. 10635]) erfleht die Königin seine minne und hulde für den, der ihren bruoder sluoc (v. 10640). Da er ihrer Einschätzung vertraut, daz diu suone vuoge hat (v. 10645), macht sich Gurmun den Wunsch seiner Gattin zu eigen und bedeutet ihr zugleich, wie er sich sein Vertrauen entlohnt wünscht: 'nu sich, daz erz [sc. Tristan] mit triuwen tuo' (v. 10658).

Auf die Frage, was er ihm für die Befreiung seines Landes aus der Tri­butpflicht des Riesen Urgan zu geben bereit sei, erhält Tristan das Versprechen des Herzogs Gilan 'ich gibe iu gerne, swaz ich han' (v. 15946). Nachdem er Urgan unter Einsatz seines Lebens besiegt hat, zögert Tristan nicht, dem Herzog

5 Vgl. die motivgeschichtlichen Überblicke von M. DESILLES-BusCH, 'Doner un don' - 'sicher­heit nehmen'. Zwei typische Elemente der Erzählstruktur des höfischen Romans, Diss. BerIin, Pau 1970, S. 19-65; FRAPPIER [Anm. 2]; PH. MENARD, Le don blanc qui lie le donateur: reflexions sur un motif de conte, in: An Arthurian Tapestry. Essays in Memory of Lewis Thorpe, hg. von K. VARTY, GIasgow 1981, S. 37-53, sowie die Belege in den Motivindices von E. A. RUCK, An index of themes and motifs in twelfth-century French Arthurian poetry (Arthurian Studies 25), Cambridge 1991, N-a-4 u. N-a-6, und A. GUERREAU-JALABERT, Index des Motifs N arratifs dans les Romans Arthuriens Fran«ais en Vers (XIIe-XIIIe SiecIes) (Pub1ications Romanes et Franr;aises 202), Genf 1992, M 223 u. Q 115.

6 So die These in M. MAUSS' berühmtem 'Essai sur le don' (Forme et raison de I'echange dans les societes archai'ques, L'Annee Sociologique, NS I [1923/24], S. 30-186); vgl. auch E. KÖHLER, Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik. Studien zur Form der frühen Artus- und Graldichtung (Beih. ZfromPh 97), Tübingen 21970, S. 33-35, zum don als dem herausragen­den gesellschaftlichen 'Bindemittel' im Rahmen der höfischen Epik.

7 MENARD [Anm. 5], S. 51; vgl. auch DESILLES-BusCH [Anm. 5], S. 47-49.

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sein Liebstes, das Hündchen Petitcrü, abzuverlangen, das ihm Gilan denn auch schweren Herzens überläßt.

Im französischen 'Prosa-Tristan' (Ed. CURTIS [Anm. 2], Bd. 1, § 410 u. 437f.) erbietet sich Tristan, für Y selts Vater Anguin einen Gerichtskampf zu überneh­men, falls der König es ihm mit einer Gabe lohnen wolle: et li rois li donra apres la bataille tel don corn il voudra (§ 410). Nach siegreich bestandenem Zwei­kampf überlegt Tristan zunächst, Y seIt als don für sich selbst zu erbitten, bleibt dann aber doch seinem Werbungsauftrag treu und bittet namens seines Onkels um ihre Hand - bereitwillig kommt Anguin seinem Lohnversprechen nach.

In all diesen Fällen basiert das rash boon auf dem do ut des-Prinzip und lohnt eine bereits erbrachte oder mit verpflichtendem Vertrauensvorschuß eine noch zu erbringende Gegenleistung. Dabei verpfänden die Beteiligten ihre Ehre auf Gegenseitigkeit: wer eine Gabe blanko zusagt, steht mit seiner Ehre für ihre Gewährung ein und baut vorbehaltlos auf die Vertrauenswürdigkeit und höfi­sche Gesinnung seines Gegenüber; wer die Gabe erbittet, nimmt es auf seine Ehre, sich des Erbetenen und des ihm entgegengebrachten Vertrauens würdig zu erweisen und die Angemessenheit von Leistung und Gegenleistung zu beachten. Bleibt das Tausch- und Gegenseitigkeitsprinzip gewahrt, das nicht anders als in archaischen Gesellschaften letztlich auch die höfische soziale Interaktion regu­liert, so ermöglicht das rash boon einen konfliktfreien Interessensausgleich, bei dem keiner der Beteiligten an seiner Integrität beschädigt aus der Prüfung in höfischem Ethos und Comment hervorgeht, die mittels des rash boon-Motivs immer zugleich veranstaltet ist.

Konflikt- und Bewährungssituationen von besonderer Brisanz beschwört das Motiv wie im oben skizzierten Beispiel des 'Prosa-Lancelot' hingegen immer dort herauf, wo dieser ethisch-soziale Comment mißachtet wird und die Durch­setzung persönlicher Interessen auf Kosten der ere aller Beteiligten geht. Die eigennützige Verletzung der höfischen Spielregeln macht die Anfälligkeit des rnilte- und triuwe-Prinzips gegen den Mißbrauch bewußt, sie bringt die Antino­mien an den Tag, die die "höfische Wertordnung als geleistete Synthese von Individuum und Gesellschaft" zeitweilig aus dem Gleichgewicht bringen, und macht damit einen "Prozeß [ ... ] gradweiser Wiederherstellung ihrer Unversehrt­heit" erforderlich, in dem sich "das heraus strebende einzelne mit dem Ganzen auf einer neuen Ebene versöhnen soll".8 So gewendet, begegnet das ra3h boon vor allem als Ansatz- oder Begleitmotiv etwa auch der folgenden artusepischen Episoden:

In Chretiens 'Chevalier de la Charrete'9 (v. 30-253) brüskiert ein unbekannter Ritter (Meleagant, Prinz des unheimlichen Landes Gorre) die Artusgesellschaft mit der Nachricht, er

8 Vgl. dazu DEsILLES-BuSCH [Anm. 5J, S. 46; Zitate ebd. 9 Les Romans de Chretien de Troyes edites d'apres la copie de Guiot (BibI. nat. fr. 794) (Les

Classiques Fran~ais du Moyen Age 86), hg. von M. ROQUES, Bd. 3: Le Chevalier de la Charette, Paris 1958.

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halte Angehörige des Hofes gefangen, die nur freikämen, wenn ihn ein von Guenievre beglei­

teter Artusritter im Zweikampf besiege; sei er aber siegreich, so nehme er die Königin mit sich.

Kaum ist M€I€agant davon, kündigt der Seneschall Keu König Arthur an, seinen Dienst

quittieren zu wollen. Davon abbringen läßt er sich erst, als ihm Arthur auf Fürsprache Guenie­

vres eine Bitte gewährt und verspricht, que son comandemant I fera, que que illi demant (v.

169f.). Zum Entsetzen aller (et tuit drent par la meison I qu 'orguel, outrage et desreison I avoit Kex demandee et quise [v. 185-87)) fordert Keu den Kampf um die Königin, und da er noch nie

wortbrüchig wurde, bleibt Arthur nur, die Bitte zu gewähren. Meleagant stellt dem vermesse­

nen Keu eine Falle und entführt die Königin nach Gorre, in das Land ohne Wiederkehr. Nach

vielerlei Wirren und Gefahren gelingt es erst dem mustergültigen Minner Lancelot, seine Geliebte aus dem Jenseitsreich zu befreien.

Im 'Lanzelet' U1richs von Zatzikhoven 1o (v. 4980-5360, 6726-7423) erfährt der Held, daß

unlängst Valerin, Herr des geheimnisvollen Verworrenen tan, am Artushof erschienen sei und nach der Zusage, daz er vride ha:te, I swaz rede er ta:te (v. 4989f.), ältere Rechte auf Ginover

geltend gemacht habe, wan siu im gemehelt wa:re, I e siu wurde hfba:re (v. 4995f.). Er wolle

seinen Anspruch im Zweikampf bewähren und im Fall seines Sieges die Königin mit sich

nehmen; Artfis sprach 'daz sol sin' (v. 5018). Lanzelet kommt gerade noch zeitig, um den

schon zum Gerichtskampf bereiten Gawein zu bitten, swes er in geba:te, I daz er daz lieze werden war (v. 5206f.); da Gawein dies zusagt, muß er sein Begehr erfüllen, ihm den Kampf

abzutreten. Lanzelet besiegt Valerin und nimmt ihm den Eid ab, künftig von Ginover zu lassen.

Schon bald aber wird Valerin wortbrüchig und raubt sie gewaltsam, wobei Artus schwer

verwundet und viele seiner Ritter getötet werden. Kaum genesen, macht sich Artus auf zum

Verworrenen tan, ohne doch in das Zauberreich des Entführers eindringen zu können. Erst mit

den vereinten Kräften seiner besten Ritter und des Zauberers Malduc. dem sich Erec und

Gawein als Geiseln stellen, erlangt Artus den Sieg und Ginovers Freiheit.

Im 'Iwein' Hartmanns ll (v. 4528-4726) berichtet man dem Helden, ein fremder Ritter habe sich von Artus - um seine weithin gerühmte milte zu prüfen - eine Gabe erbeten, die ihm der

König aber nur gewähren wollte, falls die Bitte geziemend (v. 4546: betelfchen) ausfalle. Den

Fremden empört dieser Vorbehalt, und da Artus auf ihm beharrt, zieht er zornig ab und redet

der milte und ere des Königs übel nach. Erst der Tadel seiner Ritter, er setze seinen Ruf aufs

Spiel, stimmt Artus um, dem Fremden vorbehaltlos ze leistenne swes er ba:te (v. 4582). Zum

Entsetzen des Königs ('wie bin ich überkomen! I die disen rat taten, I die hant mich verraten' [v. 4590-92)) fordert der vrävel man (v. 4585) dreist die Königin, um sie zu entführen, falls

niemand sie ihm im Zweikampf wieder abgewinne. An sein eidgleiches Wort (v. 4584)

gebunden, muß Artus die Gattin mit dem Frevler ziehen lassen. Doch sofort sprengen die

Artusritter ihnen nach, allen voran der großspurige Keie, der denn auch der erste ist, der dem

Entführer kläglich unterliegt: wan alle die im nach riten I die streuter nach ein ander (v.

4712f.). Als die Sache Gawein zu Ohren kommt, macht er sich auf, Ginover zu retten. (v.

5679f. ist dann beiläufig nur mitgeteilt, es sei diu küneginne wider komen, I die Meljaganz hete genomen).

In diesen drei ältesten, wohl in der Zeit zwischen Thomas' und Gottfrieds 'Tristan' -Versionen entstandenen Varianten der in der Artusepik fast schon

10 Lanzelet. Eine Erzählung von Ulrich von Zatzikhoven, hg. von K. A. HAHN, Frankfurt a. M. 1845.

I I Iwein. Eine Erzählung von Hartmann von Aue, hg. von G. F. BENECKE und K. LACHMANN, Siebente Ausg. neu bearb. von L. WOLFF, 2 Bde., Berlin 1930.

'Rotte und Harfe' im 'Tristan' 127

obligaten Episode von der Entführung Ginovers12 erscheint das in der keltischen Literatur besonders verbreitete Motiv des rash boon13 als Bestandteil eines Erzähltyps, an dessen keltischer Provenienz kein Zweifel besteht. Sein Grund­schema und seine konstitutiven Inhaltskomponenten haben vor allem SCHOEP­PERLE und NEWSTEAD l4 aus altirischen aitheda und tochmarca l5 (v.a. 'Tochmarc Etaine' 16) und dem ersten der vier mythosnahen 'Zweige' des kymrischen

12 Überblicke über die weitverzweigte Tradition der Episode im Rahmen der Artusepik ver­schaffen T. P. CROSS und W. A. NITZE, Lancelot and Guenevere. A Study on the Origins of Courtly Love (The Modern Philology Monographs of the Univ. of Chicago), Chicago 1930, S. 21-29, und K. G. T. WEBSTER, Guinevere. A Study ofher Abductions, MiitonlMass. 1951; über die deutschen Bearbeitungen unterrichten v.a. W. HAUG, 'Das Land, von welchem niemand wiederkehrt'. Mythos, Fiktion und Wahrheit in Chretiens 'Chevalier de la Charrete', im 'Lanzelet' Ulrichs von Zatzikhoven und im 'Lancelot' -Prosaroman (Unters. zur dt. Litera­turgesch. 21), Tübingen 1978, S. 5-16, und K. GRUBMÜllER, Der Artusroman und sein König. Beobachtungen zur Artusfigur am Beispiel von Ginovers Entführung, in: Positionen des Romans im späten Mittelalter, hg. von W. HAUG und B. WACHINGER (Fortuna vitrea 1), Tübingen 1991, S. 1-20.

13 V gl. die Belege bei T. P. CROSS, Motif-Index of Early Irish Literature (Indiana Univ. Publ., Folklore Sero 7), Bloomington 1952, MOT. M 223 u. Q 115. Den keltischen Ursprung des Motivs verfechten insbesondere BRUGGER [Anm. 2], S. 379f., R. S. LOOMIS, Arthurian Tradi­tion and Chretien de Troyes, New York 1949, S. 202f., und FRAPPIER [Anm. 2], S. 241-259 (mit Angabe der einschlägigen ethnosoziologischen und keltistischen Forschung). Zweifel daran hegt MENARD [Anm. 5], S. 40-48, der zwar die Abkunft des artusepischen rash boon aus der matiere de Bretagne einräumt, die These der keltischen Motiventstehung aber durch ältere Belege aus anderen Literaturen widerlegt sieht (vgl. an biblischen etwa Esth. 5.3 u. 6 und Mare. 6.17-28; besonders variantenreich präsentiert sich das Motiv - ohne anschließende Entführung - in der indischen Literatur; vgl. dazu ST. THOMPSON und 1. BALYS, The Oral Tales of India, Bloomington 1958, MOT. Q 115, und W. HAUG, Struktur und Geschichte. Ein literaturtheoretisches Experiment an mittelalterlichen Texten, GRM 54 [1973] 139). Die Debatte scheint mir allerdings wenig fruchtbar, denn der Erzähleinfall 'Blankozusage jedwe­der Gabe - Bitte und Gewährung einer unerwarteten', auf den die Motivformel hinausläuft (vgl. MENARD [Anm. 5], S. 40), ist so originell, komplex und distinkt kaum, daß seine Polygenese auszuschließen wäre. Für eine 'generatio aequivoca' des Motivs spräche überdies, daß die Soziologie die Gabe als ein in feudalen Gesellschaften ubiquitäres Institut ausgemacht hat (vgl. v.a. MAuss [Anm. 6]: "Donner, c'est manifester sa superiorite, etre plus [ ... ]; accepter sans rendre ou sans rendre plus, c' est se subordonner, devenir c\ient et serviteur, devenir petit, choir plus bas" [So 174]; "S'abstenir de donner, comme s'abstenir de recevoir, c'est deroger,­comme s'abstenir de rendre" [So 107]).

14 G. SCHOEPPERLE, Tristan and Isolt. A Study of the Sources of the Romance. Second ed., expanded [ ... ] by R. S. LOOMIS, 2 Bde., New York 1963 [zuerst 1913], Bd. 2, S. 426-430; H. NEWSTEAD, The Harp and the Rote. An Episode in the Tristan Legend and its Literary History, Romance Philology 22 (1968/69) 463-470, hier S. 464f.

15 Zu diesen 'tale-types' P. MAC CANA, The Learned Tales of Medieval Ireland, Dublin 1980, S.74f.

16 Ancient Irish Tales, hg. von T. P. CROSS und C. H. SLOVER, Dublin 1969, S. 82-92: Die mit dem übernatürlichen König Mider vermählte Fee Etain wird in die Menschenwelt geboren und dort zur Frau des irischen Königs 'Eochaid. Miders Versuchen, sie in sein Reich zurückzuführen, verweigert sie sich, solange er nicht Eochaids Einwilligung habe. Mider bewegt den Gatten daraufhin zu einem Schachspiel um einen vom Sieger festzusetzenden Preis. Mehrfach gibt er

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Mabinogi ('Pwyll, Prince of Dyfed' 17) abstrahiert: "A magnificent and mysterious stranger appears to the king. His race and

lineage are known only to the queen, to whom he has a claim owing to some previous attachment. He gives a display of skill, in recognition of which the king promises hirn any boon he shall name. He demands the queen. The king hesita­tes, but, taunted with having compromised his honor, unwillingly accedes. The stranger departs with the queen, no one daring to lift a hand to prevent hirn. The husband later pursues and recovers the lady by ruse or magic."18

Daß die ältesten keltischen Erzählungen dieses Typs l9 den Entführungs­episoden des Artus- und Tristanstoffes vorangehen, ist aufgrund ihres erschließ-

sich geschlagen und leistet Eochaid den gewünschten Gewinn, dann aber gewinnt er und fordert Etain. Eochaid erhält einen Monat Aufschub, doch als der Fremde erscheint und ihn und Etain an ihr Versprechen mahnt, ist alle aufgebotene Bewachung der Königin vergebens­in Schwäne verwandelt entschwinden Mider und Etain in die Anderswelt. Ein Jahr lang sucht Eochaid nach seiner Frau, bis es ihm schließlich dank eines Druiden gelingt, Etain (wie er glaubt) aus Miders Gewalt zu befreien. Erst viel später wird er gewahr, daß er seine eigene, im Jenseitsreich geborene Tochter zurückentführt hat. Vgl. zur Etain-Sage auch W. HAUG, Zum Verhältnis von Mythos und Literatur. Methoden und Denkmodelle anhand einer Beispielreihe von NjQrör und Skaöi über Nala und Dayamanti zu Amphitryon und Alkmene, in: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken, hg. von CH. CORMEAU, Stuttgart 1979, S. 1-22, hier S. 11-14.

17 The Mabinogion, übers. von G. JONES und TH. JONES, New Rev. Ed., London, Rutland 1995, S. 3-20: Bei der Hochzeit des sterblichen Prinzen Pwyll mit der Fee Rhiannon erscheint ein Jüngling, dem Pwyll sehr zu Rhiannons Unmut jedes boon zu gewähren verspricht. Der Fremde mahnt ihn zur Worttreue und fordert die Braut. Es ist, wie die Fee ihren Bräutigam nun aufklärt, Gwawl, der Sohn des mächtigen Clud, dem sie seit langem versprochen war. Pwyll müsse sein Wort halten, doch werde sie die Heirat mit Gwawl ein Jahr hinauszögern. Er solle dann zur Hochzeit incognito mit seinen Mannen an Cluds Hof erscheinen und den Bräutigam bitten, den magischen Sack, den sie ihm jetzt schon mitgebe, mit Speisen zu füllen. Da er sich aber anders nicht füllen lasse, solle Pwyll Gwawl raten, den Inhalt mit den Füßen zu stampfen, und den Sack bei dieser Gelegenheit über ihm zuschnüren, bis seine Männer den Hof erobert hätten. Alles geschieht nach Rhiannons Plan: bei der Hochzeit ist der Prinz als Bettler verkleidet zur Stelle, erhält die Essensgabe, lockt Gwawl in den Zaubersack und läßt ihn darin so lange prügeln, bis er seinen Anspruch auf Rhiannon aufgibt. Pwyll heiratet die Fee und führt sie mit Zustimmung ihres Vaters in sein Reich.

18 SCHOEPPERLE [Anm. 14], Bd. 2, S. 428. 19 Weitere Regesten bei BRUGGER [Anm. 2], S. 382-384; SCHOEPPERLE [Anm. 14], Bd. 2, S. 424-

427; CROSS!NITZE [Anm. 12], S. 38-44; ST. STRASSBERG, Die Entführung und Befreiung der Königin Ginevra. Ein Beitrag zur Erläuterung des Lancelot von Crestien de Troyes, Diss. Berlin 1937, S. 47-49. THOMPSONS MOT.-Index [Anm. 3] subsumiert diese Texte unter Q 115.1 (Reward: any boon that may be asked - king's wife demanded), doch sucht man sie als Belege eines Erzähltyps bei A. AARNE und ST. THOMPSON (The Types of the Folktale. A Classification and Bibliography [FFC 184], Helsinki 21981) vergeblich. Da die Königin im Anschluß an das rash boon jedoch allenthalben entführt (MOT. R 10.5: Queen abducted) und dann vom Gatten, im Artus- und Tristan-Stoffkreis auch von dessen Rittern bzw. ihrem Liebhaber befreit wird (R 151.1: H usband rescues stolen wife bzw. R 161.1: Lover rescues his lady from abductor), ist ein in dieser Motivkombination traditionsstiftender Erzähltyp anzu­setzen.

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baren Alters (9.-10. Jh.)20 und ihrer noch kaum rationalisierten mythischen Züge21 nicht weiter strittig. Auch haben sich der Forschung bislang keine Verdachtsmomente für eine etwaige Überformung der keltischen Versionen durch die der Artus- oder Tristantradition ergeben. Neben vielen Elementen des keltischen Erzählmusters, die auf nicht mehr rekonstruierbaren Wegen sowohl in die Gandin- als auch in die Ginover-Episode fanden, sind einzelne auffällig, die nur in einer der beiden ein Pendant haben.22 So wissen die Artusdichtungen von keinem 'display of skill', während die 'Tristan' -Bearbeiter der Thomas­Gruppe diese Komponente der altirischen Geschichten durch Gandins musi­kalische Darbietungen ausfüllen. Andererseits sind dem Entführer Isoldes die mysteriösen, auf eine numinose Abkunft verweisenden Züge genommen, die dem Entführer der Artuskönigin als Relikte seiner aus keltischen mythischen Zeiten angestammten Rolle vielfach noch anhaften. Daraus ist mit SCHOEPPERLE nur zu schließen, daß die beiden Entführungsepisoden des Tristan- und Artus­Stoffkreises ursprünglich vermutlich "independent developments" des keltischen Typus darstellen ("each presents primitive characteristics of that type which are lacking in the other"23), die Gandin-Episode also nicht etwa aus der um den Raub Ginovers (oder vice versa) geflossen ist. Das schließt mögliche Interferen­zen und gegenseitige Beeinflußungen der beiden Stoff traditionen in der Umset­zung des Erzählmusters auf späteren Bearbeitungsstufen keineswegs aus, steht aber der Annahme entgegen, daß das 'Tristan' -"Motiv vom leichtsinnig gegebe­nen und folgenschweren Königswort [ ... ] aus der Artusepik [stammt]."24 Das ist auch deshalb unwahrscheinlich, weil der 'Tristan' der keltischen Motivausfor­mung recht nahe bleibt, während sich die frühe Artusepik (wie noch zu sehen) schwertut, die programmatische Idealität ihrer königlichen Leitfigur und perso­nifizierten Wertinstanz mit dem verhängnisvollen rash boon in Einklang zu bringen.

In jedem Fall aber läßt die reiche Bearbeitungsgeschichte der Entführungs­episode stoffliche Vorkenntnisse des Publikums vermuten, die der Sinnbildung

20 Vgl. CROSS/NITZE [Anm. 12], S. 34 u. 39, und A. A. WACHSLER, The Celtic Conce.pt of the Journey to the Otherworld and its Relationship to Ulrich von Zatzikhoven's Lanze/et: A Struc:tural Approach to the Study ofRomance Origins, Diss. Univ. ofCalifornia, Los Angeles 1912. S. 18-20.

21 Der Entführer der keltischen Versionen ist in der Regel "a supernatural being who becomes enamored of amortal and carries her off to his realrn", oder "a fairy personage [ ... ], but he comes, not to make new conquests, but to claim a fee whom he has loved in the Otherworld" (CROSS/NITZE [Anm. 12]. S. 48). Das mythische Substrat dieser Erzählungen mag in einem "annual struggle of the Kings of Winter and Summer for the possession of the vegetation goddess" zu suchen sein (so LOOMIS [Anm. 13], hier S. 266). Vgl. zum Einfluß des 'Celtic Concept of the Journey to the Otherworld' auf die Artusdichtung WACHSLER [Anm. 20].

22 Dazu ausführlich SCHOEPPERLE [Anm. 14]. Bd. 2, S. 534-540. 23 Ebd. S. 540. 24 So jedoch K. RUH, Höfische Epik des deutschen Mittelalters, TI. 2 (Grundlagen der Germani­

stik 25), Berlin 1980, S. 219.

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einer Neu- und Umgestaltung nutzbar gemacht werden konnten. So hat HAUG für die Ginover-Entführung des 'Lancelot' aufgezeigt, daß Chretien "bei dieser Umformung zugleich den mythischen Horizont der Entführungsgeschichte oder zumindest eine diesem noch nahestehende literarische Schicht evoziert und darstellungstechnisch in bestimmter Weise genützt hat."25 Vergleiche der Tristanepisode mit ihren oben angeführten frühen artusepischen Pendants ste­hen dagegen (von SCHOEPPERLES Vorsondierungen abgesehen) eigentümlicher­weise noch aus. Da die älteste schriftliterarische Variante der Ginover-Entfüh­rung (in Caradocs von Llancarfan 'Gildas-Vita'26) bereits auf ca. 1130 datiert, ist die intertextuelle Präsenz der arthurisehen Brautraubgeschichte schon in Thomas' verlorener Entführungsversion immerhin nicht auszuschließen. Daß sich spätestens die Leser Gottfrieds im Gandin-Kapitel auf die parallele artus­epische Episode (etwa in der Version des so erfolgreichen Hartmannschen 'Iwein') zurückverwiesen und zu Vergleichen veranlaßt sahen, kann als sicher gelten. Für die Sinnbildung der einzigen Episode des 'Tristan' , die auch im Stoffundus der Artusepik eine Parallele hat, wird daher neben der textimmanenten überdies eine textdialogische Bedeutungsschicht anzusetzen und zu analysieren sein. Zugleich aber ist das weltliterarisch verbreitete Motiv und Erzählmuster 'Entführung und Rückgewinnung einer Braut' (MOT. K 1371 )27 zumal in der deutschen mittelalterlichen Epik ein so häufig genutztes28, daß Erwartungshal­tung und Vorwissen des Publikums in der 'Rotte und Harfe'-Episode des 'Tri­stan' nicht allein durch ihre artusepischen Pendants präformiert gewesen sein dürften.

Im erwähnten keltischen Erzähltyp geht es um konkurrierende Ansprüche auf die Königin, um eine Fee zumeist, die einem Sterblichen vermählt ist, in einer jenseitigen Welt aber schon verheiratet (z.B. 'Tochmarc Etaine') oder zumin­dest versprochen war (z.B. 'Pwyll, Prince of Dyfed'). Ihr übernatürlicher Part­ner weiß sich in der Menschenwelt ein rash boon des ahnungslosen Königs zu erwerben, das seinen in der Anderswelt bestehenden Anspruch auf die Dame in einen auch diesseitig gültigen auf die Gewährung der blanko zugesagtr.n Gabe verwandelt. Der König hat sich damit unwissentlich einem Jenseitigen ausgelie-

25 HAUG [Anm. 12], S. 15. 26 Vita Gildae aue tore Caradoco Lancarbanensi, hg. von TH. MOMMSEN, in: MGH. Auctores

antiquissimi, Bd. 13, Berlin 1898, S. 107-110; vgl. auch unten Anm. 50. 27 V gl. dazu die Überblicke von F. GEISSLER, Brautwerbung in der Weltliteratur. Halle a.S. 1955;

U. DALGAT, Art. 'Brautraub', in: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur histori­schen und vergleichenden Erzählforschung, hg. von K. RANKE, Bd. 2, Berlin, New York 1979, Sp. 753-762 [= EM]; E.-D. GÜTING, Art. 'Entführung'. in: EM 4, 1984, Sp. 6-13.

28 Vgl. dazu v.a. M. CURSCHMANN, Der Münchener Oswald und die deutsche spielmännische Epik. Mit einem Exkurs zur Kultgeschichte und Dichtungstradition (MTU 6), München 1964, Reg., und CH. SCHMID-CADALBERT, Der Ortnit A Wals Brautwerbungsdichtung. Ein Beitrag zum Verständnis mittelhochdeutscher Schemaliteratur (BibI. Germanica 28), Bern 1985, Reg.

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fert. Alle Versuche, sich seines Versprechens zu entziehen und die Gattin zu schützen, können ihre Entführung durch den Konkurrenten nicht verhindern, denn das ihm gegebene Wort wirkt hier unverkennbar noch magisch und erfüllt sich gegen alle Widerstände.29 Erst dank magischer Hilfe der Entführten oder Dritter gelingt es dem König denn auch, die Gattin zurückzugewinnen, sich also als der letztlich potentere Beschützer der Fee zu erweisen und damit sein höheres Anrecht auf sie zu bewähren.

Die im 'Tristan' auffälligste Modifikation des keltischen Märchentyps ist in der quellen- und motivgeschichtlichen Forschung zwar verbucht, als im Tristan­stoff gleichsam zwangsläufige in ihren Deutungsimplikationen jedoch nicht weiter beachtet worden:

"Rispetto a questo schema [sc. 'deI tipo narrativo celtico'] c'e in Thomas una sola differenza notevole: e Tristano, non Marco, a recuperare Isotta. Ma si tratta semplicemente deH'inserzione di un motivo ben noto aHa narrativa popolare per dare una diversa conc1usione al tipo piu commune (conc1usione qui necessaria dati i rapporti fra Tristano e la regina)."30

Umgekehrt haben sich die bisherigen, ungewöhnlich einmütigen Deutungen der Episode31 an ihrer Motivgeschichte auffällig desinteressiert gezeigt, wohl weil sich ihre Funktion und Bedeutungsleistung im rein textimmanenten Zugriff deutlich genug zu erkennen geben:

"Bei Gottfried dient die Geschichte von Rotte und Harfe zwei Zielen: Sie definiert das Verhältnis Markes und Tristans zu Isolde und bekräftigt, daß Tristan den legitimeren Anspruch auf die Königin besitzt, weil er sie zurück­erobert, während der König nichts tut."32

29 Erst spätere Rationalisierungen des rash boon-Motivs scheinen aus dem magischen Zwang des gegebenen Wortes die zwingende Ehrverpflichtung gemacht zu haben. die jedenfalls erst die höfischen Helden bindet.

30 A. VARVARO, L'utilizzatione letteraria di motivi della narrativa popolare nei romanzi di Tristano, in: Melanges de Langue et Litterature du Moyen Age et de la Renaissance (FS Jean Frappier), Bd. 2 (Publications Romanes et Fran~aises 112), Genf 1970, S. 1057-1075, hier S. 1065; das "motivo ben noto" meint MOT. R 161.1 (s.o. Anm. 19), dessen älteste Belege freilich die Tristantradition liefert.

31 Vgl. etwa R. N. COMBRlDGE, Das Recht im 'Tristan' Gottfrieds von Straßburg (Philol. Studien u. Quellen 15), Berlin 21964, S. 122-125; G. HOLLANDT, Die Hauptgestalten in Gottfrieds 'Tristan'. Wesenszüge, Handlungsfunktionen, Motiv der List (Phi101. Studien u. Quellen 30), Berlin 1966, S. 103-110; W. T. H. JACKSON, The Anatomy of Love. The rristan of Gottfried von Strassburg, New York, London 197\, S. 103-107; P. W. TAX, Wort, Sinnbild, Zahl im Tristanroman (Philol. Studien u. Quellen 8), Berlin 2197\, S. 79-82; H. KÄSTNER, Harfe und Schwert. Der höfische Spielmann bei Gottfried von Straßburg (Unters. zur dt. Lit.gesch. 30), Tübingen 1981, S. 70-73; J. A. DAVIDSON, The Cur, the Serpent and the Knight of the Rote. Three Vilains from Gottfried's 'Tristan', Colloquia Germanica 15 (1982) 17-31; H. UNTER­RErrMEIER, Tristan als Retter (Centro internazionale di studi di filosofia della religione, saggi 13), Perugia 1984, S. 149-159.

32 So das Forschungsresümee von R. KROHN (Gottfried von Straßburg, Tristan, hg. von R. K., Bd. 3: Kommentar [RUB 4473], Stuttgart 21981, S. 132).

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Motivgeschichtlich und vor dem Hintergrund des keltischen Erzähltyps be­trachtet, ist dieser semantische Effekt durch Transformationen des zugrundelie­genden Erzählmusters erzielt, wie sie sich in verschiedenen 'Tristan' -Kapiteln ganz ähnlich beobachten und als ein durchgängiges Prinzip der Romanfaktur beschreiben lassen.33 Wie in den keltischen Erzählungen setzt die Entführung der Königin ihren Gatten einer Bewährungsprobe aus, die hier statt des Königs jedoch der im Rollenarsenal des Typus nicht vorgesehene Geliebte der Entführ­ten besteht. Dem durch Gandin erlisteten Anspruch auf die Königin als Gabe steht Markes offizielles Recht auf die Gattin und das (freilich nurmehr bedeute­te) Anrecht Tristans auf die Geliebte gegenüber. Im keltischen Feenmärchen, das den Konflikt nur zweier Ansprüche zu erzählen und zu lösen hat, ist die unfreiwillige Überlassung der Dame als rash boon wie die erfolgreiche Bewäh­rung seines Gattenrechts durch die Rückgewinnung dem König vorbehalten.34

In der erweiterten Konstellation des 'Tristan' , in der sich zwei ihrerseits konfli­gierende Ansprüche gegen den des fremden Eindringlings zu behaupten haben, spalten sich die Aktantenfunktionen der Gattenrolle personell auf: der König liefert sich im rash boon dem Anspruch des Gegners auf die Königin aus, ohne sein eigenes Anrecht wahren zu können, während der zweite Part seiner ange­stammten Handlungsfunktion - die Bewährung des Anrechts durch die Tat - auf den Geliebten übergeht, der auf diese Weise in die Schemaposition des legi­timen Partners der Königin rückt. - Der Struktursinn des modifizierten Erzähl­typs setzt Tristan damit ideell in die Rechte an Isolde ein, die ihm in der epischen Realität versagt bleiben. Zwar erfüllt der Held die Aktantenfunktion, die hier im keltischen Erzählmuster den legitimen Partner der Königin ausweist, aber er agiert dabei in der Rolle des Königshelfers (vgl. v. 13441-50), die mit seinem strukturell bedeuteten Anrecht auf die zurückgewonnene Entführte kol­lidiert und die Legitimitätsverhältnisse somit ambivalent, zweiwertig werden läßt.35 Auf episodischer Ebene stellt sich im Gandin-Abschnitt damit ebenfalls

33 Vgl. dazu demnächst Verf., Erzähltypen im 'Tristan' . Studien zur Tradition und Transforma­tion internationaler Erzählmaterialien in den Romanversionen bis zu Gottfried von Straßburg, Habilitationsschrift Göttingen 1997.

34 Vgl. SCHOEPPERLE [Anm. 14]. Bd. 2, S. 429: "The substitution ofthe lover for the husband as rescuer [ ... ] is foreign to the Irish stories" (so auch CROSSINITZE [Anm. 12], S. 52).

35 Zu den verschiedentlich (z.B. bei COMBRIDGE [Anm. 31], S. 124f.) betonten sprachlichen und inhaltlichen Parallelen zwischen der Gandin- und der Truchseß-Episode (herbeimanipulierte Besitzansprüche auf Isolde, Einforderung des königlichen Lohnversprechens, Zweikampf­Angebot beider Betrüger) gesellt sich die analoge Modifikation ihrer narrativen Muster im Hinblick auf die Rolle des Helden: nach der Semantik der zugrundeliegenden Erzählschemata (vgl. zum 'Dragon-Slayer' AARNEITHoMPsoN [Anm. 19], Nr. 300, und W. HIERSE, Das Aus­schneiden der Drachenzunge und der Roman von Tristan, Diss. Tübingen, Hannover 1969) erwirbt sich Tristan durch die Abwehr der unrechtmäßigen Ansprüche der betrügerischen Konkurrenten Anrechte auf !solde. die er an Marke abtritt - an einen Konkurrenten mithin, der 'strukturell' besehen im Grunde keinerlei Anrecht auf die gleich zweifach von Tristan gewon­nene Königin geltend machen kann.

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ein, was KUHN im Blick auf die 'Tristan' -Transformationen des Brautwerbungs­schemas das 'strukturelle füreinander Bestimmtsein' des Liebespaares genannt hat36: denn gerade so wie in der Werbungshandlung als 'Heilbringer' und Drachentöter (sowie bei Eilhart noch dazu als Finder der goldhaarigen Schönen) erfüllt Tristan hier nun als Retter der HeIdin Handlungsfunktionen, die ihn nach den Bedeutungskonventionen des zugrundeliegenden Erzählmusters zu ihrem Gatten prädestinieren, doch gerade so wie dort als prokuratoriseher Werber erfüllt er sie auch hier als Ritter des Königs, und somit abermals in einer Rollenfunktion, die die überkommene Semantik des Erzähltyps durchkreuzt. Ganz wie im Brautwerbungszusammenhang wird auch hier "Tristans, nicht Markes Legitimation für Isold gefährlich erprobt und strukturell bestätigt", und wie dort der Minnetrank die heimliche Zusammenführung der im Struktursinn des Erzählmusters Zusammengehörigen stiftet, ist es hier ihre von Gottfried verhohlen angedeutete ruowe in den bluomen (v. 13434). Als inhaltliches und strukturelles Pendant zum Werbungsteil findet auch die Entführungsgeschichte ihren Abschluß in Tristans vermeintlicher Loyalität gegen Marke: er 'schenkt' ihm die erneut gewonnene Frau ein zweites Mal, mit der er ihn - wie auf der Brautleite von Irland - kurz zuvor betrogen hat.

Obschon KUHN für die Brautwerbungsepik herausstellt, die nach dem Brautwerbungsschema organisierte Handlung werde "öfter verdoppelt: Verlust der Frau + Schema zum zweitenmal"37, spielt das Gandin-Kapitel in seinen strukturanalytischen 'Tristan' -Betrachtungen keinerlei Rolle. So wie er, sehen auch SCHMID-CADALBERT und SIMON das Brautwerbungsschema im 'Tristan' mit der Hochzeit des Königspaares absolviert: "Entführungslist und Verfolgung, damit auch die Verdopplung des Schemas durch den erneuten Verlust der Frau, fallen aus".38 Überdies besteht in der Forschung weitgehende Einmütigkeit, daß die Gandin-Episode nurmehr ein "Zwischenstück" darstellt39 und in ihrer "Stel­lung zum Ganzen eher befremdet, als daß sie zur Erhöhung der Kohärenzkraft des Romans beitrüge"40; "the [ ... ] episode could clearly be omitted from the narrative without disturbing the structure", hatten neben JACKSON auch andere Interpreten den Eindruck.41 Genauer betrachtet aber gerät der alte keltische Entführungs-Erzähltyp an einer Stelle in den 'Tristan', die im sogenannten 'doppelten Brautwerbungsschema' der Rückentführung der Braut durch einen

36 Vgl. H. KUHN, Tristan, Nibelungenlied, Artusstruktur, in: ders., Liebe und Gesellschaft, hg. von W. WALLlCZEK (H. K., Kleine Schriften 3), Stuttgart 1980, S. 12-35, hier S. 15.

37 KUHN [Anm. 36], S. 22. 38 So R. SIMON, Einführung in die strukturalistische Poetik des mittelalterlichen Romans. Analy­

sen zu deutschen Romanen der matiere de Bretagne (Epistemata, Literaturwiss. 66), Würzburg 1990, S. 113; vgl. auch SCHMID-CADALBERT [Anm. 28], S. 80 u. 93.

39 G. EHRISMANN, Geschichte der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters, Tl. 2: Die mittelhochdeutsche Literatur, H. Blütezeit, I. Hälfte, München 1927, S. 301.

40 So DESILLES-BusCH [Anm. 5], S. 47. 41 JACKSON [Anm. 31], S. 103; ähnlich CLUZEL [Anm. 2], S. 88, und NEwsTEAD [Anm. 14], S. 463.

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Gegenspieler des Bräutigams (den Brautvater oder einen Minnerivalen) reser­viert ist42, nämlich bald nach Markes Hochzeit mit der gefahrvoll über Meer geworbenen einzigartigen Braut. Die Gandin-Episode als 'Rückentführung' im Sinne der Brautwerbungsepik zu lesen - was bisher noch nicht geschehen ist, obschon der 'Tristan' der jüngeren Forschung als "the medieval European bridal-quest romance par excellence" gilt43 -, gibt aber nicht nur die Position des schemaüblichen zeitweiligen 'Verlusts der Frau' Anlaß44, sondern neben der ebenfalls schemagetreu angelegten Figur des Entführers (Minnerivale aus der Heimat der Braut, obligate Tarnung als Spielmann und Betrugslist45) vor allem auch die semantische Funktion und strukturelle Relevanz des Geschehens im Brautwerbungszusammenhang. In der Rückentführungs- und Wiedergewin­nungshandlung der 'spielmännischen' und heroischen Epik (z.B. im 'Rother' und in der 'Kudrun', ins Legendarische gewendet im 'Münchner Oswald') geht es nicht anders als im 'Tristan' im Grundsatz darum, den in der Werbung selbst oder dank eines Werbungshelfers erfolgreichen König in äußere Gefährdungen seiner Herrscher- und Gattenrolle zu führen, um ihn in seiner Eignung und Legitimation für beide zu prüfen und sich vor allem seine ere, minne und triuwe (im 'Münchner Oswald' auch gegenüber Gott46) bewähren zu lassen. Die Grund-

42 V gl. dazu die in Anm. 27 angegebene Literatur sowie CURSCHMANN [Anm. 28]. Reg. 'Rückent­führung' .

43 So M. E. KALINKE, Bridal-Quest Romance in Medieval Iceland (Islandica 46), Ithaca, London 1990, S. 25.

44 SIMON [Anm. 38], S. 114, schlägt die Episode, wie in der Forschung üblich, statt dem Brautwerbungsschema der mit dem Brautunterschub einsetzenden "Schwankkette von Listen gegen den betrogenen Ehemann" zu, zu der sie gewiß ein Scharnier bildet, der Sache nach aber kaum paßt. Denn weder zielt Gandins List auf Marke als Hahnrei, noch die Tristans überhaupt auf den König. Im Hinblick auf den 'Verlust der Frau' scheint es SIMON gleichwohl "signifi­kant, daß der Minnetrank, der das bis dahin korrekte Schema durch die Liebe des Werbungs­helfers Tristan zur Geworbenen !solde kurzschließt, gerade dort plaziert ist, wo vom Wer­bungsschema die Verfolgung [und Rückentführung, G.D.] vorgesehen ist" (S. 113). Nach seiner Interpretation 'entführt' also der Minnetrank die Frau ("von Markes legitimer Ehe aus gesehen, wird Isolde nämlich in der Tat verfolgt und dem Ehemann weggenommen: von Tristan" [ebd.]), womit dann aber die eigentliche Sinnfunktion der Entführung im Schema der Brautwerbung, nämlich die Bewährung des Gatten in seinem Recht auf die Braut, dispensiert wäre, kann doch Marke von der 'Entführung' durch das Trankgift nicht wissen. In der Gandin­Episode dagegen hat er es in bester Übereinstimmung mit dem Erzählmuster 'gefährliche Brautwerbung' mit einem leibhaftigen Entführer zu tun, und wie er sich gegen diesen verhält, ist ganz im Einklang mit diesem Schema das Thema der Episode.

45 Vgl. GEISSLER [Anm. 27]. S. 7. 46 Verfolgt von den Heiden, die Pamige 'rückentführen' wollen, gelobt hier Oswald in seiner

Not, niemandem je eine in Christi Namen vorgebrachte Bitte abzuschlagen (Der Münchner Oswald [ATB 76]. hg. von M. CURSCHMANN, Tübingen 1974, v. 2795-2812). Die Überprüfung seiner Worttreue ist nach erfolgreicher Verteidigung der Braut deutlich nach dem Erzählmu­ster des rash boon inszeniert: bei der Hochzeit erscheint Christus im Aufzug eines Bettlers und fordert Oswald auf: 'e milter kun{iJg Oswalt, / du solt mir ain gab geben, / so dir got behüet dein werdes leben!' / er sprach, als wir horenjehen: / 'pilgrein, daz sol geschehen!' (v. 3266-

'Rotte und Harfe' im 'Tristan' 135

funktion insbesondere der Brautwerbungserzählungen 'spielmännischer' Prä­gung, die schrittweise Qualifizierung des Königs zum vollkommenen Herrscher und Gemahl vorzuführen, erfüllt sich anläßlich der 'Krise' der Rückentführung im Nachweis, daß allein er der für die einzigartige Prinzessin passende Bräuti­gam ist.47 Die Logik des Brautwerbungsschemas geht auf, indem der Held (vgl. Rother oder Oswald) in der zweiten Gewinnung der schon gewonnen geglaub­ten Braut seine Einzigartigkeit und herrscherliche Idoneität demonstriert und so am Ende als Maßstab königlicher Idealität vorgestellt werden kann.

Marke scheitert an dieser Aufgabe und disqualifiziert sich damit als König und Gatte gleichermaßen. Er versagt vor dem Maßstab, den das übergeordnete Erzählschema, von dem die Gandin-Episode ein Teil ist, intertextuell evoziert und als literarisch überkommene Norm zu vergleichen aufgibt. Der Schema­bruch hinsichtlich der Bewährung des Gatten wird zum Träger der Aussage und verwandelt die eingeschliffene Vermittlungs- in eine Problemstruktur:48 nicht, wie das 'doppelte Brautwerbungsschema' es vorsieht, der königliche Gatte, sondern der Werbungshelfer, Tristan, gewinnt die rückentführte Braut zurück und löst so die Aufgabe, die nach der Logik des übergeordneten Schemas wie des darin eingelassenen keltischen Erzähltyps den legitimen Gemahl und präde­stinierten Herrscher ausweist. Indem der nach schemagemäßer Rollenverteilung für die Braut nicht in Frage kommende Akteur die Aktantenfunktionen erfüllt, über die das Schema die Legitimität des Bräutigams definiert, zugleich aber der rollenkonforme Bräutigam in der vom Schema erforderten Bewährung seiner Legitimität versagt und die Braut dennoch erhält, bildet sich die Dialektik der Legitimitätsverhältnisse in der Erzählstruktur ab. Die in der Tradition der Er­zählmuster gültigen Bewertungsmaßstäbe geraten in Widerspruch und werden dem im Schema bewanderten Leser zweideutig. Die Perspektive auf das Gesche­hen erscheint so gleichsam verdoppelt, und auf diese Weise wird die Einnahme eines vorschematisierten 'eindeutigen' Standpunkts verhindert, wem denn nun das Recht auf die Braut gebühre.

Vergleichbare Modifikationen wie an der SchemasteIle der 'Rückentfüh­rung' im Brautwerbungskontext des 'Tristan' hat der alte keltische Entführungs­Erzähltyp auch im Rahmen der Artusepik erfahren, denn auch dort ist anläßlich der Entführung Ginovers die "Befreierrolle [ ... ] mit der Übernahme des Stoffes

70). Bereitwillig leistet Oswald die vier sich steigernden Forderungen des vermeintlichen Bettlers und erfüllt schließlich auch seine fünfte ('so gib mir auch die frauen dein' [v. 3440]), bewährt so sein Wort und wird dafür durch Christus selbst in seinem Recht auf die Braut bestätigt (v. 351Of.). Vgl. zur Interpretation v.a. N. MILLER, Brautwerbung und Heiligkeit. Die Kohärenz des Münchner Oswald, DVjs 52 (1978) 226-240.

47 Dazu zuletzt CH. ORTMANN und H. RAGOTZKY, Brautwerbungsschema, Reichsherrschaft und staufische Politik. Zur politischen Bezeichnungsfähigkeit literarischer Strukturmuster am Beispiel des 'König Rother', ZfdPh 112 (1993) 321-343, bes. S. 324f.

48 Vgl. dazu SCHMID-CADALBERT [Anm. 28], S. 98.

136 GERD DICKE

[ ... ] vom König auf einen seiner Ritter übertragen worden."49 Mit HAUG ist dieser Eingriff in die keltische Aktantenkonstellation aus den "Gesetzlichkeiten der Gattung" zu erklären:

Im Artusroman chretienscher Prägung "mußte die Rolle des Befreiers dem König abgenommen und einem Ritter der Tafelrunde übertragen werden, denn typus gemäß repräsentiert Artus das statisch-potentielle Moment der höfischen Gesellschaft, während die aktualisierende Bewegung von einem einzelnen Artus­helden getragen wird."5o

Der Wechsel der Rollenfunktionen zielt hier also nicht, wie im 'Tristan', auf die erzähl strukturelle Abbildung eines Füreinander-Bestimmtseins von Held und Königin, sondern auf die Einpassung des Geschehens in das gattungs­typische Strukturschema des ritterlichen Bewährungs- und aventiuren-Weges. Auf die statische Repräsentanz höfisch-ritterlicher Idealität beschränkt und eigener Bewährung enthoben, bleibt Artus in der Handlungsstruktur des chre­tienschen Romantyps von der selbsttätigen Rückgewinnung Ginovers entbun­den, ohne daß die Legitimität seiner Gattenrolle durch die Übertragung der Retterfunktion auf einen seiner Ritter den geringsten Schaden nähme51 , wäh­rend der Wechsel der Retterrolle im Brautwerbungsschema des 'Tristan' das Anrecht des Königs auf die Gattin erzählstrukturell unterminiert. Bezeichnen­derweise wird Artus durch keinen der Entführer aufgefordert, selbst um Ginover zu kämpfen, vielmehr ergeht das Zweikampfangebot allein an seine Ritter.52

Gandin hingegen bezieht den König ausdrücklich in die Herausforderung ein: 'swer so ir wellet oder ir, / der rite in einen rine mit mir' (v. 13239f.). Die im keltischen Erzähltyp virulente und auch in der Tristanepisode implizierte Frage

49 HAUG [Anm. 12], S. 11. 50 Ebd. S. 7. - Außerhalb der literarisch-fiktionalen Artustradition. nämlich in der um 1130

entstandenen 'Vita Sancti Gildae' Caradocs von Llancarfan (vgl. Anm. 26; Abdruck der Episode auch bei SCHOEPPERLE [Anm. 14J, Bd. 2, S. 530, Anm. 1), ist die Retterrolle dagegen dem Gatten belassen: mit großer Streitmacht zieht Arturus hier vor die entrückte gläserne Stadt Glastonia (sc. GJastonbury) des Entführers Melvas und erreicht durch die Vermittlung des Weisen Gildas und des Abts von Glastonia schließlich die Herausgabe Guennuvars. Reflexe dieser dem keltischen Erzähltyp noch recht nahen und im Artus-Stoffkreis "mutmaß­lich ursprünglichsten Version" der Ginover-Entführung (so HAUG [Anm. 12], S. 6) zeigt der 'Lanzelet' Ulrichs von Zatzikhoven (vgl. oben S. 126), da Artus hier noch vor seinen Rittern, aber ohne Erfolg, selbst gegen den Entführer zu Felde zieht. Der '''Lanzelet' erweist sich auch hierin als Artusroman vor Chrestien, genauer: als ein von Chrestiens Formwillen noch nicht erreichtes Werk oder - als eines, das sich seinem Einfluß verweigert" (so GRUBMÜllER [Anm. 12], S. 6).

51 Die spätere Artusepik will dann allerdings tatkräftige Beweise für Artus' bis dahin unbefragte Idealität und macht die Entführungsepisode daher zu seiner aventiure: "Der literarische Prozeß der Ethisierung und Personalisierung von Verhaltensnormen holt den Herrscher ein. [ ... ] [E]r hat seine Ausnahmeposition verloren, er hat sich wie seine Ritter zu bewähren" (so GRUBMÜllER [Anm. 12], S. 15).

52 Vgl. 'Charrete', v. 70-79; 'Lanzelet', v. 5001-10; 'Iwein', v. 4595-4607.

'Rotte und Harfe' im 'Tristan' 137

nach dem legitimen Partner der Königin steht in der Artusepik selbst dort außer Zweifel, wo die Retterrolle - wie in Chretiens 'Karrenritter' - durch den Geliebten der Königin ausgefüllt wird. 53 Denn hier, wo das 'Tristan' -Thema einer unbedingten Liebe im artusepischen Strukturschema des aventiuren-We­

ges durchgespielt ist, gerät die in Konkurrenz zu Rittern des Artushofes ange­gangene Befreiung der Geliebten zu einer Bewährungsprobe des Helden in perfektem Minnerittertum, bei der die eigentlich prekären Aspekte dieser Liebe - die Ehebruch- und Gesellschaftsproblematik - nicht nur nicht thematisch werden, sondern überhaupt gänzlich ausgeklammert bleiben. Guenievres Ent­führung in das andersweltliche 'Land ohne Wiederkehr' eröffnet Lancelots Liebe einen Raum jenseits der Restriktionen, die ihrer Erfüllung 'in der Welt' im Wege sind.54

Wie und worin sich die arthurischen Helden bei der Befreiung Ginovers profilieren, muß hier nicht untersucht sein, entscheidend ist nurmehr, daß diese Aufgabe in der Artusepik als eine ritterliche Karrierechance von so besonderer Attraktivität erscheint, daß die zumeist problemträchtige Konkurrenz darum in keiner der (oben S. 125f.) resümierten frühen Fassungen der Episode fehlt.

Bei Hartmann beklagt Keie daz gemeine nl'lch gahen, das das Zweikampfangebot und der Abzug des Entführers bei Hofe auslösen ('waz sol dirr ungevüege schal, / daz dirre ho/über al / durch einen man wil riten?' [v. 4653-55]), und ist doch der Erste, der die Verfolgung aufnimmt. - Bei Chretien begeht Keu einen Vertrauensbruch gegenüber dem Königspaar, indem er sich durch den rash boon-Trick den Anspruch auf den Kampf gegen Meleagant sichert; nach seiner Niederlage macht sich der Hof unter Gauvains Führung an die Verfolgung. - Bei Ulrich von Zatzikhoven wendet Lanzelet die rash boon-List gegen den eigenen Freund Gawein, der zum Kämpfer gegen Valerin schon bestellt ist, und die Aufgabe zur Erfüllung seines Blankoversprechens nun an Lanzelet abtreten muß.

In der analogen Tristanepisode ist von solcher Rivalität der Hofesritter um die Verteidigung ihrer Königin keine Spur, vielmehr heißt es ganz lapidar: ir keiner kerte sich dar an - keiner rührte eine Hand zu ihrem Schutz:

Der künec der sach her unde dar und nam allenthalben war,

53 Ob sich Chretien (oder seine Quelle) durch den 'Tristan' inspirieren ließ. dem Lancelotstoff durch die (Ulrich von Zatzikhoven noch unbekannte) "Liebe des Befreiers zur Königin [ ... ] die neue Pointe" zu geben, die "seinen literarischen Erfolg begründet[e]" (so HAUG [Anm. 12], S. 11), ist kaum zu entscheiden, angesichts der diversen szenisch-motivlichen 'Tristan' -Zitate seines 'Lancelot' aber doch sehr wahrscheinlich (vgl. etwa Lancelots Blutspur und den trügerischen Eid im Gottesgericht [v. 4586-5006]; dazu v.a. LOOMIS [Anm. 13], S. 250-253; HAUG [Anm. 12], 1978, S. 84-86). Dennoch dürfte die von NEWSTEAD [Anm. 14] ventilierte Alternative (S. 466: Chn\tiens "Guenevere abduction is a derivative rather than the source of this episode in the Tristan legend") zu kurz greifen, da dem 'Tristan' die mythischen Rudi­mente der keltischen Entführungsfabel abgehen, die Chretien der Sinnbildung des 'Lancelot' zunutze machte (vgl. HAUG [Anm. 12]).

54 Vgl. dazu im Überblick HAUG [Anm. 12], bes. S. 5f. u. 86-88.

138 GERD DICKE

obe er ieman möhte han, der in [sc. Gandin] getörste bestan. nun was da nieman, der sin leben an eine wage wolte geben, noch Marke selbe enwolde niht vehten umbe [solde, wan Gandin was von solher crajt, so menlich und so herzehaft: ir keiner kerte sich dar an. (v. 13243-53)

Angesichts des hohen Grads literarischer Bildung, den Gottfried seinem Publikum in zahlreichen literarischen Verweisen und Allusionen seines 'Tri­stan' abverlangt, ist für die angeführte Szene mehr als nur zu vermuten, daß ihre Wirkung intertextuell auf den scharfen Kontrast berechnet ist, in dem sie zur oft gestalteten parallelen Situation von König und Hof im Rahmen der Artusepik steht. Kritik zumal am Verhalten der Ritterschaft ist unverkennbar auch dort im Spiel, doch bei Gottfried steigert sie sich zur Demonstration der Verächtlichkeit eines Hofes, der die eigene Königin geradezu teilnahmslos und ohne jede Gegenwehr ganz einfach verloren gibt. Während sich der Artushof in seinem bei Chretien und Hartmann ironisierten Gerangel um die Befreiungsaufgabe gera­dezu überschlägt, die arthurische Idealität zu restituieren und das Recht des Königs im Zweikampf zu verteidigen, findet sich am cornischen Hof niemand, der Markes Sache zu seiner eigenen machte.

Der Markehof zeigt damit übrigens das gleiche Syndrom aus Feigheit und Lethargie, das schon die Morold-Episode zu Tage förderte, in der ja ebenfalls kein Ritter Markes sich fand, der wider einen man [sc. Morold] sin leben / an die wage welle geben (v. 609lf.; vgl. auch v. 13247f. der Gandin-Episode: nun was da nieman, der sin leben / an eine wage wolte geben). In der Auseinanderset­zung mit dem ersten irischen Eindringling, der gegenüber dem ohnmächtigen Hof ein unbilliges Recht reklamierte, übernahm Tristan den Kampf und erwarb sich durch die Befreiung des Reiches die von Marke auch zugestandene (vgl. v. 8358f. u.ö.) Anwartschaft auf den cornischen Thron. Im Streit mit Gandin setzt nun erneut er allein sich einem irischen Herausforderer zur Wehr, der sich ohne jeglichen Protest der Ritter Markes einen ebenso unbilligen Anspruch auf die Königin erlistete. Was er sich dafür zugute halten kann, ist nicht expliziert, durch die strukturelle Analogie zur Morold-Episode aber klar bedeutet: ein zumindest moralisches Anrecht auch auf die Königin.

Während Artus durch den blinden Eifer seiner aventiure-versessenen Ritter aller Eigeninitiative gegen den Entführer enthoben wird, ist sie Marke durch die Feigheit der seinen allein zugeschoben - doch Marke selbe enwolde / niht

vehten umbe [solde (v. 13249f.), womit bedeutet ist, daß ihm das Zutrauen fehlt, kraft seines Rechts auf die Königin gegen den Entführer bestehen zu können. Mit dieser kampflosen Preisgabe der eigenen Frau kapituliert Marke vor der ihm

'Rotte und Harfe' im 'Tristan' 139

hier mit Nachdruck übertragenen Aktantenfunktion sowohl des übergeordneten Brautwerbungsschemas als auch des darin inserierten keltischen Erzähltyps, seine Gattenrolle zu bewähren. In der Bearbeitungsgeschichte der Entführungs­episode ist dieses Verhalten des Königs wie das seines Hofes ohne Beispiel.

Auch in der Behandlung des rash boon-Motivs zeigen Artus- und Tristan­tradition bezeichnende Unterschiede. Wie vor allem FRAPPIER und HAUG herausstellten, überträgt Chretien in der 'Charrete' die im Erzähltyp üblicher­weise dem späteren Entführer vorbehaltene Bitte um Gewährung einer Gabe auf Keu, der sich durch den listigen MiBbrauch des rash boon die Befreiungsaven­tiure aneignet. Die Überrumplung des Königs erfolgt also statt durch den dubiosen Fremden durch seinen eigenen Seneschall und Vertrauten, und damit zielt die Verschiebung des rash boon-Motivs nicht zuletzt auf ein "alibi en faveur du roi Arthur".55 Doch mit diesem sichtlichen Bemühen, den König vom leichtfertigeü rash boon gegenüber einem Unbekannten zu entlasten, steht Chre­tien innerhalb der frühen Artustradition keineswegs allein. In Caradocs von Llancarfan 'Gildas-Vita' 56 ist das für die Entführungsgeschichte sonst obligate Motiv überhaupt unterdrückt, wohl um der Idealität des vorbildlichen Heer­königs Arturus keinen Abbruch zu tun. Bei Ulrich von Zatzikhoven sagt Artus dem Fremden nicht mehr zu, als die von diesem erbetene friedvolle Duldung seiner Rede (daz er vride heete, / swaz rede er teete [v. 4989f.]), und so muß hier denn Gawein einspringen, seinem Freund Lanzelet ein rash boon gewähren (v. 5203-15) und ihm den Gerichtskampf überlassen, damit das Motiv ohne Minderung des königlichen Ansehens absolviert werden kann. Artus besser dastehen zu lassen, als es das keltische Erzählmuster für den allzu ver­trauensseligen und gönnerhaften König vorsah, hat sich auch Hartmann bemüht, und daher Artus' Versprechen gegenüber dem Fremden mit dem klugen Vorbe­halt versehen, nur ein betelfche[z] Begehr (v. 4546) erfüllen zu wollen. Erst seine Ritter überreden ihn, diesen Vorbehalt fallen zu lassen, und unterliegen dabei einer Fehleinschätzung des Fremden ('er gelichet sich wol einem man / der betel'ichen biten kan' [v. 4573f.]), die sie für die fatalen Folgen verantwort­lich macht (Artus: 'die disen rat taten, / die hant mich verraten' [v. 459lf.]).

All dies Bestreben der frühen Artusepik, die Bindung des rash boon-Motivs an den königlichen Gatten zu lösen oder zu lockern, es 'umzuadressieren' oder abzumildern, um Artus den Vorwurf deplacierter milte und fataler Verkennung der Lage zu ersparen und den Hof mitschuldig werden zu lassen, macht deutlich, daß es sich beim rash boon kaum um ein nur die Handlung ans toBendes, "im Prinzip [ ... ] neutrales Ansatzrnotiv" des Entführungs-Erzähltyps handelt, das das "blinde Vertrauen des Königs" als bloBen "Ausdruck königlicher GroBmut

55 So FRAPPIER [Anm. 2], S. 236, Anm. 20; vgl. auch HAUG [Anm. 12], S. 27f., und GRUBMÜllER [Anm. 12], S. 8.

56 Vgl. oben Anm. 50.

140 GERD DICKE

und Freigebigkeit" hinnehmen ließe.57 Im Vergleich zur artusepischen wird für die Motivbehandlung des 'Tristan' jedenfalls klar, daß der König hier die Hauptschuld an der Entführung seiner Gattin tragen soll, weil er einem durch manchen Fauxpas (vgl. dazu unten) auffälligen und damit wenig vertrauener­weckenden Ritter aus altem Feindesland für ein Rottenspiel verspricht: 'welt ir

iht, des ich han, / daz ist allez getan' (v. 13193f.). Tristans Vorwurf gegenüber Marke, es sei 'ein michel unsin, / daz ir si [sc. die Königin] gebet so lihte hin /

durch harpfen oder durch rotten' (v. 13443-45), trifft damit genau, was die Behandlung des rash boon-Motivs im 'Tristan' bedeuten will.

Die früheren Beziehungen der Königin zu ihrem Entführer - motivgeschicht­lich Reflexe ihrer einstigen Feennatur - bleiben im 'Tristan' nicht anders als in der Artusepik im Dunkeln. Der fast beiläufige Hinweis, der von Isolde keines­wegs abweisend empfangene Fremde sei auf manege wis / und ouch ze manegem male ihr ritter und amis gewesen (v. 13127-29), verrätseit aber nicht nur, er macht auch unübersehbar, daß es Marke und späterhin Tristan, wie im Erzähltyp die Regel, mit einem Minnekonkurrenten zu tun haben. In der Zeichnung des Entführers wahrt die frühe Artusepik die geheimnisvoll-bedrohlichen Züge, die ihm als Herrn eines jenseitigen Reiches vom keltischen Feenmärchen her anhaf­ten, während sie sich im 'Tristan' der Thomas-Gruppe in die recht absonder­lichen Allüren eines edel ba run von Irlant (v. 13107) verwandeln, der in seiner selbst gewählten Spielmannsrolle trotz seiner manheite (v. 13112) doch wenig Bedrohliches hat. Die ihm bei Gottfried beigelegten Attribute scheinen eher auf komische Kontraste aus, zumindest verträgt sich seine als höfsch, sch(Ene unde rich (v. 13109) eingeführte Erscheinung schlecht mit der unhöfscheit unde

unvuoge, die er als Gast an den Tag legt (v. 13168). Vor allem aber will zu seiner ritterliche[n] schonheit (v. 13114) das instrumentum multum volgare der Rot­te58 kaum passen und zu dieser die üppige Verzierung mit golde und mit gesteine nicht (v. 13120), die Gandin aber wiederum nicht abhält, das Instrument fortwäh­rend über ... rucke zu tragen (v. 13118). Als alw(Ere empfindet Marke das (v. 13140), und mag sich der herre mit der harnschar (v. 13173) - der am Objekt seiner Verfehlung erkennbare Übeltäter59 - damit auch das lachen unde

spotten des Hofes einhandeln (v. 13171), so ist doch zuletzt er es, der König und

57 So indes HAUG [Anm. 12], S. 27; ähnlich schon KÖHLER [Anm. 6], S. 34f. 58 So eine "Glosse zu Alanus ab Insulis aus dem 13. Jahrhundert (hoc instrumentum est multum

volgare)", hier zit. nach KÄSTNER [Anm. 31], S. 72. Die im Spätmittelalter den Bettelmusikan­ten zugeordnete und zum "Zeichen der Armut und Verkommenheit" (W. SALMEN. zit. ebd. S. 73) abgesunkene Rotte erscheint bei Gottfried, der sie hier vermutlich gegen die Thomas­Vorlage einführte (vg!. KASTNER, S. 70), auch andernorts als nicht eben edles Instrument: so wird der als Betrüger aufgeflogene Truchseß als ir gige unde ir rotte zum Gespött der Hofleute (v. 11361; vg!. auch die 'Tristan' -Allusion in Wolframs 'Parzival'. 143.26) und die Rotte im Petitcrü-Kapitel gar als Hundekörbchen zweckentfremdet (v. 16280).

59 Vgl. dazu L. OKKEN, Kommentar zum Tristan-Roman Gottfrieds von Straßburg, Bd. 1 (Amster­damer Pub!. zur Sprache u. Lit. 57), Amsterdam 1984, S. 481.

'Rotte und Harfe' im 'Tristan' 141

Hof zum Gespött macht (vgl. v. 13446). Vielleicht hat Gottfried mit seiner Figurenzeichnung hier "gegen den Minnesang als adlige Liebhaberei" polemi­siert und den "ästhetischen Snobismus" eines "adligen Dilettanten" aufs Korn genommen, der "den Minnesang der Professionellen" nachahmt60, gewiß aber hat er Marke nurmehr mit dem entmythisierten Zerrbild des bedrohlichen Riva­len konfrontiert, den das keltische und noch das artusepische Erzählmuster dem königlichen Gemahl vorsah.61 Und von einem solchen, um die eigene Ehre wenig bekümmerten Konkurrenten nun, der sich als Gast an der Königstafel "like the lowest type of minstrel"62 einen Lohn für sein Saitenspiel ausbedingt, läßt sich Marke mit seiner Ehre erpressen, die eigene Frau abjagen und damit die Ehre erst recht ruinieren.

Im 'Iwein' Hartmanns, dem einzigen der frühen Artusromane, in dem das rash boon wie im 'Tristan' den Fremden begünstigt, ist die parallele Situation auf eine Werteentscheidung abgestellt, bei der Artus' Rolle als personifizierte Werte instanz auf dem Spiel steht. Der im Prolog zur Exempelfigur für rehte güete und rfters muote (v. 1 ,6) stilisierte König hält hier am Prinzip unbedingter Worttreue selbst gegen das personifizierte Böse (den vrävel man [v. 4585]) fest, um nicht den Wert des Prinzips an seinem Mißbrauch zu Schanden werden zu lassen. Artus bleibt selbst dem heimtückisch erlisteten, gegen die eigene Über­zeugung und auf schlechten Rat hin gegebenen Versprechen treu, und bezeugt darin moralische und angesichts der Preisgabe der eigenen Frau fast schon tragische Größe.63 Weit weniger dramatisch hingegen präsentiert sich die 'Tri­stan' -Szene. Nicht das aus einer Gegenwelt über den Hof hereinbrechende inkarnierte Böse ist hier der Antagonist, sondern ein affektierter Höfling und schlitzohriger trügencere (v. 13202), der, nachdem er sich ungeniert lächerlich gemacht (v. 13169-74) und eine gewisse Narrenfreiheit (v. 13165f.) erworben hat, in seinem Beharren auf das von ihm mißbrauchte küneges reht (v. 13228) dann aber ganz ernstgenommen wird, und damit nun die lächerlich macht, die sich gerade durch ihn bei ihrer Ehre nehmen lassen, ohne sie doch im Zwei­kampf verteidigen zu wollen. Gandin verspielt seine Ehre, um Isolde zu errin­gen, Marke dagegen opfert Isolde einer Ehre, die sich am motivlich konven­tionalisierten Parameter der rash boon-Handlung als hohl entlarvt, als ere ane ere, wie Gottfried dergleichen späterhin (v. 16332) nennen wird. Die im Erzähl­typ übliche fatale Ohnmacht des Königs gegenüber dem Rivalen wird hier zu

60 So W. MOHR, 'Tristan und Isold' als Künstlerroman, in: Gottfried von Straßburg, hg. von A. WOLF (WdF 320), Darmstadt 1973 [zuerst 1959), S. 248-279, hier S. 255 u. Anm. 7.

61 V gl. zu ähnlichen Darstellungstendenzen in der Entführungsepisode der späten Artusepik (bei Ulrich Füetrer) GRUBMÜllER [Anm. 12], S, 18f.

62 So JACKSON [Anm. 31), S. 103. 63 Vgl. auch GRUBMÜllER [Anm. 12], S. 8-11 (mit Angabe der Forschungsbeiträger, die diese

Szene als Kritik an Artus' 'übermäßiger Ehrsucht', an 'fehlerhafter Normsetzung' oder 'realitäts inadäquatem Verhalten' verstehen).

142 GERD DICKE

einer, über die in der Tat diu werlt wol spotten kann (v. 13446) - und dies dürfte zumal für die belesene gelten, die die Differenzen zu den artusepischen Schilde­rungen nur als komische empfunden haben kann.

Anhand der spärlich erhaltenen Zeugnisse - der vagen Anspielung der 'Bemer Folie' und der vermutlich durch Chretiens 'Lancelot' überformten Version der altfranzösischen 'Tristan-Prosa'64 - ist die Gestalt der Entführungsepisode auf früheren Traditionsstufen der Tristanfabel nicht rekonstruierbar. Was LYLE die '''basic Tristan' episode" der späteren 'Rotte und Harfe' -Geschichte genannt hat65, stellt kaum mehr als das Grundgerüst einer von NEwsTEAD supponierten, vermutlich walisischen Ausgangsfassung dar, die allem Anschein nach auf die irische 'Etain' -Sage66 zurückging: "March, like Eochaid, lost his bride to a stranger by a rash promise, but Trystan regained her for him."67 Daß diese Rückgewinnung durch einen herkömmlichen Zweikampf erfolgte, läßt sowohl die 'Bemer Folie' als auch die französische Prosa erschließen. Erst Thomas, so die einhellige Forschungsmeinung, dürfte dann aus dem "rapt 'primitif' [ ... ] un duel 'harpe contre rote'" gemacht haben68 - eine 'höfisch kultivierte' Ent­führung gewissermaßen, deren semantischer Surplus durch die hergebrachte Dichotomie 'version commune' - 'version courtoise' gleichwohl kaum hinrei­

chend erfaßt ist. Strukturell organisiert sich die Episode durch Thomas' Umfor­mung nun nach dem Schwankschema vom betrogenen Betrüger und präludiert so die anschließende Schwankkette der Listepisoden, in der sich die bis dahin offensiven Listen der Liebenden zu defensiven wandeln, zu Gegenschlägen gegen die Ränke der höfischen Widersacher vom Schlage eines Marjodo und Melot, die in Gandin damit ihren Vorboten haben.69 Nicht nur, weil seine Harfe über Gandins Rotte siegt (v. 13414-16), schlägt Tristan den Entführer mit seinen eigenen Waffen, denn in vielem mehr hat Thomas Handlung und Staffage spiegelbildlich aufeinander bezogen: wie der stattliche Ritter Gandin vor Marke auftritt, waffenlos und als irischer Spielmann, so tritt auch Tristan Gandin gegenüber (v. 13109ff., 13275ff.), wie Gandin erwirbt er sich ein Lohnver­sprechen (v. 13190ff., 13350ff.), wie dieser läßt auch er sich zu einer zweiten Probe seiner Kunst überreden (v. 13200ff., 13346ff.), und wie Gandin Marke, nimmt auch Tristan seinen 'Gönner' schließlich ganz anders beim Wort, als dieser es meinte (v. 13214ff., 13420ff.). Wie der Entführer aufzog, zieht der Befreier am Ende ab - sein Instrument über rucke (v. 13118f., 13390). Man hat Gandin wiederholt und im Hinblick auf seine glanzvolle Erscheinung, sein

musikalisches Talent und sein Empfinden für Isolde gewiß zu Recht einen

64 Dazu CLUZEL [Anm. 2], S. 95f., und oben Anm. 2. 65 E. B. LYLE, Orpheus and Tristan, Medium Aevum 50 (1981) 305-308, hier S. 306. 66 Vgl. oben Anm. 16. 67 NEWSTEAD [Anm. 14], S. 470. 68 CLUZEL [Anm. 2], S. 96. 69 Vgl. dazu DAVIDSON (Anm. 31].

'Rotte und Harfe' im 'Tristan' 143

'zweiten Tristan' genannt1°, doch sind die Gemeinsamkeiten bestimmt, die Unterschiede hervortreten zu lassen: Tristans Überlegenheit in Belangen der Kunst wie der List, vor allem sein Geschick, seine Liebesbeziehung durch Loyalität gegenüber Marke zu kaschieren und damit seine Ehre zu wahren, statt sich wie Gandin unverhohlen ins Unrecht zu setzen und schade unde scham (v. 13426) dafür zu ernten.

Daß Thomas ganz aus Eigenem darauf verfiel, den mutmaßlichen 'rapt primitif' mit anschließendem Befreiungskampf durch das sinnträchtigere 'duel harpe contre rote' zu ersetzen, hat die motivgeschichtliche Forschung für wenig wahrscheinlich erachtet. Der schon von SCHOEPPERLE zu den 'analogues' der Thomas-Episode gerechnete mittelenglische 'Sir Orfeo' (um 1327) ließ einen seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts mehrfach bezeugten (bretonischen) 'Lai d'Orphee' erschließen, den CLUZEL für Thomas' "source hypothetique" ansah71 , während NEWSTEAD eine ebenfalls nur erschloßene, dem Lai zugrunde­liegende und mit vielen keltischen Sagenelementen durchsetzte "Bretonized legend of Orfeo" für die Quelle hielt.12 Im 'Sir Orfeo' wird erzählt,

"that while [Heurodis,) the wife of Sir [sc. king) Orfeo was sleeping in her orchard, a splendid king appeared to her in a dream and advised her to return to the same place the next day, for he intended to carry her away to his beautiful land. Though Sir Orfeo surrounded the place with guards, she was mysteriously abducted to an unkown destination. Orfeo took his harp and wandered in search of her, charming the birds and the beasts with his music. At last he found her among a throng of other ladies accompanying the fairy king on a hunt. Though she was swiftly borne away by the others, he followed them through an opening in a rock. Entering a luminous realm within, he gained admittance to the king's court. Orfeo's harping was so enthraIIing that the king promised him whatever he wished as areward. When Orfeo demanded his wife, the king reluctantly fulfiIIed his pledge. She was restored to Orfeo and they returned to his land. "73

Die in den Grundzügen gleiche synkretistische Geschichte bietet auch Raoul Lefevres 'Recueil des Hystoires Troyennes' von 1464, mit dem Unterschied nur, daß das mit diversen weiteren Versatzstücken aus keltischer Sage übernom­mene und statt zur Entführung zur Rückgewinnung der Königin inszenierte rash boon dort an die Bedingung geknüpft ist, die Entführte durch Saitenspiel zu trösten.14 Im 'Sir Orfeo' ist davon keine Rede, in der Thomas-Gruppe aber, die

70 So etwa JACKSON [Anm. 31), S. 105; DAVIDSON [Anm. 31), S. 18; CH. HUBER, Gottfried von Straßburg, 'Tristan und Isolde'. Eine Einführung (Artemis Einführungen 24), München, Zürich 1986, S. 82.

71 Vgl. SCHOEPPERLE [Anm. 14], Bd. 2, S. 541-544; CLUZEL [Anm. 2), S. 96-98, zit. S. 97. 72 NEWSTEAD [Anm. 14), S. 468-470, zit. S. 470, in Anlehnung an die Quellenuntersuchungen von

A. J. Buss (Sir Orfeo, hg. von A. J. B., Oxford 21966, p. XXVII-XLI); ausführlich zur verwickelten Quellenfrage: 1. B. SEVERS, The Antecedents of Sir Orfeo, in: Studies in Medie­val Literature (FS A. C. Baugh), hg. von M. E. LEACH, Philadelphia 1961, S. 187-207.

73 NEWSTEAD [Anm. 14), S. 468. 74 Vgl. zu den Orpheus-Bezügen in Lefevres 'Recueil' 1. FRAPPIER, Orphee et Proserpine ou la

Lyre et la Harpe, in: Melanges de Langue et <te Litterature (FS P.le Gentil), Paris 1973, S. 277-294,bes.S.285-294.

144 GERD DICKE

das rash boon im Einklang mit der 'version commune' und dem keltisch­arthurischen Erzähltyp an die Entführung koppelt, ist die von Gandin verspro­chene Gabe (bei Gottfried dallerbesten wat [v. 13311]) an die gleiche Bedin­gung einer erfolgreichen Tröstung gebunden. LYLE hat daraus den kaum von der Hand zu weisenden Schluß gezogen, daß Thomas eine "Orpheus story" kannte, "that had the same plot as the one in the Recueil"75. Ob sie, wie LYLE in Anlehnung an NEWSTEAD und BLIss vermutete, in der besagten 'Bretonized legend of Orfeo' oder im 'Lai d'Orphee' als der mutmaßlichen Quelle des 'Sir Orfeo' zu suchen ist, kann hier dahingestellt bleiben. Denn selbst wenn Thomas durch keine philologisch eruierbare Orpheus-Dichtung zur 'Rotte und Harfe'­Episode inspiriert wurde, so hat er die dem Mittelalter etwa durch Vergil, Ovid und Boethius wohlvertraute antike Mythe76 doch fraglos als Assoziationsfolie durchscheinen lassen - zumindest für jeden, dem eine durch das Saitenspiel des Geliebten ermöglichte Befreiung der geraubten Partnerin zur Konnotation des archetypischen Erzählmusters genügte. Daß die Episode in der höfischen 'Tri­stan'-Version, die einen Künstler zum Helden hat77, auf 'Orpheisches' hin

stilisiert ist, verdeutlicht auch der von der Quellenkritik übersehene Umstand, daß die im Entführungs-Erzähltyp zur Befreiung der Entführten üblicherweise aufgebotene Zauberkraft hier ganz in die Macht der Musik verlegt ist:

Gandin muß warten, biz daz mer wider kteme (v. 13271), und zieht sich für die Zeit, in der sein Schiff trocken liegt, mit Isolde in ein Zelt am Strand zurück. Dort nun harft Tristan so rehte süezen einen leich (v. 13321), daß die Entführte ihre mißliche Lage nicht länger beweint. Gandins Bitte an den Spielmann, sie zu trösten, ist damit erfüllt, auch hat sein Schiff unterdessen wieder Wasser unter dem Kiel, und die Mannschaft mahnt zum Aufbruch, damit nicht noch Tristan -den die Gefährten für den eigentlichen Herrn über liut unde lant ansehen (v. 13336) - die Abfahrt verhindere. Doch Gandin quittiert dies mit grozem unwerde (v. 13342), spielt doch der Harfner also schone (v. 13348), daß er darüber den Zweck seines Zuwartens vergessen hat, alle Warnungen in den Wind schlägt und den Harfner bittet, ihm auch noch den leich von Didone vorzutragen (v. 13347):

Der spilman huob aber an: sin harpjenspil er aber began so rehte suoze bringen, daz Gandin sinen dingen vii vlizeclichen ore bot

75 LYLE [Anm. 65], S. 306. 76 Dazu v.a., wenn auch ohne Verweis auf den 'Tristan': 1. B. FRIEDMAN, Orpheus in the Middle

Ages, Cambridge/Mass. 1970, bes. S. 146-210, zum 'Sir Orfeo' S. 175-194. 77 Vgl. dazu etwa MOHR [Anm. 60]; W. T. H. JACKSON, Der Künstler Tristan in Gottfrieds

Dichtung, in: Gottfried von Straßburg, hg. von A. WOLF (WdF 320), Darmstadt 1973 [zuerst 1962J, S. 280-304; KÄsTNER [Anm. 31J.

'Rotte und Harfe' im 'Tristan' 145

und sach auch wal, daz Isot sere an die harpfen was verdaht. (v. 13357-63)

Über aller 'Verzauberung' durch die Musik vergißt Gandin die Flut, die zwi­schenzeitlich den Weg zum Schiff abgeschnitten hat - 'waz getuon wir nu?' sprach Gandin (v. 13372).

Die bisherigen Interpretationen der 'Rotte und Harfe' -Episode (vgl. Anm. 31) haben an die oben genannten quellenkundlichen Befunde nicht angeknüpft, auch die 'Tristan' -Kommentare (KRoHN [Anm. 32], OKKEN [Anm. 59]) lassen es an entsprechenden Hinweisen fehlen. So sind bislang allein die in anderen Kontexten (bei der Ankunft am Markehof [v. 3547-3645] und vor Develin [v. 7503-23]) von Tristans Harfenspiel ausgehenden Wirkungen als Reminis­zenzen an ein überkommenes Erzählmuster verstanden worden. Das Sich-nicht­Losreißen-Können der dortigen Hörer (v. 7522f.), ihr "Entrücktsein bis zum Sich-selbst-Vergessen"78 (v. 3588-95), umreißt "einen Vorstellungsbereich, der [ ... ] auf die Antike verweist und an den bedeutendsten Vertreter der Musik im Altertum denken läßt: 0 r p heu s . Er verkörpert wie keine andere mythische Figur die Bann- und Zauberkraft der Musik bei Griechen, Römern und auch im Mittelalter."79

Zugleich aber verkörpert Orpheus auch die "wesenhafte Nähe von Eros und Kunst" und damit eine "Wahrheit des Mythischen", die für WOLF den Hauptan­teil daran hat, daß die Tristansage selbst zur "Mythe werden konnte",B° Weil neben der mit Kalkül eingesetzten tröstenden und fesselnden Wirkung der Musik auch die durch Harfenspiel ermöglichte Rückführung der Geliebten auf die antike Sage verweist, kann für den höfischen 'Tristan' von mehr als nur "möglichen Anspielungen auf den Orpheusmythos"81 die Rede sein. Ins Werk gesetzt sind sie nicht allein zum "Entwurf der Spielmannsfigur Tristan"82, sondern auch als Sinnelernente, die das Liebespaar meinen und sein Schicksal mit dem nicht minder unglücklichen des klassischen tragischen Liebespaares in Beziehung setzen. Die von BLANCHOT im allgemeinen Vergleich von Orpheus­und Tristanstoff aufgezeigten Korrespondenzen83 sind somit im 'Tristan' der Thomas-Gruppe selbst bedeutungs setzend genutzt: die schon durch den Minne­trank - wie zuletzt MERTENS zeigte84 - in die "mythisch[e] Sphäre" gerückte "transrationale Liebe" Tristans und !soldes mit ihrer zwanghaften "unautbebbaren Spannung von Begehren und Nichterfüllung" scheint durch die hintergründigen

78 So KÄSTNER [Anm. 31], S. 77. 79 Ebd. 80 WOLF [Anm. 2], S. 4. 81 So die eigentümlicherweise nicht auf die Gandin-Episode Bezug nehmende These KÄSTNERS

[Anm. 31], S. 88. 82 Ebd. S. 82. 83 M. BLANCHOT, Orphee, Don Juan, Tristan, Nouvelle Revue Fran~aise 2 (1954) 492-501. 84 V. MERTENS, Bildersaal - Minnegrotte - Liebestrank. Zu Symbol, Allegorie und Mythos im

Tristanroman. PBB 117 (1995) 40-64, bes. S. 52-60, im folgenden zit. S. 59, 41, 63.

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Bezüge auf Orpheus' und Eurydikes Los, ihre Liebe in der Welt nicht leben zu können, als mythische Vorbestimmung auf. Wie Orpheus überwindet Tristan die gewaltsame Trennung von der Geliebten durch den Zauber seiner Musik und muß sich doch kraft eines Gebots erneut von ihr trennen, denn die Vorbestim­mung des Paares ist auch zugleich eine zu wernde[r] swtere und endelose[r] herzenot (v. 1 1 674f.). In der Orpheussage erfüllt sie sich durch die Übertretung des Gebots der Unterwelt, sich zur Geliebten nicht umzuschauen, im 'Tristan' nach der durch Gottfried insinuierten ruowe des Paares in den bluomen (v. 13434)85 als Tribut an das gesellschaftliche Sittengesetz. Die mythische Folie aber verleiht der Rückerstattung Isoldes an Marke höchst ambivalente Züge, bedeutet sie doch die . ..,lwerfung unter ein Gattenrecht, das durch das evozierte antike Erzählmuster profund in Frage gestellt ist. Statt wie in der Orpheussage der liebende Gatte, ist hier der Liebhaber der Retter und damit auf der mythischen Sinnebene gerade so wie auf der erzählstrukturellen (keltischer Erzähltyp und Brautwerbungsschema) bedeutet, wer 'eigentlich' und im Wider­spruch zu dem in der epischen Realität gültigen Recht zur wiedergewonnenen Königin gehört - nämlich Tristan so zu Isolde wie Orpheus zu Eurydike.

Anders als im keltischen Feenmärchen und im Unterschied vor allem auch zu den artusepischen Entführungsversionen Chretiens und Ulrichs von Zatzik­hoven sind in der Gandin-Episode alle mythischen Versatzstücke als übernatür­liche Elemente des Erzählgeschehens preisgegeben, ist der Entführer kein numino­ser, sein Zufluchtsort keine Anderswelt und das Mittel gegen ihn kein im engeren Sinne 'magisches' mehr. Auf der Oberflächenebene der erzählten Wirk­lichkeit mithin nicht mehr präsent, bleibt das (statt an die keltische an die fraglos prominentere griechische Tradition anknüpfende) Mythische aber gleichwohl semantisch wirksam, denn durch unterschwellige Bezüge und deutliche inhaltli­che Korrespondenzen ist eine Assoziationsebene installiert, von der aus die Oberflächenrealität einen mythologischen Deutungshintergrund gewinnt. In der auf ungelöste menschliche und soziokulturelle Grundprobleme und Widersprüche weisenden Tiefendimension des Mythischen wird die von der epischen Realität erforderte Trennung der einander zubestimmten Liebenden als beunruhigende Willkür kultureller Normen faßbar, vermittelt sich das Nicht-Vereintsein-Kön­nen des Paares 'in der Welt' als existentielles übergeschichtliches Schicksal einer transrationalen Liebe.

Auf den ersten Blick nicht eben schwierig und vielschichtig, präsentiert sich die Episode von 'Rotte und Harfe' dem zweiten somit als ein beziehungsreiches Kompositum und komplexes In- und Übereinander vorgeprägter narrativer Bau-

85 Viel deutlicher sind in diesem Punkt die 'Tristrams Saga', in der die Liebenden""im walde ". eine wonnige nacht" verbringen, bevor sie an den Hof zurückkehren (Kap. 50; Übers. KÖLBING [Anm. 2], S. 163), und der 'Sir TrisIrem', in dem die Zweisamkeit in einer Waldlaube auf "sieben nächte" ausgedehnt ist (Str. 175; Übers. ebd. S. 265).

'Rotte und Harfe' im 'Tristan' 147

teile, das der Rede vom mittelalterlichen Roman als dem Produkt "der Kombi­nation und Überschneidung verschiedener [ ... ] eingelagerter Systeme und Gat­tungen" ebenso konkrete Anschauung gibt wie der Forderung, eine "Theorie der realisierten Disparatheit von Mustern" zum "Ausgangspunkt für eine Roman­poetik" zu machen.86 - Ein dem Ursprung nach keltischer Erzähltyp (ein Mär­chen von der Entführung und Rückgewinnung einer Fee), den sich auch die frühe Artusepik mit breiter Wirkung ihren Gattungsgesetzlichkeiten anverwan­delt, besetzt in der 'Tristan' -Ausformung des Strukturschemas der Braut­werbungsepik die Schemastelle der 'Rückentführung' . Für die Entführungs­handlung ist mit dem rash boon das Ansatzmotiv des keltischen Erzähltyps und mit der angenommenen Spielmannsrolle eine im Brautwerbungsschema gän­gige Tarnung genutzt. Die Rückgewinnung der Entführten folgt dagegen dem Schwankprinzip vom 'dupeur dupe' und macht für die darum auch dem Retter übertragene Spielmannsrolle deutliche Anleihen bei der antiken Orpheusmythe - die Auslösung der Geliebten aus fremder Gewalt gelingt, weil der Gegner durch die Musik des Befreiers 'verzaubert' wird, aber ihr folgt die Trennung, weil ein Gebot der dauernden Vereinigung der Liebenden entgegensteht. Man­ches in diesem episodischen Amalgam aus verschiedenen narrativen Mustern bleibt als Ableitung aus vorgängigen Realisierungen dieser Muster erkennbar, läßt - mit BACHTIN gesprochen - die 'Anwesenheit anderer Stimmen' in der Romanrede87 noch deutlich vernehmen, aber es arrangiert sich im neuen Ensem­ble der Elemente, in ihrer Interferenz mit Versatzstücken anderer Herkunft und abgetrennt von den im jeweiligen Muster plausiblen Motivationsfügungen zu neuen, weniger offendeutigen Sinngebungen.

Ohne eigene Vorgeschichte und völlig unvermittelt betritt der Entführer die Szene, aber nicht als der aus der keltischen und artusepischen Tradition bekann­te anders- oder gegenweltliche Antipode zur höfischen Ordnung, sondern als Ritter in der in der Brautwerbungsepik typischen Larve des Spielmanns - eine Verwandlung, die die Gegensätze miteinander kollidierender Wertewelten ni­velliert. Sein im keltischen Typus klar definiertes Verhältnis zur Königin bleibt unberedet, nur in der Vorstellung als ihr früherer amis (v. 13127) schwingt die keltische Konstellation latent nach. Mit der im Feenmärchen magischen Kraft des gegebenen Königworts und der in der Artusepik personifizierten gegenwelt­lichen Bedrohung und Versuchung königlicher Idealität und Prinzipientreue fehlen in der rein diesseitigen epischen Welt des 'Tristan' die obskuren antago­nistischen Mächte, die die fatale Ohnmacht von König und Hof in der rash

boon-Handlung dem Erzählmuster gemäß zu motivieren hätten. Analog zum Muster stellt sie sich auch hier ein, hervorgerufen jedoch von einem Fremden,

86 So die These und Zielvorgabe bei SIMON [Anm. 38], p. VI u. S. 174; Kursivierungen dort. 87 Vgl. M. BACHTIN, Das Wort im Roman, in: ders .. Die Ästhetik des Wortes, hg. und eingel. von

R. GRÜBEL (es 967), Frankfurt a. M. 1979, S. 154-300, bes. S. 192-219.

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dessen jenseitig-bedrohliche Züge in der Erzählwelt des 'Tristan' recht diessei­

tigen, spleenig-marottenhaften, gewichen sind. Das hat zur Folge, daß Markes Hilflosigkeit und seine Beflissenheit um eine Ehre, für die er nicht kämpfen will, letztlich in unfreiwilliger Selbstentehrung münden und damit eine fast schon komische Nuance bekommen. Im Schwankschema vom 'betrogenen Be­trüger', dem die 'spielerische' Rückgewinnungshandlung unterliegt, wirkt die­ses komische Kolorit unterschwellig fort, gebrochen hier wiederum durch die beschriebenen mythologischen Bezüge, die das Minneschicksal des Paares be­spiegeln.

Insgesamt, so sollte deutlich geworden sein, vervielfältigt die Überschnei­dung der in der hybriden Gandin-Episode nachwirkenden Erzählmuster die Deutungsstandpunkte. Sie macht den als Geflecht aus inter- und infratextuellen Bezügen88 sich darbietenden Text von verschiedenen Bezugspunkten aus lesbar und läßt die Perspektiven auf das Geschehen damit 'mehrdimensional' werden. Die narrativen Muster und Schemata relativieren sich, werden durch Über­blendung für neue Sinnimplikationen durchlässig, treten zueinander in ein Span­nungsverhältnis. Die Deutungsschablonen zeichnen nicht mehr, vorschemati­sierte Motivationsfügungen und Handlungskausalitäten verwandeln sich in un­bestimmte. Die Valeurs changieren zwischen dramatisch und komisch. Die schemakonformen, in den Mustern fest gewordenen Aktantenpositionen, typ­

haften Rollenkonzepte und Verhaltensstile büßen an Verbindlichkeit ein: der ehebrecherische Held kann als der 'mustergültige', nach den Bedeutungskon­ventionen der Muster 'legitime' Partner der Königin erlebt werden und die unverbrüchliche W orttreue des Königs allen Muster zum Trotz als schiere Dummheit. Die generalisierenden Kategorien - im 'Tristan' greifen sie nicht.

Dr. Gerd Dicke, Seminar für Deutsche Philologie, Humboldtallee 13. D-37073 Göttingen

88 V gl. für letztere oben Anm. 35 (Truchseß) u. S. 138 (Morold) oder auch Gandins Konzert am Markehof, das als deutliche Reminiszenz an Tristans freilich ungleich virtuoseren ersten Auftritt an gleicher Stätte (v. 3547-3645) gestaltet ist.