die pompa funebris in der römischen republic

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Sonderdruck aus: RAUM UND PERFORMANZ Rituale in Residenzen von der Antike bis 1815 Herausgegeben von Dietrich Boschung, Karl-Joachim Hölkeskamp und Claudia Sode Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015

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Sonderdruck aus:

Raum und PeRfoRmanz

Rituale in Residenzen von der antike bis 1815

Herausgegeben von dietrich Boschung, Karl-Joachim Hölkeskamp und Claudia Sode

Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015

InHaltSveRzeICHnIS

7 Vorwort der Herausgeber 11 Autoren und Herausgeber

15 karl-joachim hölkeskamp ›Performative turn‹ meets ›spatial turn‹. Prozessionen

und andere Rituale in der neueren Forschung

75 peter franz mittag Der potente König. Königliche Umzüge in hellenistischen Hauptstädten

99 egon flaig Prozessionen aus der Tiefe der Zeit. Das Leichenbegängnis

des römischen Adels – Rückblick

127 elke stein-hölkeskamp Zwischen Parodie und Perversion. Verkehrungen

des Triumphes in der frühen Kaiserzeit

143 dietrich boschung Architektur und Ritual. Zum Auftreten

des Kaisers in Rom

167 hans-ulrich wiemer Rom – Ravenna – Tours. Rituale und Residenzen

im poströmischen Westen

6 I n H a lt S v e R z e I C H n I S

219 judith herrin Urban riot or civic ritual? The crowd in early medieval Ravenna

241 claudia sode Ritualisiertes Totengedenken in Byzanz. Zu den Begräbnisumzügen byzantinischer Kaiser (4.–10. Jahrhundert)

261 ruth macrides Processions in the ›other‹ ceremony book

279 susanne wittekind Bischöfliche Leichenprozessionen im Hochmittelalter oder die Inszenierung des Bischofs als Stadtherr, Büßer und Heiliger

309 gerd schwerhoff Das Ritual als Kampfplatz. Konflikte um Prozessionen in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadt

333 gudrun gersmann Von toten Herrschern und Trauerzeremonien. Die Überführung der sterblichen Überreste Ludwigs XVI. nach Saint-Denis 1815

egon flaig

PRozeSSIonen auS deR tIefe deR zeIt

das leichenbegängnis des römischen adels – Rückblick

K eine Kultur kann bestehen, ohne über eine ›Vergangenheit‹ zu verfügen. Um diese Verfügung zu bezeichnen, eignet sich der Begriff des ›kulturellen Gedächtnisses‹ vorzüglich. Daß dieses

›Gedächtnis‹ nichts zu tun hat mit der Vorstellung eines im Unbewuß-ten verankerten ›kollektiven Gedächtnisses‹, ist selbstverständlich; auch kann es nicht analog zum individuellen Gedächtnis konzipiert werden.1 Die Verfahren der Vergegenwärtigung von Vergangenem, die Medien zur Speicherung von Wissen über Vergangenes, sowie die Praktiken der Sinnverleihung an Vergangenes, sind grundsätzlich an-dersartig als beim individuellen Gedächtnis. Im Modus des ›kulturel-len Gedächtnis‹ vollziehen sich ›Erinnerungen‹ an Vorgänge, die von den Akteuren nie erlebt wurden, daher gar nicht ›erinnert‹ werden können, falls man vom individuellen Gedächtnis ausgeht.2

In diesem Aufsatz geht es um eine besondere Dimension des kul-turellen Gedächtnisses in Rom. Es geht um politisch relevante ›Er-innerungen‹ im öffentlichen Raum. Das Augenmerk richtet sich auf ein eigentümliches Ritual,3 mit welchem aristokratische Familien ein

1 Halbwachs 1985 u. 1992.2 Yerushalmi 1988.3 Mein methodisches Vorgehen stützt sich auf Assmanns Unterscheidung zwischen ritueller und textueller Kohärenz (Assmann 1992, 87–103).

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fixiertes Wissen von der tatsächlichen oder imaginierten Vergangen-heit reaktualisierten und substantiell wie semantisch stabil zu halten suchten – im Rahmen einer spezifischen Choreographie mittels spezi-fischer medialer Elemente.

das Haus und die masken

Die Häuser vornehmer Römer besaßen einen Innenhof, Atrium ge-nannt. Dort empfing der Patron seine Klienten; diese warteten im Innenhof, bis sie an die Reihe kamen. Sie bekamen eine Menge zu sehen. Denn im Atrium standen verschließbare Schreine, welche die Ahnenbilder des Geschlechts enthielten. Auf jedem Schrein befand sich eine Aufschrift, die den Namen, die Laufbahn und besondere Leistungen des Dargestellten verzeichnete – ob er es nur bis zum Aedil gebracht hatte, ob er Consul gewesen war, Censor oder Triumphator. Solche konzisen Angaben über Laufbahn und Taten nannten die Rö-mer titulus. Im Alltag blieben die Schreine verschlossen; nur die tituli waren zu lesen.4 An familialen oder öffentlichen Festtagen öffneten die Familien ihre Schreine; nun waren die imagines zu sehen, und man schmückte sie.5 Die Klienten, die morgens zur salutatio ihres Patrons erschienen, konnten bequem, während sie auf die Audienz warteten, die Ahnenserie ihres Patrons auswendig lernen. War der Patron ein homo novus – also ohne senatorische Vorfahren –, dann stand im Atrium kein einziger Schrein;6 war er hingegen ein Valerier oder Cor-nelier, dann war das Atrium voller imagines. Das symbolische Kapital der verschiedenen Geschlechter unterschied sich also dramatisch; und hier im Atrium war es akkumuliert und zu betrachten.

Beachten wir die politische Wertigkeit des architektonischen Codes: Das Haus vornehmer Römer teilte sich in zwei politisch un-gleichwertige Sphären; das Atrium, zugänglich für Klienten und Be-sucher, versehen mit den Schreinen der Ahnen, war geschieden von den Innenräumen, und nur dort verehrte man die Laren des Hauses. Diese Anlage war also ganz anders strukturiert als griechische Häu-ser, die sich als Ganzes als radikal privater Raum scharf abgrenzten

4 Dupont 1987, 170.5 Siehe dazu: Cicero, pro Murena 88 u. pro Sulla 88.6 Allerdings konnten erfolgreiche Senatoren ohne senatorische Vorfahren die Ahnen-bilder ihrer Frau ausstellen.

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gegen den öffentlichen. Damit nicht genug: Auf einer großen Tafel am Eingang waren alle diese Ahnen in chronologischer Ordnung ab-gebildet; sie waren mit Linien untereinander verbunden, welche die Abfolge der Generationen angaben. Die Tafel zeigte also ein Stemma, einen komplexen Stammbaum, in welchem die ältesten Ahnen oben platziert waren, die jüngsten unten. Das Stemma strukturierte das in Schreinen gespeicherte Maskenarchiv der Familie.7 Am Stemma lasen die Besucher ab, welchen chronologischen und genealogischen Platz ein bestimmter Schrein mit seiner Maske einnahm.8 Daß diese Ahnen-tafel an den Pfosten der Eingangstüre angebracht war, ist kein Zufall, sondern ergänzt die Symbolik des architektonischen Codes. Denn das Tor – ianua – nimmt etymologisch und symbolisch Bezug auf den Gott der verfließenden Zeit, auf den zweigesichtigen Ianus, der so-wohl auf die Vergangenheit blickt als auch in die Zukunft schaut. Die Bewegung der Zeit, über welche dieser Gott wacht, visualisiert sich in einem stillgestellten Bild, das die Abfolge der Generationen darstellt, freilich reduziert auf die männliche Vorfahren, obschon nicht immer in patrilinearer Sukzession. Jedenfalls stellt sich ein Ahn nach dem anderen unter seinen Vorfahr; und so fixiert die graphische Ordnung der absteigenden Linie die verflossene Zeit in lauter Gesichtern mit dazugehörigen Namen.

Nun gab es ein Ritual, in welchem sich das symbolische Kapital in den öffentlichen Raum ergoß. Die Masken einer gens gingen buch-stäblich auf die Straße, nämlich bei der pompa funebris. Darüber be-richtet uns Polybios, der als Geisel einige Jahrzehnte in Rom weilte und als Augenzeuge viele solcher Ereignisse miterlebte, und der als gebildeter Grieche über ethnologischen Sachverstand verfügte, sowie über ein ausgezeichnetes begriffliches Instrumentarium, um in Worte zu fassen, was er sah:

»Bei öffentlichen Festen öffnen sie die Schreine und schmücken die Bilder mit Sorgfalt, und wenn ein angesehener Verwandter stirbt, nehmen sie sie im Trauerzug mit, indem sie sie Leuten aufsetzen, die den Toten an Größe und Erscheinung möglichst ähnlich sehen. Diese ziehen die entsprechenden Gewänder an, wenn der Verstorbene Con-sul oder Praetor war, eine Toga mit Purpursaum, wenn er Zensor

7 Zinserling, 1959; Bettini 1992, 143.8 Über den Ort der Stemmata: Seneca, De Beneficiis III, 28.2 u. Plinius, Naturalis historia, XXXV, 6.

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war, eine Toga ganz aus Purpur, wenn er aber sogar einen Triumph gefeiert hatte oder dergleichen vollbracht hatte, eine goldbestickte Toga. Sie fahren alle auf Wagen, vorangetragen aber werden ihnen Rutenbündel, Beile und die übrigen Amts-Insignien, je nachdem wo-rauf ein jeder zu Lebzeiten in Staatsämtern Anspruch hatte. Wenn sie aber bei den Rostra angelangt sind, nehmen sie alle in einer Reihe auf kurulischen Stühlen Platz. Es gibt schwerlich ein schöneres Beispiel für einen jungen Mann, der sich für den Ruhm und das Gute begeis-tert. Denn die Bilder der wegen ihrer Trefflichkeit hochgerühmten Männer dort alle versammelt zu sehen, wie wenn sie noch lebten und beseelt wären, wen soll das nicht beeindrucken? Welcher Anblick könnte schöner sein als dieser? – Übrigens, wenn der Redner mit dem Lob des Mannes, der begraben werden soll, fertig ist, spricht er von den übrigen Toten, die anwesend sind, indem er bei dem Ältesten anfängt, und nennt ihre Erfolge und Taten. Da so der Ruf der Treff-lichkeit tüchtiger Männer stets erneuert wird, ist der Ruhm derer, die eine edle Tat vollbracht haben, unsterblich, zugleich aber wird der Ruhm derer, die dem Vaterland gute Dienste geleistet haben, der Menge bekannt und den Nachkommen weitergegeben. Was aber das wichtigste ist, die jungen Männer werden dazu angespornt, für das Allgemeinwohl alles zu ertragen, um nämlich ebenfalls des Ruhmes, der verdienten Männern folgt, teilhaftig zu werden.«9

Es geht um die senatorischen Familien, nicht um andere. Deren Trauerzug führte nicht vom Haus auf dem kürzesten Weg zum Grab außerhalb der Stadt. Ganz im Gegenteil; der Leichenzug führte auf genau bezeichneten Straßen zum Herzen der Stadt, aufs Forum. Und dieser Leichenzug enthielt ein sonderbares Segment, nämlich die hin-tereinander aufgereihten Ahnen der Familie.

Die im Atrium aufgestellten Ahnenmasken wurden nun von Schauspielern getragen, wobei jeder Ahn seine Amtstracht trug, je nachdem ob er Triumphator gewesen war, ob er Zensor, Konsul, Prä-tor oder Ädil gewesen war; und vor jedem Ahn ging die ihm zuste-hende Anzahl von Liktoren mit den Rutenbündeln. Diese Ahnenpa-rade war chronologisch aufgebaut; sie konnte bei ruhmreichen Fami-lien einen Kilometer lang sein; sie war aufwendig. Nach den Ahnen kam die Bahre mit dem Toten. Hinter der Bahre die Verwandten, die Freunde, die Klienten und wer sich dem Toten oder seiner Familie

9 Polybios VI, 53.1–54.3. Ich übernehme die Übersetzung von Kierdorf 1980, 1 f.

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verbunden fühlte. Auf dem Forum angekommen nahmen die Ahnen auf kurulischen Stühlen Platz, in einer Reihe vor der Rednertribüne. Dann hielt ein naher Verwandter des Verstorbenen eine Lobrede auf den Toten; und danach rühmte er die Ahnen, einen nach dem an-deren, in chronologischer Reihenfolge. Erst nach dieser Leichenrede bewegte sich der Trauerzug – ohne die Ahnen – hinaus aus der Stadt zum Grab. Dieses Ritual war einzigartig in allen Mittelmeerkulturen.

Es ist seit etwa 30 Jahren sehr intensiv beforscht worden. Und es liegen nun akzeptable Ergebnisse vor. Ich skizziere nun lediglich diejenigen Landmarken, die sich mir als die maßgeblichen darstel-len. Vorausschicken möchte ich, daß erst eine Wende zur Kulturge-schichte des Politischen die Neugier für die zivischen Rituale geweckt hat. Wir verdanken diese Wende in hohem Maße Claude Nicolet und Paul Veyne, die beide 1976 Landmarken setzten. 1985 hat die Lati-nistin Florence Dupont in einem prägnanten Aufsatz die Frage nach dem Zusammenhang von Maske und Erinnerung gestellt. Ihr Auf-satz versucht eine radikal strukturalistische Analyse des Verhältnisses von Toten und Lebenden, von Maske und Schrift und gesprochenem Wort. Ein Jahr später folgte Maurizio Bettini mit einer eingehenden Untersuchung;10 und darin verbindet Bettini das Stemma im Atrium mit dem Zug der Ahnen. Bettini betont stärker als seine Vorgänger, daß hier in intensiver Weise die genealogische Zeit dargestellt werde; die Tiefe der Vergangenheit, auf die eine Verwandtschaftsgruppe zu-rückblicken kann. Und er unterstrich, daß dieser Modus familialer Erinnerung beträchtlich dazu beiträgt, die familial segmentierte römi-sche Aristokratie auf der normativen Ebene zusammenzuhalten. Seit diesen beiden Publikationen lag es in der Luft, daß nun zur pompa funebris eine neue Synthese kommen müsse. 1993 versuchte ich eine neue Annäherung, indem ich eine radikal semiotische Analyse des von Polybios beschriebenen Leichenbegängnisses vornahm. Dabei fiel mir auf, daß Bettini ein Fehler unterlaufen war: Er war davon ausge-gangen, daß sämtliche männlichen Mitglieder einer Familie ein Ah-nenbildnis erhielten; und dann ist natürlich das Stemma ein vollstän-diges genealogisches Verzeichnis in patrilinearer Dimension. Aber die Voraussetzung trifft nicht zu: sehr viele Söhne aus den senatorischen Familien erreichten nie ein kurulisches Amt, weil sie die Wahlen zu häufig verloren. Anders gesagt: Bettinis Überlegungen mußten neu

10 Bettini 1992 (italienisch 1986).

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überdacht werden, unter der Prämisse, daß die Ahnenbildnisse jeder Familie das Resultat einer politischen Selektion sind, die Verlierer sind allesamt nicht dabei. Damit waren für mich zwei Konsequenzen fällig:

1. Bettinis genealogische Kette ist keine biologisch garantierte De-szendenzlinie, sondern eine Reihe von einzelnen erfolgreichen Ahnen, zwischen denen aber verschwundene Verlierer liegen; und somit wird die enorme Konkurrenz um die Ämter plötzlich in der Ahnenserie sichtbar.

2. Dadurch verändert sich radikal die Zeitsemantik. Denn nun visu-alisiert der Ahnenzug nicht mehr die genealogische Zeit, welche die Nachfahren mit ihren familialen Vorfahren verbindet; das war die apolitische Interpretation Bettinis. Sondern nun macht das Ritual die Tiefe der historischen Zeit augenfällig, einer Zeit, die sich zwar mit Hilfe einiger familialer Elemente darstellt, aber die wesentlich eine Vergangenheit der res publica ist. Denn die Se-lektion dieser Ahnen vollziehen institutionelle Mechanismen der res publica; und die Amtsabzeichen, die sie tragen, haben sie von der res publica erhalten. Nachdem ich diese beiden Thesen for-muliert hatte machte ich mich daran, das Ritual radikaler als Bet-tini und Dupont zu lesen als Text, also es einer strukturalistischen Analyse zu unterziehen, und den Quasitext in seine syntagmati-sche und seine paradigmatische Dimensionen zu zerlegen. Diese semiotische Analyse habe ich 1995 vorgelegt. Ein Jahr später erschien das beeindruckende Buch von Harriet Flower, ancestor Masks. Die amerikanische Forscherin hat allerdings eine Ritual-analyse im strengen Sinne vermieden. Wenn es um die politische Semiotik des Rituals geht, darf ich daher bei meinem Ansatz blei-ben.

das tableau der Prozessionen. Skizze einer strukturalen analyse

Die großen römischen Feiern enthielten meist eine pompa, eine Pro-zession; so eröffnete eine pompa circensis die ›Spiele‹ im Zirkus, und die pompa funebris geleitete den Verstorbenen zur Bestattung. Es gab noch eine andere Prozessionsart in Rom, nämlich die supplicationes, Bitt- und Dankumzüge, zu denen der Senat bei außerordentlichen

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Anlässen aufrief. Davon unterschieden sich die drei großen pompae deutlich; sie bildeten zusammen ein Tableau, das sich nach den Prin-zipien der strukturalen Semiotik darstellen lässt:

pompa funebris: 1) Ahnenbildnisse 2) Bahre mit dem Toten

3) Trauernde

pompa circensis: 1) Männl. Jugend 2) Auftretende + Musiker

3) Götter

pompa triumphalis: 1) Beute 2) Triumphator 3) Heer

Die Zusammensetzung einer pompa war standardisiert. Die Sequenz der Segmente lässt sich als syntagmatische Kette, als Syntagma, lesen. Aus neun unterschiedlichen Segmenten ergaben sich drei syntagmati-sche, horizontale, Ketten und drei paradigmatische, senkrechte, Spal-ten. Um eine pompa semiotisch zu analysieren, hat man zuvorderst auf die Oppositionen zu achten, welche sich in dieser rituellen Klas-sematik ergeben.11

Zunächst zur syntagmatischen Anordnung: Die Abfolge der Seg-mente war unveränderbar. Die geringsten Variationen ließ die pompa funebris zu, die meisten die pompa circensis. Beim Leichenzug und beim Triumphzug fungierte jeweils das erste Segment als Indikator des Prestiges. Dieses erste Segment konnte die senatorische Familie, welche den Zug veranstaltete, nur in begrenztem Maße verändern; denn in beiden Fällen stand die jeweilige Obergrenze fest: Eine trau-ernde Familie besaß eine präzise Anzahl von Ahnenbildnissen, und sie konnte in der Ahnenparade maximal alle davon vorweisen; desglei-chen vermochte ein Triumphator nicht mehr Beute zu zeigen, als er tatsächlich gemacht hatte. Hingegen indizierte in der pompa circensis das zweite und das dritte Segment, wie sehr der Spielgeber sich an-strengte, Prestige zu erwerben; niemand limitierte seine Prachtentfal-tung, es sei denn, seine eigene finanzielle Situation.12 So boten diese drei Prozessionstypen drei unterschiedliche zeremonielle Ordnungen

11 Dazu: Happ 1985, vor allem S. 36 ff., 72 ff. u. 94 ff.; Barthes 1988, 168–180 u. 187–198.12 Zur pompa circensis: Dionysios von Halikarnassos, antiquitates romanae VII, 72.

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mit festgelegten Elementen, die teilweise auch im anderen Prozessi-onstyp auftauchten, teilweise aber nicht transferierbar waren.

Zu diesen visuellen Merkmalen der Choreographie treten die ak-kustischen; diese verstärken und vermehren die Differenzen. Völlig andere akustische Signale begleiteten die jeweilige pompa. Der Tri-umph wurde eingeleitet durch das Geschmettere der Kriegstrompe-ten, und dann war das Geklirre der erbeuteten Waffen zu hören, sowie die jubelnden Zurufen der Bürger. Bei der pompa circensis erklangen Flöten und die Rhythmik der Waffentänze. Ein völlig anderer Klang begleitete die pompa funebris: Schaurige Töne aus schweren Blasin-strumenten, die an der Spitze des Zuges geführt wurden, mahnten die Lebenden, dem Toten respektvoll auszuweichen. Die drei unter-schiedlichen Geräuscharten tauchten die Stadt jeweils in eine gänzlich andere akustische Atmosphäre.

Prozessionen haben einen örtlichen Beginn und ein örtliches Ziel mit Zwischenstationen. Jede dieser drei pompae hat einen anderen Bezug zur politischen und sakralen Topographie der Stadt Rom. Da-bei ist besonders zu beachten das Kapitol, die Stadtgrenze, das Forum und der Circus Maximus. Alle drei Prozessionen durchquerten den städtischen Raum in konträren Richtungen: Die pompa triumpha-lis endete dort, wo die pompa circensis ihren Ausgangspunkt nahm, nämlich beim Kapitol; d. h. diese beiden Prozessionen bewegten sich somit gegensinnig. Während der Leichenzug und der Triumphzug die Stadtgrenze überschritten, verließ die pompa circensis nicht die Stadt, sondern führte zum Circus Maximus. Bei ›Spielen‹ war die pompa circensis nicht das rituell wichtigste Element, weil die maßgeblichen Inszenierungen im Circus stattfanden, also nach der pompa. Anders beim Leichenbegängnis und beim Triumphzug; hier war die Bürger-schaft in die anschließenden Inszenierungen nur in geringem Maße einbezogen; deshalb waren die Prozessionen selbst der politische Hö-hepunkt der Festivität.13 Folglich besaß im jeweiligen rituellen Zu-sammenhang die pompa circensis die geringste politische Intensität. Daher wohl wird sie selten erwähnt.

Im Hinblick auf die Überschreitung der Stadtgrenze ergab sich ein neuer Kontrast, nämlich derjenige von hinein/ hinaus: Die pompa tri-

13 Zur Einlagerung der Prozessionen in den urbanem Raum siehe auch Döbler 1999, 95–106. Das Verhältnis von Partizipation und ›Zusehen‹ des politischen Kollektivs findet sich ausgezeichnet erörtert bei Dupont 1988, 14 ff.

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umphalis führte durch ein Tor in die Stadt hinein; die pompa funebris führte – nach der Versammlung der Ahnen auf dem Forum – aus der Stadt hinaus zum Grab. Die Struktur dieser Oppositionen generiert zwar nicht die Bedeutungen; aber ohne diese Oppositionen hätten sich spezifische Bedeutungen schwerlich so eindrücklich ritualisieren lassen. Politische Semasiologie ist daher auf elementare Semiotik an-gewiesen.14 Die pompa funebris ist die einzige Prozession, die in zwei verschiedene Teile auseinanderfiel: Im ersten Teil führten die Ahnen den Leichenzug zum Forum, wo der politische Höhepunkt der Feier stattfand. Darauf folgte der zweite Teil, nämlich die Prozession zum Begräbnisort; und hierbei fehlten die Ahnen; stattdessen führte die Bahre des Verstorbenen den Zug an. Dieser Teil des Rituals endete im Höhepunkt der Bestattung, meistens in der Entfachung des Schei-terhaufens.

Alle drei pompae differierten hinsichtlich ihrer memorialprakti-schen Ausrichtung: Die pompa circensis rief ein – oft weit – zurücklie-gendes historisches Ereignis ins Gedächtnis, welches zur Stiftung der Spiele geführt hatte; in der Regel war dies entweder ein kriegerischer Sieg oder ein innenpolitisches Ereignes, das den Zusammenhalt der Gemeinschaft berührt hatte; daher war ihr erstes Element zukunfts-weisend, denn die Jugend verbürgte die Fortexistenz der res publica. Hingegen bezog sich die pompa triumphalis auf einen rezenten Krieg, welcher die politische Gemeinschaft aktuell außenpolitisch tangierte; darin ähnelte sie den supplicationes, welche hier außer Betracht blei-ben. Die pompa funebris hingegen thematisierte kein Ereignis, son-dern präsentierte die vergangenen politischen Leistungen einer gens. Ihr erstes Element ist daher vergangenheitsbezogen.

Einerseits standen diese Prozessionen in einem differentiellen Verhältnis zueinander wie unterschiedliche syntagmatische Ketten. Anderseits stand jede pompa funebris in einem differentiellen Ver-hältnis zu allen anderen Leichenzügen, jede pompa triumphalis zu allen anderen Triumphzügen. Jede einzelne Prozession wetteiferte mit ihresgleichen; dabei kommen die paradigmatischen Spalten ins Blick-feld; denn die Wahrnehmung der Römer richtete sich auch auf die Variationen in den einzelnen Segmenten. Segmente sind gleichartig, daher vergleichbar; aber sie waren nicht gleichwertig: jede pompa fu-

14 Barthes 1979, 52–73. Gegen die Ontologisierung des strukturalen Modells wendet sich Eco 1991, 361–436 mit durchschlagenden Argumenten.

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nebris konkurrierte mit anderen Leichenzügen und desgleichen jeder Triumphzug mit anderen Triumphzügen. Der Triumphzug des Aemi-lius Paullus 167 v. Chr. übertraf alle vorangehenden durch das erste Segment – die Parade der Beute. Ein Leichenzug der Valerier übertraf einen der Iulier bei weitem durch das erste Segment – die Serie der Ahnen.

Wenn Zeichenträger fehlten, dann hatte dies etwas zu bedeuten: Als im Jahre 189 v. Chr. Acilius Glabrio seinen Sieg in der Schlacht bei den Thermopylen über König Antiochos III. mit einem Triumph feierte, fehlte ein komplettes Segment im Triumphzug, denn hinter dem Wagen des Triumphators zog das siegreiche Heer nicht in Rom ein, weil Lucius Scipio es übernommen hatte, um den Krieg weiter-zuführen. Zwar beteuert Livius, der Triumph sei großartig gewesen, und zählt die Beutestücke auf. Doch jeder zusehende Römer nahm wahr, dass dieser Triumph keine Heimkehr inszenierte; das Ritual führte allen vor Augen, dass der Sieg des Triumphators den Krieg nicht beendet hatte.15

analyse der pompa funebris

In diesem Ritual spielt die Kopräsenz von trauernder gens, Klien-ten und Freunden und der zuschauenden Bürgerschaft eine wichtige Rolle. Zu beachten ist, daß in dieser Form von Interaktion bestimmte Aktivitäten das Partizipieren in anderer Hinsicht erschweren: Wer sich in den Leichenzug einreihte, um dem Toten Ehre zu erweisen, konnte den agmen imaginum nicht mehr sehen. Sobald der Zug der Trauernden sich auf dem Forum vor der Rednerbühne aufstellte, be-kamen sie zwar die Ahnen zu sehen, aber nicht mehr als Teil der Prozession, sondern als Sitzfiguren, die in einer oder zwei Reihen auf Stühlen vor der Bühne saßen.

Nun läßt sich die pompa funebris selber in den Blick nehmen. Ich interpretiere sie zunächst mit semiotischem Instrumentarium als han-dele sich um einen Text. Halten wir dessen signifikante Züge fest:16

15 Livius, ab urbe condita, XXXVII, 46.2–6.16 Eco 1991 u. Kreinath 2006. Zum Text als Modell siehe: Ricoeur 1986. Die Stu-die von Flower 1996 enthält keine systematische semiotische Analyse dieses Rituals. Dazu: Flaig 2001 und ders. 2003, 49–98, siehe nun auch: Walter 2004, 84–109.

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1. Die Ahnenreihe visualisierte die politische Hierarchie. Die Ränge und der Status der Ahnen gaben sich genau zu erkennen – an Amtstracht und abgestufter Anzahl der Lictoren, die jeden Ahnen begleiteten. Über den bloßen Konsularen standen die Censoren; und die Triumphatoren überragten alle anderen. Der hierarchi-sche Aufbau war nicht nur im Diesseits gültig und notwendig; die Hierarchie galt über den Tod hinaus und ordnete die erinnerungs-würdigen Toten.

2. Mit dem Tod war die Diskontinuität in die Familie eingebrochen. Dagegen beschwor das Ritual die familiäre Kontinuität. Oben-drein bestätigten die Ahnen, wie integrationsfähig die politische Ordnung war, indem sie deren zeitliche Verlängerbarkeit ein-drucksvoll vor Augen führten. Allerdings nahmen sie den Verstor-benen nicht in ihre Mitte, sondern sie wiesen ihm seinen Platz ganz hinten an: Seine Bahre trennte die nachfolgende Prozession der Lebenden von den vorangehenden Vorfahren. Dieser Platz blieb hinfort immer derselbe.

3. Wie die Prozession erfolgreiche Ahnen vorzeigte, so verwies sie auf jene Vorfahren, die nicht vorzeigbar waren, weil sie erfolglos geblieben waren. Junge Adlige wussten, dass nur ein Teil der Vor-fahren vorbeidefilierte, dass eine stattliche Quote von Männern es nicht bis zu einem kurulischen Amt geschafft hatte und in der Vergessenheit versunken war.

4. Das Prestige eines Adelsgeschlechtes, einer gens, war ablesbar an der pompa funebris. Man brauchte bloß zu zählen: zwei Tri-umphatoren, fünf Censoren, sieben zweifache Consuln, zwölf einfache Consuln, 20 Praetoren – wenn eine gens diese Zahlen ins Feld führte, dann signalisierte sie, dass sie weit vorne lag im unaufhörlichen Kampf um familiales Prestige. Allerdings regist-rierte das mitzählende römische Volk den Rückstand zu den ganz großen gentes, zu den Valeriern, Corneliern, Fabiern, Claudiern und Aemiliern. Nun ist bei einem rangklassenmäßig stratifizierten Adel das Abzählen schwierig; ein Triumphator könnte mehrere Consuln ›aufgewogen‹ haben. Wahrscheinlich war zunächst die Anzahl der Triumphatoren, dann die der Censoren maßgeblich. Einige Triumphatoren mögen die anderen an Prestige weit über-troffen haben. Aber das Ritual homogenisierte diese Ungleichheit, genau wie das Rangsystem die Leistungsdifferenzen zwar nicht einebnete, aber doch kommensurabel machte.

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Die einzelne Familie hatte nicht oft Gelegenheit, ein Leichenbegängnis zu veranstalten. Trotzdem fanden Leichenbegängnisse mit Prozession der Ahnenbilder in Rom unablässig statt, weil es in der Gesamtheit der vornehmen Familien während eines Jahres genügend Todesfälle gab. Jede Ahnenserie, die bei einem solchen Anlass vorbeidefilierte, konkurrierte jedoch mit sämtlichen abwesenden Serien. Somit ak-tualisierte die jeweilige Prozession stets die Signifikanz der anderen Serien. Die Leichenbegängnisse waren die Momente eines unabläs-sigen Wettkampfes, in dem das symbolische Kapital einer Familie zum Vergleich mit demjenigen der anderen aristokratischen Familien antrat. Ich benutze diesen Begriff, welcher in der Soziologie von Pi-erre Bourdieu eine wichtige Rolle spielt, in einem leicht modifizier-ten Sinne. Er bezeichnet denjenigen Vorteil einer bestimmten Gruppe oder Person vor einer anderen, der weder ökonomischer noch direkt politischer Qualität ist und die Sphäre des Anerkanntseins berührt.17 Nach Bourdieu kann sich das symbolische Kapital von Gruppen oder Personen nur dann reproduzieren, wenn es immer wieder eingesetzt wird: Dieser Einsatz ist mit kulturell spezifischen Risiken verbunden; das symbolische Kapital kann also verloren gehen. Die Ahnenserie des römischen Adels geht jedoch den einzelnen Zweigen der Familie nicht mehr verloren. Das liegt daran, daß die römische Kultur einen großen Teil der sozialen Autorität nicht dem wechselnden Auf und Ab von Prestigewinn und Prestigeverlust überließ, sondern ihn streng formalisierte, kodierte, registrierte – und in Form der Ahnenmasken sogar tradierte. Der Terminus bezeichnet in meiner Untersuchung also streng genommen das ›geronnene‹ symbolische Kapital: zwar hatten die Familien dieses immer wieder ›vorzuzeigen‹; doch es blieb auch erfolglosen Familien erhalten. Bei der Analyse der politischen Kultur der römischen Republik ist es daher angebracht, zwei Sorten von symbolischem Kapital einer Familie anzunehmen: zum einen das aktuale Ansehen einer gens, welcher sich ihrem momentanen Erfolg verdankte, zum anderen ihr geronnenes Prestige, welches ihr unun-terbrochen zur Verfügung stand.

Das Leichenbegängnis kontrastierte scharf den Totenkult einer-seits und die rituelle Demonstration des eigenen symbolischen Kapi-tals. Die Ahnenserie im Leichenzug war kein vollständiges Inventar der biologischen Ahnen, sondern eine Minderheit der biologischen

17 Siehe: Bourdieu 1987, 215, 235 f. u. 255 ff.

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Vorfahren, ausgewählt nach Kriterien, die für alle senatorischen Fa-milien galten. Die erfolglosen Vorfahren schieden aus der politischen Erinnerung aus; sie hörten ganz einfach auf, öffentlich zu existieren. Allerdings behielten sie ihren Platz im familialen Ahnenkult. Gewiß, Totenfeiern sind grundsätzlich Inszenierungen von sozialen Grup-pen und dienen zuvorderst dem Gruppenzusammenhalt; das rituelle Gedenken an den Toten ist stets sozial instrumentalisiert. Doch die römische Kultur instrumentalisierte die Toten mit ungehemmter Ex-plizitheit. Denn das Leichenbegängnis diente keineswegs der Verherr-lichung des Toten, sondern dazu, das Prestige der Familie vor Augen zu führen.18

der inszenierte gedächtnisraum

Die obige semiotische Analyse der pompa funebris hat aufgewiesen, wie der römische Adel familiales Prestige maß und welche Rolle das symbolische Kapital auf dem Feld der Konkurrenz um Ämter spielte. Doch der Aufmarsch der Ahnen leistete weit mehr. Er bot die ein-drucksvollste Inszenierung der politischen Erinnerung in Rom.19 Das wird ersichtlich, wenn man die zeitlichen Aspekte des agmen imagi-num genauer betrachtet:

1. Nicht der Rang bestimmte die Reihenfolge der Ahnen in der Prozession, sondern die Chronologie: der älteste Ahn führte den Zug an, die Bahre des zu bestattenden Toten schloss ihn ab.20 Die imago des Verstorbenen wurde nach der Bestattung in einem Schrein im Atrium verwahrt; beim nächsten Leichenbegängnis nahm diese imago den letzten Platz in der Prozession der imagines ein, unmittelbar vor der Bahre des soeben Verstorbenen.

2. Die Prozession der imagines beim Leichenzug und die Ahnentafel im Atrium wuchsen also analog nach hinten bzw. nach unten. Die chronologische Abfolge der maiores – der Vorfahren – wurde in die räumliche Dimension übersetzt.

18 Latte 1960, 100.19 Die Wichtigkeit dieser Dimension würdigt Hölkeskamp 2004.20 Bettini 1992, 146.

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3. Der politische Status jedes einzelnen Ahnen war endgültig, und sein chronologischer Stellenwert war unverrückbar. Deswegen war der Ahnenzug fast identisch wiederholbar. Er veränderte sich bloß insoweit, als immer wieder eine einzelne Maske sich hinten in den Zug einreihte. Ordnete man die imagines nach Rängen, dann hätte sich die Sukzession der Ahnen und damit der Auf-bau der pompa jedesmal leicht verändert. Indes, die Ahnenparade sollte sich noch viele Male genau auf dieselbe Weise wiederholen; was ein aktuell lebender hauptstädtischer Römer bei der Ahnen-prozession einer bestimmten Familie zu sehen bekam, das war unverändert auch von seinem Urenkel so zu sehen; Variationen ergaben sich lediglich, wenn die Veranstalter kognatische Ahnen-serien wegließen. Die chronologische Reihung der Ahnen choreo-graphierte, wie die gens sich in die Tiefe der Zeit hinein verlän-gerte. Die pompa funebris szenographierte feierlich die Ewigkeit der römischen Ordnung.

4. Die identische Wiederholung erhöhte die Einprägsamkeit der ent-scheidenden ›Botschaften‹ des Rituals.

5. Wie die Ahnen einer gens in chronologischer Reihenfolge vorbei-defilierten, so ging die Leichenrede – die laudatio – die Ahnen der Reihe nach durch und ließ ihre Taten Revue passieren.21 Die chronologische Ordnung der Prozession wiederholte sich in der chronologischen Ordnung der laudatio. Nacheinander rühmte die Leichenrede die politisch erfolgreichen Ahnen, pries ihre Ta-ten, verwies auf sie als Vorbilder. Die gesamte Zuschauerschaft, ob adlig oder nichtadlig, frischte bei der pompa funebris eines prestigereichen Geschlechtes nicht nur das eigene Wissen über Namen und Taten auf, sondern memorierte deren zeitliche Ab-folge.

6. Die Abfolge der Ahnen im agmen imaginum entsprach nur einer relativen Chronologie. Sie bot keinen Anhaltspunkt für das ›abso-lute‹ Alter der ersten und der späteren maiores. Erst die Verweise auf den Kalender und auf signifikante Ereignisse in der Leichen-rede setzten die Ahnen auf eine genaue Stelle der römischen Zeit-achse.

7. Die Vergangenheit war keine abstrakt bleibende verstrichene Zeit, sie materialisierte sich sichtbar in der Vielfalt der imagines, deren

21 Zum Aufbau der laudatio funebris siehe Kierdorf 1980, 71 ff.

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Namen verknüpft waren mit Daten und Taten. Im Bild einer Suk-zession von imagines, nach Geschlechtern geordnet, brachte sich die zeitliche Tiefendimension sinnfällig zum Ausdruck. So lieferte die Prozession der Ahnen die Matrix für das historische Wissen in Rom.

Die pompa funebris inszenierte einen kollektiven Erinnerungsraum, in den einzutreten hieß, historisches Wissen zu erwerben oder auf-zufrischen. Um ein genealogisches Gedächtnis zu entfalten, brauchte man nicht selbst imagines zu besitzen; man musste nur die imagines bestimmter gentes gut kennen. Das beim Leichenbegängnis ausgebrei-tete historische Wissen war zwar genealogisch gerastert, aber es über-stieg bei weitem ein bloß genealogisches Gedächtnis: Es nahm Bezug auf die Genealogie anderer Familien, zum einen deswegen, weil man die eigenen Vorfahren nicht chronologisch platzieren konnte, ohne auf den Kalender und auf die Consul-Listen zu verweisen, zum ande-ren, weil die Taten der eigenen Vorfahren immer Taten für das ganze römische Volk waren.

Kein ›floating gap‹. Linearität und Gedächtnisraum

Die pompa funebris ist das semiotisch aufwendigste und szenogra-phisch wichtigste kommemorative Ereignis der römischen Kultur. Sie rememorierte und fixierte die römische Vergangenheit. Sie führte Ah-nen vor, die über eine lange Zeitstrecke verteilt waren, die vom ersten politisch erfolgreichen Ahn bis in die jüngste Vergangenheit reichte. Die Höhepunkte lagen nicht am Anfang und nicht am Ende, sondern bei den Triumphatoren und Censoren. Die Prozession der Ahnen machte die zeitliche Tiefe als lineare Aufeinanderfolge diskreter Mo-mente mit präzisem zeitlichen Index in den Raum projizierbar. Die pompa funebris leistete zusammen mit der laudatio eine sonderbare Verräumlichung von Zeit: diese Zeit verläuft linear von der Königs-zeit bis zur Gegenwart; sie kennt überhaupt keine Zyklik. Innerhalb einer linear verlaufenden Vergangenheit wurde Rom gegründet, er-folgte die römische Selbstbehauptung, entfalteten sich die römischen Einrichtungen bis zur jüngsten Vergangenheit.

Manche Forscher meinen, die Römer hätten die Taten und Ge-schehnisse, die res gestae, »zunächst einmal vor allem im privaten

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Bereich, in den gentes, erinnert«, wobei »solche Erinnerung in Ah-nenruhm, Grab und Kult ihren wichtigsten Ort gehabt« hätte.22 Die dabei vorausgesetzte Unterscheidung von ›privat‹ und ›öffentlich‹ dürfte für die römische Gesellschaft nicht taugen. Fragt man nach den sozialen Funktionen und funktionalen Grenzen der unterschied-lichen Register des Gedenkens, entsteht ein anderes Bild. Denn was heißt ›Kult‹ in diesem Kontext? Der Totenkult scheidet weitgehend aus: Erstens waren in ihm politisch relevante Erinnerungen entweder von Anfang an irrelevant oder sie wurden es spätestens ab dem Au-genblick, wo der Tote von seiner Position als sechster Vorfahr durch einen nachrückenden Ahn verdrängt wurde und in der Anonymität der maiores verschwand.23 Zweitens fand im Grab eine ausschließlich familiale Erinnerung statt; die Sarkophag-Aufschriften waren nicht öffentlich zu lesen. Sie lehnten sich an die tituli auf den Schreinen im Atrium an, und waren über sie verbunden mit den jeweiligen Ab-schnitten bei der laudatio funebris.

Trotzdem vollzog sich politisch relevante Erinnerung im Rahmen des Kultes, jedoch nicht am Grab, sondern bei den großen Feiern – regulär oder zu bestimmten Anlässen – mit den dazugehörigen ›Spie-len‹. Das waren keine privaten Veranstaltungen, sondern die öffent-lichen Ereignisse schlechthin. Der Rahmen politischer Erinnerung ist damit per se ein außerfamilialer. Das Atrium als wichtigster Ort des ständig präsenten Ahnenruhms war kein innerfamilialer Raum. Und die pompa funebris als das wichtigste Ritual des Ahnenruhms war ein Ritual für die Öffentlichkeit. Erst diese beiden Elemente machen erklärbar, wie die gentilizischen Erinnerungen sich – von Anfang an – nach kollektiven Regeln organisierten und so die geeignetsten Träger für gemeinschaftliche Traditionen wurden.

Aber kann man Besonderheiten einer mündlichen Erinnerungs-kultur im römischen Arrangement der Leichenbegängnisse wiederfin-den? Harriet Flower hat versucht, die in der pompa funebris vollzo-gene Erinnerungspraxis analog zur ›oral history‹ zu konzipieren. Sie nimmt an, dass in der pompa funebris die ältesten Ahnen und die neu-

22 So: Timpe 1988, 285. Zwar fährt er fort: »(solche Erinnerung) … muß aber auch mit Orten, Relikten, allgemeinen politischen Ereignissen und nicht zuletzt mit dem parallelen Erinnerungswissen anderer Familien verquickt und verbunden gedacht wer-den.« Doch diese Verquickung thematisiert Timpe nicht.23 Bömer 1943, Toynbee 1971, Kierdorf 1991.

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esten Leistungen besonders betont wurden.24 Alles spricht gegen diese Annahme. Zwar musste die trauernde Familie Schwerpunkte setzen, aber das konnte sie bei der Zusammenstellung der Ahnenprozession nicht tun, es sei denn, sie ließ einzelne Ahnen weg. Anders war es bei der Rede zum Lob der Ahnen. Hier musste man selektieren, denn die Zeitspanne, um einen Ahn verbal zu würdigen, konnte nicht propor-tional zum Zeitsegment sein, innerhalb dessen ein Vorfahr an einem Zuschauer vorbeiging. Die gentes mit langen Ahnenserien mussten sich genau überlegen, wo sie bei der laudatio funebris Schwerpunkte setzten. Dabei privilegierten sie weder die besonders ›alten‹ Ahnen noch die ›neueren‹ Erfolge. Ganz im Gegenteil: Die Münzmeister der republikanischen Zeit, welche auf Taten ihrer Vorfahren aufmerksam machen wollten, bezogen sich in über zwei Drittel aller Fälle auf Vor-fahren, die in die Zeit nach etwa 366 v. Chr. gehörten.25 Also war es für die Familien dieser Münzmeister nicht wichtig, einen möglichst weit zurückliegenden Vorfahren zu zitieren; vielmehr bemühten sie sich, bestimmte große Erfolge ihrer Ahnen herauszustreichen. Doch solche markanten Ereignisse waren in der Regel weder besonders alt noch besonders neu. Sie waren notwendigerweise über die Zeitachse verstreut.

Vereinzelt tauchten auf den Münzen mythische Vorfahren auf, die älter als die Republik waren. Aber dieses Phänomen gehört in einen anderen Kontext. Die Versuche, der eigenen Familie eine mythische Genealogie zu geben und Ahnen zu ersinnen, die weiter zurück lagen als der erste senatorische Vorfahr, stammten fast alle von relativ er-folglosen Familien. Das ist kein Zufall. Ein jüngeres Geschlecht war einem älteren sichtlich überlegen, wenn es mehr Ahnen vorzuweisen hatte; so besaßen die plebejischen Licinier zu Anfang des 1. Jahrhun-derts v. Chr. einen weiten Vorsprung vor den patrizischen, aber lange Zeit notorisch erfolglosen Iuliern. Gerade diese relative Erfolglosig-keit zwang die Iulier dazu, neuen genealogischen Formen akzeptablen Kurswert zu verschaffen, indem sie versuchten, sich eine mythische Genealogie zu geben. Ahnenstolze Familien wie die Claudier und Va-lerier verschmähten solche billigen Tricks. Die Erfolglosen trachteten danach, die Regeln der Generierung von symbolischem Kapital zu

24 Flower 1996, 113: »Emphasis was laid on the antiquity of the family and on its most recent achievements.«25 Wikander 1993.

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ihren Gunsten zu verändern. Das gelang ihnen nicht. Keine pompa funebris der republikanischen Zeit enthielt jemals einen Vorfahren, der nicht römischer Magistrat gewesen war. Das bedeutet, im tat-sächlich anerkannten symbolischen Kapital einer Familie spielten die ältesten Ahnen keine besondere Rolle. Es kam auf den Glanz ihrer Taten an, nicht auf ihr Alter.

Welche Leistung oder Person markant ist und welche nicht, hängt nicht an der Person und dem Ereignis selbst. Prominenz wird sozial produziert. Die trauernde aristokratische Familie mochte gewiss be-müht sein, ihre weniger hervorragenden Ahnen nicht in Vergessenheit fallen zu lassen; indes, sie musste dem Bedürfnis der Bürgerschaft ent-gegenkommen, sich an eminenten Daten zu orientieren. Diese Bürger-schaft war der Adressat des Rituals; sie musste ihr Gedächtnis öko-nomisch einrichten und merkte sich diejenigen Daten besser, die sie mit herausragenden Geschehnissen verband. Das gedächtnismäßige Selektieren hing ab von der Signifikanz der Daten. Je signifikanter ein Ereignis für das Volk war, desto einprägsamer war ein zitierter Name, der zum Ereignis gehörte. Die laudatio funebris sollte markante Eck-daten feierlich aufrufen und im individuellen Gedächtnis der Bürger reaktivieren. Die getreue Wiederholung dieser Eckdaten waren in den Ohren der römischen Bürger vordringlich. Daher brauchte man die laudatio funebris nicht rhetorisch auszuschmücken. Die kunstlosen, katalogartig aufgebauten Aufzählungen im Ahnenlob erzielten beim Publikum eine Wirkung, die vor allem memorialer Natur war.

Die Grenzen eines Kulturbegriffs, der sich vorwiegend an der Materialität der Zeichenträger orientiert, werden damit offensicht-lich. Ahnenmasken waren aus einfachem Wachs gefertigt und haben sich nirgendwo erhalten, dagegen sind von den Ehrenstatuen, die in Rom allerorten standen, einige übrig geblieben. Letztere erscheinen dem modernen Forscher als wichtige Elemente der Memorialkultur; und das ist nicht falsch. Dennoch war die Ahnenmaske mit höherer Signifikanz aufgeladen als die Statue. Bei politischen Auseinander-setzungen beschwor man stets die imagines, kaum oder nie die Sta-tuen.26 Achtet man auf die Besonderheit der Kommunikationsräume, verwundert das nicht: Ehrenstatuen schufen zusätzliche Distinktio-nen zwischen aristokratischen Personen im öffentlichen Raum, aber sie wurden niemals Gegenstand einer rituell gesteuerten kollekti-

26 Flower 1996, 60 ff.

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ven Aufmerksamkeit. Anders die Masken. Eingebettet in rituelle Veranstaltungen,27 übten sie eine weit größere symbolische Wirkung aus als jene. Die Bedeutsamkeit jener öffentlich aufgestellter Statuen besonders geehrter Senatoren hing just an dem Wissen, das die vor-beigetragenen Masken aktualisierten. Das wird deutlicher, wenn man die intermedialen Verweisungen beachtet: Das römische Volk, wel-ches auf dem Forum die laudatio funebris einer großen gens anhörte, bekam einzelne herausragende Ahnen doppelt zu sehen; einerseits sah es deren Ehrenstatuen irgendwo auf dem großen Platz – vielleicht so-gar direkt hinter der Rednerbühne –, anderseits saß derselbe Vorfahr allen sichtbar – als personifiziert erschienener Maskenträger – unter der Rednerbühne und hörte der löblichen Rede zu, in welcher auch an seine Taten erinnert wurde. So wie im Atrium der Vorfahr doppelt präsent war, als gemaltes Bild auf dem Stammbaum am Eingang und als dem Blick entzogene Maske in einem Schrein, dessen titulus ihn lediglich grob charakterisierte, so waren bei diesem festlichen Akt auf dem Forum die hervorragendsten Ahnen auf doppelte Weise an-wesend: in quasi lebendigem, beweglichen Zustand und in unbeweg-lichem, steinernen Zustand. Wir müssen daraus schließen, daß die Aufmerksamkeit der römischen Plebs für die Statuen ihrer großen Senatoren eine erheblich intensivere war als griechische Bürgerschaf-ten sie jemals für ihre Ehrenstatuen aufbringen konnten.

Schlugen die einzelnen gentes unterschiedliche Wege zum Forum und vom Forum zur Grabstätte ein? Da die einzelnen senatorischen Familien verstreut über die Stadt wohnten, konnten die pompae fu-nebres nicht denselben Weg nehmen; zumindest bis in die Nähe des Forums waren die Wege der Prozessionen unterschiedlich. Nun wa-ren die Tempel und die wichtigen Monumente nicht gleichmäßig über das städtische Areal verteilt. Die sakrale und politische Topographie privilegierte manche Stadtteile. Daher ist anzunehmen, daß sämtliche gentes bemüht waren, den Weg ihrer pompae so zu legen, daß der Leichenzug schnell an diejenigen Stellen gelangte, wo die Monumente dichter standen und die Straßen breiter angelegt waren, so daß mehr

27 Dazu: Flaig 1999. Zum Gebrauch von ›Werken‹: Veyne 1992, 70–73. Jegliche Topographie enthält eine mehr oder minder stark gepflegte ›Gedächtnislandschaft‹ (Maurice Halbwachs); überall wimmelt es von ›lieux de mémoires‹ (Pierre Nora), selbstverständlich auch im urbanen Raum Roms (dazu: Hölkeskamp 2001). Siehe auch: Lahusen 1985.

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Zuschauer den Zug betrachten konnten. Auf diese Weise streifte die pompa einzelne Monumente, die sich auf bestimmte Leistungen der trauernden gens bezogen. Sehr alte und berühmte Geschlechter waren so in der Lage, selektierte Stationen in der sakralen und politischen Topographie der Stadt abzuschreiten, um bestimmte Gedächtnisorte anzulaufen, welche für die betreffende Familie besonders ruhmvoll waren.

Karl-Joachim Hölkeskamp hat die Wirkung des Zusammen-spiels verdeutlicht, welches die Prozessionen mit den Monumenten eingingen, die sich entlang der Prozessionswege aufreihten. Es be-wirkte, daß die stadtrömischen Bürger die vielen Statuen, mit denen Rom vollgestopft war, viel besser identifizieren konnten als wir bis-her vermutet hatten. Anders gesagt: Die Statuen in Rom waren viel ›sprechender‹ als anderswo, weil diese Statuen von Augen gesehen wurden, die bei jeder pompa funebris die betreffenden Masken sa-hen und die Taten der Dargestellten zu hören bekamen. Das berührt umgekehrt die politische Topographie Roms. Die politische Funktion der bildlichen Monumente28 wird sinnfällig, wenn man die Ahnen-prozessionen als den entscheidenden Vektor der römischen Memori-alpraxis in die Überlegungen einbezieht: Nicht nur die Ehrenstatuen sprachen in Rom viel vernehmlicher als in einer hellenischen Polis, sondern jene große Menge an Gebäuden, die an Siege oder Ereignisse erinnerten und stets mit Namen verknüpft waren, waren viel leichter auf einer temporalen Achse zu verorten, weil die Rezipienten auf ein Wissen zurückgreifen konnten, welches immer wieder aufgefrischt wurde.29

Daher ist die Frage, wann und wie die römische Historiographie aufkam, für die Analyse der römischen Memorialkultur zunächst ne-bensächlich. Denn eine Gesellschaft mit einer solchen pompa fune-bris braucht keine Historiographie. Noch im des 3. Jhs. hatten die meisten Römer die Chance, zumindest einigen wichtigen pompae funebres beizuwohnen. Gewiß, im Laufe des 3. Jhs. v. Chr. dürfte die Ausdehnung des römischen Siedlungsgebietes in Italien kulturelle Veränderungen mit sich gebracht haben, welche auch die Memorial-praktiken nicht unberührt ließen. Sobald der Großteil der Bürger in einer solchen räumlichen Entfernung von Rom lebte, daß er kaum

28 Dazu: Hölscher 1978 u. 1980, 2001 und 2006; Walter 2004, 131–195.29 Dazu: Hölkeskamp 2001.

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noch einer pompa funebris beiwohnen konnte, dann entstand ein erhöhter Bedarf an neuen Techniken und Modalitäten der Tradie-rung von politisch relevantem Wissen über die Vergangenheit. Das Aufkommen der Historiographie mag hier ihren Ort haben. Es wäre nun zu erwarten, daß die Emergenz dieses neuen Mediums zu signi-fikanten Veränderungen auch in der Gestaltung der pompa funebris führten; doch wahrscheinlich ist dieser intermediale Druck gering gewesen.30 Er mag sogar erlaubt haben, die spezifische Memorierung von Vergangenem in der laudatio funebris vorsätzlich archaisch und elementar zu gestalten.

Jene Memorialpraktiken, die in schriftlosen Kulturen vorherr-schen und ›oral history‹ genannt werden, funktionieren radikal an-ders. Dort kommt Ereignissen oder Personen, die ›ganz alt‹ sind, eine besondere Bedeutung zu; ferner werden Geschehnisse beachtet, die noch in direkter mündlicher Weitergabe enthalten sind. Zwischen den ›Ursprüngen‹ und der unmittelbaren Vergangenheit klafft ein Loch – das so genannte ›floating gap‹ –, sofern nicht ein formiertes kultu-relles Gedächtnis dem entgegenwirkt.31 Dieses Modell des ›floating gap‹ legt Flower für die in der pompa funebris ritualisierte römische Memorialpraxis zugrunde. Doch die römische Erinnerungskultur wi-dersprach dem vollkommen. Sie setzte einen literalen Kontext vor-aus, allein schon deswegen, weil die Taten der Vorfahren schriftlich notiert waren, in Knappstform auf dem titulus. Andernfalls hätten die gentes darauf verzichtet, jene langen Abschnitte der Ahnenserie zwischen den ersten und den letzten imagines in der pompa funebris mitzuführen.

Die pompa funebris funktionierte diesseits der ›oral history‹. Die römischen Bürger konnten in diesem Ritual eine szenographisch ver-gegenwärtigte Vergangenheit als serielle Sukzession von datierbaren Momenten erfahren, eine visualisierte Vergangenheit, homogenisiert und linear verlaufend. Keine andere Kultur des Altertums verfügte über etwas Vergleichbares.

30 Zu diesem Komplex sehr systematisch Walter 2004, 212–356.31 Dazu: Assmann 1992, 48–56 u. 87–93.

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vorbildhaftigkeit und exempla

Im adligen Leichenbegängnis verschränkten sich Grundkonsens und Memorialpraxis: die vorbeidefilierenden Ahnen stellten eine An-sammlung von Vorbildern dar, welche mehr oder weniger bedeutsam waren für die gesamte res publica. Untereinander rivalisierend, be-stätigten die gentes ihren Grundkonsens über die zentralen Normen und bekräftigten deren Geltung für die ganze herrschende Klasse. Jede senatorische pompa funebris betonte visuell, dass die römische Aristokratie eine Normengemeinschaft war.32 An den Ahnenbildern bekundeten sich die familialen Qualitäten, welche auf dieselbe Weise, aber vielleicht mit anderen Akzenten auch bei anderen Familien auftauchten. Jeder Ahnenzug verwies auf die Ahnenserien der ande-ren Familien; die sichtbaren imagines setzten sich in Beziehung zu den abwesenden; und alle zusammen ergaben ein fast vollständiges Verzeichnis sämtlicher vorbildhafter Römer. Aus diesem ständig an-wachsenden Repertoire von erinnerten Personen entnahmen die Rö-mer den allergrößten Teil ihrer exempla.

Die pompa funebris vergegenwärtigte und verfestigte ein beacht-liches Wissen um die römische Vergangenheit. Immer wieder aktu-alisiert und rememoriert, diente dieses Wissen dazu, auf das adlige Verhalten Druck auszuüben, es normativ zu steuern. Politisches Han-deln in Rom war prinzipiell auf den Konsens hin orientiert: auf den Konsens des einzelnen Adligen mit der gesamten Senatorenschaft und auf den Konsens des Senats mit dem Volk. Das berührte die Struktur dieses historischen Wissens ebenso wie seine politische Verwertung. Konsensorientierte Politik braucht viele unbestrittene und verbind-liche Fixpunkte. In Rom waren das die exempla. Exemplum heißt hier: eine vorbildhafte und nachahmbare Handlung eines konkreten Individuums in einer bestimmten Situation, – manchmal auch ein Bei-spiel für ein schlechtes Verhalten, das man nicht nachahmen sollte. Exempla waren mit einem Namen verknüpft und trugen ein fixiertes Datum.33 Da man in den politischen Kontroversen mit exempla argu-

32 Daher tauchen in den erhaltenen Grabinschriften (elogia) dieselben Kerntugenden auf wie in jenen Fragmenten von laudationes, die uns überliefert sind, z. B. die laudatio des L. Caecilius Metellus von 221 v. Chr. (bei Plinius, Naturalis historia VII, 139 f.). Dazu: Kierdorf 1980, 10–21.33 Dazu: Kornhardt 1936; Lumpe 1966. Man kann das römische exemplum als ei-

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mentierte, mussten diese verbindlich sein für den gesamten Adel. Was die Römer mos maiorum nannten – den ›Brauch der Vorfahren‹ – war im strengen Sinne nichts anderes als die durch Präzedenzfälle struktu-rierte Verbindlichkeit von sozialen Normen.34 Es darf nicht verwun-dern, dass bereits die ältesten literarischen Zeugnisse der römischen Kultur den mos maiorum beschworen, in demselben Sinne, wie noch Cicero und Kaiser Claudius dies später taten.35 Diese Verbindlichkeit war unverzichtbar. Indem alle auf dieselben exempla Bezug nahmen, war es fast ausgeschlossen, dass völlig entgegengesetzte politische Vorstellungen auftauchten. Das politische Bedürfnis nach exempla war entsprechend stark; und die pompa funebris antwortete darauf. Wenn beim Leichenbegängnis die Ahnen mit ihren Wachsmasken vorbeidefilierten, dann wandelten auch exempla durch Rom.

Dieser kulturelle Kontext disponierte die Römer dazu, Verhalten an exempla zu messen, und beförderte Wahrnehmungsschemata, die auch außerpolitisches Verhalten mit exempelartiger Signifikanz be-legten, die also Verhalten zu exemplarischem machten. Für die all-tägliche politische Debatte benötigte man eine schmale Quote von exempla aus der stattlichen Menge von vorhandenen Ahnen. Um in politischen Kontroversen mit exempla zu argumentieren, mussten diese verbindlich sein. Der Unterschied zu Hellas ist fundamental; dort genügte es in der rhetorischen Praxis, sich auf mythische Bei-spiele zu berufen; freilich besaßen diese praktisch keinen Verbind-lichkeitswert, denn der Mythos war flexibel und poetisch umgestalt-bar.36 Erfanden Senatoren inmitten einer Debatte eigens exempla, um die eigene Position zu stärken, wären die Gegner ebenfalls dazu übergegangen, ihrerseits zu erfinden, was sie an exempla brauchten. Die Verbindlichkeit hätte sich geschwinde verflüchtigt; und eines der wichtigsten Instrumente senatorischer Argumentierkunst wäre damit unbrauchbar geworden. Als der Volkstribun Tiberius Gracchus 133 v. Chr. einen Kollegen von der Volksversammlung abwählen ließ, musste er hinterher diese unerhörte Tat, welche von keinem Präze-denzfall gedeckt war, in einer Rede vor dem Volke rechtfertigen; in

nen historischen Sonderfall von Kanonisierung im Sinne von Assmann 1992, 103 ff., auffassen.34 Rech 1936; David 1980; David/Dondin 1980; Develin 1987; Mencacci 2001.35 Dazu: Earl 1960, David 1992 u. ders. 1998.36 Bethe 1935.

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großer Begründungsgsnot erging er sich in Analogien, doch unterließ er es füglich, ein exemplum zu erfinden.

Aber bis wohin reichte die Geltung von unbestrittenen exempla? Das war nicht immer im Vorhinein klar. Als im Jahre 209 der Priester (flamen) des Jupiter, C. Valerius Flaccus, den Senat betrat und sich auf das alte Recht der Priester berief, Senatssitzungen beizuwohnen, führte ihn der Praetor P. Licinius aus dem Gebäude: Das Recht dürfe sich nicht auf Beispiele – exempla – stützen, welche zwar aus alten Jahrbüchern entnommen, aber inzwischen außer Brauch gekommen seien; denn weder zur Zeit der Väter noch der Großväter habe ein Jupiterpriester von diesem Recht Gebrauch gemacht. Der Praetor leugnete also nicht, dass exempla vorlagen. Doch er hielt einen äl-teren Brauch nicht per se für den besseren. Die Amtsvorgänger des Valerius Flaccus, hatten, von einem ehemals gültigen Brauch abwei-chend, selbst wiederum einen Brauch geschaffen, der zu respektieren war. Implizit setzte P. Licinius voraus, dass eine solche Abweichung einen Grund gehabt hatte; selbst wenn im Jahre 209 niemand sich mehr an diesen erinnerte, so musste es doch ein allgemein akzeptier-ter Grund gewesen sein. Der ausgesperrte Priester appellierte an die Volkstribunen. Diese entschieden, dass das Amt nicht deswegen ein Recht einbüßte, weil die Amtsinhaber es über einen langen Zeitraum nicht wahrnahmen; und sie führten den flamen in den Senat zurück, unter lautem Beifall des Volkes und unter Zustimmung der patrizi-schen Senatoren.37

Man stritt nicht nur über die Geltung von exempla, man stritt auch über deren Einordnung in die verschiedenen memorialen Ru-briken. Es gab nämlich auch Beispiele für ›schlechtes‹ Verhalten, z. B. Coriolan. Auch solche Gestalten wurden erinnert, aber nicht als ›Vorbilder‹. Ob ein bestimmtes Handeln ›vorbildlich‹ wurde oder nicht, ergab sich gelegentlich erst durch schwere Auseinandersetzun-gen.38 War dieser Kampf um die Bewertung einer Handlung jedoch entschieden, dann wog ein ›exemplarisches‹ Handeln schwer. Denn hinfort konnte man es immer wieder zitieren und für eigene Zwecke verargumentieren.39

37 Livius, ab urbe condita, XXVII, 8.8–10.38 Hierher gehört der Kampf um die damnatio memoriae von umstrittenen Römern.39 Hierzu: Bücher 2006.

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Und vergessen wir nicht, welche Auswirkung dieses Ritual auf das Verhältnis zwischen senatorischer Aristokratie und dem Volk von Rom idealiter haben sollte und oft auch realiter hatte. Die Beziehung zwischen Ritualsemantik und Normengeltung erheischte mehrere soziologisch implementierte Überlegungen. Untereinander rivalisie-rend, bestätigten die gentes ihren Grundkonsens über die zentralen Normen und bekräftigten deren Geltung für die ganze herrschende Klasse. Jede senatorische pompa funebris betonte visuell, dass die römische Aristokratie eine Normengemeinschaft war.40 An den Ah-nenbildern bekundeten sich die familialen Qualitäten, welche auf die-selbe Weise, aber vielleicht mit anderen Akzenten auch bei anderen Familien auftauchten. Die Ahnenserien evozierten ein bestimmtes Wissen um Verhaltensmaßstäbe und Normen und sie dokumentier-ten, dass die Ahnen diesen Maßstäben gerecht wurden. Dieses Wissen stärkte das Vertrauen in die Dauerhaftigkeit der römischen Ordnung und stabilisierte die soziale Hierarchie. Ferner implementierte die-ses Wissen den plebeischen Gehorsam. Denn es bestätigte den ein-fachen römischen Bürgern, dass die adligen Familien zur Gänze im Dienste der res publica standen, dass der Adel wie eh und je sich den Normen der politischen Kommunikation unterwarf und seinem Ethos treu blieb. So half das Wissen mit, den einzigartigen Gehorsam der römischen nichtadligen Schichten auf Dauer zu stellen und die Adelsherrschaft zu stützen. Grundkonsens und Memorialpraxis ver-schränkten sich im adligen Leichenbegängnis.

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40 S. oben, Anm. 32.

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