die ausstellung »synagoga« – annäherungen an das judentum 1960

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VERÖFFENTLICHUNGEN DER LITERATURKOMMISSION FÜR WESTFALEN

BAND 33

HERAUSGEGEBEN VON DER LITERATURKOMMISSION FÜR WESTFALEN

Hartmut Steinecke Iris Nölle-Hornkamp (Hgg.)

Jüdisches Kulturerbe in Westfalen Spurensuche zu jüdischer Kultur in

Vergangenheit und Gegenwart

Symposion in der Akademie Franz Hitze Haus Münster, 19. bis 21. Oktober 2007

AISTHESIS VERLAG

Bielefeld 2009

Abbildung auf dem Umschlag:Jacob Pins: Landscape with Houses and Church Steeple (Höxter)(Holzschnitt, 2 Blöcke, 2000)

Mit freundlicher Unterstützung von

Landschaftsverband Westfalen-LippeUniversität Paderborn

Gesellschaft zur Förderung des Jenny-Aloni-Archivs e.V.Margarete-Schrader-Stiftung Paderborn

© Aisthesis Verlag Bielefeld 2009Postfach 10 04 27, D-33504 BielefeldDruck: docupoint GmbH, MagdeburgAlle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-89528-732-6www.aisthesis.de

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation inder Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographischeDaten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Inhalt

HARTMUT STEINECKE Zur Einführung ..................................................................................... 9 Jüdische Schriftsteller in Westfalen ........................................... 15 SIEGFRIED KESSEMEIER Heimat in der Sprache – Zu den jüdischen Mundartautoren Eli Marcus und Carl van der Linde .......................... 17 MICHAEL VOGT Tante, literarisch ................................................................................... 33 NORBERT OTTO EKE »Ich bin der vielversprechende Jüngling, der nichts gehalten hat.« – Werner Vordtriedes Sehnsucht nach Sprache ..................................... 45 HARTMUT STEINECKE »Ein Bild von mir für mich selbst« – Jenny Alonis Tagebücher ..................................................................... 63 MARIA KUBLITZ-KRAMER Schriftstellerinnen im Exil: Die Bielefelder Schwestern Loewenthal – Zwischenbericht aus einem laufenden Projekt .................................... 83 KAREN GERSHON The Children’s Exodus ......................................................................... 98 JOCHEN GRYWATSCH … aber Steine reden nicht – Zur Darstellung des jüdischen Lebens während der NS-Diktatur in Deutschland in den Jugendromanen von Carlo Ross .......................... 101 J. MONIKA WALTHER Blaue Marzipanpferde .......................................................................... 121 IRIS NÖLLE-HORNKAMP J. Monika Walther – Eine Schriftstellerin auf der Suche ...................................................... 127

Erinnerungen und Würdigungen ................................................. 131 MORITZ REININGHAUS Ausgestoßen sein aus der Geschichte – Zum Tode von Kurt Julius Goldstein .................................................. 133 ROBERT LEICHT Einsames Amt – Paul Spiegel, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, wollte nie moralische Instanz sein – und war es doch. Ein Nachruf ......................................................... 137 IRIS NÖLLE-HORNKAMP Erinnerung an Yehiel Ilsar ................................................................... 139 Erinnerungskultur: Zwei Beispiele ............................................. 143 NORBERT REICHLING Die Ausstellung »Synagoga« – Annäherungen an das Judentum 1960 145 MATTHIAS M. ESTER Erinnerung und Erzählung – Paul Spiegel und Warendorf ................. 177 Exkurs .......................................................................................... 191 WALTER GÖDDEN Späte Vergeltung – Ralf Rothmann arbeitet in Der Windfisch auf seine Weise NS-Vergangenheit auf ............................................... 193 Projekte und Pläne ...................................................................... 211 IRIS NÖLLE-HORNKAMP Die »Memoir-Collection« des Leo Baeck Instituts in New York ....... 213 GABRIELE OSTHUES Jüdisches Kulturerbe in der katholisch-sozialen Akademie Franz Hitze Haus .................................................................................. 235

JULIAN VOLOJ Das »Spurensuche« Projekt .................................................................. 241 DIETMAR HECHT Der Harlekin, das Archiv und die Toten. Gerichtsakte aus der Werkstatt multimedialen Erinnerns am Ahlener Gymnasium St. Michael ................................................... 251 FRITZ OSTKÄMPER Geprägt von seiner Jugend in Westfalen – Der israelische Künstler Jacob Pins .................................................... 265 GIDEON GREIF Gutachten zu Lore Shelleys Büchern The Union Kommando in Auschwitz und Criminal Experiments Of Human Beings in Auschwitz and War Research Laboratories. Twenty Women Prisoners Accounts ............................................................................... 277 MARIA KUBLITZ-KRAMER »… aus der Kindheit vertrieben« – Ein Theaterprojekt ...................... 281 Anhang ........................................................................................ 283 IRIS NÖLLE-HORNKAMP Das Projekt »Jüdische Schriftstellerinnen und Schriftsteller in Westfalen« bis 2008 – Ein Überblick ................................................ 285 Über die Herausgeber und Beiträger .................................................. 297

Die Kunsthalle Recklinghausen (ein ehemaliger Bunker) mit Israel-Fahne

(aus: Ernte der Synagoga. Zeugnisse jüdischer Geistigkeit. Frankfurt/M. 1962)

NORBERT REICHLING

Die Ausstellung »Synagoga« – Annäherungen an das Judentum 19601

Die Befassung der Deutschen mit den Juden in den 1960er Jahren ist ein heikles Kapitel; eine gelassen-kritische jüdische Stimme war es, die dazu folgende Sichtweise vorschlug:

Der Philosemitismus ist heute Überschätzung der Juden, keine Liebe und kein gönnerhaftes Geschenk – sondern eine deutsche Selbsttherapie: eine deutsche Kur gegen einen deutschen Schmerz. Ich glaube, die Juden haben kein Recht, den Deutschen diese Selbsthilfe zu verbieten.2

An Hand einer charakteristischen Station, der 1960/61 in der Kunsthalle Recklinghausen gezeigten Ausstellung »Synagoga. Kultgeräte und Kunst-werke. Von der Zeit der Patriarchen bis zur Gegenwart«, sollen Wege und Nebenwirkungen dieser Selbsttherapie exemplarisch betrachtet werden. Häufigste Spur dieser Ausstellung sind der damals publizierte Katalog und ein Auswertungsband mit dem Titel Ernte der Synagoga von 1962; beide erschienen in großen Auflagen, die sich bis heute in den Antiquariaten be-merkbar machen. Im Falle des Katalogs waren dies zunächst 10.500 Exemplare, dann noch einmal 20.000 nachgedruckte Bände, die kostenlos an Schulen und Bibliotheken verteilt wurden.

Die Zeit um 1960 wirkt inzwischen sehr fern, was sich für heutige Zeit-genossen vor allem an der Sprache der damals Handelnden bemerkbar macht. Dennoch ist die »Synagoga« eine faszinierende Episode3 – und nicht

1 Überarbeitete Fassung meines Vortrags am 20.10.2007. 2 Ludwig Marcuse, zit. nach Leonard Freed: Deutsche Juden heute. Hg. von Hans-

H. Köper. München 1965, S. 67. 3 ... die man auch ein wenig zur Vorgeschichte des heutigen Jüdischen Museums

Westfalen zählen könnte, weil die viel beschworene und tatsächlich gegebene Einzigartigkeit dieses Ausstellungsprojekts deutlich auf das Fehlen kontinuier-licher Informationsmöglichkeiten verwies. So schrieb Adolf Sindler, ehem. Ku-rator der Ausstellung »Hygiene der Juden« auf der Düsseldorfer GeSoLei-Messe 1926, in einem Kommentar des Israelitischen Wochenblatts vom 18. November 1960: »Die ›Synagoga‹ ist eine mit ungewöhnlicher Liebe und vollendetem Ge-schick durchgeführte Ausstellung gewesen. Sie darf nicht ein einsamer Versuch bleiben. Ihr sollte folgen ein Unternehmen, das durch eindringliches unbestreit-bares Material die ungeheure Leistung der jüdischen Menschengemeinschaft für

Norbert Reichling 146

nur eine Episode! Meine These lautet: Die Ende 1960 in Recklinghausen eröffnete Ausstellung »Synagoga« ist eine bedeutende Station öffentlicher und individueller Lernprozesse zum Thema Judentum in der alten Bundes-republik gewesen. Zum ersten Mal seit der nationalsozialistischen Periode wurden hier Kultur und Kultus der Juden in Deutschland einem breiten Publikum präsentiert, dessen Mehrheit zuvor 15 Jahre lang das Wort »Ju-den« nicht in den Mund zu nehmen wagte, dessen Kenntnisse über jüdische Geschichte und Religion minimal waren, einem Publikum, dessen Fragefä-higkeit durch NS-Propaganda, langes beklommenes Schweigen und kon-ventionelle Vorurteile deformiert war.

Insofern behaupte ich, dass diese Ausstellung eine nennenswerte Etappe der bundesrepublikanischen »Vergangenheitsbewältigung« darstellt.4 Wir erhalten hier einen kleinen Einblick in die Entwicklung der (west-)deut-schen5 Geschichtskultur, deren heutige Grundpfeiler – die Anerkennung der NS-Verbrechen gehört zentral dazu – sich nach einem Jahrzehnt des Be-schweigens um 1960 erst im Medium der öffentlichen Kommunikation he-

die Kultur der Welt einem Jeden klar aufzeigt.« (StVAR Recklinghausen, 41-1132) – vgl. auch Hans Chanoch Meyer/Wilhelm Michaelis/Franz Lorenz (Hgg.): Ernte der Synagoga Recklinghausen. Zeugnisse jüdischer Geistigkeit. Frankfurt/M. 1962, S. 203.

4 Diese wird ja manchmal als erst im Jahr 1968 beginnend dargestellt – inzwi-schen wissen wir, dass die Entwicklungen seit den 1960er Jahren auf ein Bünd-nis mehrerer Generationen und Alterskohorten zurückgehen: Der eher theoreti-schen (und nicht selten fabulierenden) Phase nach 1968 ging eine stärker empiri-sche voran, die sich zunächst einmal um einen unverstellten Blick auf die Reali-täten des Nationalsozialismus (und partiell auch der Judenvernichtung) bemühte.

5 Diese Frage parallel für die DDR zu untersuchen, würde hier zu weit führen. Eine gewisse sachliche und zeitliche Nähe ist etwa zu erkennen in der aus christ-licher Perspektive entstandenen (reich bebilderten) Veröffentlichung der (aus politischen Gründen entlassenen) Museumsmacherin Renate Krüger: Die Kunst der Synagoge. Eine Einführung in die Probleme von Kunst und Kult des Juden-tums. Leipzig 1966, in deren Vorwort (S. 9) es heißt: »Keine noch so ehrlich gemeinte Form der Wiedergutmachung kann Geschehenes ungeschehen machen, kann millionenfach zerstörtes Vertrauen wiederherstellen. Dennoch darf diese Erkenntnis nicht zu Resignation und Mutlosigkeit führen. In das so entstehende Vakuum könnte leicht das noch nicht ausgerottete Gift des Antisemitismus ge-träufelt werden. Die folgenden Ausführungen wollen mit Hilfe der Kunst die Kenntnisse über das Judentum fördern.« Dieser Band stellt wohl »die erste Pub-likation über jüdische Kulturgeschichte in der DDR« dar – vgl. Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern (Hg.): Aufbruch unter Dikta-turen. Schwerin 1996, S. 59.

Die Ausstellung »Synagoga« 147

rauszubilden begannen.6 Die geschilderte Annäherung dieser Jahre um 1960 muss von heute aus auch höchst kritisch betrachtet werden – ich will mich aber bemühen, den damaligen Verdiensten und Fortschritten ohne die Ar-roganz späterer Erkenntnismöglichkeiten gerecht zu werden.7

Mit dem Versuch, »Bilder einer Ausstellung« (im Sinne von Exponaten, aber ebenso konzeptionellen Gedanken, Sprachbildern und Sprechweisen) zu vergegenwärtigen, wird nur eine kleine Sonde in das riesige Themenfeld mit den Etiketten »Vergangenheitsaufarbeitung, Geschichtskultur, Ge-schichtspolitik« gelegt; aber auch eine solche Miniatur kann dazu beitragen, neue Facetten aufzuzeigen.8

1. Motive: »moralische Wiedergutmachung«

Dass es mit dem Ausstellungsprojekt »Synagoga« um eine symbolische »Wiedereinbürgerung« der Juden in Deutschland ging, ist in fast allen Quel-len unüberhörbar: »Möge die Ausstellung dazu beitragen, Verständnis und Achtung für unsere jüdischen Mitbürger und den altehrwürdigen jüdischen

6 Zu den historisch-bildenden Ausstellungen der 1960er Jahre vgl. auch Cornelia

Brink: »Auschwitz in der Paulskirche«. Erinnerungspolitik in Fotoausstellungen der sechziger Jahre. Marburg 2000 sowie zusammenfassend Paul Ciupke: »›Ei-ne nüchterne Kenntnis des Wirklichen ...‹ – der Beitrag von politischer Erwach-senenbildung und Ausstellungen zur ›Vergangenheitsbewältigung‹ zwischen 1958 und 1965.« In: Jahrbuch Arbeit –Bildung – Kultur. Hg. vom Forschungsin-stitut Arbeit Bildung Partizipation an der Ruhr-Universität Bochum, Bd. 19/20 (2001/2002), Recklinghausen 2002.

7 ... dies auch im Bewusstsein, dass jede Generation nach 1945 in dieser Frage spezifische Strategien, Möglichkeiten und Borniertheiten an den Tag legt(e). Vgl. Christian Schneider: »Der Holocaust als Generationsobjekt.« In: Mittelweg 36, Heft 4/2004, S, 56-73.

8 Es handelt sich hier um einen Werkstattbericht, der noch viel Forschungsbedarf erkennbar macht. Für diesen Aufsatz wurden in erster Linie die gedruckten Quellen sowie die Archivalien des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghau-sen (im folgenden: StVAR) ausgewertet (und zwar: Bestände 91/912, Nr. 270 – Korrespondenz; Nr. 284 – Korrespondenz; Nr. 305 – Weitergabe nach Frank-furt/M.; Nr. 344 – Korrespondenz/Bd.1-3; Nr. 358 – Eröffnung und Rahmenver-anstaltungen/Bd. 1-4 ; Bestand 41, Nr. 1132 – Ausländische Presse betr. Syna-goga). – Weitere u.U. noch zu erschließende Quellen wären die Akten der unterstützenden Ministerien und Institutionen, der Kooperationspartner und Leihgeber, eine Analyse der Presseberichterstattung sowie Interviews mit den Akteuren und Nachlässe von Beteiligten.

Norbert Reichling 148

Eingangspräsentation »Paix – Friede –Schalom – Peace – Vrede – Pace«

(aus: Ernte der Synagoga. Zeugnisse jüdischer Geistigkeit. Frankfurt/M. 1962)

Kultus, dem die Welt so beachtliche Impulse verdankt, zu wecken und zu stärken,« formulierte z.B. Bundeskanzler Adenauer im Geleitwort zum Katalog.9 Vom Recklinghäuser Oberbürgermeister Heinrich Auge war bei der Eröffnung am 3. November 1960 der Vorsatz zu hören, dass die Schau »einen Beitrag zur moralischen Wiedergutmachung« darstellen solle10 (ohne zu benennen, wofür).

9 Städtische Kunsthalle Recklinghausen (Hg.): Synagoga. Kultgeräte und Kunst-

werke. Von der Zeit der Patriarchen bis zur Gegenwart. Recklinghausen 1960 (ohne Seitenzählung!).

10 Heinrich Lübke u.a.: »Zur Einführung in die ›Synagoga‹«. Ansprachen zur Eröffnung der Ausstellung am 3. November 1960 in Recklinghausen. München 1960, S. 7.

Die Ausstellung »Synagoga« 149

Wie dünn das Eis der Wiederannäherung und Kooperation noch war (die Ausstellungseröffnung erfolgte ein knappes Jahr nach dem internatio-nal beachteten Synagogenschändungs-Skandal von Köln und der folgenden antisemitischen Welle), scheint allen Beteiligten bewusst gewesen zu sein. In einem Brief an den Staatssekretär im Bundeskanzleramt Hans Globke konzediert der Recklinghäuser Oberstadtdirektor Michaelis im März 1960: »Hier und da haben sich allerdings bei den ausländischen Leihgebern Be-denken aufgrund der unerfreulichen Vorkommnisse der jüngsten Zeit be-merkbar gemacht, die wir aber durch persönliche Besuche zu überwinden hoffen.«11 Botschafter Dr. E.F. Shinnar, Leiter der »Israel-Mission«, führte in seinem Vorwort zum Katalog aus:

Zwei Erkenntnisse drängen sich angesichts dieser Werke hohen menschlichen Geistes auf: daß es trotz der Fährnisse der Zeiten in allen Perioden der Menschheitsgeschichte möglich war, Un-vergängliches zu schaffen, um so darzutun, daß die echten Werte der menschlichen Gemeinschaft unantastbar sind. Die weitere Erkenntnis ist die, daß kaum eine andere Generation gelernt hat oder haben sollte, daß das sittliche und moralische Verantwor-tungsbewußtsein und nicht Ungeist und Unfrieden die Grundlage für die Erhaltung unserer Gemeinschaft bilden. Ich erblicke mehr als eine zufällige Koinzidenz darin, daß diese Ausstellung – noch nahe einer unseligen Vergangenheit – inmitten einer der schick-salshaften Perioden veranstaltet wird.

Der »hohe Ton« und bildungsbürgerlich-umständliche Jargon der Geleit-worte, Eröffnungsreden und begleitenden Diskussionen kann aus heutiger Perspektive befremden, weil er ständig (und zugleich in recht schwammiger Weise) den überzeitlichen Wert und »Geist« des verlorenen Judentums he-raufbeschwört. Mit dieser Beschwörung legt diese Redeweise, so muss man kritisch hinzufügen, unterschwellig die relative Irrelevanz des konkreten geschichtlichen Geschehens der vorangegangenen Jahrzehnte nahe:

... die Zeugen dieser uralten Geistigkeit, die in der Kunsthalle von Recklinghausen für kurze Zeit zusammengebracht worden sind, zeigen dem Besucher deutlich, daß den Taten menschlichen Geistes ein zäheres Leben eigen ist, als Staaten, Städten und Völkern«. Versammelt seien in Recklinghausen »Zeichen eines

11 Schreiben vom 4.3.1960, StVAR Bestand 91/912, Nr. 344, Bd. 113.

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Geistes, der über der Geschichte steht – der sich über die Ge-schichte stellt: unverändert wie der Text der Gesetzesrollen.12

Ähnliche Beispiele geschichtsausblendender Rhetorik ließen sich in diesem Zusammenhang mehren.

Um es zunächst einmal ganz schlicht zuzuspitzen: Nicht nur die heute geläufigen und seit den frühen 1980er Jahren eingebürgerten Stichworte »Shoah« und »Holocaust« fehlen naheliegender Weise vollkommen – es gibt in sämtlichen Eröffnungsreden keine Erwähnung von Völkermord, Ausrottung, Massenmord, keinerlei Bemühungen, diese Verbrechen in ir-gendeiner versuchsweisen Form zu benennen, keinen Rückgriff auf immer-hin seit längerem eingeführte Termini und Kürzel wie »Tötungsfabriken« und »Auschwitz«, auch nicht auf den damals gebräuchlichen verharmlo-senden Begriff der »Judenverfolgung« oder auch nur den Begriff des Anti-semitismus, sondern lediglich wenige und äußerst diskrete Hinweise auf etwas, das nicht mehr da ist, »dunkle Schatten«, »Schicksal« und was der indirekten Metaphern mehr sind. Noch die präzisesten der vorfindlichen Ausdrucksweisen – der nordrhein-westfälische Kultusminister Werner Schütz spricht z.B. in seinem Katalog-Geleitwort von der »nationalsozialis-tischen Rassenideologie«, in deren Folge »unseren jungen Menschen unschätzbare kulturelle Werte vorenthalten worden« seien – weisen eine beschämende Schlagseite auf, insofern sie den Folgeschaden der nichtjüdi-schen Mehrheit für das Wesentliche an den NS-Verbrechen halten.

Die »Sagbarkeitsregeln« dieser Jahre, um einen Begriff von Habbo Knoch zu bemühen13, ließen es offenbar nicht zu, klare Worte für die ver-suchte Auslöschung der europäischen Juden zu benutzen – eine Norm, der auch (oder gerade?) die Vertreter der jüdischen Gemeinschaft unterlagen, darunter die mit dem Projekt »Synagoga« sympathisierenden Experten, die in die Emigration vertrieben worden waren. So zog es bei der Eröffnung am 3. November 1960 der Vertreter des Zentralrats der Juden, sein damaliger Generalsekretär Hendrik van Dam, ebenfalls vor, im Ungefähren zu blei-ben: »Es handelt sich hier um ein Unternehmen, das den Geist anspricht und an den Wissensdurst der Menschen appelliert... Aus der Rede des Herrn Oberbürgermeisters ist der dunkle Hintergrund erkennbar geworden,

12 »Gedanken zur Ausstellung« von H.L.C. Jaffé/Stedelijk-Museum Amsterdam,

im Katalog. Der Kunsthistoriker (Hans Ludwig Cohn) Jaffé (geb. 1915 in Frank-furt/M., gest. 1984) wurde 1963 Nachfolger des unten genannten Otto Meyer als Direktor des Jüdisch Historischen Museums.

13 Eingeführt in: Habbo Knoch: Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der westdeutschen Erinnerungskultur. Hamburg 2001, S. 31 und passim.

Die Ausstellung »Synagoga« 151

den Vorgänge bilden, die heute in unser aller Gedanken sind.« (Tatsächlich hatte der Oberbürgermeister nur die oben zitierte knappe Floskel von der Wiedergutmachung gewagt, kein Wort mehr.) Und er fuhr fort: »Es geht hier aber um ein kulturelles Unterfangen, das wir von den Bezirken der Ta-gespolitik freihalten wollen.«14 Konkretere Einordnung als die »Fährnisse der Zeiten« bot auch der schon erwähnte israelische Botschafter nicht auf.

Dennoch zeigt sich aber natürlich in all dieser Indirektheit und Aus-weichargumentation die Bereitschaft, sich an das Geschehene immerhin – über die Vergewisserung des »Verlorenen« – heranzutasten. Im Vergleich dazu muss man in einer anderen Ansprache geradezu einen Fall von »Klar-text« sehen, in der nämlich u.a. die Rede ist von der »Frage, wie wir uns in der Vergangenheit und in der Gegenwart zu den Ereignissen gestellt haben, die jeden von uns so schwer bedrückt. Es ist gut, daß sich diese Frage stellt – für den Einzelnen, der schuldig oder unschuldig überlebt hat, und für un-ser ganzes Volk.« Der Redner wünschte sich, »daß diese Ausstellung mehr werde als ein kunsthistorisches Ereignis« und bekannte sich zur »morali-schen und materiellen Wiedergutmachung« sowie der Pflicht, »jede Wie-derholung des geschehenen Unrechts und der Greuel unmöglich« zu ma-chen. Älteren Leser/innen wird es einen kleinen Enttypisierungsschock zu-muten, dass diese Worte ausgerechnet von Bundespräsident Heinrich Lübke stammen, der nicht gerade als sensibler Geschichtspolitiker, sondern eher als Mitwisser rassistischer NS-Zwangsarbeit in das kollektive Gedächtnis der Bundesrepublik eingegangen ist.

14 Eine Erklärung hierfür könnte lauten, dass die Exponenten des deutschen Juden-

tums um 1960 noch nicht zu der schwierigen, aber relativ selbstbewussten »Mahner-Rolle« gefunden hatten, die ihnen im Lauf der weiteren westdeutschen Entwicklung von Politik und Kultur aufgedrängt wurde. Zudem konnten die Interessen der Bundesrepublik, sich als »geläutert« zu präsentieren, und die der in Deutschland lebenden Juden, ihre Anwesenheit dort zu rechtfertigen, zu einer quasi spontanen Koalition der »Schönfärbung« führen. Vgl. Hans-Jakob Gins-burg: »Politik danach – Jüdische Interessenvertretung in der Bundesrepublik.« In: Micha Brumlik u.a. (Hgg.): Jüdisches Leben in Deutschland seit 1945. Frankfurt/M. 1988, S. 108-118.

Norbert Reichling 152

Bundespräsident Heinrich Lübke in der »Synagoga« (aus: Ernte der Synagoga. Zeugnisse

jüdischer Geistigkeit. Frankfurt/M. 1962)

2. Entstehung: »dieses große, ja eigentlich weltumspannende Vorhaben«15

Die erhebliche Bedeutung der Recklinghäuser Ausstellung erschließt sich auch aus dem Umstand, dass die Vorbereitung sowie das Bemühen um Zustimmung und Exponate aus Israel und der ganzen Welt ein langwieriger diplomatischer Prozess und, was die Beteiligung und politische Unterstüt-zung angeht, eine »Haupt- und Staatsaktion« war: sowohl innen- als auch außenpolitisch eine große und symptomatische Anstrengung der Bundesre-publik Deutschland (vor der Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Israel!), auf diesem schwierigen Gebiet Reputation und symbolische Aner-

15 Eröffnungsrede von H. Lübke, zit. nach Lübke u.a. (wie Anm. 10), S. 29.

Die Ausstellung »Synagoga« 153

kennung für die Bundesrepublik als ein neues, geläutertes Deutschland zu erlangen.

Die Vorgeschichte der »Synagoga« währte von der Idee bis zur Eröff-nung etwa zwei Jahre. Die Ursprungsidee wurde hier und da Theodor Heuss zugeschrieben, Bundespräsident von 1949 bis 1959, der bei einem Besuch Recklinghausens Anfang 1959 (wohl anlässlich der Ruhrfestspiele) den Vor-schlag lanciert haben soll. Es ist aber erkennbar, dass die ersten Vorarbeiten schon 1958 einsetzten – die Fama der Heuss-Initiative wurde wohl mit takti-schen Hintergedanken in die Welt gesetzt, um die Bedeutung des Projekts und seine politische Unterstützung zu maximieren. Die Hauptarbeit der Vor-bereitung ist aber, so lässt sich rekonstruieren, seit Anfang 1960 geleistet worden (was hohen Respekt vor der Leistung der Hauptakteure nahe legt).

»Am Anfang stand das Unbehagen darüber, dass es hierzulande kein Museum und keine Sammlung jüdischer Kultgeräte und Kunstwerke mehr gibt«, schreiben die Verantwortlichen im Katalog. Zwei Namen müssen hier an erster Stelle genannt werden: der Direktor der Städtischen Kunst-halle Thomas Grochowiak und seine Stellvertreterin Anneliese Schröder. Grochowiak, Jg. 1914, zunächst Dekorateur und technischer Zeichner, dann bildender Künstler als Autodidakt, arbeitete seit 1948 in Recklinghausen. Er war Mitbegründer der Künstlergruppe »junger westen« und einige Jahre als Zeichenlehrer tätig; 1954 wurde er Leiter der Recklinghäuser Museen und damit auch der Kunsthalle Recklinghausen. Dr. Anneliese Schröder, die stellvertretende Museumsleiterin, war Kunsthistorikern. Beide hatten sich – gemeinsam mit ihrer Institution – große Meriten und europaweites Ansehen durch mehrere Kunstausstellungen16 erworben. Diese beiden ha-ben auch – unterstützt durch die Stadtspitze und das Kulturamt – die Haupt-last der Vorarbeiten und der Durchführung getragen und all die erstaun-lichen Manöver der Überzeugungsarbeit, Logistik und Öffentlichkeitsarbeit vollbracht, die die »Synagoga« ermöglichten.

Was sollte gezeigt werden? Erwünscht war eine Gesamtschau jüdischer Kultur und Kunst; daher wurden beinahe alle deutschen Museen ange-

16 ... und zwar zum Beispiel »Beginn und Reife« (1956), »Verkannte Kunst«

(1957), »Schönheit aus der Hand – Schönheit durch die Maschine« (1958), teil-weise Mischungen aus Berufs- und Laienkunst – eine Serie, die beide bis 1980 fortsetzten, A. Schröder als Leiterin auch noch danach – Vgl. Ilina Fach: Aus-stellungspolitik und Didaktik der Ruhrfestspiele Recklinghausen (1950-1974). Inauguraldissertation an der Universität Osnabrück, 1988, http://elib.uni-osnabrueck.de/publications/diss/quellen/fach/titel.htm (Zugriff am 2.1.2008) – weitere Informationen und Bibliographie zu Grochowiaks malerischem Werk unter http://www.grochowiak.com/texte (Zugriff am 2.1.2008).

Norbert Reichling 154

schrieben sowie eine große Zahl sonstiger Sammlungen, Sammler und jüdi-scher Institutionen. Wie man sich denken kann, bedeutete dies einen endlo-sen Schriftverkehr – und gleichzeitig eine interessante Bestandsaufnahme der wenigen Reste jüdischer Kultur, die in Deutschland übrig geblieben waren. Das Ergebnis war anscheinend umfänglicher als von manchen er-wartet; so lautete etwa die erstaunte Rückfrage eines emigrierten Experten aus den USA: »Wie sind Sie zu all den deutschen Museen gekommen, die heute noch jüdisches Kultgerät besitzen und dieses vor den Naziverfolgun-gen bewahrt haben?«17

Die Mühen der Ebene – u.a. die Geringfügigkeit mancher Sammlungen und das ebenso verschwundene Wissen um die Bedeutung von Sammlungs-stücken – lassen sich illustrieren durch ein Schreiben des Frankfurter Mu-seums für Kunsthandwerk vom 7. März 1960, das nach Recklinghausen schrieb:

... muss ich Ihnen leider mitteilen, dass unsere Sammlung an jü-dischen Kultgegenständen vor langer Zeit an das Jüdische Mu-seum hier abgegeben wurde und dort von der Gestapo beschlag-nahmt wurde. Über ihr Schicksal ist hier nichts bekannt. Wir be-sitzen lediglich einen vergoldeten Silberbecher mit getriebenem Blumenmuster, der am Boden zwei hebräische Zeichen trägt. Außerdem besitzt der Mitteldeutsche Kunstgewerbeverein als Leihgabe in unserem Museum ein Tier (Ratte?) aus Eisen, das hebräische Inschriften trägt. Beide Stücke stehen Ihnen gern als Leihgabe zur Verfügung.18

Ungeachtet dieser Schwierigkeiten kam ein imposantes Ausstellungstableau zusammen. So hob eine Pressestimme anlässlich der Eröffnung hervor:

Daß die Ausstellung sich so dicht und reich orchestrieren ließ, ist allerdings einer idealen Zusammenarbeit deutscher und israeli-scher, holländischer und französischer, staatlicher und privater

17 Franz Landsberger (ehem. Leiter des Jüdischen Museums Cincinnati) in einem

Brief vom Frühjahr 1961, vgl. StVAR Recklinghausen, Bestand 91/912, Nr. 344. 18 Ein Museumskollege machte mich darauf aufmerksam, dass ausweichende Ant-

worten und Fehlanzeigen zu diesem Zeitpunkt selbstverständlich auch darauf zu-rückgehen können, dass sich Sammlungsleiter keinen Konflikten und Forderun-gen nach Rückgabe aussetzen wollten. Zur Problematik vgl. auch Jens Hoppe: »Raub oder Rettung? Historische Museen in Deutschland und die Aneignung von Judaica in der NS-Zeit.« In: Sabine Mecking/Stefan Schröder (Hgg.): Kon-trapunkt. Vergangenheitsdiskurse und Gegenwartsverständnis. Essen 2005, S. 347-361.

Die Ausstellung »Synagoga« 155

Helfer zu danken: an der Vorbereitung entzündete sich die Flamme schöner Brüderlichkeit. (FAZ vom 7.11.60)

Und das ist im Ergebnis nicht übertrieben: Die Liste nur der wichtigsten ausländischen Leihgeber-Museen – hier wiedergegeben nach dem Katalog und einem Fragebogen des Conseil international des Musées (heute eher bekannt als ICOM), um dessen Goodwill und Unterstützung sich die Kunsthalle Recklinghausen ebenfalls bemühte – verzeichnet u.a.

Nationalmuseum Belazel, Jerusalem Jewish National Library, Jerusalem Antikensammlung, Jerusalem Tel Aviv Museum Stedelijk Museum, Amsterdam Joods-Historisch Museum, Amsterdam Rijks-Museum, Amsterdam Rijks-Museum Kröller-Müller, Otterlo Galleria d’Arte Moderne, Venedig Musée de Cluny, Paris Musée du Louvre, Paris Musée d’Art Juif, Paris Groninger Stadt- und Landesmuseum Det Kongelige Bibliotek, Kopenhagen Jewish Museum, London Jewish Museum, Cincinnati/Ohio

Natürlich war die Internationalität der Kooperation, dem politischen Klima der Zeit folgend, eine durchaus eingeschränkte: In den Akten finden sich z.B. Briefentwürfe an die Leningrader Museen mit dem Vermerk »nicht abgeschickt«, und die fachlich gesichert erscheinende Beteiligung des Jüdi-schen Museums Prags wurde vom tschechoslowakischen Kulturministerium verboten. Einige Ostberliner Sammlungen trugen aber zur Ausstellung bei.

Zu den mehr als 60 involvierten Museen gesellten sich etwa 40 private Leihgeber – jüdische Gemeinden, Judaica-Sammler, Kunstsammler, aus-ländische Synagogen, aber auch Privatpersonen wie die Künstler Naftali Bezem und Otto Pankok.

Die Kosten der Ausstellung betrugen ca. 310.000 DM – für die damali-ge Zeit und eine Mittelstadt wie Recklinghausen eine ungeheure Summe. Die Ausstellung selbst kostete 249.000 DM (eine Planüberschreitung von fast 70.000 DM!!); der Rest entfiel auf die Rahmenveranstaltungen. In die-sen Zahlen waren die auch nicht unerheblichen Vorbereitungskosten, die u.a. einen erstaunlichen Personaleinsatz und vorbereitende Reisen der

Norbert Reichling 156

Martin Buber und Thomas Grochowiak (aus: Ernte der Synagoga. Zeugnisse

jüdischer Geistigkeit. Frankfurt/M. 1962)

Recklinghäuser Ausstellungsmacher und beratender Experten umfassten, nicht enthalten. Die größten Anteile an der Finanzierung dieses Aufwands trugen das Bundesinnenministerium mit 50.000 DM, weitere Stellen des Bundes (wie das Gesamtdeutsche Ministerium, das Presse- und Informati-onsamt19 und das Auswärtige Amt) mit etwa der gleichen Gesamtsumme sowie das Kultusministerium Nordrhein-Westfalen mit 30.000 DM. Zu den

19 Das Engagement dieser Regierungsstelle verweist deutlich auf den außenpoliti-

schen Zusammenhang dieses wie ähnlicher Ausstellungsprojekte: Sie standen immer im Rahmen der internationalen Präsentation eines »neuen Deutschland« und reagierten gelegentlich auch ausdrücklich auf aus dem »Ostblock« drohende Skandal-Darstellungen. Vgl. Brink (wie Anm. 8), S. 13ff.

Die Ausstellung »Synagoga« 157

weiteren Sponsoren gehörten u.a. der Bundesverband der Deutschen Indus-trie (BDI) und mehrere DGB-Gewerkschaften.20

Bis die etwa 650 Exponate beisammen waren, hatten Grochowiak und Schröder allerdings viele Steine aus dem Wege zu räumen. Das Misstrauen gegenüber dem Projekt war nicht nur in Israel groß, sondern auch im be-nachbarten Ausland. Die Kunsthalle bemühte sich daher um die Einbindung und Fürsprache vieler namhafter und einflussreicher Experten aus dem eu-ropäischen Ausland und delegierte die Kuratorentätigkeit für wichtige Teile der Ausstellung ganz an einen Kollegen aus Israel, Dr. Penuel Kahane, Di-rektor der Staatlichen Antikensammlung in Tel Aviv. Zu den Koopera-tionspartnern vor Ort und Mitgliedern des Arbeitsausschusses gehörte auch Moshe Kaniuk, Leiter des Tel Aviv Museums (und Vater des Schriftstellers Yoram Kaniuk).

Im März 1960 reiste Grochowiak nach Israel; in seinem Gepäck befan-den sich Empfehlungsschreiben von Botschafter Shinnar und dem Zentral-rat der Juden. Das Schreiben des Zentralrats, adressiert »To whom it may concern«, stellte die Initiatoren als integere und wichtige Persönlichkeiten mit hohen kulturellen Verdiensten vor: »Recklinghausen has developed a noble tradition of expositions which are always prepared and exhibited with so much care and expertness that they have drawn favorable comments from all parts of the world.« Der Brief versprach den Unterstützern des Recklinghäuser Plans ein »outstanding event in the history of European expositions«, inbegriffen zu erwartende Hunderttausende Besucher! Die Israel-Besucher rühmten nach ihrer Rückkehr den freundlichen Empfang, und tatsächlich gelang es, die »richtigen Leute« zu überzeugen. Die Quel-len lassen aber ebenso erkennen, dass es sich um ein Unterfangen mit höchst ungewissem Ausgang handelte: Grochowiak hat bei wichtigen Re-gierungsstellen wohl tagelang antichambriert, um überhaupt vorgelassen zu werden; »Das ›Nein‹ lag in der Luft«21, und die Gefahr der Ablehnung war anscheinend erst in letzter Minute des Besuchs im Frühjahr 1960 gebannt. Ohne »Türöffner« wie Martin Buber, der ja stark für die deutsch-israelische Aussöhnung engagiert war, wäre das nicht gelungen; als kontinuierlicher Unterstützer von Grochowiak und Schröder wäre aber auch vor allem Otto Meyer, Direktor des Jüdisch-Historischen Museums Amsterdam, zu nen-

20 Das Bundeskanzleramt – und zwar ausgerechnet in der Person des Staatssekre-

tärs Hans Globke! – bemühte sich um die Erschließung und Koordinierung sol-cher weiterer Geldquellen.

21 Grochowiak – Lübke u.a. (wie Anm. 10), S. 41.

Norbert Reichling 158

nen, der den Recklinghäuser Emissär bei seiner entscheidenden Reise nach Israel begleitete.

Auch im Inland wurde ein stattlicher Aufwand betrieben, um gesell-schaftliche Gruppen, Politik und Sachverstand einzubinden: Das ganze Vorhaben war begleitet von riesigen Gremien aus Beratern und Unterstüt-zern: einem etwa 30köpfigen »Ehrenausschuss« aus Politik und Gesell-schaft, einem Arbeitsausschuss von 18 Fachleuten (u.a. der Judaist und Archivar Bernhard Brilling, Prof. Karl Heinrich Rengstorf vom Institutum Judaicum in Münster, Hans Lamm22 als Kulturdezernent des Zentralrats der Juden) sowie einem zusätzlichen Förderer- und Beraterkreis von Experten, Leihgebern und Geldgebern.

Im Oktober 1960 verzeichnen die Dokumente eine ernsthafte Krise der Vorbereitungen: Die israelischen Leihgeber hatten wohl etwas zu sorglos Leihfristen in Argentinien kalkuliert und damit die Verfügbarkeit zentraler Ausstellungsstücke in Zweifel gezogen. In einem »Brandbrief« mobilisierte Anneliese Schröder den jüdischen Verleger Shlomo Lewin, der sich gerade in Israel aufhielt, als Vermittler: Es sei »katastrophal, wenn der Botschafter Israels vor einem leeren Ausstellungsraum sprechen müsste,« und er möge sich doch um Ersatzexponate bemühen. Nach wenigen Tagen ergab sich als Ausweg: Es wurden für die zum Teil nicht gerade handlichen Ausstellungs-stücke zwei Spezialflugzeuge gechartert, deren Ladung dann aufre-genderweise auch noch im Flughafen Frankfurt am Main für einen Tag ver-loren ging.23

Ein Jahr nach dem Kölner Synagogenanschlag (dem ja – das wird oft und gerne vergessen – in den 1950er Jahren Hunderte von Friedhofsschän-dungen vorangegangen waren24) stellten sich natürlich nicht nur Fragen

22 Zur Biografie Hans Lamms vgl. den soeben erschienenen Band Andrea Sinn:

Und ich lebe wieder an der Isar. Exil und Rückkehr des Münchner Juden Hans Lamm. München 2008.

23 Die Kosten dieser Rettungsaktion sind übrigens im sehr akribischen »Verwen-dungsnachweis« des Projekts nicht erkennbar, also vermutlich durch irgendeinen staatlichen »Reptilienfonds« abgedeckt worden.

24 Der zeitliche Konnex der Recklinghäuser Ausstellung mit dem Kölner Vorfall ist wohl auch ein tatsächlicher – die Bundesrepublik bedurfte in diesem Jahr dringend eines positiven Zeichens ihrer Lernbereitschaft: Allein zwischen dem 24.12.1959 und dem 28.2.1960 gab es in NRW 272 antisemitische und neonazis-tische Nachfolgetaten, was große politische Legitimationsprobleme schuf. (vgl. Jürgen Zieher: Im Schatten von Antisemitismus und Wiedergutmachung. Berlin 2005, S. 154ff. und 272f.) Mit starken Schwankungen begleiteten solche An-

Die Austellung »Synagoga« 159

»Fieberkurve« des Neonazismus aus der Sicht des Bundesinnenministeriums

(aus: Aus Politik und Zeitgeschichte 1963, Heft 14)

Norbert Reichling 160

nach dem Sinn einer solchen Ausstellung in Deutschland für die Leihgeber, sondern auch Fragen der äußeren Gefährdung und Sicherheitsstrategie vor Ort. Dazu nur ein sprechendes Detail aus dem Briefwechsel der Kunsthalle: Während der »Synagoga« war für eine »ständige Tag- und Nachtwache« gesorgt.

3. Konzeption: »Wunder einer Kontinuität«

Nach 1945 handelte es sich bei der »Synagoga« um die erste große Präsen-tation jüdischer Kultur und jüdischen Kultus. Zu fragen bleibt: An welchem Bild vom Judentum arbeitete die Ausstellung – und gegen welches?

(Die zahlreichen Begleitveranstaltungen, mit denen die Ausstellung ein-gerahmt wurde und die sich großer Resonanz erfreuten, können hier nicht angemessen gewürdigt werden – die Berichte darüber sind aber ebenfalls Basis der hier versuchten Zusammenfassung.) Die »Synagoga« wies eine Gliederung in vier Abteilungen auf:

»Die Bibel im Spiegel der Archäologie«: Hier ging es um das Juden-tum der Antike (also die Zeit von etwa 1950 v.Chr. bis zum 6. Jahr-hundert n.Chr.). Gefäße, Münzen, Öllampen illustrierten diese Eröff-nung. »Handschriften – Druckschriften – Grabmale«: Die Darstellung des Judentums als kultureller und religiöser Kraft in der Diaspora und sei-ner Einflüsse dort präsentierte u.a. Torarollen, Haggadot u.a. Gebetbü-cher, Grabsteine. »Kultgeräte für Synagoge und Haus«: Eine Sammlung dinglicher Zeugnisse des Versuchs, jüdische Identität zu bewahren, setzte auf Sy-nagogenmodelle und -fragmente (Toraschreine u.a.), den Schmuck der Tora, Objekte, die mit dem Schabbat zusammenhängen (Kiddusch-becher, Hawdala-Leuchter, Bessamimdosen) sowie rituelle Gegenstän-de zu den verschiedenen Festen des Jahres und des Lebensweges.25

schläge die Bundesrepublik kontinuierlich: Von 1950 bis 1959 war ein Zehntel

der jüdischen Friedhöfe betroffen; Gedenk- und Jahrestage wie der 9. November spielten dabei eine offenkundige Rolle. Bereits 1949 instruierte das Kultusminis-terium NRW auf Drängen der Zentrumspartei alle Schulen, die Schüler zu Be-ginn jeden Halbjahrs über die Verwerflichkeit der Schändung jüdischer Friedhö-fe zu belehren (vgl. Johann Paul: Debatten über Nationalsozialismus und Rechts-extremismus im Landtag Nordrhein-Westfalen von 1946 bis 2000. Düsseldorf 2003). Von 1948 bis 1966 hat das Bundeskriminalamt etwa 300 Schändungen auf den ca. 1.400 jüdischen Friedhöfen konstatiert; vgl. Julius H. Schoeps: »Se-

Die Ausstellung »Synagoga« 161

»Themen des Alten Testaments und Szenen jüdischen Lebens in Dar-stellungen der bildenden Kunst« – Diese Abteilung zeigte vor allem den Reflex biblischer Themen in den jeweils aufnehmenden Mehr-heitsgesellschaften. Zu den Exponaten gehörten hier Skulpturen, Gemälde, Stiche, vom 3. Jahrhundert bis zur Gegenwart, von früh-christlichen Werken über Rubens- und Rembrandt-Bilder bis zu Zeit-genossen wie Morgner, Chagall und HAP Grieshaber.

Als die wichtigste implizite Aussage der Schau muss wohl ihre »Prächtig-keit« angesehen werden. Es wurde schon eingangs unterstrichen: Nicht die Vernichtung der europäischen Judenheit wurde hier thematisiert, sondern der Verlust eines Teils der europäischen und deutschen Kultur. Der Reich-tum jüdischer Kunst war die wichtigste Aussage und diente als Brücke zur Gegenwart und ihren Interessen – zeitlose Werte (aber auch die der mate-riellen Kostbarkeit) werden immer wieder beschworen.

Über Auswahlentscheidungen kann nicht viel gesagt werden. Aber wel-che Objekte und Themen im Mittelpunkt von Ausstellung und Rezeption standen und was die Botschaft sein sollte, ist klar erkennbar:

Synagoga. Das Wort bedeutet Zusammenkunft. Und es soll hier und heute einen ganz besonderen Sinn erlangen, indem hier und heute vielartige Gegenstände aus der jüdischen Vergangenheit – sonst über aller Herren Länder verstreut, Dinge wie Menschen – zusammenkommen im Zeichen des Geistes, aus dem sie entstan-den sind. Und die Zusammenkunft – zwar nicht an geweihtem Or-te, aber geweiht durch die Geschichte, nicht zumindest durch die

pulcra hostium religiosa nobis non sunt. Zerstörung und Schändung jüdischer Friedhöfe in der Bundesrepublik Deutschland seit 1945.« In: Alphons Silber-mann/ders. (Hgg.): Antisemitismus nach dem Holocaust. Köln 1986, S.33-39 – Zu der von diesen und anderen Faktoren ausgelösten Welle des zeitgeschichtli-chen und pädagogischen Aktivismus vgl. u.a. Peter Dudek: »Der Rückblick auf die Vergangenheit wird sich nicht vermeiden lassen«. Zur pädagogischen Ver-arbeitung des Nationalsozialismus in Deutschland (1945-1990). Opladen 1995.

25 Eines der eindrucksvollsten Exponate war wohl die bemalte Holzverschalung der ehem. Synagoge von Horb am Main aus dem Jahr 1735, die – seit 1864 un-benutzt – bereits vor dem 1. Weltkrieg für das Bamberger Städt. Museum gesi-chert worden war und auch die NS-Zeit unbeschadet überstand (und 1968 dem Israel-Museum in Jerusalem als Dauerleihgabe übergeben wurde). vgl. www.ale-mannia-judaica.de/horb_am_main_syagoge.htm.

Norbert Reichling 162

Pessach-Haggadah aus Breslau (1768) (aus: Ernte der Synagoga. Zeugnisse jüdischer

Geistigkeit. Frankfurt/M. 1962)

Die Ausstellung »Synagoga« 163

jüngste – kann das Wunder einer Kontinuität offenbaren, die die Grenzen unseres historischen Bewußtseins übersteigt.27

Eine solche Sprechweise ist wohl auch bei gutem Willen als »Sinngebung des Sinnlosen« zu bezeichnen. Und dass solche Worte auch und gerade von jüdischer Seite kamen, muss man wohl auch als Indiz für die Annahme nehmen, dass die Verarbeitung der Shoah-Erfahrung auch hier, bei der Ge-meinschaft der Betroffenen, noch nicht die Differenz zwischen dem, was später »Zivilisationsbruch« genannt wurde, und der als beinahe normal er-lebten, jedenfalls Jahrhunderte lang erfahrenen Verfolgung ermisst.

Die Sprache der »Wiederannäherung« war, so könnte man als erstes Charakteristikum festhalten, stark dem Bedürfnis nach Normalität, Konti-nuität, oder doch wenigstens Einordnung verhaftet. Wo dies nicht funktio-nierte, wurden Formeln wie »Wunder der Kontinuität« vorgeschlagen. Über allen Texten und Berichten schwebte unendlich viel »Ehrfurcht« – vor al-lem vor der Religion, dem »Heiligen«, der Tradition, vielleicht auch vor der Rettung der ausgestellten Zeugnisse trotz der deutschen Geschichte.

Zweitens: Christliche Metaphern, Haltungen und Traditionen dienten als »Brücke« zum Fremden oder für fremd Gehaltenen. Eine christliche Ge-sellschaft sprach hier vor allem mit sich selbst, und zwar selbstverständlich in ihren Begrifflichkeiten (»Altes Testament«). Der »alte Bund« erschien bei den hier Sprechenden und Schreibenden als etwas, das zu einem fraglos christlichen »Wir« gehört. Diese Gemeinschaft wagte mit der »Synagoga« den »Blick auf eine fremde Welt, die ‚unserem bankrotten Christentum’ so viel geben kann mit ihrer Selbstironie, ihrer Humanität, ihrer Liebe zum Nächsten«28 und versuchte so, ihre Selbstbeschädigung zu heilen.29 Nicht

27 H.L.C. Jaffé: »Gedanken zur Ausstellung Synagoga.« In: Synagoga (wie Anm.

9). 28 Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ) vom 16.1.1961 – Dass diese Färbung

der Erinnerung hier kein zufälliger Zug ist, sondern die Gedenkpolitik im enge-ren Sinne und auch die Gedenkstätten der frühen Bundesrepublik insgesamt von christlich-sinngebenden Narrativen (wie z.B. »Sühneopfer«, »Kreuzweg« und Vergebung) geprägt waren, hat überzeugend u.a. Insa Eschebach (Öffentliches Gedenken. Deutsche Erinnerungskulturen seit der Weimarer Republik. Frank-furt/M. 2005) nachgewiesen.

29 Die Historikerin Monika Richarz geht so weit, der Nachfolge-Ausstellung Mo-numenta Judaica von 1963 – trotz aller Verdienste – eine teilweise sorglose Prä-sentation traditioneller christlicher Antisemitika zu bescheinigen; vgl. dies.: »Die Vita in der Vitrine. Biographische Zugänge in Geschichtsschreibung und Museum.« Festvortrag im Jüdischen Museum Westfalen am 14.1.2004, http://www.jmw-dorsten.de/index.php?action=materialien_vitrine.

Norbert Reichling 164

zu vergessen: Die Rechristianisierung der Menschen wurde in den 1950er Jahren von der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft noch eindeutig als Strategie zur Überwindung der neuheidnischen nationalsozialistischen »Entgleisung« gehandelt, die gemeinsame Rückbesinnung von Christen und Juden auf ihre religiösen Werte als Rezept gegen Nihilismus und Mate-rialismus angesehen.30

Ein drittes Charakteristikum ergibt sich aus der Frage: Wie wurde das meist unausgesprochene Subthema des Massenmords und antisemitischer Kontinuitäten in der Ausstellung und im Begleitprogramm aufgegriffen? Im Aufgang zur eigentlichen Ausstellung gab es eine kurze Einführung in das Thema der Shoah mit einigen Bildern – aber diese Präsentation scheint doch eher eine kleine taktische Vorsichtsmaßnahme gegen etwaige »Ver-drängungs«-Vorwürfe gewesen zu sein und wird auch von ehemaligen Besucher/innen kaum erinnert. Programmatisch bedeutsam erscheint: Es wurden keine »Schockfotos« wie später in den Frankfurter Auschwitz- und Warschauer-Ghetto-Ausstellungen ab 1963 gezeigt31. Primär blieb, wie schon angedeutet, die Rede von »unserem Verlust«, die Darstellung dessen, worum »wir« uns beraubt haben. Probleme des christlichen Antijudaismus wurden – das ist angesichts der religiösen Einfärbung umso bemerkenswer-ter – so gut wie nicht thematisiert. Diese diskreten Aussparungen sind der Ausstellung explizit als Vorzug angerechnet worden, so z.B. in der Westfä-lischen Rundschau vom 4.11.60: »Daß die wenigen Schreckensdokumente der jüngsten Verfolgung fast versteckt auf halber Treppe in einer kleinen Vitrine untergebracht sind: ein paar Fotos, ein junges Mädchen vor dem Transport ins Todeslager 1942, der Abschiedsbrief einer jüdischen Ge-meinde, spricht für den versöhnlichen Geist der Ausstellung.«32 Auch für die Begleitveranstaltungen gilt das hier Gesagte, mit Ausnahme der Film-angebote, die einen deutlichen Akzent gerade auf diese Verfolgungsaspekte legte.33

Viertens und vielleicht am auffälligsten erscheint – und das ist nun doch ein beinahe schockierendes Manko: Jüdische Gegenwart in Deutschland kam in dieser Ausstellung nicht vor! Obwohl viele deutsch-jüdische Exper-ten beteiligt waren, obwohl auch die organisierte Judenheit bei der Konzep-

30 Vgl. Josef Foschepoth: Im Schatten der Vergangenheit. Die Anfänge der Gesell-

schaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. Göttingen 1993, S. 18ff. 31 Vgl. Brink (wie Anm. 8), S. 54ff. 32 Zit. nach Meyer/Michaelis/Lorenz (wie Anm. 3), S. 200 – ganz ähnlich der Vor-

wärts (17.11.1960): »Sie rührt keine bösen Erinnerungen auf.« (ebd. S. 201). 33 Vgl. ebd., S. 192ff. und S. 205.

Die Ausstellung »Synagoga« 165

tion mitsprach, deren politische und geistliche Vertreter ja den Entschluss des »Hierbleibens« verkörperten, erschienen die gegenwärtigen Realitäten des Gemeindelebens – in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre war etwa eine erkleckliche Reihe von nicht mehr provisorischen Synagogen neu errichtet worden, z.B. in den umliegenden Städten Dortmund, Münster und Gelsen-kirchen – wohl als zu unscheinbar. Oder lebten auch die genannten Expo-nenten noch auf »gepackten Koffern«? Jüdische Gegenwart war in der »Synagoga« ausschließlich am Beispiel Israel repräsentiert – ob dies ledig-lich die verständliche teleologische Sichtweise der involvierten Experten aus Israel34 spiegelte oder auch die Perspektive der deutsch-jüdischen Mit-arbeiter, lässt sich nicht abschließend entscheiden; es ist aber jedenfalls Zeichen für ein sehr fragiles Selbstbewusstsein der westdeutschen Juden.35

Zur Ehrenrettung der Handelnden und ihrer Zeitgenossen muss deutlich dazu gesagt werden: In all den auffindbaren sprachlichen Verkrampfungen, Verlegenheiten und Überkorrektheiten, im Ausweichen auf Metaphern und Vagheiten ist deutlich eine große Unsicherheit spürbar. Ein kleiner alltägli-cher Beleg dafür sind etwa die Führungsbestätigungs-Schreiben: »Die dem Andrang geschuldete technische Notlösung der ›Tonbandführungen‹ wird hier mit dem Versprechen untermauert, dass so ›eine sehr exakte Führung durch die Ausstellung‹ gewährleistet sei!« Aber auch die sehr akribischen Literaturangaben des Ausstellungskatalogs vermitteln eine ähnliche Bot-schaft.

34 Exemplarisch ablesbar z.B. im Diktum von Penuel Kahane: »In einer ungeheu-

ren universalgeschichtlichen Spirale vollzieht sich die Geschichte des Judentums vom monotheistisch-ethisch basierten Nationalstaat im Lande der Väter über die Zerstreuung mit ihrem permanenten, die Existenz bedrohenden doppio movi-mento von Tradition und Assimilation bis zur Rückkehr ins Land der Väter in unseren Tagen.« (Eröffnungsrede, in: Meyer/Michaelis/Lorenz (wie Anm. 3), S. 17-20, hier: S. 18.)

35 Der britische Historiker A. Kauders hat überzeugend dargelegt, wie solche Schieflagen zustande kommen konnten: Er zeigt die Härte, mit der die westdeut-schen Juden über viele Jahre von der internationalen und israelischen Judenheit ausgegrenzt und als ehrlos beschimpft wurden, unwürdig des Rückkehrrechts nach Israel, und bis in die späten 60er Jahre hinein ausgeschlossen aus interna-tionalen Verbänden. Erst seit Mitte der 60er Jahre lockerte sich dieser Druck: Ein Recht auf das Dasein in Deutschland wurde nunmehr klar und selbstbewusst geäußert, eine sichere Etablierung der als Experiment gestarteten Demokratie in (West-) Deutschland konstatiert. Vgl. Anthony D. Kauders: Unmögliche Heimat. Eine deutsch-jüdische Geschichte der Bundesrepublik. München 2007, S. 90ff.

Norbert Reichling 166

Führung einer Frauengruppe (aus: Ernte der Synagoga. Zeugnisse

jüdischer Geistigkeit. Frankfurt/M. 1962)

4. Resonanzen: »Alles atmet Frieden, Ruhe, Dauer.«35

Nach der feierlichen Eröffnung der Ausstellung mit prominenter Beteili-gung aller gesellschaftlichen Gruppen überwog wohl bei den Beteiligten die große Erleichterung, dass es »gutgegangen« ist – als exemplarische Stimme sei Hans Lamm zitiert, Kulturdezernent des Zentralrats der Juden, der am 8. November seine »ehrlich-bewundernde Anerkennung zum groß-artigen Gelingen der Synagoge« (sic!) an die Kunsthalle-Verantwortlichen telegrafierte.

Recklinghausen erlebte einen Besucheransturm, der die Initiatoren mit Stolz erfüllte, aber auch vor manches Problem stellte: Insgesamt wurden 32.000 Eintrittskarten verkauft. Angesichts der Überforderung der drei auf

35 Willy Haas in seiner Welt-Rezension am 8.11.1960 – zit. nach Meyer/Michae-

lis/Lorenz (wie Anm. 3), S. 198.

Die Ausstellung »Synagoga« 167

Führungen vorbereiteten Mitarbeiter setzte man auf modernste Technik: Drahtlos übertragene Führungen konnten stündlich eine 50köpfige Gruppe über Kopfhörer »versorgen«; darüber hinaus wurden »Tonbandführungen« veranstaltet. Bis zu 9 Gruppen waren zeitweise in der Ausstellung zur glei-chen Zeit unterwegs, gelegentlich musste der Einlass geschlossen werden.

Alle Berichte betonen den hohen Anteil ausländischer Ausstellungsbe-sucher/innen und deren sehr vielfältige Zusammensetzung: aus christlichen Gemeinden und Gewerkschaftsgruppen, Kunstvereinen und christlich-jüdischen Gesellschaften, Polizei- und Bundeswehr-Gruppen, aus Schulen und Volkshochschulen, Universitäten und Medien. Das Anmeldebuch vom Januar 1961 nennt z.B. für einen Tag: Obersekunda Staatl. Aufbauschule Recklinghausen, Berufsschule Recklinghausen, Schutzpolizei Recklinghau-sen, Höhere Handelsschule Recklinghausen, Gymnasium Petrinum Reck-linghausen, St. Ursula-Gymnasium Dorsten, Bergschule Bochum, katho-lisch-theologische Fakultät der Universität Münster, Altershilfswerk Reck-linghausen, Bergwerksgesellschaft Hibernia Herne, Pädagogische Akade-mie Wuppertal, Sozialbildungsgemeinschaft Düsseldorf, DGB Kreis Reck-linghausen, 120 Angehörige der Bundeswehr, Volksbildungswerk Bad Homburg, die Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit Essen und Münster, Evang. Kirchengemeinde Waltrop, die Polizeipräsidenten des Landes NRW, Kunstverein Duisburg, die Volkshochschulen Bremen und Warendorf, Berufsschule Bielefeld, Diakonissenanstalt Kaiserswerth, Pre-digerseminar Soest, Gemeindehelferinnen aus Essen, Rotary-Club Reck-linghausen, Kolpingfamilie Hamm, katholische Geistliche aus Holland, Müttergemeinschaft St. Peter Recklinghausen.37

Die überwältigende Presseresonanz kann nicht einmal umrisshaft wie-dergegeben werden. Die meisten Berichte legten Wert auf die Feststellung, dass hier zwar auch wichtigste Kenntnisse vermittelt würden, aber auch etwas Weitergehendes, nämlich geistiger Halt: Es gehe nicht bloß um »un-verbindlichen Humanismus«, sondern es werde das Wesen des jüdischen Volkes in seiner Religion aufgezeigt (Echo der Zeit, 13.11.60). Unter Beru-fung auf Martin Buber, der sich immer geweigert habe, gegen etwas, z.B. den Antisemitismus, zu kämpfen, finden wir die schillernde Feststellung, »daß eine Darstellung der jüdischen Religion unter Ausschluß von Propa-ganda und bloßer Demonstration eines guten Willens mehr zur Beseitigung alter Vorurteile beitragen wird, als eine im luftleeren Raum vor sich gehen-de Auseinandersetzung mit der inzwischen zur Phrase degradierten ›unbe-

37 Vgl. Thomas Grochowiak: »Über die Ausstellung Synagoga.« In: Meyer/Mi-

chaelis/Lorenz (wie Anm. 3), S. 37ff.

Norbert Reichling 168

wältigten Vergangenheit‹« (Kölner Stadt-Anzeiger, Vorbericht Juli 1960).38 Die auch hier anzutreffenden Überfrachtungen – als nationale Aussöh-nungs-Angelegenheit, als persönliche Offenbarungen usw. – seien hier bei-seite gelassen, wiewohl die mögliche lebensgeschichtliche Bedeutung für einzelne BesucherInnen sicherlich kaum zu unterschätzen ist.

Auch das die Ausstellung begleitende Veranstaltungsprogramm kann hier nicht ausgiebig gewürdigt werden; Konzerte, Vorträge, Filmvorfüh-rungen und eine Podiumsdiskussion wurden aber als wichtige Bestandteile des bildnerischen Gesamtauftrags angesehen. In den ersten fünf Wochen der Laufzeit fanden in Recklinghausen neben der Eröffnungsfeier und ei-nem Konzert synagogaler Musik fünf Vorträge (u.a. »Die Eigenart des heb-räischen Denkens«, »Der Beitrag des Judentums zur modernen bildenden Kunst« und »Die Geschichte des Judentums in der Moderne«) sowie fünf Filmveranstaltungen (z.B. »Nacht und Nebel« und »Ehe im Schatten«, teilweise mit Beiprogramm oder Einführung), die mehrfach angeboten wurden, statt. Ob die ursprünglich von den Planern verkündete Intention, mit diesen Veranstaltungen bundesweites Interesse zu wecken, erfüllt wur-de, ist nicht zu beurteilen.

Angesichts der guten Resonanz und der begeisterten Besprechungen wurden die Recklinghäuser von einer Flut an Wiederholungswünschen überschwemmt (u.a. aus Frankfurt, Hamburg, München, Zürich, Amster-dam, auch von der Union of American Hebrew Congregations in New York). Das Ausmaß solcher Anfragen war offenbar zum Verzweifeln, denn Grochowiak bat u.a. die Redaktion der FAZ dringendst, über die Unmög-lichkeit der Fortsetzung an anderem Ort in ihrem ganzen Einzugsbereich zu berichten. Dennoch wurde dieser Wunsch, auf den die Vielzahl der Leihge-ber nicht vorbereitet war, an einer Stelle, in Frankfurt am Main, noch im Jahr 1961 erfüllt: Hier konnten wesentliche Teile der Recklinghäuser Schau, vor allem reduziert um den kunstgeschichtlichen letzten Teil, vom 17. Mai bis zum 16. Juli 1961 im Historischen Museum der Stadt gezeigt werden. Unter dem leicht modifizierten Titel »Synagoga. Jüdische Altertü-mer, Handschriften und Kultgeräte« fand sie auch hier viele Besucher/in-nen.39

38 Zit. nach Meyer/Michaelis/Lorenz (wie Anm. 3), S. 198. Wir lernen hier, dass

der Überdruss an der »Vergangenheitsbewältigung« nicht ganz neu ist – im Ge-genteil, er begann, bevor diese eigentlich begonnnen hatte!

39 Die Reduzierung ging auf einzelne Leihgeber zurück, aber auch auf Platzprob-leme in Frankfurt. Vgl. Synagoga. Jüdische Altertümer, Handschriften und Kult-geräte. Frankfurt/M. o.J. (1961).

Die Austellung »Synagoga« 169

Forumgespräch »Gibt es eine jüdische Geistigkeit?« am 15.1.1961 (aus: Ernte der Synagoga. Zeugnisse

jüdischer Geistigkeit. Frankfurt/M. 1962)

Thomas Grochowiak, der Ausstellungsleiter, berichtete in einem Brief

vom 3. März 1961, dass er soeben die letzten Leihgaben zurückgegeben habe, und resümierte: Die Ausstellung war »nicht nur ein zahlenmäßiger, sondern auch ein moralischer Erfolg.«39 Und an anderer Stelle: »Wir glau-ben, dass alle Besucher, dass insbesondere unsere Jugend den mahnenden Wert für die Menschheitsgeschichte in der Synagoga gespürt hat. Möge sich die Erinnerung an dieses Erlebnis im Herzen dieser Jugend eingraben, auf dass nie wieder geschehe, was geschehen ist.«40 Dass Grochowiaks Worte so deutlich nüchterner klingen als ein Großteil der sonstigen Be-gleitworte, will ich zum Anlass nehmen, noch einmal zu betonen, dass die Ausstellung selbst eine äußerst sachliche Angelegenheit war im starken Kontrast zu all den rhetorischen Überhöhungen, die hier referiert wurden. Ihre partiell sehr hohe Reflexivität vermittelt sich in vielen Details, etwa

39 StVAR Recklinghausen, Bestand 91/912, Nr. 344, Bd. 2. 40 Zit. nach Meyer/Michaelis/Lorenz (wie Anm. 3), S. 44.

Norbert Reichling 170

in der Beachtung ungewollter Bildbotschaften. (Die Eröffnungseinladung z.B. enthielt entgegen offenbar naheliegenden Reflexen und ersten Planun-gen dann doch keinen Grabstein.)

5. Stellenwert: »keine museale Angelegenheit«

Der Anspruch der Ausstellungsmacher, etwas für die deutsche Gegenwart von 1960 Relevantes zu vollbringen, sollte ernst genommen werden. Und was immer wieder von den Verantwortlichen postuliert wurde – sie dürfe, in den Worten von Karl-H. Rengstorf, »keine museale Angelegenheit« sein – gilt meines Erachtens auch für die heutige Befassung mit diesem Projekt: Inwiefern war die Schau symptomatisch für diesen Zeitraum und seine Bil-der vom Judentum? Und welche der damals identifizierbaren Probleme sind geschichtlich erledigt, welche nicht?

An der jedem klaren Wort ausweichenden, aber dennoch moralisch und politisch stark aufgeladenen »Umweg-Thematisierung« der damals 15 Jahre zurückliegenden NS-Judenvernichtung kann beobachtet werden, auf wel-chen Wegen die bundesdeutsche Gesellschaft es erlernte, überhaupt wieder über Juden, jüdische Gemeinden, jüdische Religion und Kunst (und auch über Israel) zu sprechen, sich zu informieren, zu debattieren: mittels der Thematisierung der vermeintlichen und wirklichen religiösen Nähe zwi-schen Juden und Christen, zwischen »Altem« und »Neuem Bund«. Die Tat-sache, dass diese Lernwilligkeit überdeutlich herausgestrichen und insze-niert (vielleicht auch politisch instrumentalisiert) wurde, darf nicht verde-cken, dass es diese Lernprozesse seit dem Ende der 50er Jahre auch tatsäch-lich gegeben hat.

Der fundierte museologische Zugriff der Recklinghäuser Ausstellungs-macher – mit viel externer Hilfe – kann auch als ein Versuch gesehen wer-den, die schwierigen Diskurse über das (vernichtete) Judentum hindurch-zusteuern zwischen einer Apologie der Mehrheitsgesellschaft (wie bis ca. 1958 gesellschaftlich vorherrschend) und einer direkten Anklage der »Mit-täterschaft« (wie in den 60er Jahren beginnend). In dieser Sachlichkeit liegt eine klare und sicher nicht zufällige Parallele zu jener »Nüchternheit«, die etwa im gleichen Zeitraum als Programmatik der neuen Disziplin »Zeitge-schichte« intensiv beschworen wird, aber auch zu den Anfängen einer wis-

Die Austellung »Synagoga« 171

»Drahtlose Führung« einer Bundeswehrgruppe (aus: Ernte der Synagoga. Zeugnisse

jüdischer Geistigkeit. Frankfurt/M. 1962)

senschaftsgeleiteten, von kulturkritischem Geschwätz sich abkehrenden historisch-politischen Jugend- und Erwachsenenbildung ab 1960.41

Der unbeholfene Neuanfang auf diesem Gebiet braucht nicht unkritisiert zu bleiben – z.B. in der selbstbezüglichen Tendenz der Mehrheit, mit der Anerkennung des Judentums als unverzichtbares Element europäischer Tradition, in der Würdigung seiner geistigen Verbindung mit dem Christen-tum und seiner »Beiträge« zu Wissenschaft und Kultur vor allem die Selbstamputation der deutschen Bildungstradition zu konstatieren und zu beklagen. Trotzdem ist festzuhalten: Diese meist schiefen, oft peinlichen Diskurse stellten den Anfang einer Such- und Öffnungsbewegung dar – z.B. war schon vier Jahre später eine beeindruckende, nüchterne Fotorepor-tage des Magnum-Fotografen Leonard Freed über »Deutsche Juden heu-

41 Vgl. Paul Ciupke/Norbert Reichling: »Unbewältigte Vergangenheit« als Bil-

dungsangebot. Das Thema »Nationalsozialismus« in der westdeutschen Erwach-senenbildung 1946 bis 1989. Frankfurt/M. 1996, S. 57ff.

Norbert Reichling 172

te«43 möglich – von der ebenfalls Mitte der 60er Jahre einsetzenden Kon-junktur der NS- und KZ-Ausstellungen, die 1959/60 noch ein krasses und im politischen Abseits eingemauertes Minoritäts-Programm waren44, zu-nächst zu schweigen.

Das Recklinghäuser Modell wurde in größerem Umfang mit der »Mo-numenta Judaica« in Köln 1963/64 wiederholt – und da bereits deutlich umfassender – nämlich historisch viel breiter eingebettet. Es gab z.B. eine umfängliche Abteilung »Dokumentation der politischen, rechtlichen, sozia-len und wirtschaftlichen Geschichte der Juden in Deutschland« einschließ-lich zweier Abschnitte über jüdische Gemeinden nach 1945 und die Mahn- und Denkmalskultur nach dem 2. Weltkrieg. Auch die Resonanz war be-deutend größer im Fall der Kölner Ausstellung, die von 115.000 Besu-cher/innen beachtet wurde. 45

Kleinere mit der »Synagoga« vergleichbare Projekte hat es aber in den Folgejahren noch mehrere gegeben: Unter dem Titel »Jüdisches Jahr – Jü-discher Brauch« zeigte das Landesmuseum Münster 1972 eine Schau aus inländischen Exponaten unter der Leitung von Dr. Zvi Sofer und berührte neben den religiösen Aspekten auch landesgeschichtliche Themen jüdi-schen Lebens in Westfalen. Eine Ausstellung »Jüdischer Alltag, Jüdischer Festtag« wurde 1974/75 an mehreren Orten der Bundesrepublik gezeigt – in Lübeck, Duisburg und Hannover nämlich. Sie war ebenfalls von dem Ju-daisten Zvi Sofer (Institutum Judaicum Delitzschianum) aus Münster kon-zipiert und kuratiert, von ungefähr den gleichen inländischen Leihgebern

43 Siehe Leonard Freed: Deutsche Juden heute. Hg. von Hans-H. Köper. München

1965. 44 Die Jahre 1960 bis 1965 weisen eine signifikante Häufung von Ausstellungen

zum NS-Regime auf – waren Bilder besser als andere Medien geeignet, die Bar-rieren des »kommunikativen Beschweigens« zu überwinden? Neben der studen-tischen Initiative »Ungesühnte Nazijustiz« von 1959 – vgl. Michael Kohlstruck: »Das zweite Ende der Nachkriegszeit. Zur Veränderung der politischen Kultur um 1960«, in: Gary S. Schaal/Andreas Wöll (Hgg.): Vergangenheitsbewälti-gung. Modelle der politischen und sozialen Integration in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte. Baden-Baden 1997, S. 113-127 – wären als frühe Pio-nierprojekte zu nennen »Massenmord im Zeichen des Hakenkreuzes« (Februar 1961 in München) sowie »Die Vergangenheit mahnt« (Januar 1961 in Berlin). Vgl. auch Ciupke (wie Anm. 6), S. 243ff.

45 Monumenta Judaica. 2000 Jahre Geschichte und Kultur der Juden am Rhein. Katalog. 2. Aufl. Köln 1964. Zugleich erschien auch ein mehr als 800 Seiten umfassendes wissenschaftliches »Handbuch« unter dem gleichen Titel, hg. von Konrad Schilling – s. auch Brink (wie Anm. 8), S. 77.

Die Ausstellung »Synagoga« 173

bestückt und sollte laut Katalog »hinführen zum besseren Verständnis eines noch immer weitgehend unbekannten religiösen Lebensbereichs.«46

Aber das Beispiel der »Synagoga« ist auch in weiteren Hinsichten von Belang: Einige zentrale und noch heute virulente Fragen von Ausstellungen und Museen über das Judentum nach dem »Zivilisationsbruch«, nach der versuchten Auslöschung der Juden scheinen bereits auf am hier präsentier-ten Recklinghäuser Beispiel: Was kann und muss man für das Zentrum jüdischer Identität(en) halten – Religion, Kultus und Tradition, eine ge-meinsame Geschichte? Welche Brücken baut sich die Mehrheitsgesell-schaft, um Zugänge zur belasteten Geschichte zu finden – die jüdisch-christlicher Gemeinsamkeiten, z.B. die einer einigenden »Geistigkeit«? Und vor allem das Grundproblem: Wie und aus welcher Perspektive wird das historische Wechselspiel von Integration und Ausgrenzung gespiegelt, vom Ende der Katastrophe her, von den Phasen gelungener Symbiose und Akkulturation, von der teleologischen Perspektive des Eretz Israel her? Und welche kulturellen, wissenschaftlichen und kulturpolitischen Stellvertreter-Akte für die vernichtete bzw. in ihrer Artikulationsfähigkeit eingeschränkte Minderheit von Seiten »wohlmeinender Dritter« sind, um diese jüdische Geschichte heute und zukünftig zu präsentieren, notwendig und legitim, welche nicht?47

Die Frage, ob dies noch die Probleme heutiger jüdischer Museen sind, muss im Großen und Ganzen bejaht werden. (Und manche Frage hat sich verschärft, weil 2008 z.B. bei den Quellen jüdischer und anderer Identitäten nicht mehr umstandslos vom »Volk« gesprochen wird...) Als neues Hinder-nis einer angemessenen Annäherung an die ganze jüdisch-deutsche Ge-schichte und an jüdische Kultur ist sicherlich seit den 80er Jahren eine gewisse »Holocaust-Fixierung« hinzu gekommen, die Juden ausschließlich

46 Jüdisches Jahr – Jüdischer Brauch. Ausstellung im Landesmuseum Münster

vom 7. November bis 4. Dezember 1972. Münster o.J.; Jüdischer Alltag, Jüdi-scher Festtag. Münster o.J.

47 Vgl. zur Historisierung der Geschichte und zu den verschiedenen Generationen jüdischer Museen: Sabine Offe: Ausstellungen, Einstellungen, Entstellungen. Jüdische Museen in Deutschland und Österreich, Berlin 2000; Fritz Backhaus: »Deutsch-jüdische Geschichte im Museum. Ein geschichtspolitisches ›Happy-End‹?« In: Olaf Hartung (Hg.): Museum und Geschichtskultur, Bielefeld 2006, S.172-183; Katrin Pieper: »Zeitgeschichte von und in Jüdischen Museen. Kon-texte – Funktionen – Möglichkeiten.« In: Zeithistorische Forschungen, Online-Ausgabe, 4/2007, Heft 1 und 2, URL: http://zeithistorische-forschungen.de/ 16126041-Pieper-2-2007 (letzter Abruf 5.4.2008)

Norbert Reichling 174

als Opfer wahrzunehmen neigt.48 Weiterhin aber gilt – wie 1960! – für die-jenigen, die sich für »jüdische Themen« interessieren:

Es gibt ein eklatantes Unwissen, oft auch große Ignoranz gegenüber dem gegenwärtigen jüdischen Leben in Deutschland.

Die »Befangenheit« nach der und durch die Shoah ist verändert, aber nicht gewichen: offenes Fragen und Debattieren, auch und gerade in päda-gogischen Kontexten, sind selten.

Der umarmende christliche Philosemitismus, der den »Alten Bund« gern als Vorgeschichte anerkennt, zu Reisen ins »Heilige Land« motiviert, sich aber sonst zu keiner Perspektivenerweiterung auf jüdische Innensich-ten bereit zeigt, ist nicht ausgestorben, obwohl in den theologischen Debat-ten der großen Kirchen weitgehend überwunden.

Vorschnelle Vergleiche und Gleichsetzungen zwischen den Religionen (heute auch stark gegenüber dem Islam) sind nicht immer geeignet, das Wesen jüdischer Religiosität zu erhellen.

Der Überdruss an der sogenannten Vergangenheitsbewältigung und der Schuldabwehr-Antisemitismus49 haben weiterhin eine solide gesellschaftli-che Mehrheit hinter sich.

Besondere Sicherheitsmaßnahmen – z.B. in Form der Polizeiwagen vor jüdischen Gemeinden und Museen – scheinen immer noch, ja verstärkt notwendig.

Jegliche Vermittlungsarbeit zum Thema »Juden« ist auch heute noch mit völlig absurden Ansprüchen überfrachtet: Ob nun ein Ministerpräsident jeden Jugendlichen einmal in die Gedenkstätte Auschwitz schicken will, ob sich Lehrer oder Richter vom Anschauen bestimmter Filme eine Läuterung devianter Jugendlicher versprechen oder jüdische Museen, Zeitzeugen und Zeugnisse gegen Neonazis zum »Einsatz« kommen – die unausgesprochene Erwartung eines Erweckungserlebnisses ist da meistens nicht fern. Dies ist angesichts der Größe des Nichtwissens und der anhaltenden Vorurteile eine verständliche, aber nichtsdestoweniger unsinnige und schädliche Haltung.

48 Insofern führen viele reflektierte Experten, Gedenkstätten und Museen seit meh-

reren Jahren einen »Normalitätsdiskurs«, der die Phasen und Erfahrungen des produktiven Zusammenlebens (über)akzentuiert; vgl. die Empfehlungen der Leo-Baeck-Institute zur deutsch-jüdischen Geschichte (http://www.juedisches museum.de/materialien/orientierungshilfe.html).

49 Die »ideologiearmen« Varianten des zeitgenössischen Antisemitismus werden oft zusammengefasst unter dem Begriff des »sekundären Antisemitismus« – vgl. Philipp Gessler: Der neue Antisemitismus. Hinter den Kulissen der Normalität. Freiburg 2004.

Die Ausstellung »Synagoga« 175

Ein solches Resümee stellt nicht gerade eine Einladung zum Optimis-mus dar – und es ist auch noch kein vollständiges Bild. Denn es muss er-gänzt werden: Wir haben außerdem ein gegenüber den 1960er Jahren enorm verändertes Reflexions- und Forschungsniveau, es gibt eine relevan-te Zahl artikulationsfähiger und -williger jüdischer Intellektueller (auch solcher, die Ausstellungen und Museen managen), mit uns leben seit 1990 wieder auflebende Gemeinden, starke interessierte und relativ gut infor-mierte Minderheiten wirken in allen Teilen unserer Gesellschaft (auch in der »Provinz«). Und nicht zuletzt: es gibt, bei allem Ungenügen im Einzel-fall, deutlich mehr museale, pädagogische und wissenschaftliche Professio-nalität. Eine neue Generation von Museen und Mitarbeiter/innen geht an die komplizierten Fragen der Vermittlung mit gewachsenem Problembe-wusstsein heran und lässt diese Reflexivität auch in den Ausstellungen spürbar werden. Mit einer alten Metapher gesprochen: sie sind Zwerge auf den Schultern von Riesen, die weiter sehen als diese.

Die Konjunkturen der deutschen Geschichtskultur bewegen ihre Be-obachter immer wieder zu der Sorge, es drohe der Umschlag in ein selbst-bezügliches deutsches Opferbewusstsein, in dem alle Reste von Schuld und Scham aufgrund der Shoah ausgelöscht sind. Diese alarmistische Perspek-tive teile ich nicht, sondern sehe die Pendelschläge, Wellen und Skandale der Erinnerung, verstehe auch partiell Unzureichendes wie die Reckling-häuser »Synagoga«-Ausstellung als Elemente eines umweghaften, aber letztlich die Perspektiven erweiternden kollektiven Lernprozesses. Insofern bleibt auch uns, die wir gegenwärtig an jüdische Existenz erinnern – bei aller Skepsis, Vorsicht und Selbstkritik – die berechtigte Hoffnung auf eine gelingendere »Zusammenkunft« mit dieser Kultur und Geschichte als im Jahr 1960 ...