christian-albrechts-universität aspekte von sprachverschiebung und sprachbewahrung am beispiel...
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Christian-Albrechts-Universität
Fachbereich Allgemeine Sprachwissenschaft
Veranstaltung: Mig VI 3 „Sprachkontakt“
Sommersemester 2013
Kursnummer: 050823
Kursleiter: Prof. Dr. John Peterson
Abgabedatum: 10.03.2014
Aspekte von Sprachverschiebung und Sprachbewahrung
am Beispiel Romanes
Matthias Pfleger
Matrikel-Nr..1005474
Holtenauer Straße 186
24118 Kiel
Tel.: 0163 5112190
E-Mail: [email protected]
Hiermit erkläre ich, dass die vorliegende Hausarbeit selbständig verfasst und alle
Quellen genannt wurden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung ........................................................................................................... 3
2. Sprachverschiebung und Sprachtod – ein Definitions-ansatz mithilfe des
„marked bilingualism model“ .............................................................................. 5
2.1 Das „marked bilingualism model“ als Erklärungsmodell für
Sprachverschiebung und Sprachtod..................................................................... 5
2.2 Schlüsse aus dem „marked bilingualism model“ .......................................... 7
3. Romanes in bilingualen Settings – ein sprachhistorischer Abriss ................. 8
4. Sprachgebrauch des Romanes in Deutschland heute .................................. 12
4.1 Formelle und informelle Register – Sprachgebrauch auf gesellschaftlicher
Ebene ................................................................................................................. 13
4.2 Intimregister – Sprachgebrauch auf familiärer Ebene ................................. 15
5. Fazit .................................................................................................................. 17
6. Quellen .............................................................................................................. 20
3
1. Einleitung
Am 14.11.2012 hat Schleswig-Holstein als erstes Bundesland Deutschlands den
Schutz der Minderheit der Sinti und Roma in die Landesverfassung aufgenom-
men. Artikel 5 Absatz 2 (Verf SH 2008) zu nationalen Minderheiten und Volks-
gruppen lautet seitdem: „Die nationale dänische Minderheit, die Minderheit der
deutschen Sinti und Roma und die friesische Volksgruppe haben Anspruch auf
Schutz und Förderung.“ Der Zentralrat der Sinti und Roma bezeichnet dies als
historischen Schritt und erhofft sich davon, uneingeschränkt die eigene Kultur
ausleben zu können (vgl. Verband Deutscher Sinti und Roma 2012). Dazu zählt
unter anderem auch die Sprache Romanes1, die als ein wichtiges Kulturgut gilt
und zur Identifikation mit der eigenen Gruppe dient. In vielen Familien der Sinti
und Roma wird neben Deutsch auch Romanes gesprochen (vgl. Bezirksregierung
Arnsberg/RAA 2011: 70 ff.). Politische Maßnahmen wie der geänderte Artikel 5
Absatz 2, aber auch die Anerkennung als Minderheitensprache in Deutschland
deuten darauf hin, dass das Romanes hierzulande weitestgehend geschützt ist.
Demgegenüber betont Michael Krauss eindringlich die Gefahr von Sprachver-
schiebung und Sprachtod für Minderheitensprachen. Vor gut 20 Jahren schätzte er,
dass bis zu 50% aller Sprachen in den nächsten Jahren aussterben werden und auf
lange Sicht nur 10% aller Sprachen weltweit als sicher gelten (vgl. Krauss 1992:
6 ff.).
Vor dem Hintergrund dieser widersprüchlich erscheinenden Entwicklungen be-
fasst sich diese Arbeit daher in Bezug auf die Situation in Deutschland mit fol-
gender Leitfrage:
1 In der englischsprachigen wissenschaftlichen Literatur wird der Begriff „Romani“ verwendet
(vgl. u.a. Kyuchukov 2010). Im Rahmen dieser Arbeit wird aber an dem deutschsprachigen
Begriff „Romanes“ festgehalten. Er ist zum einen fest im politischen Diskurs verankert (vgl.
Bundesministerium des Inneren: 2011), zum anderen wird er von den Interessenvertretungen
der in Deutschland lebenden Roma verwendet (vgl. Verband Deutscher Sinti und Roma o. J. a).
Die deutschen Sinti bezeichnen ihre Sprache teilweise auch als Rommenes oder Sintetickes
(vgl. Bundesinnenministerium 2011: 35).
4
Ist das Romanes aufgrund des ständigen Kontakts mit anderen (dominanten)
Sprachen von Sprachverschiebung bedroht?
Zunächst werden daher in Kapitel 2 die zentralen Begrifflichkeiten dieser Arbeit,
„Sprachverschiebung“ und „Sprachtod“, definiert. Anhand des „marked bilingua-
lism model“ von Herman Batibo werden - auch auf unter Einbezug des Begriffs
„Sprachbewahrung“ - die Voraussetzungen und Prozesshaftigkeit von Sprachver-
schiebung verdeutlicht.
Im Anschluss werden das Romanes aus einer sprachhistorischen Perspektive her-
aus auf den Kontakt zu anderen Sprachen und die Folgen von Bilingualität unter-
sucht sowie geschichtliche Beispiele für Sprachverschiebung aufgezeigt.
Kapitel 4 beschäftigt sich mit Aspekten der Sprachbewahrung des Romanes hier-
zulande, bezogen sowohl auf gesellschaftlich-öffentliche Faktoren als auch auf
den Sprachgebrauch in familiären Settings.
Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse und der historischen Betrachtung steht das
Fazit unter der Fragestellung, inwieweit Sprachverschiebungsprozesse in Bezug
auf das Romanes im deutschen Raum festzustellen oder zu erwarten sind.
5
2. Sprachverschiebung und Sprachtod – ein Definitions-
ansatz mithilfe des „marked bilingualism model“
2.1 Das „marked bilingualism model“ als Erklärungsmodell für
Sprachverschiebung und Sprachtod
Zur Klärung der beiden Begriffe Sprachverschiebung und Sprachtod sowie der
damit in Verbindung stehenden soziolinguistischen2 Prozesse bietet sich das
„marked bilingualism model“ von Herman M. Batibo an. Aus einer prozessorien-
tierten Perspektive heraus macht Batibo (2005: 87) den Zusammenhang von
Sprachverschiebung und Sprachtod deutlich: „The processes of language shift and
language death are interrelated as usually a language becomes extinct when its
speakers shift to another language.“
Unter „marked bilingualism“ versteht er eine bilinguale Situation, in der zwei
Sprachen mit einem unterschiedlichen Maß an Status und Prestige aufeinander
treffen. Die Zweitsprache L2 ist dabei die dominante Sprache und bietet den Spre-
chern der Erstsprache L1 Aufstiegsmöglichkeiten hinsichtlich ihres Status und den
ihnen offenstehenden Interaktionen. Aus diesem Ungleichgewicht heraus wird die
L1 häufig zunehmend zurückgedrängt (vgl. Batibo 2005: 92).
Das Model beschreibt fünf Phasen bis zum Aussterben der Sprache, die im Fol-
genden vorgestellt werden. Die Phasen sind nicht absolut zu verstehen, sondern
stellen willkürliche Punkte eines fließenden Prozesses dar (vgl. Batibo 2005: 90).
Phase 1 – Relativer Monolingualismus
In dieser Kategorie gibt es zwar einige wenige bilinguale Sprecher und einen un-
regelmäßigen Kontakt mit anderen Sprachen. Doch die große Mehrzahl der Spre-
cher ist monolingual und nutzt die von ihnen gesprochene Sprache L1 in (nahezu)
2 Ulrich definiert Soziolinguistik als linguistische Teildisziplin, die sich der „Untersuchung von
Sprache als sozialem Handeln“ widmet und mit „Sprachvariation …, Sprachwandel …,
Spracherwerb … [und] soziale[r] Kommunikation“ beschäftigt (Ulrich 2002: 265).
6
allen Domänen (vgl. Batibo 2005: 90).
Phase 2 – Bilingualismus mit L1-Dominanz
Unter dem Einfluss einer dominanten und prestigeträchtigeren Sprache L2
(„Zweitsprache“) bildet sich eine bilinguale Sprechergemeinschaft heraus. Die L2
hat dabei einen höheren Status und wird vor allem im Register der formellen Öf-
fentlichkeit (Wirtschaft, Handel, Verwaltung, Diplomatie) und im inter-ethnischen
Kontakt genutzt. Aufgrund der Verwendung innerhalb des Intimregisters (Familie,
Nachbarn) und der Mehrzahl der Domänen sowie des intra-ethnischen Kontakts
bleibt die L1 die häufiger genutzte Sprache (vgl. Batibo 2005: 90).
Phase 3 – Bilingualismus mit L2-Dominanz
In dieser Phase kehren sich die Dominanzverhältnisse um. Die Verwendung der
L1 beschränkt sich häufig auf familiäre oder kulturelle Aktivitäten. Mit Blick auf
das Sprachverhalten kann festgestellt werden, dass die L2 den Sprechern vertrau-
ter ist und sie sich häufiger für die L2 als für die L1 entscheiden.
Diese Phase markiert daher den Beginn der Sprachverschiebung. Dressler/de Cil-
lia (2006: 2259) zufolge kann von Sprachverschiebung gesprochen werden, wenn
sich die Muster der Sprachwahl „diachron zugunsten einer (dominanten) Sprache
und zuungunsten einer (rezessiven) Sprache verändern“.3 Wählen Eltern bei-
spielsweise die L2 als bevorzugte Sprache, kann das dazu führen, dass sie die L1
nicht mehr an ihre Kinder weitergeben. Deutliche Merkmale der Sprachverschie-
bung in dieser Phase sind starkes Codeswitching und Entlehnungen aus dem Le-
xikon und der Grammatik der L2 (vgl. Batibo 2005: 90 f.).
Phase 4 – Eingeschränkte Verwendung und Kompetenz der L1
Die L1 wird in dieser Phase nur noch in ganz bestimmten Situationen wie bei Ini-
tiationsriten oder bei Folklore-Veranstaltungen verwendet. Viele Sprecher haben
sehr eingeschränkte Sprachkompetenzen in der L1, da sie die Sprache nicht kor-
rekt gelernt haben. Deutlich wird dies bei den Sprechern an einem reduzierten Le-
3 Batibo (2005: 89) geht davon aus, dass Sprachverschiebung erst ab einem gewissen Grad der
Bilingualität möglich ist.
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xikon, phonologischen Vereinfachungen sowie der Regularisierung und Verallge-
meinerung syntaktischer und morphologischer Regeln. Die L1 weist in dieser
Phase Ähnlichkeiten zu Pidginsprachen4 auf (vgl. Batibo 2005: 91).
Phase 5 – L1 als Substrat / Sprachtod
In dieser Phase ist keine L1-Sprechergemeinschaft mehr vorhanden. Auch wenn
bestimmte L1-Charakteristika als Substrat in die L2 einfließen können, kann die
L1 als ausgestorben bezeichnet werden (vgl. Batibo 2005: 91 f.). Dressler/de Cil-
lia (2006: 2259) machen deutlich, dass Sprachtod die extremste Form der Sprach-
verschiebung darstellt: „Eine vollständige Sprachverschiebung […], die keine
Sprecher der rezessiven Sprache mehr übrig lässt, kann als […] ‚Sprachtod‘ be-
zeichnet werden“.
Umstritten ist dabei, ob der Sprachtod mit dem physischen Tod des letzten Spre-
chers erreicht ist oder schon vorher, wenn die Kommunikation innerhalb der
Sprechergemeinschaft einer rezessiven Sprache aufhört (vgl. Dressler/de Cillia
2006: 2259). Batibo weist in diesem Zusammenhang auf die Schwierigkeit hin,
die Phasen 4 und 5 in der Praxis klar abzugrenzen und das Ende einer Sprecher-
gemeinschaft genau zu bestimmen (vgl. Batibo 2005: 92).
2.2 Schlüsse aus dem „marked bilingualism model“
Von Sprachtod bedroht sind daher vor allem zahlenmäßig kleine und funktionell
schwache Sprachgemeinschaften mit wenig Prestige (Dressler/de Cillia 2006:
2259). Wie schon oben angedeutet, herrscht ein Machtgefälle zwischen der L1
und der L2. Das Sprechen der L2 bietet den L1-Sprechern einen höheren Status
sowie mehr Interaktions- und damit auch Einflussmöglichkeiten. Als Folge dessen
4 Pidgins „sind vereinfachte Systeme, die durch intensiven Kontakt zwischen Personen ohne
gemeinsame Sprache … entstehen“. Diese „improvisierte … Kommunikationssprache“ (Sinner
2014: 252 f.) dient den Bedürfnissen der beteiligten Gruppen, deren Verhältnis in der Regel
von Machtunterschieden geprägt ist. Klassische Beispiele für Pidgins sind die verschiedenen
Verkehrs- und Handelssprachen, die sich zwischen Kolonialherrschern und Kolonisierten
herausgebildet haben (vgl. Frischherz 1997: 28).
8
wird die L1 zunehmend zurückgedrängt.5
Ob es zu Sprachverschiebung kommt, hängt zum einen von der Attraktivität und
dem Übernahmedruck der L2 ab. Zum anderen ist auch entscheidend, ob und wie
sich die L1-Sprecher der Sprachverschiebung widersetzen (vgl. Batibo 2005: 89
ff.). Eine „Unterbrechung oder Umkehrung des diachronen Vorgangs der Sprach-
verschiebung“ (Dressler/de Cillia 2006: 2259) kann als Sprachbewahrung be-
zeichnet werden. Sprachbewahrende Faktoren können Sprachunterricht in der
Schule, ein zusammenhängendes Territorium, Literalität und Standardisierung der
Sprache sowie deren hohe symbolische Bedeutung für die (ethnische) Identität der
Sprecher sein (vgl. Dressler/de Cillia 2006: 2263 ff.).
Diese Vorüberlegungen zu den Bedingungen von Sprachverschiebung werden im
weiteren Verlauf dieser Arbeit aufgegriffen. Es wird beleuchtet, inwiefern Roma-
nes von Sprachverschiebung bedroht, bzw. betroffen ist und welche Aspekte
sprachbewahrend wirken. Zum Einstieg in dieses Thema ist es sinnvoll, einen
Blick auf die sprachhistorischen Entwicklungen rund um das Romanes zu werfen.
3. Romanes in bilingualen Settings – ein
sprachhistorischer Abriss
Zur frühen Geschichte der Roma gibt es keinerlei Quellenmaterial. Daher ist die
sprachwissenschaftliche Forschung von besonderer Bedeutung, um Schlüsse über
die Migrationsgeschichte der Roma ziehen zu können.
Romanes als Sprache der Roma gehört wie Hindi, Urdu oder Sanskrit zur indoari-
schen Sprachfamilie. Trotz einer gewissen Nähe zu den genannten Sprachen des
indischen Subkontinents kann es nicht unmittelbar auf eine Sprache zurückgeführt
5 Im Unterschied dazu sind auch bilinguale Situationen („unmarked bilingualism“) möglich, in
denen Sprecher zweier Sprachen mit gleichem Status aufeinandertreffen. Die Sprecher beider
Sprachen lernen die jeweilige L2 zur Interaktion untereinander, ohne dass eine Sprachver-
schiebung zu befürchten ist (vgl. Batibo 2005: 92).
9
werden. Vielmehr wird angenommen, dass sich das Romanes zunächst als militä-
rische Verständigungssprache zwischen den Sprechern verschiedener Dialekte
entwickelt und im weiteren Verlauf als Lingua Franca6 etabliert hat (vgl. Kyuchu-
kov 2010: 13 ff.).
Es wird davon ausgegangen, dass die Roma zu Beginn des Mittelalters von
Zentralindien aus in den Nordwesten des indischen Subkontinents emigrierten.7
Dafür spricht, dass wesentliche, sich im Laufe des Mittelalters herausbildende
Merkmale der zentralindischen Sprachen im Romanes nicht vorzufinden sind.
Gleichzeitig finden sich Belege dafür, dass das Romanes von den Sprachen des
Nordwestens beeinflusst wurde. Darauf deutet die veränderte Konjugation von
Vergangenheitsformen hin zu aktiven Verben mit personalen Suffixen hin.
Im weiteren Verlauf kamen die Roma in Folge der Migration Richtung Westen
(ca. 9.-10. Jahrhundert) mit Armenisch und iranischen Sprachen in Kontakt. Lin-
guistische Belege dafür sind die Übernahme von Formen der 3. Ps. Sg. sowie auf
Hilfsverben basierende Satzkonstruktionen, phonologische Veränderungen und le-
xikalische Entlehnungen.
Einen starken Einfluss auf das Romanes hatte im weiteren Verlauf das Griechisch
zur Zeit des Byzantinischen Reiches.8 Davon zeugen eine große Anzahl von
Lehnwörtern und die Übernahme einer Verb-Objekt-Satzstellung – ein Alleinstel-
lungsmerkmal unter den indoiranischen Sprachen. In einigen Varietäten des Ro-
manes ist die Entlehnung aus heutigen Kontaktsprachen noch immer von diesem
griechischen Einfluss geprägt. Beispielhaft sind der Marker -i für entlehnte Verben
der 3. Ps. Sg. oder typische Nominativendungen (doctor ‚Arzt‘ wird zu doktoris).
Matras vertritt die These, dass sich die unterschiedlichen Varietäten des Romanes
6 Lingua Franca ist eine generelle „Bezeichnung für eine Vermittlungssprache in multilingualen
Gemeinschaften“ (Bußmann 2008: 408). 7 Über die Motive der jeweiligen Migrationsbewegungen kann nur spekuliert werden. Kyuchu-
kov führt als einen wesentlichen Grund für das Verlassen des indischen Subkontinents einen
Krieg zwischen Indern und Muslimen an (vgl. Kyuchukov 2010: 11). Eine These geht vom Un-
tergang des Byzantinischen Reiches als Grund für die Migration Richtung Europa aus (vgl.
Matras 2010: 39 f.). 8 Die Roma hielten sich wahrscheinlich ca. 150 bis 200 Jahre in den östlichen Regionen des By-
zantinischen Reiches (Gebiete des heutigen Ostanatoliens) auf.
10
als Folge der Zerstreuung in ganz Europa (ca. 14.-15. Jahrhundert) herausbildeten.
Er spricht zudem vom „Great Divide“, einer signifikanten Trennlinie zwischen
den Varietäten Südost- und Nordwesteuropas.9 Er führt dies auf die politische Tei-
lung Europas im 16. und 17. Jahrhundert zwischen der Habsburger Monarchie auf
der einen und dem Osmanischen Reich auf der anderen Seite zurück. Für das Ro-
manes bildeten sich zwei wesentliche Epizentren sprachlicher Innovation heraus:
die Gebiete des heutigen Deutschlands und Rumäniens.
Eine wesentliche Folge der bilingualen Situation in den deutschsprachigen Gebie-
ten ist u. a. der Silbenwegfall in einer Vielzahl von Wörtern – beispielsweise wird
amal ‚Freund‘ zu mal, akana ‚jetzt‘ wird zu kana. In Rumänien und den umlie-
genden Ländern gibt es interessanterweise eine gegenteilige Entwicklung. Die
einleitende Silbe a- wurde hier sogar noch ausgebaut (z.B. šun ‚hören‘ wird zu
ašun). Eine herausragende Innovation in diesem Gebiet stellt beispielsweise der
Wegfall des Nasallauts am Ende des Nominalisierungssuffix -iben/-ipen dar.10
Weitere Isoglossen ziehen sich durch ganz Europa. Daher gibt es eine Vielzahl
von Ansätzen, die Varietäten des Romanes zu klassifizieren. Bakker und Matras
unterscheiden fünf „Dialektgruppen“ (vgl. Matras 2010: 31 ff.). Eine ähnliche Un-
terteilung ist in der Online-Version des Nachschlagewerks Ethnologue zu finden:
Tab. 1: Varietäten des Romanes
Sprachvarietät Sprecheranzahl Mehrheit der Sprecher leben in …
Balkan-Romanes 617.000 Serbien, Bulgarien, Mazedonien,
Griechenland, Ungarn
Vlax 540.780 Rumänien, Russland, Albanien
Karpathen-Romanes
(Zentral-Romanes)
491.100 Tschechien, Slowakei, Ukraine
9 Diese Trennlinie besteht aus einer Vielzahl von Isoglossen. Eine Isoglosse bezeichnet eine
„Sprachlinie auf [der] Karte eines Sprachatlas, die das Verbreitungsgebiet eines Wortes be-
grenzt“ (Ulrich 2002: 134). 10 Gleichzeitig hatte in diesen bilingualen Situationen auch das Romanes Einfluss auf die jeweili-
gen Kontaktsprachen. Im Rumänischen sind beispielsweise über 400 Lehnwörter aus dem Ro-
manes zu finden (Kyuchukov 2010: 13 ff.).
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Sinte-Romanes 318.920 Kroatien, Deutschland, Serbien,
Frankreich, Schweiz
Baltisches Romanes 38.470 Polen, Lettland
Finnisches Romanes 11.650 Finnland, Schweden
Britisches Romanes
(Welsh Romani)
Gilt als
ausgestorben
England, Wales
in Anlehnung an Lewis/Simons/Fennig 2013 und Matras 2010: 27 ff.
Matras betont aber, dass diese Einteilung durchaus auch feiner vorgenommen
werden kann, gerade mit Blick auf periphere Gebiete Europas. Außerdem ist eine
solche Einteilung niemals statisch, berücksichtigt man die unübersichtliche An-
zahl an sprachlichen Trennlinien innerhalb des Romanes in Europa (vgl. Matras
2010: 53 ff.).
Trotz der phonologischen und lexikalischen Unterschiede der einzelnen Varietäten
sind die grammatikalischen Grundregeln unverändert geblieben. Somit können
sich auch heute noch Roma aus unterschiedlichen Gebieten verstehen (vgl.
Kyuchukov 2010: 14).
Romanes ist keine standardisierte Sprache. Seit 1990 arbeitet eine von der Interna-
tional Romani Union beauftragte Kommission aus Linguisten an einer Standardi-
sierung, die sich aufgrund der zahlreichen Varietäten aber als schwierig darstellt.
Hohe Anteile des Vokabulars sind aus den jeweiligen Kontaktsprachen entlehnt,
teilweise wurden Morphosyntax und Phonologie von anderen Sprachen über-
nommen. Ein möglicher Ansatz wäre die Kreation einer künstlichen Varietät, was
Hancock zufolge allerdings auf wenig Zustimmung vonseiten der Roma stoßen
würde. Er plädiert für die Wahl und Ausgestaltung einer existierenden Varietät und
hält Vlax aufgrund der hohen Zahl an Sprechern, die sich über die ganze Welt ver-
teilen, und der intensiven schriftsprachlichen Verwendung (z. B. in wissenschaft-
lichen Arbeiten, Lexika und Grammatikwerken) für geeignet. Auch die oben ge-
nannte Kommission orientiert sich am Vlax-Romanes (vgl. Hancock o. J.).
Das in der Tabelle oben aufgeführte Beispiel des Britischen Romanes verweist
auf die Gefahr von Sprachverschiebung und Sprachtod. Matras zeigt auf, dass im
12
Englischen als Substrat dieser Varietät noch manche Vokabeln und vereinzelte
Strukturen übrig geblieben sind. Diese werden von Roma-Mitgliedern bewusst für
die Kommunikation innerhalb der Gemeinschaft eingesetzt, um die eigene Identi-
fikation mit der Gruppe und gemeinsamen Normen zum Ausdruck zu bringen.
Weitere Überreste des Romanes heutzutage sind eine besondere Form der Kon-
versation in Situationen, in denen die Intimität der Gemeinschaft betont werden
soll. Dazu gehören eine pathetischere Sprechart und die Lockerung grammatikali-
scher Grundregeln des Englischen (vgl. Matras 2010: 30).
Um zu untersuchen, ob eine ähnliche Entwicklung auch hierzulande zu erwarten
ist, wird im Folgenden der Sprachgebrauch des Romanes im deutschen Raum un-
tersucht.
4. Sprachgebrauch des Romanes in Deutschland heute
Nach Angaben eines Interessenverbandes gibt es in Deutschland ca. 70.000 Sinti
und Roma11, „von denen die meisten auch einen Bezug zum Romanes haben“
(vgl. Bundesministerium des Inneren 2011: 35). Diese Angabe deutet zwar auf ei-
ne bilinguale Sprechergemeinschaft hin, ist insgesamt allerdings recht vage.
Um verlässliche Aussagen über Sprachverschiebung, bzw. Spracherhalt machen
zu können, gilt es daher, konkretere Aussagen über die Qualität und die Funktion
des Sprachgebrauchs zu machen. Daher wird der Sprachgebrauch zunächst auf ge-
sellschaftlicher Ebene (formelle und informelle Register) und anschließend auf
privater Ebene (Intimregister) beleuchtet.
11 Ein Teil der Minderheit ließ sich spätestens im 15. Jahrhundert in Deutschland nieder. Ihre
Nachfahren bezeichnen sich selbst als „Sinti“. Als nationale Besonderheit spricht man daher im
deutschen Sprachraum von Sinti und Roma. Für die weiteren Ausführungen, in denen es um
die Minderheit in Deutschland geht, wird daher – wie auch von den deutschen Interessenver-
bänden der Minderheit – dieses sprachliche Konstrukt verwendet (vgl. Verband Deutscher Sinti
und Roma e. V. o. J. b).
13
4.1 Formelle und informelle Register – Sprachgebrauch auf gesellschaftlicher
Ebene
In den vergangenen 15 Jahren gab es bedeutende politische Beschlüsse zum
Schutz der Sinti und Roma. Bezüglich des Romanes ist hier vor allem die Europä-
ische Charta der Regional- und Minderheitensprachen zu nennen, die 1998 in
Kraft getreten ist und das Romanes als schützens- und förderungswertes europäi-
sches Kulturgut erachtet (vgl. BGBl. 1998 II: 1314 ff.).
In den Jahrhunderten zuvor war es den Roma in vielen Regionen Europas häufig
verboten, ihre Sprache zu sprechen, oder sie erlitten beträchtliche Nachteile durch
den Gebrauch ihrer Sprache (vgl. Kyuchukov 2010: 11 ff.). Das extremste Bei-
spiel hierfür ist sicherlich Deutschland während des Nationalsozialismus. Die
Mitarbeiter/innen der Rassenhygienischen Forschungsstelle erschlichen sich in
dieser Zeit mithilfe des Romanes das Vertrauen der Sinti und Roma, um im Rah-
men der nationalsozialistischen Vernichtungsstrategie an Informationen zu gelan-
gen (vgl. Zimmermann 1989: 34). Aufgrund dieser Erfahrungen beschränken viele
Sinti und Roma noch heute den Gebrauch des Romanes, selbst innerhalb der Min-
derheit.
Daher ist die Charta historisch betrachtet als ein großer Schritt zu sehen. Die
Würdigung des Romanes – und damit auch seiner Sprecher – durch die Charta
wird auch vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma begrüßt. Gleichzeitig betont
der Zentralrat, dass die Bestimmungen der Charta nicht gegen die Interessen der
Minderheit umgesetzt werden dürfen (vgl. Bundesministerium des Inneren 2011:
35 ff.).
Noch deutlicher äußert sich dazu die Sinti-Allianz. Sie stellt als wesentliches Ziel
der eigenen Arbeit die Pflege und Bewahrung der eigenen Sprache heraus, aller-
dings nicht im Sinne der Charta. Vielmehr sei es Aufgabe der Familie und der üb-
rigen Sippenangehörigen, die Sprache mündlich weiterzugeben. Sie wehren sich
gegen die staatliche Verpflichtung zur Förderung der Minderheitensprachen im öf-
fentlichen Leben, die mit der Sprachcharta einhergeht (vgl. Sinti Allianz Deutsch-
land e. V. o. J.). Konkret sind damit u. a. staatliche Aktivitäten im Bereich Bildung
– die Vermittlung des Romanes in Schulen oder Universitäten – sowie die Ver-
wendung der Sprache bei Justiz- und Verwaltungsbehörden, in den Medien sowie
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im Rahmen kultureller Tätigkeiten und Einrichtungen gemeint (vgl. BGBl II
1998/25: 1319 ff.). Die Sinti-Allianz bittet die Bundesländer, auf solche Maßnah-
men zu verzichten, und weist in diesem Zusammenhang auf den Widerspruch zu
den kulturellen Normen der Sinti hin. Dazu zählen bestimmte Regeln der strikten
Abgrenzung von der Mehrheitsbevölkerung, u. a. das Verbot, „Außenstehende“
über die eigene Sprache zu informieren. Das Romanes wird daher im Unterschied
zu den übrigen Minderheitensprachen der Charta nicht an Schulen und Hochschu-
len gelehrt (vgl. Bundesministerium des Inneren 2011: 42 ff.).12
Selbst wenn es staatlichen Romanes-Unterricht gäbe, wäre die Vermittlung durch
die fehlende Standardisierung erschwert.
Womöglich ist der Wunsch, einen öffentlichen Gebrauch der Sprache zu vermei-
den, auch für die fehlende Vertretung in den Massenmedien mitverantwortlich.
Bildungs- und Medienangebote auf Romanes gibt es in Deutschland nur einge-
schränkt. Zu nennen sind hier z. B. die 15-minütige Radiosendung „Ano Roma-
nes“ auf der Deutschen Welle oder vereinzelte Romanes-Sprachkurse wie in Ber-
lin.13 Interessant wäre es zu klären, inwieweit Angehörige der Minderheit in
Deutschland weltweite Internetangebote auf Romanes wahrnehmen.
Ein Blick in deutsche Internetforen zu Roma-Themen zeigt, dass viele Nutzer Sin-
ti und Roma sind. Der Austausch und die Diskussionen finden dabei in der Regel
auf Deutsch statt. Die Verwendung des Romanes beschränkt sich auf einzelne Sät-
ze wie Begrüßungen, Verabschiedungen und Ausrufe. Diese werden häufig be-
wusst eingesetzt, um die Zugehörigkeit zur Minderheit deutlich zu machen (vgl.
12 Hierbei muss allerdings zwischen Sinti und Roma als zwei ethnischen Gruppen mit eigenen
Wertesystemen unterschieden werden. Daher kann es wiederum sein, dass einige Roma-
Gruppierungen schulischen Romanes-Unterricht akzeptieren würden (vgl. Verband Deutscher
Sinti und Roma e. V. o. J. b). 13 An dieser Stelle lohnt sich ein Blick auf den kompletten deutschsprachigen Raum. Die VHS
Wien hat eine Vielzahl von Romanes-Kursen in ihr Programm aufgenommen.
Ein sehr breites mediales Angebot stellt zudem der Verein „Roma-Service“ aus dem Burgen-
land zur Verfügung. Vierteljährlich erscheint die Zeitung dROMa mit einem Fokus auf öster-
reichische und europäische Roma-Themen rund um Kultur und Politik. Dazu gibt es einen be-
gleitenden Blog inklusive einer regelmäßigen TV-Sendung. Viele Inhalte werden auf Burgen-
land-Romanes, einer lokalen Varietät, veröffentlicht.
15
u. a. Forum Romanum 2012 / Sinti-Union Rheinland-Pfalz 2005). Dies wird z. B.
an folgender Aussage deutlich: „latscho diewes [‚Guten Tag‘, M.P.] ich bin sinti“
(Sinti-Union Rheinland-Pfalz 2005). Manche Diskussionen finden auch zu großen
Teilen auf Romanes statt. In einem Fall geht es offensichtlich um die richtige Re-
ligionsausübung und die Vereinbarkeit mit der Kultur der Sinti (vgl. Forum Ro-
manum 2006).
Offen bleibt, ob eine solche schriftsprachliche Verwendung des Romanes zur Be-
wahrung der Sprache beiträgt oder ob „durch die willkürliche Schreibweise und
die teilweise bedenkenlose Aufnahme von Fremdwörtern […] der Verfall der
Sprache beschleunigt wird“ (Bundesministerium des Inneren 2011: 37).
Inhaltlich geht es in diesen Foren außerdem häufig um das Thema (Sinti-)Musik.
Viele der dort genannten Musikkünstler/innen und Bands wie Romano Trajo
(Köln), Latcho (Ostbevern) oder Gipsy.cz (Tschechien) singen auf Romanes.
4.2 Intimregister – Sprachgebrauch auf familiärer Ebene
Heike Krokowski befragt im Rahmen nicht-repräsentativer, qualitativer Interviews
Nachkommen deutscher Sinti, die die NS-Verfolgung überlebt haben. Neben Fra-
gen zum innerfamiliären Umgang mit den traumatischen Erfahrungen beschäftigt
sie sich auch damit, welche Bedeutung das Romanes für das Selbstbild der Be-
fragten hat.
„Und so kann ich sagen, ich bin halt ebend ‘n Zigeuner. Ich spreche meine eigene Sprache, ich
denke wie ‘n Zigeuner oder versuche so zu denken …“ (Krokowski 2001: 213)
Unter den Befragten gibt es einige, für die das Romanes einen wesentlichen Be-
standteil ihrer Sinti-Identität darstellt. Andere wiederum äußern sich eher pragma-
tisch:
„Frage: Wie sieht das mit Ihren Kindern aus? Sprechen die noch Romanes?
Antwort: Nein, nur das Mädchen, die versteht, aber sprechen tut sie nicht.
Frage: War es für sie wichtiger, dass die Kinder dann Deutsch lernen statt Romanes?
Antwort: Ja, weil sie das mehr brauchen. Hier sind so viele Sinti, die auch nicht mehr Romanes
sprechen. Sprechen auch nur noch Deutsch. Dann ist es besser, wenn die Deutsch sprechen kön-
16
nen.“ (ebd.: 214)
Diese Antwort verdeutlicht einerseits, dass das Romanes nicht mehr von allen Sin-
ti beherrscht wird. Andererseits wird die Verständigung untereinander indirekt als
wichtiger erachtet als die Bewahrung der traditionellen Sprache – eine Haltung,
die letztlich auch die Erziehung der Kinder beeinflusst. Eine andere Interviewpas-
sage verweist auf das bilinguale Setting, in dem sich viele Sinti bewegen:
„Frage: … [Romanes] ist sicherlich die erste Sprache, die du gelernt hast, ne? Also, mit deinen El-
tern hast du vor der Schulzeit sicherlich nur Romanes gesprochen?
Antwort: Nee, ich habe beide Sprachen gesprochen. Ich hab Romnes [sic!] und Deutsch gespro-
chen. … [Bei] uns wird auch viel zu Hause privat Deutsch gesprochen. Ganz – also weniger ebend
halt denn [als] Romnes …
Frage: Das wird nicht so strikt getrennt?
Antwort: Nee, nee. Man achtet zwar darauf, dass man Romnes weiter sprechen kann, und und,
überhaupt wenn ältere Leute da sind, denn redet man halt, versucht man ebend halt Romnes zu
sprechen. Aber wer‘s nicht kann oder wer‘s nicht so gut kann, der sollte lieber auf Deutsch spre-
chen […].
Frage: Also, es ist nicht so‘ne strikte Trennung zwischen, also Deutsch ist die Sprache von drau-
ßen und bei uns, also innen drinne, in der Familie, wird nur Romanes gesprochen?
Antwort: Nee, nee. Ich bin in Deutschland geboren, ich bin [hier] aufgewachsen …“ (ebd.: 215)
Deutsch und Romanes werden gleichermaßen innerhalb der Gemeinschaft ge-
nutzt. Romanes scheint demnach eher die Sprache der Älteren zu sein und wird in
ihrer Anwesenheit auch vermehrt gesprochen. Eine sprachliche Abgrenzung des
Intimregisters durch das Romanes findet aber nicht statt. Der hier befragte jüngere
Sinti betont zwar die Wichtigkeit der Sprachbewahrung, deutet aber an, dass es
auch einige innerhalb der Gemeinschaft gibt, die nicht Romanes sprechen können.
Dies trifft einer anderen Gesprächspartnerin zufolge vor allem auf die Jüngeren
zu:
„ … es gibt so viele Kinder, die jetzt alles verstehen, aber gar nicht unsere Sprache mehr selbst
sprechen. Das finde ich total … Schwachsinn! Das ist für mich unbegreiflich, so was. Wir haben‘s
so gelernt, unsere Eltern haben‘s so gelernt, und das war schon Jahrzehnte und Jahrtausende so
und warum sollen, warum soll denn das irgendwo dann aufhören? […] Es soll wirklich so beibe-
halten werden, dass die Kinder wirklich aufwachsen wie normale Sinti, dass heißt mit [der] gan-
17
ze[n] Sitte, Gebräuche et cetera, auch Sprache. Das gehört dazu!“ (ebd.: 216)
Diese Einschätzungen bezüglich der jüngeren Sinti und Roma decken sich auch
mit den Ergebnissen eines Forschungsprojekts der Universität Graz. Demnach
werden die in Österreich gesprochenen Varietäten hauptsächlich von der Großel-
terngeneration genutzt, während viele Kinder die Varietät nur noch in einigen
Domänen einsetzen (vgl. Karl-Franzens Universität Graz o. J.).
5. Fazit
Abschließend werden die Erkenntnisse der letzten Kapitel zusammenfassend dis-
kutiert und dabei – bezogen auf die Situation in Deutschland – die Leitfrage der
Einleitung aufgegriffen:
Ist das Romanes aufgrund des ständigen Kontakts mit anderen (dominanten)
Sprachen von Sprachverschiebung bedroht?
Die Interviewpassagen verdeutlichen, dass die Sinti in Deutschland eine bilingua-
le Sprechergemeinschaft darstellen. Wie in Kapitel 4.1 aufgezeigt, wird das Ro-
manes in formellen wie auch informellen Registern nur sehr eingeschränkt ver-
wendet. Gründe sind die fehlende Standardisierung und kulturelle Überzeugun-
gen, die den Sprachgebrauch auf das Intimregister begrenzen. In Anlehnung an
das „marked bilingualism model“ von Batibo kann daher von einem Bilingualis-
mus mit L2-Dominanz (Phase 3) gesprochen werden.
Ein entscheidendes Merkmal dieser Phase sind geänderte Muster der Sprachwahl,
d. h. in vielen Situationen entscheiden sich die Sprecher eher für die dominante
Sprache. Die Aussage eines Befragten zeigt, dass Deutsch in der Regel auch in-
nerhalb der Familie weitergegeben wird. Im Fall der oben zitierten Mutter findet
die Kommunikation mit den Kindern aus Nützlichkeitserwägungen heraus sogar
ausschließlich auf Deutsch statt. Hier lassen sich durchaus negative Einschätzun-
gen des Romanes als „veraltet“ oder „nutzlos“ (z. B. in Hinblick auf eine ein-
18
wandfrei funktionierende Kommunikation mit Gleichaltrigen) feststellen.14
Einige Sinti – scheinbar vor allem Jüngere – beherrschen die Sprache gar nicht
mehr oder können sie nur noch verstehen. Die Zukunft wird zeigen, ob sich die
Relation zwischen Mitgliedern der Minderheit und der Zahl der Sprecher der
Minderheitensprache weiter verändert.
Auf der anderen Seite betonen einige der Befragten die Bedeutung des Romanes
für die Gruppenzugehörigkeit und ihre individuelle Identität als Sinti.
Weiterhin darf nicht vergessen werden, dass das Romanes historisch gesehen
schon immer in engem Kontakt zu anderen, dominanten Sprachen stand, die Ein-
fluss auf das Romanes und seine Varietäten hatten. Phonologische und lexikali-
sche Übernahmen aus den jeweiligen Kontaktsprachen zeigen die Anpassungsfä-
higkeit des Romanes und seiner Sprecher. Über Jahrhunderte hinweg und auch un-
ter äußerer Unterdrückung bewahrten die Roma ihre Sprache.
Von einem politischen Druck in Richtung Sprachverschiebung kann zumindest in
Deutschland nicht gesprochen werden. Vielmehr wurde mit der Ratifizierung der
Europäischen Charta der Regional- und Minderheitensprachen eine Art „Ret-
tungspaket“ für das Romanes geschnürt, dem sich die Sinti und Roma jedoch be-
wusst entziehen. Dressler/De Cillia (2006: 2265) zufolge wirken sich mehr staat-
liche Toleranz und gesellschaftliche Partizipation nicht automatisch sprachbewah-
rend aus. Mögliche Folgen solcher Maßnahmen könnten vielmehr sein, dass die
Widerstandskraft der Minderheit geschwächt wird und sich der Einfluss der domi-
nanten Sprache vergrößert.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich der Gebrauch des Romanes fast
ausschließlich auf das Intimregister beschränkt. Aber auch hier lassen sich
Sprachverschiebungstendenzen beobachten – viele jüngere Sinti und Roma spre-
chen die Sprache gar nicht mehr.
Gleichzeitig gibt es sprachbewahrende Faktoren wie die besondere Bedeutung des
Romanes für die Identität der Sinti und Roma, die Bemühungen um eine Standar-
14 Ob die Hoffnung auf ökonomischen und sozialen Aufstieg die Sprachverschiebung hin zur L2
bedingt, ist eine spannende Frage, die in dieser Arbeit nicht behandelt werden kann und im
Rahmen weitergehender Studien untersucht werden sollte.
19
disierung der Sprache sowie die zunehmende mediale Repräsentation in anderen
Ländern Europas. Romanes wird darüber hinaus in vielen Ländern gesprochen
und hat weltweit mehrere Millionen Sprecher. Diese Aspekte deuten darauf hin,
dass auch in Zukunft Menschen in Deutschland die Frage Džanes romanes?
‚Kannst Du roma?‘ mit Arvah! ‚Ja‘ beantworten werden.
20
6. Quellen
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