bioerdgas zwischen markt und staat, zugl. münster (westf.), univ., diss., 2012
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Erdgas
Bioerdgas
Sebastian Herold
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tAuf Erdgasqualität aufbereitetes Biogas wurde erstmals im Jahre 2006 in das Netz der allgemeinen Erdgasversorgung eingespeist. Bis zum Jahre 2030, so das Ziel des Gesetzgebers, soll Bioerdgas in der Größenordnung von rund 10 % des heutigen Erdgasverbrauchs zum deutschen Energie-angebot beitragen – dafür müssten Produktion und Vermarktung bis 2030 Jahr für Jahr um mehr als 20 % wachsen.
Dieses Buch bietet aus ökonomischer Perspektive eine systematische Einführung in den Energieträger Bioerdgas und eine fundierte Abwä-gung seiner Zukunftsperspektiven hinsichtlich seiner Konkurrenzfähigkeit gegenüber Erdgas, seiner grundsätzlichen Förderwürdigkeit durch den Staat und der Ausgestaltung seines aktuellen Förderregimes. Dabei führt es mit den Aspekten anthropogener Klimawandel, Sicherheit der Energie-versorgung und Nutzungskonkurrenzen zwischen Anbaufl ächen für Bio-energie und Nahrungsmittel tief hinein in grundlegende gesellschaftliche Auseinandersetzungen unserer Zeit.
Sebastian Herold (Jahrgang 1977) liegen die Themen Energie und Umwelt
seit langem am Herzen – aus theoretischer wie praktischer Perspektive:
1999 bis 2004 VWL-Studium in Münster und Rom; Mitstreiter und später
Vorsitzender der Studenteninitiative Wirtschaft & Umwelt. 2004 Berufsein-
stieg bei einer deutschen Ferngasgesellschaft, seit 2007 Abteilungs leiter
G rundsatzfragen / Portfolio management. 2012 externe Promotion an der
WWU Münster.
© Foto LianeM - Fotolia.com
ISBN 978-3-00-037292-6
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Bioerdgas zwischen Markt und Staat
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II
D6
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.dnb.de abrufbar.
ISBN 978-3-00-037292-6
Zugl.: Münster (Westf.), Univ., Diss., 2012
Schlagwörter:
Biogas / Bioenergie / Einspeisung / Energiemarkt / Energiepolitik / Erdgasmarkt
/ Erneuerbare Energien / Gaswirtschaft / Klimapolitik / Versorgungssicherheit
© Sebastian Herold 2012 – alle Rechte vorbehalten
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Titelgestaltung: www.bert-odenthal.de
Druck: Oing Druck GmbH, Südlohn
Dieses Buch wurde auf FSC-zertifiziertem Papier gedruckt.
Die unabhängige gemeinnützige Nichtregierungsorganisation FSC (Forest
Stewardship Council) setzt sich für die Förderung einer umweltfreundlichen,
sozialförderlichen und ökonomisch tragfähigen Bewirtschaftung von Wäldern
ein.
III
Vorwort
Die Hoffnung auf Praxis und Theorie als Verbündete standen am Beginn dieses
Projektes. In einigen Jahren praktischer Arbeit in der Erdgaswirtschaft reifte der
Wunsch, mich jenseits der Aufgaben im Unternehmen zusätzlich der wissen-
schaftlichen Tätigkeit zuzuwenden und dabei über den werktäglichen Tellerrand
der Branche hinauszublicken. Das Spannungsfeld zwischen den Themen Energie
und Nachhaltigkeit, das mich bereits während des Studiums begleitete – im
Rahmen des Schwerpunkts Energiewirtschaft und des Engagements in der
Studenteninitiative Wirtschaft & Umwelt –, hatte nichts von seiner Aktualität
und Faszination eingebüßt und führte mich zum jungen Thema Bioerdgas.
Auf Erdgasqualität aufbereitetes Biogas wurde erstmals im Jahre 2006 in das
Netz der allgemeinen Erdgasversorgung eingespeist. Vor mir lag also ein in
vielen Facetten noch unbeschriebenes Terrain. Dies betrifft auf der einen Seite
die Analyse der Sonderregeln, die Bioerdgas in dem bereits durch zahlreiche
wettbewerbliche und regulatorische Spezifika gekennzeichneten Erdgasmarkt
gewährt werden. Auf der anderen Seite führt Bioerdgas mit den Aspekten
anthropogener Klimawandel, Sicherheit der Energieversorgung und Nutzungs-
konkurrenzen zwischen Anbauflächen für Bioenergie und Nahrungsmittel tief
hinein in grundlegende gesellschaftliche Auseinandersetzungen unserer Zeit.
Die Arbeit vermittelt, so hoffe ich, neben einer systematischen Einführung in den
Energieträger Bioerdgas eine fundierte Abwägung seiner Zukunftsperspektiven –
hinsichtlich seiner Konkurrenzfähigkeit gegenüber Erdgas, seiner grundsätz-
lichen Förderwürdigkeit durch den Staat und der Ausgestaltung seines aktuellen
Förderregimes.
IV
Die staatlichen Rahmenbedingungen für Erdgas wie für Bioerdgas sind, wie das
Buch herausarbeitet, vielfältig und im steten Wandel. Letzterer zeigt sich von
Redaktionsschlüssen unbeeindruckt. So hat die EEG-Novelle 2012 in der Ausge-
staltung der Förderung von Bioerdgas einige Anpassungen im Detail mit sich
gebracht, ohne dass dies allerdings zu Veränderungen der qualitativen Aussagen
der Arbeit führte. Die relevanten Paragraphen (§§ 27, 27 b/c und 33 g/i) sind
überschaubar und unter www.gesetze-im-internet.de, Gesetze/Verordnungen,
EEG abrufbar. Eine Übersicht über wesentliche Änderungen des EEG in Bezug
auf sämtliche Energieträger gibt eine Zusammenstellung des BMU, zu finden
unter www.bmu.de/files/pdfs/allgemein/application/pdf/eeg_2012_informationen_faq_bf.pdf
Mein herzlicher Dank gilt allen, die mir dieses Projekt ermöglicht und mich bei
seiner Durchführung unterstützt haben, insbesondere meinem Betreuer Prof. Dr.
Karl-Hans Hartwig, dessen konstruktive Begleitung mich auch anspornte, die
Argumentationsführung in klaren Linien zu halten. Für die Übernahme des
Zweitgutachtens danke ich Prof. Dr. Thomas Ehrmann. Verbleibende Schwächen
gehen allein zu Lasten des Autors.
Münster, im Januar 2012 Sebastian Herold
V
Inhaltsverzeichnis
Vorwort ................................................................................................................III
Inhaltsverzeichnis..................................................................................................V
Abbildungsverzeichnis ......................................................................................VIII
Tabellenverzeichnis...............................................................................................X
Verzeichnis der Abkürzungen und Akronyme.....................................................XI
1 Einleitung..........................................................................................................1
2 Das Produkt Bioerdgas .....................................................................................5
2.1 Abgrenzung und Entstehung ......................................................................5
2.1.1 Erdgas, Biogas und Bioerdgas .............................................................5
2.1.2 Bestandsaufnahme Erdgas und Biogas ..............................................10
2.1.3 Aufbereitung von Biogas zu Bioerdgas .............................................18
2.2 Potential....................................................................................................21
2.3 Kosten ......................................................................................................28
2.4 Klimabilanz ..............................................................................................32
2.4.1 Gesellschaftliche Resonanz für ökologische Umwelt .......................32
2.4.2 Klimabilanz von Bioerdgas im Vergleich zu Erdgas.........................37
3 Bioerdgas im Markt ........................................................................................45
3.1 Gaswirtschaft zwischen infrastruktureller Prägung und Handelswelt .....45
3.1.1 Bioerdgas in der Struktur der Gaswirtschaft......................................45
3.1.2 (Bio)Erdgasnetz als natürliches Monopol..........................................49
3.2 Positiver regulatorischer Rahmen für Erdgas und Bioerdgas ..................53
3.2.1 Ziele und Entwicklung staatlicher Eingriffe ......................................53
VI
3.2.2 Gemeinsamer Marktrahmen für Erdgas und Bioerdgas ....................57
3.2.3 Spezielle Regeln für Bioerdgas..........................................................61
3.3 Wettbewerbsfähigkeit von Bioerdgas ......................................................68
3.3.1 Ölindexierung und Preisdifferenzierung auf dem Erdgasmarkt ........68
3.3.2 Bioerdgas in Konkurrenz zu konventionellem Erdgas ......................80
4 Bioerdgas als eigenständiges grünes Produkt.................................................90
4.1 Grüne Produkte und Konsumentenethik ..................................................90
4.2 Ergrünen von Erdgasunternehmen durch Bioerdgas................................94
4.3 Nutzungskonkurrenzen mit der Nahrungsmittelproduktion um Landflächen.......................................................................................................97
4.4 Grünes Produkt Bioerdgas im Markt .....................................................106
5 Bioerdgas als staatliches Produkt .................................................................110
5.1 Begründung und Ziele staatlicher Energiepolitik...................................110
5.2 Klimawandel als Ansatz staatlicher Bioerdgas-Politik ..........................112
5.2.1 Physikalische und politische Realität des Klimawandels ................112
5.2.2 Gesellschaftliche Dynamik des Klimawandels als Rahmenbedingung der Erdgas- und Bioerdgas-Wirtschaft .........................117
5.2.3 Anthropogene Klimaänderungen aus ökonomischer Perspektive ...121
5.2.4 Klimaschutz im internationalen Kontext .........................................126
5.2.5 Förderung von Bioerdgas über das EEG .........................................133
5.2.6 Wirtschaftlichkeit einer Minderung von Treibhausgasemissionen durch Bioerdgas...........................................................................................152
5.3 Versorgungssicherheit als staatlicher Ausgangspunkt für Bioerdgas ....154
5.3.1 Versorgungssicherheit des Energieträgers Erdgas aus ökonomischer Perspektive...........................................................................154
5.3.2 Bioerdgas im Verhältnis alternativer Erdgas- Versorgungspotentiale .................................................................................158
5.3.3 Verlässlichkeit und Akzeptanz von Lieferländern...........................171
5.3.4 Beitrag von Bioerdgas bei kurzfristigen Lieferausfällen .................180
VII
6 Fazit ..............................................................................................................185
Anhang: Anthropogene Klimaänderung ............................................................194
Literaturverzeichnis............................................................................................ XV
VIII
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 2.1: Entwicklung Biogasanlagen in Deutschland...........................13
Abbildung 2.2: Massebezogener Substrateinsatz in Biogasanlagen 2007 .......14
Abbildung 2.3: Massebezogener Substrateinsatz nachwachsender Rohstoffe (NaWaRo) 2007............................................................................15
Abbildung 2.4: Wesentliche Komponenten einer Biogasanlage ......................18
Abbildung 2.5: Erdgasaufkommen in Deutschland nach Herkunftsländern 2008 ..................................................................................22
Abbildung 2.6: Verteilung des technischen Biogaspotentials nach Herkunft 2005................................................................................................24
Abbildung 2.7: Biogaspotentiale und mögliche Entwicklung von Einspeisungen................................................................................................26
Abbildung 2.8: Sensitivität Vollkosten Bioerdgas (Anlage 2.000 Nm³/h Gülle 10/NaWaRo 90; Kosten bezogen auf den Brennwert) ........................32
Abbildung 2.9: Gesamte Treibhausgasemissionen durch Bereitstellung und Nutzung fossiler Energieträger 2005.............................................................39
Abbildung 2.10: Treibhausgasbilanzen Bioerdgas auf NaWaRo-Basis ...........42
Abbildung 3.1: Struktur deutsche Gaswirtschaft..............................................47
Abbildung 3.2: Die GABi Gas-Entkoppelung der bilanziellen Handelswelt von den physischen Strömen .........................................................................61
Abbildung 3.3: Beispielhafte Inanspruchnahme des Biogas- Flexibilitätsrahmens (schematische Darstellung)..........................................65
Abbildung 3.4: Preisdifferenzierung nach anlegbarem Gaspreis.........................73
Abbildung 3.5: Grenzübergangspreis vs. TTF .....................................................76
Abbildung 3.6: Preisanpassungsrhythmus 9-0-1 illustriert ..................................83
Abbildung 3.7: Grenzübergangspreis Ist-Daten und modellierte Werte..............83
Abbildung 3.8: Wirtschaftlichkeit von Bioerdgas ggü. konventionellem Erdgas ............................................................................................................86
Abbildung 3.9: CO2-Break-Even-Preise für Bioerdgas.......................................88
Abbildung 3.10: Jährlicher Subventionsbedarf von Bioerdgas............................89
Abbildung 4.1: Relative Preisentwicklung Brent, Mais und Weizen ..................98
IX
Abbildung 4.2: Anteilige Bioerdgas-Produkte im Preisvergleich mit rein fossilen Produkten .......................................................................................108
Abbildung 5.1: Kohlendioxid-Großmächte........................................................128
Abbildung 5.2: CO2-Emissionen der Welt und ausgewählter Staaten(gruppen) nach IEA-Referenz-Szenario im Abgleich mit der G8-Absichtsbekundung für 2050 ................................................................129
Abbildung 5.3: EEG-Vergütungssätze (§§ 23-33 ohne Berücksichtigung zeitlicher oder technologischer Sonderregelungen) ....................................136
Abbildung 5.4: EEG-Vergütungssätze bei Stromerzeugung aus Bioerdgas (§ 27 EEG)...................................................................................................138
Abbildung 5.5: Ökonomische Knappheiten und Substitutionspotentiale von Erdgas ..........................................................................................................157
Abbildung 5.6: Statische Reichweiten an Erdgas im Zeitablauf........................160
Abbildung 5.7: EU-Gasverbrauch bis 2030 (IEA-Prognose).............................161
Abbildung 5.8: Struktur der Erdgas-Importe aus Nicht-EU-Staaten 2008 ........164
Abbildung 5.9: Staaten mit mehr als 1 Billion m3 Erdgasreserven (Stand Ende 2009)...................................................................................................165
Abbildung 5.10: Kosten neue Erdgasbezüge für Europa ...................................166
Abbildung 5.11: Prognose Erdgasverbrauch bis 2030/2050..............................170
Abbildung 5.12: State Fragility-Index wichtiger Gaslieferanten und Transitländer................................................................................................172
Abbildung 5.13: Unterschiedliche Einspeisestrukturen gleicher Jahresmengen ..............................................................................................184
X
Tabellenverzeichnis
Tabelle 2.1: Zusammensetzung von Biogas .......................................................9
Tabelle 2.2: Energieträger Biogas und Erdgas 2007 (Heizwerte) ....................16
Tabelle 2.3: Abschätzung spezifischer Vollkosten Bioerdgas in Ct/kWh (Anlagengröße bezogen auf Rohbiogas) .......................................................30
XI
Verzeichnis der Abkürzungen und Akronyme
a Anno
AG Aktiengesellschaft
AusglMechV Ausgleichsmechanismusverordnung
bbl Barrel
BGW Bundesverband der Deutschen Gas- und Wasserwirtschaft
BHKW Blockheizkraftwerk
BIP Bruttoinlandsprodukt
BKartA Bundeskartellamt
BKV Bilanzkreisverantwortlicher
BNetzA Bundesnetzagentur
BRD Bundesrepublik Deutschland
C Kohlenstoff; Celsius (°C)
CCS Carbon Dioxide Capture and Storage
CDU Christlich Demokratische Union Deutschlands
CEO Chief Executive Officer
CO2 Kohlendioxid
CO2-eq CO2-Äquivalent
DAX Deutscher Aktinenindex
DDR Deutsche Demokratische Republik
DVGW Deutsche Vereinigung des Gas- und Wasserfachs
EEG Erneuerbare Energien Gesetz
EEWärmeG Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz
EEX European Energy Exchange
EGT E.ON Gastransport
EITI Extractive Industries Transparency Initiative
EJ Exajoule
EnWG Energiewirtschaftsgesetz
XII
EPEX European Power Exchange
ETK Energieträger-Technologie-Kombination
EU Europäische Union
EWärmeG Erneuerbare Wärme Gesetz
EWI Energiewirtschaftliches Institut an der Universität zu Köln
EZB Europäische Zentralbank
FAO Food and Agriculture Organization of the United Nations
FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung
FDP Freie Demokratische Partei
g Gramm
G8 Group of Eight
GABi Gas Festlegung (BNetzA) in Sachen Ausgleichsleistungen Gas
GasNEV Gasnetzentgeltverordnung
GasNZV Gasnetzzugangsverordnung
GG Grundgesetz
GuD Gas und Dampf (Kraftwerk)
GUS Gemeinschaft Unabhängiger Staaten
GWB Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen
GWS Gesellschaft für Wirtschaftliche Strukturforschung
h hora
H-Gas Hochkalorisches Gas
ha Hektar
HL Leichtes Heizöl
HS Schweres Heizöl
IEA International Energy Agency
IPCC Interngovernmental Panel on Climate Change
K Kohle
Kcal Kilokalorie
KfW Kreditanstalt für Wiederaufbau
XIII
kWh Kilowattstunde
KWK Kraft-Wärme-Kopplung
L-Gas Niederkalorisches Gas
LNG Liquified Natural Gas
LULUCF Land Use, Land-Use Change and Forestry
MBtu Million British Thermal Unit
MW Megawatt
NAP Nationaler Allokationsplan
NATO North Atlantic Treaty Organization
NaWaRo Nachwachsende Rohstoffe
NCG Net Connect Germany
NGO Non-Governmental Organization
Nm3 Normkubikmeter
OTC Over-the-Counter
pH-Wert Potentia Hydrogenii
ppm Parts per million
SNG Synthetic Natural Gas
SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands
SUV Sport Utility Vehicle
t Tonne
TEHG Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz
THG Treibhausgas
TJ Terajoule
TK Transportkunde
TTF Title Transfer Facility
TWh Terawattstunde
UK United Kingdom
UN United Nations
UNEP United Nations Environment Programme
XIV
UNFCCC United Nations Framework Convention on Climate Change
USA United States of America
VP Virtueller Punkt
VR China Volksrepublik China
WBGU Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale
Umweltveränderungen
WMO World Meteorological Organization
ZuG Zuteilungsgesetz
1 Einleitung 1
1 Einleitung
Ende 2006 wurde ein neues Kapitel der deutschen Gaswirtschaft aufgeschlagen:
Bioerdgas. In Pliening bei München und in Straelen am Niederrhein speisten
erstmals Biogasanlagen ihr technisch auf Erdgasqualität aufbereitetes Gas in das
Erdgasnetz ein. Damit wandelten sie den bislang lokal auf den jeweiligen Ort der
Produktion begrenzten Energieträger Biogas in Bioerdgas um, das in der beste-
henden Erdgas-Infrastruktur auch zu weit entfernten Verbrauchsstellen flexibel
transportiert werden kann. Der Newcomer soll bis 2030 nach Vorstellung des
deutschen Gesetzgebers rund 10 % des derzeitigen Erdgasverbrauchs abdecken.
Als regenerative Energiequelle, die – anders als die witterungsabhängigen
Verwandten Solar und Wind – verlässlich zur Verfügung steht, könnte Bioerd-
gas, so die Hoffnung, einen wesentlichen Beitrag zum Umbau des Energie-
systems in Richtung Nachhaltigkeit leisten. Von staatlicher Seite wird Bioerdgas
dazu bereits protegiert, insbesondere über den Einsatz zur Stromerzeugung im
Rahmen des Erneuerbare Energien Gesetzes (EEG). Mit Zugang zu sämtlichen
Erdgaskunden steht dem Energieträger daneben auch das wichtigste Segment des
deutschen Wärmemarktes offen.
Um tatsächlich den Durchbruch zu schaffen, muss sich Bioerdgas gegen andere
Energieträger behaupten, insbesondere gegen sein technisches Substitut Erdgas.
Es gilt herauszufinden, welche Kraft der neue Energieträger dazu bereits ohne
staatliche Hilfe besitzt – im reinen Preiswettbewerb oder als grüne Alternative zu
fossilen Energien, für die höhere Zahlungsbereitschaften gelten könnten. Falls
keine Erfolge aus eigener Kraft zu konstatieren und auch zu erwarten sind,
schließt sich die Frage an, ob staatliche Eingriffe ordnungspolitisch zu recht-
1 Einleitung 2
fertigen sind. Dann wäre Bioerdgas zwar absehbar auf staatliche Schützenhilfe
angewiesen, könnte dabei aber argumentativ auf ein solides Fundament bauen.
Den Weg für Bioerdgas ebnen könnte die große gesellschaftliche Auseinander-
setzung um die potentiell bedrohlichen Auswirkungen fossiler Energien auf das
globale Klima und die damit damit verbundene Suche nach Alternativen zu
ihnen. Erneuerbare heimische Energienquellen wie Bioerdgas verheißen zudem
eine Antwort auf die öffentliche Debatte der Endlichkeit fossiler Rohstoffe und
der Sicherheit ihres Bezuges. Die Auseinandersetzungen zwischen Russland und
der Ukraine im Januar 2009 haben die Aktualität von Versorgungssicherheit
verdeutlicht, als nach Ausfall russischer Erdgas-Lieferungen über die Ukraine die
Gasversorgung in Europa insgesamt gefährdet schien und in Teilen Südost-
europas zusammenbrach.
Auch wenn Bioerdgas als erneuerbare Energie prima facie dem Ideal eines nach-
haltigen Energieträgers entspricht, könnte dies durch die Flächenkonkurrenz mit
Nahrungsmitteln in Frage gestellt sein. Die Nachhaltigkeits-Definition der
Brundtland-Kommission (Weltkommission für Umwelt und Entwicklung), die
die heutige Begriffsverwendung prägt, stellt nicht nur auf das Wohlergehen
zukünftiger Generationen ab, sondern auch auf das der gegenwärtigen Armen. In
wieweit der Ausbau von Bioerdgas zu steigenden Nahrungsmittelpreisen und
vermehrtem Hunger in der Welt führt, bestimmt entscheidend sein Zukunfts-
potential und seine Akzeptanz.
Die vorliegende Arbeit verortet Bioerdgas zwischen Markt und Staat. Es gibt
keinen modernen Markt ohne Staat, da allein der Austausch von Verfügungs-
rechten de facto immer schon staatliche Rahmenbedingungen wie Gerichts-
barkeit voraussetzt. Wenn in dieser Arbeit die beiden Begriffe einander gegen-
übergestellt werden, so geht es auf der einen Seite um den allgemeinen Markt für
Energie, insbesondere Erdgas, dem sich Bioerdgas im Wettbewerb stellen kann,
und auf der anderen Seite um gezielte staatliche Eingriffe zur Förderung von
1 Einleitung 3
Bioerdgas. Diese Eingriffe können eine verwendungsunabhängige Begünstigung
darstellen oder, wie bei der Stromsubventionierung des EEG, eine verwendungs-
spezifische.
Den skizzierten Problemstellungen nähert sich die Arbeit wie folgt: Das an die
Einleitung anschließende zweite Kapitel widmet sich dem Produkt Bioerdgas in
Abgrenzung zu Biogas und Erdgas. Es skizziert den Herstellungs- und Aufbe-
reitungsprozess, analysiert das Potential von Bioerdgas in Deutschland und zeigt
in Abhängigkeit verschiedener Anlagentypen und Einsatzstoffe seine Kosten und
Klimabilanzen auf. Kapitel 3 erörtert die aktuelle Stellung und zukünftigen
Chancen von Bioerdgas als vollkommenes Substitut im Wettbewerb mit Erdgas
und die Rückwirkungen seines Ausbaus auf die Gaswirtschaft. Aufbauend auf
einer Beschreibung der Besonderheiten der Gaswirtschaft als Infrastruktur-
industrie und damit verbundener ökonomischer Konsequenzen beleuchtet es
Hintergrund und Ausgestaltung des aktuellen regulatorischen Rahmens.1 Den
gemeinsamen Regeln für Erdgas wie Bioerdgas schließen sich dabei die Sonder-
bestimmungen für Bioerdgas an, deren Ausgestaltung auch quantitativ bewertet
wird. Das Kapitel schließt mit einer Abschätzung der Wirtschaftlichkeit von
Bioerdgas gegenüber Erdgas, wobei verschiedene Erdgas-Preisregime herange-
zogen werden.
Die Vermarktung von Bioerdgas als nachhaltiges, grünes Produkt lotet Kapitel 4
aus. Es betrachtet dabei Chancen wie Risiken für Erdgasunternehmen, ihr
fossiles Geschäftsfeld durch regeneratives Bioerdgas aufzuwerten. Insbesondere
beschäftigt es sich mit dem Konfliktpotential einer Konkurrenz zu Nahrungs-
mitteln. Beispielhaft untersucht es in dem noch jungen Markt einzelne Bioerd-
1 Die fortlaufende Weiterentwicklung des regulatorischen Rahmens der Gaswirtschaft weist in
den vergangenen Jahren eine hohe Dynamik auf, inbesondere auf Ebene von Behörden wie der Bundesnetzagentur, die gesetzliche Vorgaben zum Teil spezifzieren und kontinuierlich nachjustieren. In sämtlichen Teilen der Arbeit wurde der zum jeweiligen Zeitpunkt des Verfassens aktuelle Stand herangezogen und in der Zitation entsprechend angegeben.
1 Einleitung 4
gas-Angebote im Vergleich zu entsprechenden Erdgas-Produkten. Kapitel 5
wendet sich Begründung und Ausmaß einer staatlichen Förderung von Bioerdgas
zu, wobei es Klimaschutz und Versorgungssicherheit als potentielle Felder für
aus ökonomischer Perspektive grundsätzlich legitime staatliche Handlungen
annimmt. Die gesellschaftliche und politische Dynamik, die mit dem anthropo-
genen Klimawandel einhergeht, bestimmt, wie ausgeprägt fossile Energien in
Bedrängnis zu geraten drohen und regenerative Alternativen profitieren könnten.
Auf Grundlage der ökonomischen Bewertung von Treibhausgasemissionen und
nationalen wie internationalen Klimaschutzbemühungen analysiert dieses Kapitel
die bestehende Förderung von Bioerdgas durch das EEG und die Wirtschaft-
lichkeit einer Minderung von Treibhausgasemissionen durch Substitution von
Erdgas durch Bioerdgas. Bei der Untersuchung von Versorgungssicherheit
befasst es sich mit der langfristigen Verfügbarkeit von Erdgas, Risiken relevanter
Lieferländer sowie mit Maßnahmen gegen kurzfristige Lieferausfälle. Es wählt
als Startpunkt den deutschen bzw. europäischen Status Quo und geht der Frage
nach, in wieweit Bioerdgas zu einer Verbesserung der jeweiligen Ausprägung
von Versorgungssicherheit beitragen kann und wie es gegenüber alternativen
Wegen einzuordnen ist. Die Arbeit schließt mit einem Fazit in Kapitel 6.
2 Das Produkt Bioerdgas 5
2 Das Produkt Bioerdgas
2.1 Abgrenzung und Entstehung
2.1.1 Erdgas, Biogas und Bioerdgas
„In jedem Gänseblümchen wohnt ein potentieller Tropfen Sprit.“2 Was die
Zeitschrift Spiegel in einem Sonderheft „Neue Energien“ prosaisch vorträgt,
beschreibt gleichwohl qualitativ korrekt den Zusammenhang zwischen orga-
nischen Ausgangsstoffen und resultierenden Energieprodukten, welche die Basis
unserer Industrie- und Mobilitätsgesellschaft bilden. Die nutzbare Energie aus
Kohle, Öl und Gas stellt nichts anderes dar als gespeicherte Sonnenenergie. Mit
Sonnenenergie wandeln bestimmte Organismen im Prozess der Photosynthese
Kohlendioxid und Wasser in höhermolekulare Kohlenhydrate um. Wird abge-
storbenes organisches Material dann eingeschlossen und die gespeicherte Energie
dem natürlichen Abbau durch Oxidation entzogen, entstehen in solchen Ablage-
rungen über Millionen Jahre bei entsprechenden Rahmenbedingungen wie Druck
und Temperatur die auf Kohlenstoff beruhenden fossilen Energieträger Kohle, Öl
und Gas.3
Die natürlichen Entstehungsprozesse bedingen, dass Gas – welches in seinem
natürlichen Zustand als Rohgas bezeichnet wird – heute in sehr unterschiedlichen
Qualitäten vorkommt. Das in deutschen Lagerstätten gewinnbare Gas schwankt
beispielsweise in seinem Brennwert, welcher den Energiegehalt ausdrückt,
2 Spiegel Spezial (2007), S. 58. 3 Vgl. Press/Siever (2003), S. 597-606 und 639 f.
2 Das Produkt Bioerdgas 6
zwischen 2 und 12 kWh/m3.4 Vor einer Einspeisung in ein Gasnetz, an dem
Endverbraucher angeschlossen sind, wird das Gas deshalb aufbereitet und
verschnitten, so dass es definierten Anforderungen entspricht. Auf Endver-
braucherebene werden in Deutschland im Wesentlichen zwei Gruppen von
Gasqualitäten unterschieden, die in je eigenen Netzen befördert werden: Soge-
nanntes L-Gas (low), welches beispielsweise in den Niederlanden und Nord-
deutschland gefördert wird, hat einen niedrigeren Brennwert als u. a. in
Norwegen und Russland gefördertes H-Gas (high). Für den Abnehmer von Gas
spielt dies insofern keine Rolle, als das Gas nach geliefertem Energiegehalt, also
nach kWh und nicht nach Kubikmetern abgerechnet wird.5
Bei Biogas läuft der unter Sauerstoffausschluss und speziellen technischen
Rahmenbedingungen stattfindende mikrobiologische Prozess vom organischen
Ausgangsmaterial bis zum verwendungsfähigen Gas je nach Verfahren, Einsatz-
stoffen und Temperaturen in einem Zeitraum von 30 bis 120 Tagen ab. In einem
mehrstufigen Prozess – welcher in ähnlicher Form auch in der Natur in Mooren,
auf dem Grund von Seen oder in Pansen von Wiederkäuern stattfindet –
verwandeln verschiedene Bakterien das organische Ausgangsmaterial über
Stoffwechselprozesse erst in Zwischenprodukte und schließlich im Wesentlichen
in Methan, Kohlendioxid und Wasser. Methan (chemisch CH4), welches auch
den Hauptbestandteil von Erdgas ausmacht, ist der eigentliche Energieträger des
Gases:6
Die Umwandlung im Biogasreaktor, dem sogenannten Fermenter, vollzieht sich
wie folgt: Zuerst wandeln aerobe Bakterien die hochmolekularen organischen
4 Vgl. Landesamt für Bergbau (2007), S. 2. Auch niedrige Zahlen werden in dieser Arbeit bei
technisch-ökonomischen Werten als Ziffern angegeben. 5 Vgl. Energiewirtschaftliches Institut an der Universität zu Köln [EWI]/Büro für
Energiewirtschaft und Technische Planung [BET] (2000), S. 34-41 und Bundesnetzagentur (2008c), S. 246.
6 Vgl., auch zu nachfolgenden Ausführungen zur Biogasproduktion, Eder/Schulz (2007), S. 8 und 19-40, Schattauer/Weiland (2006), Helm (2007a), Helm (2007b).
2 Das Produkt Bioerdgas 7
Ausgangsstoffe in niedermolekulare Verbindungen wie Zucker, Aminosäuren
und Fettsäuren um. Anschließend folgt die Phase der Versäuerung, in der säure-
bildende Bakterien die zuvor erzeugten Stoffe in kurzkettige Fettsäuren, Alko-
hole und verschiedene Gase überführen. Diese Bakterien sind fakultativ anaerob,
d. h. sie können sowohl in Umgebungen mit und ohne Sauerstoff wachsen. Sie
verbrauchen den in dieser Phase noch vorhandenen Sauerstoff. Essigsäure-
bakterien bilden aus den organischen Säuren die für die Methanbildung notwen-
digen Ausgangsstoffe Essigsäure, Kohlendioxid und Wasserstoff. Abschließend
erfolgt die Bildung von Methan, Kohlendioxid und Wasser durch die anaeroben
Methanbakterien. Diese gehören zu den ältesten Lebewesen der Welt und sind
vor etwa drei bis vier Milliarden Jahren entstanden, als die Erdatmosphäre noch
eine gänzlich andere Zusammensetzung hatte als heute. Sie sind auf eine sauer-
stofffreie Umgebung angewiesen. Für jede Prozessstufe gibt es optimale
Rahmenbedingungen, zu denen pH-Wert und Temperatur zählen. Aus dieser
Sicht wäre es naheliegend, die einzelnen Prozesse unabhängig voneinander in
sogenannten mehrstufigen Verfahren räumlich und zeitlich getrennt stattfinden
zu lassen. Es ist jedoch auch möglich, den ganzen Prozess in einem Behälter zu
konzentrieren, in dem die verschiedenen Prozesse parallel ablaufen können. Die
Methanbakterien bilden dabei Gemeinschaften mit Bakterien anderer
Prozessstufen, die den Sauerstoff verbrauchen, bevor er die Methanbakterien
schädigen kann. Es kann dabei immer wieder neues organisches Ausgangs-
material hinzugefügt werden, ohne dass der Gesamtprozess zuvor abgeschlossen
sein müsste.
In der Praxis herrschen diese einstufigen Verfahren vor, da mehrstufige
Verfahren einen höheren Aufwand in Anlagenbau und Steuerung bedeuten.
Insbesondere bei heterogenen organischen Ausgangsstoffen mit unterschiedlich
schnell abbaubaren Komponenten ist eine räumliche Trennung der verschiedenen
Stufen nur schwer zu realisieren. Häufiger anzutreffen sind zwei Behälter, die
hintereinander geschaltet sind. Der erste Behälter ist für eine kurze Verweilzeit
2 Das Produkt Bioerdgas 8
konzipiert, in der die schnell abbaubaren Substanzen zu Gas umgesetzt werden.
In einem zweiten Behälter erfolgt dann anschließend die Gasbildung aus den
schwerer abbaubaren Substanzen. Unabhängig von der Anzahl der hintereinander
geschalteten Behälter nimmt die Gasausbeute aus dem organischen Einsatzstoff
im Zeitablauf ab. Da in einem Behälter immer nur ein begrenzter Raum
vorhanden ist, findet aus wirtschaftlichen Überlegungen heraus deshalb nie ein
vollständiger Abbau der Organik statt. Üblich sind Verweilzeiten der Organik im
Behälter, die zu einem Abbaugrad von 60 % der organischen Substanz führen,
bei einigen Anlagen werden auch 80 % erreicht. Das Biogas muss wie Rohgas –
in Abhängigkeit von der weiteren Verwendung – aufbereitet werden, um
beispielsweise den an Anlagenteilen Korrosionen verursachenden Schwefel-
wasserstoff zu entfernen oder die Qualitätsvorgaben für Einspeisungen in das
Erdgasnetz zu erfüllen. Der Output aus Biogasanlagen findet anschließend
üblicherweise als landwirtschaftlicher Dünger Verwendung.
Unterschieden wird die Biogaserzeugung in Verfahren der Nass- und der
Trockenfermentation. Von Nassfermentation wird gesprochen, wenn der
Trockenmassegehalt im Fermenter einen Bereich von 12-15 % nicht übersteigt.
Oberhalb von 16 % ist das Material in der Regel nicht mehr pumpbar, hier liegt
eine Trockenfermentation vor. Auch bei Trockenfermentation befindet sich
Flüssigkeit im Fermenter, da die beteiligten Bakterien in jedem Falle in ihrer
unmittelbaren Umgebung ausreichend Wasser für ihr Überleben benötigen.7
Wird das organische Ausgangsmaterial nicht wie beim Biogas anaerob, sondern
in einem aeroben Prozess, d. h. mit Sauerstoff, abgebaut, handelt es sich um eine
Kompostierung. Anders als bei der Kompostierung fällt beim anaeroben Vergä-
rungsprozess kaum Wärme an, die Energie bleibt in Form von Methan im Gas
enthalten. Prinzipiell sind alle organischen Stoffe sowohl anaerob wie aerob
7 Vgl. Schattauer/Weiland (2006), S. 26.
2 Das Produkt Bioerdgas 9
abbaubar. Allerdings eignet sich festes, strukturreiches Material wie Baum- oder
Strauchgut besonders für die Kompostierung und nasses Material wie Gülle
hervorragend zur Vergärung. Zur Erzeugung von Biogas wird Gülle oftmals in
Kombination mit speziellen Energiepflanzen wie Silomais eingesetzt, die als
nachwachsende Rohstoffe (NaWaRo)8 bezeichnet werden. NaWaRo können auch
ohne Gülle als alleiniges organisches Ausgangsmaterial zur Erzeugung von
Biogas genutzt werden.9
Je nach Art der eingesetzten organischen Ausgangssubstrate und der Prozessaus-
gestaltung variiert die Zusammensetzung des erzeugten Biogases. Tabelle 2.1
gibt einen Überblick über die Bandbreiten der wesentlichen Biogasbestandteile10.
Tabelle 2.1: Zusammensetzung von Biogas
Kompo-nente
Methan (CH4)
Kohlen-dioxid (CO2)
Wasser (H2O)
Stickstoff (N2)
Wasser-stoff (H2)
Sauer-stoff (O2)
Schwefel-wasser-stoff (H2S)
Anteil am Biogas [%]
50-75 25-45 2-7 0-2 0-1 0-2 0-2
Quelle: Aschmann et al. (2008), S. 14.
Die Unterscheidung zwischen fossilem Erdgas und Biogas ist – spiegelbildlich
zur üblichen Verwendung des Präfixes „Bio“ – eine zwischen dem Naturprodukt
Erdgas und dem unter technischen Bedingungen künstlich hergestellten Biogas.
In der weiteren Arbeit werden folgende Begrifflichkeiten auseinandergehalten:
Erdgas bezeichnet das fossile Gas nach Aufbereitung für den Verwender,
welches in Pipelines im Erdgasnetz transportiert wird. Biogas ist das von 8 NaWaRo bezeichnen ein- oder mehrjährige Kulturen, die auf landwirtschaftlichen Nutzflächen
zur ausschließlichen energetischen Verwendung angebaut werden. 9 Vgl. Eder/Schulz (2007), S. 42 f. 10 Biogas kann als Produkt, das aus natürlichen Materialien hergestellt wird, Spuren zahlreicher
weiterer Stoffe aufweisen.
2 Das Produkt Bioerdgas 10
Menschen in technischen Anlagen aus pflanzlichen und tierischen Ausgangs-
stoffen erzeugte Gas. Bioerdgas ist das auf Erdgasqualität aufbereitete und ins
Erdgasnetz eingespeiste Biogas.
2.1.2 Bestandsaufnahme Erdgas und Biogas
Erdgas11 ist nach Mineralöl und Kohle der drittgrößte Primärenergieträger
Deutschlands. Im Jahr 2008 leistete Mineralöl einen Beitrag von 34,7 % zum
Primärenergieverbrauch, Stein- und Braunkohle von 24,2 % und Erdgas von
22,1 %. Insgesamt betrug der Primärenergieverbrauch – bezogen auf den
(unteren) Heizwert12 – rd. 14.000 Petajoule (rd. 3.900 TWh).13 Im Wärmemarkt
für Haushaltskunden ist Erdgas der mit Abstand meistgenutzte Energieträger.
48,0 % aller Wohnungen wurden im Jahr 2006 mit Erdgas beheizt, gefolgt von
Heizöl (30,7 %) und Fernwärme (12,5 %). Neue Wohneinheiten wurden zu zwei
Dritteln mit einer Erdgasheizung ausgestattet.14
Heute liegen die Förderstätten des Erdgases und die großen Verbrauchszentren
weit auseinander. Aus Russland importiertes Erdgas etwa durchfließt mehrere 11 Neben Erdgas gibt es zahlreiche andere Gase, etwa Grubengas, Klärgas, Raffineriegas oder
Kokereigas, die zum Teil als Naturgase gefördert werden und zum Teil als Koppelprodukte bei der Herstellung anderer Produkte anfallen. Diese Gase werden vor allem zum Eigenverbrauch am Ort ihrer Förderung bzw. Produktion verwendet (vgl. Schiffer (2008), S. 167). Ihr Anteil ist im Vergleich zum Erdgas gering. So stellten im Jahr 2006 Erdgas und Erdölgas über 99 % aller Gase in Bezug auf den Primärenergieverbrauch in Deutschland dar (vgl. Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen [AGEB] (2008b)).
12 Die Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen verwendet einheitlich den (unteren) Heizwert bei der Umrechnung der spezifischen Einheiten der einzelnen Energieträger in Joule (vgl. Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen [AGEB] (2008d), S. 8). In der Gaswirtschaft üblich ist hingegen der Brennwert (obere Heizwert) als Bezugsgröße (vgl. Schiffer (2008), S. 521). Nicht in allen Statistiken ist angegeben, ob sich Angaben auf den Heizwert oder Brennwert beziehen, ggf. auftretende Abweichungen zwischen Statistiken können u. a. auf diese unterschiedlichen Bezugsgrößen zurückzuführen sein. Brennwert und Heizwert sind beide Maße für die in einer Brennstoffmenge enthaltene Energie, die bei vollständiger Verbrennung frei wird, wenn das Abgas auf Bezugstemperatur zurückgekühlt wird. Der Brennwert berücksichtigt dabei auch die bei der Kondensation des im Abgas enthaltenen Wasserdampfes freigesetzte Energie, während der Heizwert annimmt, der Wasserdampf im Abgas bliebe auch nach Rückkühlung auf Bezugstemperatur dampfförmig (vgl. Cerbe et al. (2008), S. 52).
13 Vgl. Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen [AGEB] (2009). 14 Vgl. Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft [bdew] (2007), S. 19.
2 Das Produkt Bioerdgas 11
Tausend Pipeline-Kilometer, bevor es auch nur die deutsche Grenze passiert. Die
Anfänge der Gaswirtschaft finden sich dagegen in einer dezentralen Gaspro-
duktion und -versorgung auf Städteebene. Stadtgas beleuchtete erstmals in
London im Jahre 1814 die Westminster Bridge und verbreitete sich in den
folgenden Jahren und Jahrzehnten in immer mehr Städten in Europa. Jahrzehn-
telang bedeutete Gas das neue Licht des industriellen Zeitalters. Eine massen-
hafte Nutzung zum Kochen und für die Wärmeversorgung setzte erst später ein,
zum Teil als Reaktion zunehmender Konkurrenz von Petroleum und Elektrizität
auf dem Markt für Beleuchtung, die die Gasproduzenten nach neuen Absatz-
potentialen suchen ließ. Vor allem Kohle diente als Ausgangsmaterial, aus dem
lokale Gaswerke das Stadtgas in speziellen Geräten und Verfahren durch
Erhitzung gewannen und dann über Leitungen zu den Verbrauchsorten transpor-
tierten.15 Neben die Gaswerke traten später Kokereien, die Gas im Zuge der
Koksproduktion großtechnisch und auch günstiger erzeugen konnten. Im Ruhr-
gebiet entstanden so zu Beginn des 20. Jahrhunderts erste nennenswerte Ferngas-
netze, die das Gas aus der großtechnischen Produktion zu den Verbrauchsorten
transportierten.16 Die Erschließungen der Erdgasfunde in den Niederlanden und
Deutschland, später auch in Norwegen und Russland, führten seit den 1960er
Jahren zu einer Verdrängung des Stadtgases aus der öffentlichen Gasversorgung.
In der auf heimische Energiequellen fokussierten DDR allerdings blieb aus
Braunkohle hergestelltes Stadtgas bis zur Wiedervereinigung ein wichtiger
Energieträger. Noch im Jahre 1990 hatte Stadtgas einen Anteil von 27 % am
ostdeutschen Gasverbrauch (weitere 19 % stammten als einheimisches Erdgas
aus Salzwedel und 54 % aus Russland). Mit der Stilllegung der letzten Anlage
15 Kohlevergasung wird auch heute noch in Südafrika und China durchgeführt. Für eine
Beschreibung der chemischen Prozesse vgl. Cerbe et al. (2008), S. 27 ff. 16 Die Vertreter des Ruhrkohlenbergbaus bündelten 1926 ihre Aktivitäten mit der Gründung der
Aktiengesellschafter für Kohleverwertung (AGKV), die zwei Jahre später in Ruhrgas AG umbenannt wurde. Im Jahre 1928 gelang der Ruhrgas mit einem Bezugsvertrag der Stadt Hannover der Schritt über das Ruhrgebiet hinaus.
2 Das Produkt Bioerdgas 12
zur Stadtgasproduktion im Kombinat Schwarze Pumpe endete 1995 die
Geschichte der deutschen Gaserzeugung aus Kohle.17
Die Entwicklung von den lokalen Gaswerken über die Kokereien hin zum Erdgas
entsprach einer Entwicklung hin zu großindustriellen Lösungen mit großen
Transportnetzen und einer immer größeren räumlichen Entkoppelung von
Produktion bzw. Förderung und Verbrauch. Die beginnende Einbindung von
Biogas in das deutsche Erdgasnetz könnte demgegenüber eine Gegenbewegung
(wieder) hin zu lokaler, dezentraler Produktion markieren.
Seine Anfänge hat Biogas um die Wende zum 20. Jahrhundert in der Abwasser-
reinigung, wo noch heute anaerobe Klärstufen gebräuchlich sind. Das gewonnene
Gas wird für Wärmezwecke oder in Anlagen der Kraft-Wärme-Kopplung
(KWK) zur kombinierten Produktion von Strom und Wärme genutzt. Dieses Gas
wird auch als „Klärgas“ bezeichnet. Die Landwirtschaft als Lieferant von Biogas
wurde erst in der Nachkriegszeit entdeckt. So berichten Eder/Schulz, der Klär-
techniker Imhoff habe 1947 darauf hingewiesen, der Stallmist einer einzigen Kuh
könne hundert mal so viel Gas erzeugen wie der Klärschlamm eines städtischen
Einwohners. Erste landwirtschaftliche Biogasanlagen in den 50er Jahren mussten
sich schon kurz nach ihrer Inbetriebnahme der preisgünstigen Konkurrenz von
Heizöl geschlagen geben. Nach einem kurzen Zwischenaufschwung in Folge der
Ölkrise 1972/73 setzte der bis heute anhaltende Boom erst mit der staatlichen
Förderung von mit Biogas erzeugtem Strom ab dem Jahr 1990 ein.18
Da die staatliche Förderung nicht an der Produktion von Biogas ansetzt, sondern
der mit Biogas erzeugte Strom subventioniert wird, vollzog sich der Ausbau von
Biogas bislang losgelöst vom Erdgasnetz. Biogas wird am Ort der Gewinnung in
Strom umgewandelt und dieser dann in das öffentliche Stromnetz eingespeist. 17 Vgl. Karlsch (2008). 18 Vgl. Eder/Schulz (2007), S. 8 ff.
2 Das Produkt Bioerdgas 13
Bis Ende des Jahres 2007 betrug der Anlagenbestand in Deutschland 3.764
Biogasanlagen bei einer installierten elektrischen Leistung von 1.232 MW (vgl.
Abbildung 2.1). Die durchschnittliche installierte elektrische Leistung je Anlage
betrug damit 0,32 MW und nahm über die betrachtete Zeitspanne deutlich zu. Im
Jahr 1999 lag dieser Wert noch bei 0,06 MW. Die Stromerzeugung aus Biogas
im Jahr 2007 betrug 7,43 TWh, 1,2 % der deutschen Bruttostromerzeugung.19
Abbildung 2.1: Entwicklung Biogasanlagen in Deutschland
Quelle: Institut für Energetik und Umwelt gGmbH et al. (2008), S. 35.
Bei den zur Produktion von Biogas eingesetzten Substraten dominieren Gülle
(Exkremente) und NaWaRo (vgl. Abbildung 2.2). Eine bayerische Betreiberum-
frage aus dem Jahre 2006 führte zu dem Ergebnis, dass in 74,5 % der Anlagen
19 Vgl. Bundesministerium für Umwelt (2008b), S. 12. Aus Gegenüberstellung der
Stromproduktion mit Biogas und der dafür installierten elektrischen Leistung wird deutlich, dass die Biogasanlagen nicht den theoretisch maximal möglichen Strom produzieren. Das Institut für Energetik und Umwelt geht von 6.750 von maximal möglichen 8.760 Volllaststunden im Jahr aus (vgl. Institut für Energetik und Umwelt gGmbH et al. (2008), S. 35).
2 Das Produkt Bioerdgas 14
NaWaRo zusammen mit Wirtschaftsdüngern eingesetzt werden, wobei unter den
Wirtschaftsdüngern Rindergülle mit knapp 83 % heraussticht.20
Abbildung 2.2: Massebezogener Substrateinsatz in Biogasanlagen 2007
Quelle: Institut für Energetik und Umwelt gGmbH et al. (2008), S. 53.
Innerhalb der NaWaRo entfallen über zwei Drittel der Substrate auf Mais (vgl.
Abbildung 2.3). Die Anbaufläche für die in der Biogaserzeugung eingesetzten
nachwachsenden Rohstoffe umfasst 500.000 bis 550.000 ha.21 Dies entspricht
3 % der insgesamt 17 Mio. ha landwirtschaftlich genutzten Fläche in Deutsch-
land.22
20 Vgl. Aschmann et al. (2008), S. 17. 21 Vgl. Institut für Energetik und Umwelt gGmbH et al. (2008), S. 53. 22 Vgl. Statistisches Bundesamt (2008).
2 Das Produkt Bioerdgas 15
Abbildung 2.3: Massebezogener Substrateinsatz nachwachsender Rohstoffe (NaWaRo) 2007
Quelle: Institut für Energetik und Umwelt gGmbH et al. (2008), S. 54.
Das bislang erzeugte Biogas ist zum allergrößten Teil, wie oben beschrieben,
kein Austauschprodukt für Erdgas, da es nicht durch Erdgasleitungen transpor-
tiert wird und der Verbrauch vielmehr am Ort der Erzeugung erfolgt. Umgekehrt
gilt aber, dass der bislang durch Biogas erzeugte Strom alternativ auch mit
Erdgas erzeugt werden könnte. Dieses könnte ebenso dezentral erfolgen wie bei
Biogas, wenn auch nicht zwingend immer an exakt den gleichen Stellen, da das
Erdgasnetz in Deutschland zwar weitmaschig ausgebaut ist, aber nicht jedes
Grundstück in der Nähe einer Erdgasleitung liegt.23 Insofern bestehen unab-
hängig von der Aufbereitung von Biogas auf Erdgasqualität und Einspeisung in
das Erdgasnetz Substitutionsbeziehungen zwischen beiden Energieträgern. Dies
trifft grundsätzlich auf alle Energieträger zu, mit denen Strom oder Wärme
hergestellt werden kann. Für Biogas und Erdgas gilt dieses noch ausgeprägter, da
23 Einen anschaulichen Überblick über die Erschließung Deutschlands mit Erdgas gibt eine von
den Gasnetzbetreibern gemeinsam gepflegte elektronische Gasnetzkarte (www.gasnetzkarte.de).
2 Das Produkt Bioerdgas 16
beide die gleichen gasförmigen Eigenschaften und damit Einsatzmöglichkeiten
besitzen und ein reines Biogasnetz sich nicht wesentlich von einem Erdgasnetz
unterschiede. Mit der Aufbereitung von Biogas auf Erdgasqualität und
Einspeisung in das Erdgasnetz geht die tatsächliche Austauschbarkeit einher, es
liegen in Bezug auf die relevanten Aspekte identische Produkte vor, die sich im
Netz durchmischen. Die Größenordnungen der Energieträger Biogas und Erdgas
sind in Tabelle 2.2 dargestellt.
Tabelle 2.2: Energieträger Biogas und Erdgas 2007 (Heizwerte)
Biogas [TWh] Erdgas [TWh] Biogas in % Erdgas
Primärenergie-verbrauch in Deutschland
21,1 867,8 2,4
Einsatz zur Stromerzeugung 21,1 165,0 12,8
Erzeugter Strom 7,4 75,9 9,7
Quelle: Bundesministerium für Umwelt (2008b), S. 12, Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen [AGEB] (2009), Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen [AGEB] (2008a), Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen [AGEB] (2008c), S. 22, zum Teil eigene Berechnungen: für Biogas ist hier ein elektrischer Wirkungsgrad von 35 % unterstellt (vgl. Fachagentur Nachwachsende Rohstoffe e.V. [FNR] (2006), S. 104 f.); die Produktion von Biogas ist mit dem Einsatz zur Stromerzeu-gung gleichgesetzt (solange noch keine nennenswerten Einspeisungen von Bioerdgas in das Erdgasnetz mit Nutzung dieses Bioerdgases zur Wärmeerzeugung gegeben ist, dürfte dies eine realistische Annahme darstellen).
Die Biogasanlagen in Pliening bei München mit einer jährlichen Einspeisung von
39 Mio. kWh (0,039 TWh) und Straelen am Niederrhein mit einer jährlichen
Einspeisung von 44 Mio. kWh (0,044 TWh) waren Ende 2006 die ersten
Anlagen, die Biogas aufbereitet und ins Erdgasnetz eingespeist haben.24 Gemäß
einer von der Deutschen Energie-Agentur geführten Projektliste, die in der
Branche als sehr vollständig gilt,25 bestehen mit Stand Juli 2009 47 Projekte zur
Einspeisung von Bioerdgas. Diese umfassen sowohl bereits realisierte Projekte
24 Vgl. Deutsche Energie-Agentur [dena] (2008), S. 9. 25 Vgl. Lohmann (2009b), S. 7.
2 Das Produkt Bioerdgas 17
als auch in Bau oder Planung befindliche Projekte, deren geplante Betriebsauf-
nahme spätestens im Jahr 2010 liegt.26 Bei tatsächlicher Realisierung sämtlicher
Projekte ergäbe sich dann eine Einspeiseleistung von rd. 28.000 m3/h. Bei
Betrieb der Anlagen mit durchschnittlich 6.750 Benutzungsstunden im Jahr (vgl.
Fußnote 19) führte dies zu einer Jahresproduktion von 189 Mio. m3 oder rund
1,89 TWh Bioerdgas (0,2 % des deutschen Erdgasverbrauchs).
Abbildung 2.4 zeigt schematisch die wesentlichen Komponenten einer Biogas-
anlage und die Schritte, die von den Ausgangsstoffen bis zum Endprodukt
durchlaufen werden. In der Praxis hängt die konkrete Ausgestaltung u. a. von den
verwendeten Substraten, der räumlichen Situation vor Ort, der eingesetzten
Technik und der Verwendung des erzeugten Gases ab. Die hier dargestellte
Anlage vergärt Gülle und NaWaRo im Fermenter in einem einstufigen Verfahren
zu Biogas. Der Fermenter ist das eigentliche Herzstück der Biogasanlage, in dem
Vorrichtungen zur Durchmischung und Beheizung für möglichst gute Rahmen-
bedingungen zur Gaserzeugung sorgen und in dem das gewonnene Biogas unter
dem Foliendach zwischengespeichert wird. Ein gewisses Speichervolumen ist
notwendig, da die Biogasproduktion Schwankungen unterliegt, die eine kontinu-
ierliche Nutzung des Gases nicht beeinflussen sollten. Üblich sind Speicher-
volumen von mindestens einem Viertel einer Tagesproduktion, empfohlen
werden bis zu zwei Tagesproduktionen. Aufgrund wirtschaftlicher Optimierung
der mit zunehmender Zersetzung abnehmenden Biogasausbeute wird das orga-
nische Ausgangsmaterial nicht komplett in der Biogasanlage verwertet
(vgl. 2.1.1). Da die biologischen Prozesse mit Verlassen des Fermenters nicht
komplett stoppen, kommt es im Gärrestlager weiterhin zu einer Gasbildung. Die
dargestellte Anlage fängt dieses auf und erhöht damit die Biogasausbeute. Der
verbleibende Gärrest wird anschließend als Dünger ausgefahren, während das
Biogas je nach Verwendung mehr oder weniger intensiv weiter aufbereitet wird.
26 Vgl. Deutsche Energie-Agentur [dena] (2009).
2 Das Produkt Bioerdgas 18
Bei einer Verstromung am Ort der Produktion in einem Blockheizkraftwerk
stehen Entwässerung und Entschwefelung des Gases im Vordergrund, während
bei einer Einspeisung ins Erdgasnetz den Qualitätsvorgaben des Netzbetreibers
entsprochen werden muss.27
Abbildung 2.4: Wesentliche Komponenten einer Biogasanlage
Quelle: Eigene Darstellung.
2.1.3 Aufbereitung von Biogas zu Bioerdgas
In Deutschland gibt es von den importierenden Ferngasgesellschaften bis zu den
Stadtwerken vor Ort über 700 Gasversorger, die Gasnetze mit einer Gesamtlänge
von über 400.000 km betreiben.28 Zur Förderung der Nutzung regenerativer
Energiequellen hat der Gesetzgeber den Anschluss von Biogasanlagen an das
Erdgasnetz einheitlich – unabhängig von der Netz- oder Druckebene – festgelegt.
27 Anschauliche ausführliche Darstellungen der einzelnen Prozessstufen mit ihren technischen
Ausführungen finden sich bei Aschmann et al. (2008), S. 32-85 und Scholwin et al. (2006). 28 Vgl. Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft [bdew] (2007), S. 4, 20 und 28. Das
Gasnetz wurde über die letzten Jahrzehnte kontinuierlich ausgebaut. Mitte der 70er Jahre lag seine Länge (in der damaligen BRD) noch bei rd. 120.000 Kilometer (vgl. Bräuninger et al. (2007), S. 8 f.).
2 Das Produkt Bioerdgas 19
Nach § 41c der Gasnetzzugangsverordnung (GasNZV)29 hat der Netzbetreiber
grundsätzlich die Pflicht, Biogasanlagen vorrangig an sein Netz anzuschließen.
Dabei hat der Einspeiser von Biogas gemäß § 41f GasNZV sicherzustellen, dass
das eingespeiste Gas den Qualitätsanforderungen der Arbeitsblätter G 260 und
G 262 der Deutschen Vereinigung des Gas- und Wasserfachs e. V. (DVGW)30
entspricht und die Methanemission bei der Aufbereitung des Biogases einen
Grenzwert von 0,5 % nicht übersteigt (für die ersten drei Jahre nach Inkrafttreten
der Verordnung liegt der Grenzwert abweichend bei 1 %). Das Arbeitsblatt
G 260 spezifiziert Anforderungen an Brenngase der öffentlichen Gasversorgung,
wobei innerhalb der Erdgas angehörenden 2. Gasfamilie die Gruppen L- und H-
Gas unterschieden werden, für die jeweils unterschiedliche Anforderungen
gelten. Das Arbeitsblatt G 262 ergänzt diese Anforderungen für regenerative
Gase. Biogas wird mit der Einspeisung einem bestehenden Gasstrom zugemischt
und hat als Neuling seine Qualität dem bereits vorhandenen Gas anzupassen.
Dies betrifft insbesondere die Kennwerte Wobbeindex und Brennwert, aber auch
eine Reihe von Gasbegleitstoffen wie Schwefelwasserstoff, für die Höchst-
grenzen in den Arbeitsblättern festgelegt sind. Während der Brennwert die im
Brennstoff chemisch gebundene Energie angibt, ist der Wobbeindex ein Maß für
die Energielieferung eines Brenners.31
Mit Aufnahme der Sonderregeln für Biogas in die GasNZV hat der Verord-
nungsgeber den Einspeiser von Biogas von der Pflicht entbunden, für eine
Kompatibilität des eingespeisten Gases im Hinblick auf die eichrechtlich
29 Verordnung über den Zugang zu Gasversorgungsnetzen (Gasnetzzugangsverordnung –
GasNZV) vom 25.07.2005 (BGBl. I S. 2210), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 08.04.2008 (BGBl. I S. 693).
30 Gegründet von Gaswerksleitern im Jahr 1859 begleitet der DVGW die technische Entwicklung der Gaswirtschaft seit 150 Jahren. Als privater Verein, der von Unternehmen der Gaswirtschaft getragen wird, erarbeitet der DVGW einheitliche technische Regeln für Planung, Bau und Betrieb von Rohrleitungen und Anlagen in der Gas- und Wasserwirtschaft. Der DVGW konkretisiert so Schutz- und Sicherheitsziele, die der Gesetzgeber oftmals nur allgemein festlegt. Vgl. o.V. (2006).
31 Vgl. Cerbe et al. (2008) S. 52, 59 ff. und 71 ff.
2 Das Produkt Bioerdgas 20
konforme Abrechnung von Letztverbrauchern im Netz zu sorgen. Diese im
Arbeitsblatt G 685 des DVGW geregelten Anforderungen sind nun vom Netz-
betreiber sicherzustellen. Solange der Biogaseinspeiser die Vorschriften der
Arbeitsblätter G 260 und G 262 einhält, ist es Aufgabe des Netzbetreibers für
eine ggf. erforderliche Angleichung des Brennwertes von eingespeistem Biogas
und bereits im Netz befindlichen Erdgas zu sorgen, indem er dem Biogas
beispielsweise vor der Einspeisung Luft bei zu hohem Brennwert oder hoch-
kalorisches Flüssiggas bei zu niedrigem Brennwert beimischt.32 Dies ist erforder-
lich, da Erdgas zwar nach Wärmemengen abgerechnet, aber nach Volumen beim
Verbraucher erfasst wird. Für die korrekte Umrechnung von Kubikmetern in
Kilowattstunden ist der exakte Brennwert erforderlich.33
Das Arbeitsblatt G 260 gibt einen Wobbeindex-Korridor von 10,5-13,0 kWh/m³
für L-Gas und von 12,8-15,7 kWh/m³ für H-Gas vor. Biogas hat hingegen einen
Wobbeindex von rd. 7 kWh/m³. Vor einer Einspeisung ist der Wobbeindex durch
Verringerung des CO2-Anteils im Biogas entsprechend anzuheben.34 Für die
Abtrennung von CO2 existieren verschiedene Verfahren. Bei der sogenannten
Druckwechseladsorptionstechnik lagern sich CO2-Bestandteile des Gases an
Aktivkohle oder Molekularsiebe an. Bei absorptiven Verfahren wird das Gas mit
bestimmten Flüssigkeiten in Kontakt gebracht, die CO2-Bestandteile an sich
binden (Physisorption) bzw. mit ihnen reagieren (Chemisorption).35
Mit der Einspeisung in das Erdgasnetz stehen dem Biogas als Bioerdgas nun
sämtliche Einsatzmöglichkeiten des Erdgases offen: Der Einsatz im Wärmemarkt
für Heizkunden, in Kraftwerken zur Stromerzeugung oder in der Prozesswärme –
all dies ist mit Erdgas wie mit Bioerdgas möglich. Die Unterscheidung zwischen
32 Vgl. Altrock/Schmeding (2009), S. 286. 33 Vgl. Cerbe et al. (2008), S. 230 und 238. 34 Vgl. Institut für Energetik und Umwelt gGmbH et al. (2006), S. 63-76. 35 Einen ausführlichen Überblick der Verfahren inklusive am Markt angebotener Anlagen gibt
Fraunhofer Institut Umwelt- (2008), S. 49-75.
2 Das Produkt Bioerdgas 21
Erdgas und Bioerdgas ist nunmehr nur noch eine bilanzielle. Die Gasströme
mischen sich und sind für den Verbraucher nicht mehr zu unterscheiden. Wie
beim Ökostrom kann auch bei Bioerdgas nur rein rechnerisch die Einspeisung
von Bioerdgas und die Ausspeisung von Gas an anderer Stelle aufeinander
abgestimmt werden. Ein Gasverbraucher, der Bioerdgas erwirbt, wird also nicht
stofflich Bioerdgas beziehen, sondern „nur“ bilanziell, ebenso wie es einem
Ökostromkunden passieren kann, dass ihm physikalisch Strom aus einem
benachbarten Atomkraftwerk geliefert wird. In Bezug auf Netz und Verwendung
ist Bioerdgas mit der Einspeisung schlicht eine von vielen verschiedenen
Aufkommensquellen.
2.2 Potential
Das Gasaufkommen in Deutschland setzt sich aus verschiedenen Lieferquellen
zusammen. Bei einer Betrachtung nach Lieferländern steht Russland an erster
Stelle, gefolgt von Norwegen, den Niederlanden und der inländischen Produktion
(vgl. Abbildung 2.5). Obgleich Biogas bereits seit vielen Jahren und in mittler-
weile nennenswertem Umfang in Deutschland produziert wird, ist der Beitrag
von Bioerdgas zum deutschen Erdgasaufkommen bislang noch vernachlässigbar
(vgl. 2.1.2).
2 Das Produkt Bioerdgas 22
Abbildung 2.5: Erdgasaufkommen in Deutschland nach Herkunftsländern 2008
Quelle: Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen [AGEB] (2008c), S. 13.
Dies soll sich jedoch rasant ändern. Politisches Ziel sind Rahmenbedingungen,
die bis 2020 eine Einspeisung von 6 Mrd. m3 und bis 2030 eine Einspeisung von
10 Mrd. m3 Bioerdgas pro Jahr ermöglichen. Bei einem Heizwert von 10 kWh/m³
entspräche dies einem Anteil von 6,9 respektive 11,5 % des deutschen Erdgas-
verbrauchs im Jahre 2007 (vgl. Tabelle 2.2). Die politischen Ziele im Bereich
Bioerdgas sind Teil der „Eckpunkte für ein integriertes Klimaprogramm“,
welches die Bundesregierung 2007 in einer Klausur in Meseberg beschlossen hat.
Dort werden die 6 bzw. 10 Mrd. m3 Biogas als in Deutschland bis 2020 bzw.
2030 erschließbares Potential genannt.36 Diese Zahlen wurden in die GasNZV
übernommen. „Sonderregelung für die Einspeisung von Biogas in das Erdgas-
netz“ ist ein neu eingefügter Teil der Verordnung überschrieben, der seit April
2008 den Zugang von Biogas zum Erdgasnetz garantiert. Einleitend definiert
36 Vgl. Bundesregierung (2007), S. 21.
2 Das Produkt Bioerdgas 23
dieser Teil in § 41a als Ziel, die Einspeisung von eben 6 bzw. 10 Mrd. m3 Biogas
bis zum Jahr 2020 bzw. 2030 zu ermöglichen.
Als Potential für Bioerdgas in Deutschland tauchen die 6 bzw. 10 Mrd. m3 bereits
in einer Studie auf, die von zwei Spitzenverbänden der deutschen Gaswirtschaft
– dem Bundesverband der deutschen Gas- und Wasserwirtschaft (BGW) und der
Deutschen Vereinigung des Gas- und Wasserfachs (DVGW) – bei mehreren
Forschungsinstituten in Auftrag gegeben und Ende 2005 veröffentlicht wurde.
Diese Studie unterteilt die technischen Potentiale der Biogasproduktion in
landwirtschaftliche Rückstände (Exkremente, Ernterückstände und Grasschnitt),
kommunale Reststoffe (organische Siedlungsabfälle), Reststoffe aus Industrie
und Gewerbe und NaWaRo:37
Bei der gaslichen Verwertung von Reststoffen aus Industrie und Gewerbe wird
davon ausgegangen, dass dieses Gas direkt in den Betrieben verwendet wird,
etwa zur Bereitstellung von Prozesswärme, und deshalb nicht für eine Einspei-
sung ins Erdgasnetz in Betracht kommt. Das Potential von Bioerdgas aus land-
wirtschaftlichen und kommunalen Rückständen wird als konstant angesehen,
jedoch eine im Zeitablauf deutlich steigende Nutzung als möglich unterstellt.
Dabei kommt es allerdings nicht zu einer gänzlichen Nutzung der Potentiale, da
etwa Gülle wirtschaftlich nur wenige Kilometer transportierbar ist und deshalb
nur rund 50 % der Gülle an Stellen vorliegt, an denen eine Bioerdgaseinspeisung
möglich ist.38 Bei NaWaRo wird neben einer steigenden Nutzung auch ein
erweiterbares Potential identifiziert, welches sich aus zwei Entwicklungen
zusammensetzt: Zum einen wird in Deutschland aufgrund zunehmender Ernte-
erträge und Lebensmittelimporte, etwa aus neuen osteuropäischen EU-Ländern,
zukünftig weniger benötigte Ackerfläche für die Lebensmittelproduktion ange-
37 Vgl. Wuppertal Institut für Klima Umwelt Energie et al. (2005). 38 Eine Abschätzung für Transportkosten von Gülle ist zu finden bei Daniel/Scholwin (2008), S.
421.
2 Das Produkt Bioerdgas 24
nommen. Diese Fläche steht zumindest teilweise für den Anbau von NaWaRo
zur Verfügung. Für die detaillierte Abschätzung der prinzipiell für NaWaRo zur
Verfügung stehenden Fläche prognostiziert die Studie auch weitere Flächenver-
bräuche außerhalb der Landwirtschaft und den Ausbau des flächenintensiveren
Öko-Landbaus. Die sich ergebenden Flächenpotentiale für NaWaRo lauten
0,55 Mio. ha in 2005, 1,15 Mio. ha in 2020 und 1,60 Mio. ha in 2030. Zum
anderen wird die seit den 1950er Jahren beobachtete Ertragssteigerung landwirt-
schaftlicher Pflanzen von 2 % per anno fortgeschrieben. Die Studie bezeichnet
letztere Annahme vor dem Hintergrund neuer Züchtungserfolge als eher konser-
vativ. Die beiden Entwicklungen führen dazu, dass der Anteil der NaWaRo am
technischen Biogaspotential von 33 % im Jahre 2005 (vgl. Abbildung 2.6) auf
69 % im Jahre 2030 ansteigt und der mögliche Zuwachs an eingespeistem Biogas
wesentlich von einem Ausbau der NaWaRo-Biogaserzeugung getragen wird.
Abbildung 2.6: Verteilung des technischen Biogaspotentials nach Herkunft 2005
Quelle: Wuppertal Institut für Klima Umwelt Energie et al. (2005), S. 9.
2 Das Produkt Bioerdgas 25
Insgesamt sieht die Studie für das Jahr 2030 ein technisches Biogaspotential von
165 Mrd. kWh/a, wovon eine Biogaseinspeisung von 105 Mrd. kWh (oder rd.
10 Mrd. m³) als möglich angesehen wird (vgl. Abbildung 2.7). Vertreter der
deutschen Gaswirtschaft haben dieses Potential später als Maßstab für die
Entwicklung von Bioerdgas durch die Branche herangezogen. So erklärte
Burckhard Bergmann, damals Vorstandsvorsitzender des größten deutschen
Gasunternehmens E.ON Ruhrgas AG, im Rahmen eines von Ruhrgas einberu-
fenen Pressegesprächs zum Thema Klimaschutz: „Die deutsche Gaswirtschaft
verfolgt das Ziel, dem deutschen Energiemarkt bis 2030 etwa 10 Milliarden
Kubikmeter Bioerdgas zur Verfügung zu stellen.“39 Auf der gleichen Presse-
veranstaltung unterstrich Bernhard Reutersberg, damals Vorstandsmitglied der
Ruhrgas und später Nachfolger von Bergmann als Vorstandsvorsitzender, das
konkrete Engagement der E.ON Ruhrgas in diesem Bereich: Die neugegründete
E.ON Bioerdgas GmbH habe gerade mit der RheinEnergie AG (eines der größten
deutschen kommunalen Energieversorgungsunternehmen) ihren ersten Liefer-
vertrag für Bioerdgas geschlossen.40
39 Bergmann (2007), S. 5. 40 Vgl. Reutersberg (2007), S. 5.
2 Das Produkt Bioerdgas 26
Abbildung 2.7: Biogaspotentiale und mögliche Entwicklung von Einspeisungen
Quelle: Eigene Darstellung auf Basis von Wuppertal Institut für Klima Umwelt Energie et al. (2005). Als „Erreichbare Einspeisung“ ist hier die Einspeisung definiert, die in der zitierten Studie als „realistischer Ausbaupfad“ für aufbereitetes und eingespeistes Biogas bezeichnet wird, wobei für das Jahr 2005 eine noch nicht erfolgte Einspeisung angesetzt ist.
Das regionale Potential für die Biogaserzeugung innerhalb Deutschlands wird
ausführlich in einer Studie dargestellt, die von der Fachagentur Nachwachsende
Rohstoffe e. V.41 herausgegeben wurde und die hinsichtlich des aktuellen Poten-
tials für Bioerdgas zu ähnlichen Ergebnissen wie die BGW/DVGW-Studie
kommt. Die größten Biogaspotentiale liegen danach in den Ländern Bayern,
Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Dies ist in erster Linie auf die Fläche
der drei Länder zurückzuführen. In Bezug auf das spezifische technische Poten-
tial je Quadratkilometer weisen andere Bundesländer zum Teil ähnliche Werte
vor. Im Ergebnis ist in jeder Region Deutschlands ein signifikantes Potential für
Biogasanlagen vorhanden, wobei unterschiedliche Strukturen die Ausgangs- 41 Die Fachagentur Nachwachsende Rohstoffe e.V. wurde 1993 auf Initiative der
Bundesregierung ins Leben gerufen, um Forschungs-, Entwicklungs- und Demonstrationsprojekte im Bereich nachwachsender Rohstoffe zu koordinieren. Als Projektträger verwaltet sie Mittel, welche für die Programme aus dem Bundeshaushalt zur Verfügung gestellt werden (www.fnr.de).
2 Das Produkt Bioerdgas 27
bedingungen für bestimmte Arten von Anlagen bestimmen: Beispielsweise
entsprechen große güllebasierte Biogasanlagen den großen Viehbetrieben im
Osten Deutschlands.42
Eine Studie des Instituts für Energetik und Umwelt, die von der Bundestags-
fraktion Bündnis 90/Die Grünen, dem Fachverband Biogas und der Stadtwerke
Aachen AG (STAWAG) in Auftrag gegeben wurde, kommt zu dem Ergebnis,
dass das nach Lebensmittelerzeugung verbleibende Potential für Bioerdgas in
ganz Europa so groß sei, dass damit im Jahr 2020 der gegenwärtige Erdgasver-
brauch der Europäischen Union weitgehend ersetzt werden könne. Neben den
Potentialen der anaeroben Biogaserzeugung werden in dieser Studie auch Bio-
SNG-Potentiale (Synthetic Natural Gas) betrachtet, bei denen synthetisches
(Bio)Gas aus der unter Wärmezufuhr stattfindenden Vergasung von Holz
gewonnen wird (ähnlich der Vergasung von Steinkohle zur Gewinnung von
Stadtgas). Diese Technologie steht derzeit noch nicht (wirtschaftlich) zur
Verfügung, wird in der Studie ab 2015 jedoch als marktreif angenommen. Die
europäischen Bioerdgaspotentiale umfassen hier ganz Osteuropa inklusive des
euorpäischen Teils der GUS, wobei für Osteuropa nur solche Potentiale
betrachtet werden, die in Erreichbarkeit des Erdgas-Transportnetzes liegen,
während für Westeuropa auch eine Einspeisung in das Verteilnetz unterstellt
wird. In Summe wird in 2020 ein Potential von 485 Mrd. m³/a Bioerdgas
gesehen, von dem je die Hälfte aus der anaeroben Biogasproduktion und aus Bio-
SNG gewonnen werden könnte. Das deutsche Potential in 2020 beträgt dabei
knapp 40 Mrd. m³/a, das für die EU aus den GUS-Staaten Russland, Ukraine und
Weißrussland zugängliche Potential rd. 200 Mrd. m3/a.43
Die Betrachtungen zeigen: Bioerdgas besitzt ein erhebliches Potential, zur
Erdgasversorgung beizutragen. Die weitgehende Erschließung dieses Potentials 42 Vgl. Institut für Energetik und Umwelt gGmbH et al. (2006), Kapitel 4. 43 Vgl. Institut für Energetik und Umwelt gGmbH (2007).
2 Das Produkt Bioerdgas 28
ist politisches Ziel, hat jedoch gerade erst begonnen. Neben dem Ausbau der
Nutzung von Reststoffen wie Gülle kann insbesondere der Ausbau von NaWaRo
zu einer steigenden Produktion von Bioerdgas führen. Es ist zu berücksichtigen,
dass Fläche, welche zukünftig einer anderen Verwendung als der (konven-
tionellen) Nahrungsmittelproduktion zugeführt werden soll, nur einmal genutzt
werden kann –entweder für einen Ausbau der Biogaserzeugung oder für einen
Ausbau der Biodiesel-Erzeugung oder für einen flächenintensiveren Biolandbau.
2.3 Kosten
Die (betrieblichen) Kosten der Erzeugung von Bioerdgas lassen sich in vier
Blöcke gliedern: Die Investitionskosten der Biogasanlage haben fixen Charakter.
Sie variieren in Abhängigkeit von den eingesetzten Substraten und der Anlagen-
größe. Die laufenden Betriebskosten hängen in erster Linie von der Anlagen-
größe ab und umfassen Positionen wie Personal, Wartung und Energie-
versorgung. Während Kosten für Personal und Wartung kurzfristig eher fixen
Kosten entsprechen, so die Anlage nicht komplett stillgelegt wird, haben
Energiekosten variablen Charakter in Abhängigkeit von der erzeugten Biogas-
menge. Wesentlichen Einfluss auf die Gesamtkosten haben die Substratkosten,
die je nach Substrat zudem mit marktpreisinduzierten Volatilitäten einhergehen
können. Den vierten Block stellen die Aufbereitung auf Erdgasqualität und der
Netzanschluss dar, wobei der wesentliche Teil der Aufbereitung in der CO2-
Abtrennung liegt, die sich wiederum in fixe (Anlagen) und variable Bestandteile
(beispielsweise Energie) gliedern lässt.
Eine umfassende Darstellung der Kosten der Biogasproduktion samt Aufbe-
reitung und Einspeisung liefert Fraunhofer Institut Umwelt-, Sicherheits-,
Energietechnik (Umsicht) (2008). Als Referenzanlagen werden dort Anlagen
entweder auf überwiegender Gülle- oder NaWaRo-Basis verschiedener Größen-
ordnung bei jeweils (optimistischen) 8.000 Betriebsstunden pro Jahr betrachtet.
2 Das Produkt Bioerdgas 29
Die Anlage mit überwiegendem Gülle-Einsatz verwendet massebezogen als
Substrate 90 % Rindergülle und 10 % Maissilage (Gülle 90/NaWaRo 10), die
Anlage mit überwiegendem NaWaRo-Einsatz 10 % Rindergülle und 90 %
Maissilage (Gülle 10/NaWaRo 90). Der hohe Wasseranteil der Gülle bedingt
eine deutliche geringere Energieausbeute je massebezogenem Input, so dass auch
für die Anlage Gülle 90/NaWaRo 10 absolut noch erhebliche Mengen an Mais-
silage zum Einsatz kommen. Betrachtet werden verschiedene Anlagengrößen,
abgestellt auf den volumenbezogenen Anlagendurchsatz an Rohbiogas vor Auf-
bereitung. Aufgrund unterschiedlicher Methangehalte des Rohbiogases bei Gülle
und NaWaRo von 57 bzw. 53 Vol-% erzeugen Anlagen gleicher Größe mit
verschiedenen Verhältnissen der Einsatzstoffe unterschiedliche Energiemengen.
Für die Kapitalkosten ist ein einheitlicher Abschreibungszeitraum von 15 Jahren
zu Grunde gelegt. Bei den Substraten werden für die Maissilage Kosten von
35 €/t Frischmasse angesetzt. Gülle wird als kostenfreies Abfallprodukt der
Tierhaltung betrachtet. Die Aufbereitungskosten basieren auf Praxiserfahrungen
und Herstellerangaben. Nachfolgend betrachtet sind die günstigsten Werte, die
sich auf ein Druckwasserwäsche-Verfahren beziehen. Die in der Studie z. T. nur
absolut ausgewiesenen Kostenbestandteile des Bioerdgases sind für ausgewählte
Fälle in Tabelle 2.3 als spezifische Kosten aufbereitet und bezogen auf den
Brennwert angegeben.
2 Das Produkt Bioerdgas 30
Tabelle 2.3: Abschätzung spezifischer Vollkosten Bioerdgas in Ct/kWh (Anlagengröße bezogen auf Rohbiogas)
500 Nm³/h
(Gülle 90 / NaWaRo
10)
500 Nm³/h
(Gülle 10 / NaWaRo
90)
1.000 Nm³/h
(Gülle 10 / NaWaRo
90)
2.000 Nm³/h
(Gülle 10 / NaWaRo
90)
Erzeugtes Methan vor Aufbereitung Heizwert [Mio. kWh/a]* 22,7 21,1 42,2 84,5
Kapitalkosten 0,84 1,20 1,07 0,96 Betrieb (Personal, Wartung, Energie, Sonstiges) 1,49 1,27 1,15 1,00 Substrat (Maissilage bei 35 €/tFrischmasse) 1,75 3,59 3,59 3,59 Aufbereitung (insbes. CO2-Abtrennung)** 1,68 1,56 1,25 1,18 Netzanschluss*** 0,30 0,30 0,30 0,30
Summe Heizwert [Ct/kWh] 6,06 7,92 7,36 7,03 Summe Brennwert [Ct/kWh]**** 5,45 7,13 6,62 6,33 * Bei 9,96 kWh/Nm³ Methan. ** Methanschlupf ist berücksichtigt; für Anlage Gülle 90/NaWaRo 10 ist der Wert Anlage Gülle 10/NaWaRo 90 zzgl. Grobentschwefelung angesetzt. *** Gesamtkosten ohne Differenzierung nach Kostentragung durch Einspeiser und Netzbetrei-ber; abhängig von Anschlussentfernung und Druckstufe des Netzes; ohne Berücksichtigung einer je nach örtlicher Gasqualität ggf. notwendigen Zugabe von Flüssiggas (LPG) durch den Netzbetreiber. **** Brennwert = Heizwert/0,9
Quelle: Eigene Darstellung auf Basis von Fraunhofer Institut Umwelt- (2008), Tabellen 5-1, 5-2, 5-3, 5-12 und 5-18.
Die tatsächlichen Kosten von Einzelanlagen variieren je nach Anlagenkonzept,
örtlichen Gegebenheiten, Angebots-/Nachfragesituation für Biogasanlagen und
Substraten und jeweiligem Stand der verfügbaren Technik. Institut für Energetik
und Umwelt gGmbH et al. (2006) kommt zu etwas geringeren Kosten als Tabelle
2.3, wobei eine ähnliche Anlagenausstattung, ebenfalls keine Kosten für Gülle,
2 Das Produkt Bioerdgas 31
allerdings ein abweichender Wert für Maissilage von 30 €/t unterstellt wird:
Danach ergeben sich für eine Anlage Gülle 10/NaWaRo 90 mit 500 Nm³/h bei
Aufbereitung mittels Druckwasserwäsche Kosten von 6,60 Ct/kWh bezogen auf
den Brennwert. Für eine Anlage Gülle 90/NaWaRo 10 mit ebenfalls 500 Nm³/h
sind es vergleichsweise günstigere 4,38 Ct/kWh. Neben den geringeren Substrat-
kosten sind insbesondere die Kosten der Aufbereitung geringer angesetzt.44
Auf die Bereitstellung der Substrate entfällt bei der Bioerdgasproduktion der
größte Kostenblock. Dieser ist zudem einem volatilen Weltmarktpreis unter-
worfen. Zwar mag sich der einzelne Anlagenbetreiber über langfristige Bezugs-
verträge oder über Eigenanbau preislich gegenüber den Marktschwankungen
absichern. Mindestens als Opportunitätskosten bleiben die Marktpreise jedoch
auch in diesen Fällen erhalten. Abbildung 2.8 zeigt c. p. die Abhängigkeit der in
Tabelle 2.3 durchgeführten Vollkostenrechnung des Bioerdgases vom Substrat-
preis für den Fall der 2.000 Nm³/h-Anlage Gülle 10/NaWaRo 90. Das betrachtete
Preisband führt dabei (bezogen auf den Brennwert) zu Kosten für Bioerdgas
zwischen 3,10 Ct/kWh bei kostenfreier Maissilage von 0 €/t Frischmasse und
10,01 Ct/kWh bei 75 €/t.
44 Vgl. Institut für Energetik und Umwelt gGmbH et al. (2006), Kapitel 6.
2 Das Produkt Bioerdgas 32
Abbildung 2.8: Sensitivität Vollkosten Bioerdgas (Anlage 2.000 Nm³/h Gülle 10/NaWaRo 90; Kosten bezogen auf den Brennwert)
Quelle: Eigene Darstellung auf Basis von Fraunhofer Institut Umwelt- (2008), vgl. Tabelle 2.3 (Basis: 86.580 t Maissilage).
Unter Aufwendung der dargestellten Kosten ist es möglich, Bioerdgas zu produ-
zieren. In wieweit dieses Bioerdgas den gewünschten Beitrag zum Klimaschutz
liefert, versuchen Klimabilanzen zu beantworten.
2.4 Klimabilanz
2.4.1 Gesellschaftliche Resonanz für ökologische Umwelt
Eine Klimabilanz, in der üblicherweise die Klimagase einheitlich als CO2-
Äquivalenz umgerechnet werden, lässt sich als Teilbetrachtung („Wirkungskate-
gorie“) einer Ökobilanz verstehen. Eine Ökobilanz ist ein Instrument zur syste-
matischen Erfassung, Analyse und Bewertung von Stoff- und Energieflüssen.
Basis bildet die Analyse der Stoff- und Energieflüsse des jeweiligen betrachteten
(Produktions-)Prozesses samt seiner Vorstufen: beispielsweise werden in einen
2 Das Produkt Bioerdgas 33
Prozess der Stahlverarbeitung auch die Herstellung des Stahls einbezogen, vom
Erzabbau über den Hochofen bis zur Auslieferung. Darauf aufbauend werden die
Auswirkungen der verwendeten Inputs bzw. erzeugten Outputs auf relevante, als
problematisch bewertete Phänomene untersucht, etwa auf Ozonabbau, Landbean-
spruchung, Humantoxizität oder Treibhauseffekt. Zum Teil erfolgt auch eine –
nicht unumstrittene – Gewichtung verschiedener Phänomene zu einem Wert.
Letztendlich geht es darum, Auswirkungen auf die ökologische Umwelt darzu-
stellen, die gesellschaftlich als nicht wünschenswert erachtet werden.45
Ökologische „Umweltprobleme“ entstehen erst in einem gesellschaftlichen
Kontext, in dem ein Ist- mit einem Sollzustand abgeglichen werden kann. Sie
setzen eine normative Dimension voraus, die die Natur nicht kennt: „Die Natur
hat sich noch nie über das Verschwinden einer Art beschwert“46. Ökobilanzen
haben das Ziel, der Gesellschaft Informationen über (unerwünschte) ökologische
Rückwirkungen ihrer Handlungen zu geben.47 Im systemtheoretischen Sinne
Niklas Luhmanns beobachtet Gesellschaft mit Ökobilanzen ihre Auswirkungen
auf ihre ökologische Umwelt, die wiederum die Lebensgrundlage der Gesell-
schaft bildet. Selbst falls dies problemadäquat gelingen sollte – was aufgrund der
Komplexität der Umwelt und des immer nur vorläufigen Charakters mensch-
lichen Wissens48 keineswegs sicher ist – bedeutet dies nicht, dass diese Informa-
tionen in den relevanten gesellschaftlichen Funktionssystemen, insbesondere der
Wirtschaft, auch verwertet werden. Die Kenntnis des Treibhauseffekts und
dessen wahrscheinliche Folgen hat erst einmal keinen Einfluss auf die Emission
von Treibhausgasen oder die Marktchancen von Bioerdgas. Luhmanns system-
theoretische Betrachtung der Gesellschaft liefert hierfür einen soziologischen
45 Vgl. Siegenthaler (2006), S. 21 f., 32 f. und 123 ff. 46 Siegenthaler (2006), S. 31. 47 Vgl. Siegenthaler (2006), S. 21. 48 Nach Auffassung des kritischen Rationalismus ist Wissen immer nur vorläufiges Wissen,
welches sich zwar bewährt haben mag, welches aber immer als potentiell falsifizierbar zu betrachten ist. Vgl. Musgrave (1993), S. 286 ff.
2 Das Produkt Bioerdgas 34
Analyserahmen, der Aussagen über die Wechselwirkungen zwischen den Funkti-
onsbereichen der Gesellschaft zulässt.
Zentral in Luhmanns Systemtheorie49 ist die Differenz zwischen System und
Umwelt,50 wobei die Umwelt eines Systems all das bezeichnet, was außerhalb
des jeweiligen Systems liegt. Systeme bestehen bei Luhmann aus Operationen:
Biologische Systeme (ein Pantoffeltierchen oder der menschliche Körper) leben,
psychische Systeme (das Bewusstsein eines Menschen) operieren in Form von
Wahrnehmungs- und Bewusstseinsprozessen und die hier relevanten sozialen
Systeme (etwa Gesellschaft mit samt ihrer Ausdifferenzierung in Politik, Wirt-
schaft, Wissenschaft, Religion etc.) kommunizieren. Dabei produzieren Systeme
die Elemente, aus denen sie bestehen, selbst („Autopoiesis“). So wie Leben
weiteres Leben produziert (falls nicht, hört das System auf zu existieren), erzeugt
Denken weiteres Denken und Kommunikation weitere Kommunikation. In dieser
Basisoperation beziehen sich Systeme immer nur auf sich selbst, sie sind operativ
geschlossen bzw. autonom, so dass Operationen rein systemintern ablaufen.
Soziale Systeme etwa können ausschließlich mit sich selbst kommunizieren – die
Klimaerwärmung ist allenfalls Thema, aber nicht Teil des Kommunikations-
prozesses. Systeme können die eigenen Operationen nicht nutzen, um sich mit
ihrer jeweiligen Umwelt in Verbindung zu setzen. Dies bedeutet nicht, dass
Systeme autark und nicht auf ihre Umwelt angewiesen wären. So benötigt Leben
z. B. Energie, und Kommunikation setzt biologische und psychische Systeme
voraus. Systeme sind vielmehr gleichzeitig operational geschlossen und offen, sie
können durch ihre Umwelt – für soziale Systeme sind psychische Systeme Teil
der Umwelt – angeregt oder irritiert werden.
49 Vgl. zu den Ausführungen zu Luhmanns Systemtheorie Berghaus (2004), S. 39-72, Luhmann
(2008), S. 91-141 und Luhmann (1990), S. 74-88, S. 106 und 170. 50 „Ein System ‚ist‘ die Differenz zwischen System und Umwelt.“, heißt es in einer Definition
von System, vgl. Luhmann (2008), S. 66.
2 Das Produkt Bioerdgas 35
Gesellschaft ist das umfassendste soziale System, welches alle Kommunikation
einschließt. Innerhalb von modernen Gesellschaften haben sich eigenständige
Funktionssysteme herausgebildet, die eine spezifische Aufgaben übernehmen,
beispielsweise das Wirtschaftssystem oder das Politiksystem. Funktionssysteme
haben sich als besonders leistungsfähig erwiesen, wenn sie nach einem zwei-
wertigen komplexitätsreduzierenden Code agieren, der alle dritten Möglichkeiten
ausschließt: Das Wissenschaftssystem unterscheidet wahr und unwahr, das
Rechtssystem Recht und Unrecht und das Politiksystem Innehaben und Nicht-
innehaben von Positionen mit öffentlicher Gewaltbefugnis; im Wirtschaftssystem
geht es um Haben oder Nichthaben in Bezug auf Eigentum bzw. Geld. Dritte
Werte werden dabei ausgeschlossen. Ein Dreiercode wie wahr/unwahr/Umwelt
oder Recht/Unrecht/Leid entspricht nicht der Funktionsweise dieser Systeme. Für
wirtschaftliche Operationen ist also nur das relevant, was sich in Geld bzw. in
Preisen ausdrücken lässt, wobei die Spielregeln (Programme), die festlegen,
unter welchen Bedingungen sich diese Werte einstellen, wandelbar sind.
Systemtheoretisch lässt sich darstellen, wie sind die verschiedenen Funktions-
systeme wechselseitig und wie ist die Gesellschaft insgesamt mit ihrer (nichtso-
zialen) Umwelt gekoppelt. Die Codes untereinander sind erst einmal schlecht
integriert. Die positive Wertung in einem Code, etwa die anthropogene Klima-
erwärmung ist wahr, führt nicht zwangsläufig zur positiven Wertung in einem
anderen Code, etwa klimafreundliches Verhalten ist wirtschaftlich. Dies ändert
sich jedoch, sobald – etwa durch ein neues Gesetz, welches die Politik erlassen
hat – klimaschädliches Verhalten wirtschaftliche Sanktionen nach sich zieht.
Dann legt die Umwelt (in diesem Falle die Politik als Teil der Umwelt) dem
Wirtschaftssystem Beschränkungen auf, hier die Internalisierung externer
Kosten, auf die das Wirtschaftssystem mit dem ihm eigenen Code reagiert. Ein
solches Gesetz wird allerdings nur unter den speziellen Spielregeln der Politik
erlassen. Als Beispiel mag das Ozonloch dienen: Die Freisetzung von Fluorchlor-
kohlenwasserstoffen und Halonen, welche die Ozonschicht schädigen, wurde
2 Das Produkt Bioerdgas 36
weltweit von der Politik in den Fokus gerückt, als entsprechende Satellitenbilder
durch die Medien um die Welt gingen.51
Selbst wenn Gesellschaft die destruktiven Auswirkungen gewisser Umweltent-
wicklungen (frühzeitig) in ihre Kommunikation einbezieht, gibt es keinen Auto-
matismus, dass sie sich (ausreichend) auf neue Verhaltensweisen umstellt, um
die Gefahr abzuwehren. Die Auswirkungen von Klimawandel in Form von
gehäuften Naturkatastrophen werden zwar in steigenden Versicherungskosten
ihren direkten Niederschlag in der Wirtschaft finden, nicht jedoch der Ausstoß
von Kohlendioxid, solange hier keine Eigentumsrechte definiert oder politisch
verbindlich Vorgaben aufgestellt sind. Die systemtheoretische Betrachtung
verdeutlicht, dass es hin zu einer gesellschaftlichen Reaktion ein Weg über viele
Schnittstellen ist: Erst über die Schnittstelle Bewusstsein findet überhaupt eine
Kopplung von Gesellschaft und ökologischer Umwelt statt. Die Kommunikation
innerhalb der zentralen Funktionssysteme richtet sich dann nach binären Codes,
die nur unter bestimmten Bedingungen Irritationen oder Umprogrammierungen
der Spielregeln des Codes ermöglichen.
Ökobilanzen können in diesem Kontext als ein Instrument gesehen werden, die
Resonanzfähigkeit von Gesellschaft auf ökologische Entwicklungen zu steigern,
indem zusätzliche Informationen über die ökologischen Konsequenzen
bestimmter Verhalten zur Verfügung gestellt werden. Sie können mithin zu
veränderten Bewusstseinshaltungen beitragen (etwa Wahlverhalten), der Politik
Argumente für bestimmte Entscheidungen liefern (eine Partei geht in bestimmten
Punkten eine neue Richtung, weil es als ökologisch vorteilhaft kommuniziert
werden kann und die Wähler dies honorieren) oder in der Wirtschaft zu verän-
dertem Nachfrage- und Angebotsverhalten führen (Ökoprodukte verkaufen sich
besser, da Konsumenten die ökologischen Auswirkungen präsenter werden).
51 Vgl. Weizsäcker (1994), S. 56 f.
2 Das Produkt Bioerdgas 37
Aber Ökobilanzen haben keine unmittelbaren Auswirkungen und bilden darüber
hinaus immer nur Teilbereiche des Einflusses wirtschaftlicher Aktivitäten auf die
ökologische Umwelt ab, die zudem immer mit Vereinfachungen, Annahmen und
Wertungsproblemen behaftet sind. Wertungsprobleme bestehen zwangsläufig,
denn verschiedene ökologische Kategorien lassen sich nicht ohne Weiteres
ineinander oder auf eine gemeinsame Basis überführen: Wie viel CO2-
Emissionen entsprechen wie viel Schwermetalleinträgen? Da dies weder theore-
tisch noch konsensfähig beantwortbar ist und nur in seltenen Fällen eine Hand-
lungsalternative einer anderen in sämtlichen (betrachteten) ökologischen Katego-
rien überlegen ist, bleibt diese Abwägung eine gesellschaftliche Entscheidung, zu
der Ökobilanzen allerdings größere Klarheit beitragen können. Anders ausge-
drückt: Da Gesellschaft ihre Wirkungen auf Umwelt nur selbst bewerten kann52,
„entsteht Umweltbelastung auf gesellschaftlicher Ebene durch Kommunikation
und Konvention“53. Sollte Gesellschaft es schaffen, „die Rückwirkungen ihrer
Auswirkungen auf die Umwelt auf sich selbst in Rechnung [zu] stellen“54, wäre
nach Luhmann ökologische Rationalität erreicht. Die Funktionsweise von Gesell-
schaft bedingt jedoch, dass dies nicht einfach umzusetzen ist: „Alles muss durch
das schmale Nadelöhr der Kommunikation geleitet werden“55 – und ist damit
zwangsläufig unterschiedlichen Interpretationen ausgesetzt, die zu gesellschaft-
lichen Auseinandersetzungen führen können.
2.4.2 Klimabilanz von Bioerdgas im Vergleich zu Erdgas
Die Bewertung von Biogas im Hinblick auf seinen Beitrag zur Minderung der
Treibhausgase (THG)56 erfolgt in der Literatur häufig im Vergleich der aus
52 Vgl. Siegenthaler (2006), S. 153. 53 Siegenthaler (2006), S. 180. 54 Luhmann (1990), S. 247. 55 Luhmann (2008), S. 123. 56 Aufgrund der klimapolitischen Motivation der Förderung von Biogas und Bioerdgas als Teil
der Erneuerbaren Energien fokussiert sich die ökobilanzielle Betrachtung von Bioerdgas in dieser Arbeit auf Treibhausgase. Eine umfassendere ökobilanzielle Bewertung von Biogas findet sich bei Gärtner et al. (2008).
2 Das Produkt Bioerdgas 38
Biogas erzeugten Energien Wärme und Strom mit einem Mix aus alternativen
Erzeugungsquellen. Es wird der bestehende deutsche Strom- bzw. Wärmemix
herangezogen (Durchschnittsbetrachtung) oder eine Annahme über den Zubau
zusätzlicher Kapazitäten zur Strom- und Wärmeerzeugung getroffen (Marginal-
betrachtung; z.B. 70 % Kohle und 30 % Erdgas für die Stromerzeugung).57 Ein
solcher Vergleich hinkt jedoch. Für Bioerdgas ist anzunehmen, dass in den
allermeisten Fällen im BHKW oder im Haushalt alternativ eben Erdgas und nicht
etwa anteilig Kohle zum Einsatz käme (gleiches gilt grundsätzlich auch für
Biogas, welches am Ort der Entstehung direkt verstromt wird). Weder ein
Energiemix als Durchschnitts- noch als Marginalbetrachtung werden dem alter-
nativ zu Bioerdgas jederzeit möglichen Einsatz von Erdgas als fossilem Energie-
träger mit geringster CO2-Belastung gerecht (vgl. Abbildung 2.9). Sie führen
deshalb zu verzerrten klimabilanziellen Aussagen. In dieser Arbeit wird
entsprechend Erdgas als Referenz für Bioerdgas im Hinblick auf die Klimabilanz
herangezogen.
57 Vgl. Bundesministerium für Umwelt (2008b), S. 69 f., Gärtner et al. (2008), S. 105 f., Vogt
(2008), S. 13 f., und Wuppertal Institut für Klima Umwelt Energie et al. (2005), S. 34 ff.
2 Das Produkt Bioerdgas 39
Abbildung 2.9: Gesamte Treibhausgasemissionen durch Bereitstellung und Nutzung fossiler Energieträger 2005
Quelle: Fritsche (2007), S. 4 (dargestellt sind die Mittelwerte der jeweiligen unterschiedlichen Verwendungen der Energieträger).
Unter Einschluss der gesamten vorgelagerten Prozesskette von der Förderung
über den Transport bis zum Verbrauch verursacht Erdgas nach Erhebungen des
Öko-Instituts Treibhausgasemissionen zwischen 234 und 256 g/kWh End-
energie.58 Die Spannweite ergibt sich aufgrund unterschiedlicher Verwendungen
und Entnahmen aus dem Netz: Im Gegensatz zu Industriekunden, die ihr Gas
zum Teil aus dem vorgelagerten Netz beziehen, sind bei Haushaltskunden
Methanverluste der lokalen Verteilnetze zu berücksichtigen. Bei der Verwendung
als Kraftstoff im Erdgasauto kommt die Kompression des Gases an der Tank-
stelle hinzu, für die Energie aufzuwenden ist. Unterschiedliche Treibhausgas-
emissionen ergeben sich auch abhängig von der Herkunft des Erdgases aufgrund
unterschiedlicher Transportentfernungen, welche zu unterschiedlichen Bedarfen
an Gas für Kompressorstationen führen, und Förderkonditionen in den Ressour-
58 Vgl. Fritsche (2007), S. 4.; Annahme: 100% des Energiegehaltes bezogen auf den Heizwert
werden auch tatsächlich genutzt. Der Mittelwert beträgt 245 g/kWh.
2 Das Produkt Bioerdgas 40
cenländern. Rein bezogen auf die vorgelagerte Prozesskette, also ohne die
Emissionen des eigentlichen Verbrauchs, gehen mit Erdgas aus Russland die
siebenfachen Emissionen an CO2-Äquivalenten einher wie mit deutschem Erdgas
(67,8 zu 9,6 g/kWh; Norwegen: 13,9 g/kWh, Niederlande: 9,6 g/kWh).59
Das Institut für Energie- und Umweltforschung Heidelberg (ifeu) hat im Auftrag
der E.ON Ruhrgas AG eine detaillierte Untersuchung zur Treibhausgas-Bilanz
von Bioerdgas60 erstellt. Aufbauend auf früheren Ergebnissen des ifeu sind erst
Referenzfälle mit durchschnittlichem Technikstand abgebildet, denen dann „best
practice“-Szenarien gegenübergestellt werden. Diese fußen auf als realistisch
betrachteten Annahmen des Auftraggebers, denen zum Teil konkrete Erfah-
rungswerte zugrunde liegen. Basis sind Anlagen mit 500 kWel unterschiedlicher
Ausstattung. Ergänzend wird für Referenz wie „best practise“ untersucht, welche
Änderungen sich bei größeren Anlagen mit 2.000 kWel ergeben:61
Ausgangspunkt ist eine reine NaWaRo-Anlage, die Mais als Substrat einsetzt.
Die Treibhausgasbilanz untersucht die gesamte Prozesskette der Bioerdgas-
erzeugung vom Anbau des Silomaises bis zur Lagerung des Gärrestes, bei dem je
nach Technik ggf. umfangreiche Methanemissionen auftreten. Funktionelle
Einheit der Treibhausgasbilanzierung ist die Biogasjahresmenge, die einer
Aufbereitung zugeführt wird. Dies bedeutet, dass Methanemissionen, die vor
diesem Bezugspunkt etwa im Laufe des Produktionsprozesses auftreten, zu einer
Erhöhung der zu erzeugenden Biogasmenge führen, um die gleiche Energie am
Bezugspunkt zur Verfügung zu haben. Umgekehrt führen Methanemissionen, die
nach dem Bezugspunkt im Rahmen der Aufbereitung entstehen, dazu, dass je
nach Verfahren eine unterschiedlich große Menge an Bioerdgas produziert wird.
59 Die angegebenen Daten beziehen sich auf Fritsche (2007), Anhang A-1, für ausführlichere
Hinweise zu den einzelnen Lieferländern vgl. Fritsche (2006). 60 Die Studie betrachtet sowohl die Erzeugung von Biogas zum direkten Einsatz im BHKW als
auch die weitere Aufbereitung zu Bioerdgas. Hier wird nur der letztere Fall betrachtet. 61 Vgl. Vogt (2008).
2 Das Produkt Bioerdgas 41
Als Referenz für Erdgas wird eine CO2-Äquivalenz von 245 g CO2-eq/kWh
angesetzt. Der Nutzen der Biogaserzeugung liegt in der Bereitstellung von
Energie und Mineraldünger, für die treibhausgasbezogene Gutschriften erteilt
werden. Bioerdgas ersetzt fossiles Erdgas und die Nutzung des Gärrestes als
Dünger vermindert den Einsatz von Mineraldüngern, für deren Herstellung
ansonsten Treibhausgase anfallen. Der Eigenbedarf der Biogasanlage an Strom
und Wärme ist berücksichtigt. Im Falle der Anlagen mit 2.000 kWel wird in der
Studie angenommen, dass dieser Eigenbedarf durch eigene, mit Biogas befeuerte
BHKW gedeckt wird, welche einen Stromüberschuss erwirtschaften. Der Strom-
überschuss wird in das öffentliche Elektrizitätsnetz eingespeist und führt zu einer
zusätzlichen Treibhausgas-Gutschrift.
Die in Abbildung 2.10 betrachteten Szenarien unterscheiden sich hinsichtlich
verschiedener Ausstattungsmerkmale der Biogasanlagen. Wesentliche Punkte
sind: Das Gärrestlager ist entweder offen und verursacht eine Methanemission
von 2,5 % bezogen auf das produzierte Methan (dieser Fall ist kenntlich
gemacht) oder ist gasdicht abgedeckt und mit einer Restgasnutzung versehen, so
dass keine Methanemissionen erfolgen. Die Aufbereitung des Biogases auf
Erdgasqualität erfolgt entweder mittels Druckwechseladsorption (PSA mit/ohne
Nachverbrennung zur Senkung der Restmethanemissionen) oder Amin-Wäsche
(Wärmebereitstellung durch Holz). Letztere führt zu geringeren Treibhausgas-
emissionen, ist jedoch teurer. Die „best practice“ Szenarien betrachten eine
Optimierung entlang der gesamten Prozesskette von geringeren Verlusten bei der
Silierung des Maises über einen höheren Gasertrag im Fermenter und geringeren
Methanemissionen der Anlagen bis hin zu geringeren Stickstoffverlusten bei der
Gärrestverwertung, was zu einer verbesserten Gutschrift für Dünger führt.
2 Das Produkt Bioerdgas 42
Abbildung 2.10: Treibhausgasbilanzen Bioerdgas auf NaWaRo-Basis
Quelle: Eigene Darstellung auf Basis Vogt (2008).
Im Ergebnis zeigt sich, dass Bioerdgas ein deutliches Potential zur Reduzierung
von Treibhausgasemissionen im Vergleich zu Erdgas aufweist. Im besten
betrachteten Fall erzeugt Bioerdgas nur 35 % der Treibhausgasemissionen der
Äquivalenzprozesse Erdgas, Dünger und Strom (105 zu 301 g CO2-eq/kWh). Der
größte Teil der Gutschriften aus den Äquivalenzprozessen stammt in allen
Szenarien aus dem vermiedenen Erdgas (245 g CO2-eq/kWh), Dünger und ggf.
Strom zusammen tragen je nach Szenario zwischen 13 und 56 g CO2-eq /kWh
bei. Eine positive Klimabilanz ist allerdings nur für Biogasanlagen mit Gärrest-
lager zu verzeichnen. Im Szenario mit 2,5 % Methanemissionen aus offenem
Gärrestlager führt Bioerdgas sogar zu einer Verschlechterung der Klimabilanz
(9 g CO2-eq/kWh mehr Treibhausgasemissionen als im Äquivalenzprozess).
2,5 % Methanemissionen werden in der Studie als untere Bandbreite für ein
offenes Gärrestlager angesetzt. Mit einem als maximal betrachteten Wert von
15 % verschlechtert sich die Bilanz gegenüber einer 2,5 %-Variante um
2 Das Produkt Bioerdgas 43
288 g CO2-eq/kWh.62 In der Praxis sind selbst neuere, nach 2004 gebaute Biogas-
Anlagen nur zu rund einem Drittel mit gasdicht abgedecktem Gärrestlager
ausgestattet.63 Soweit es sich um NaWaRo-Anlagen handelt, dürfte also die
Treibhausgasbilanz der überwiegenden Anzahl der Bestandsanlagen im
Vergleich mit Erdgas negativ sein, so dass diese Anlagen stärker zum Treibhaus-
effekt beitragen als alternativ eingesetztes Erdgas.
Eine signifikante Verbesserung der Treibhausgasbilanz ergibt sich mit dem
Einsatz von Gülle statt mit NaWaRo als Substrat. Gülle, so die implizite
Annahme, wird nicht eigens für den Einsatz in Biogasanlagen (vermehrt) herge-
stellt, sondern ist als Nebenprodukt der Tierhaltung vorhanden, dessen alternativ
reine Verwertung als Dünger mit Klimabelastungen insbesondere aus Methan-
emissionen einhergeht. Der Vorteil eines reinen Gülle-Einsatzes ggü. einem
reinen NaWaRo-Einsatz beträgt bei einer Anlage von 500 kWel mit 2,5 %
Methanemissionen aus offenem Gärrestlager rund 380 g CO2-eq/kWh.64 Dies ist
mehr als der gesamte Aufwand an Treibhausgasen für eine Biogasproduktion aus
NaWaRo (vgl. Abbildung 2.10). Für den Betrieb einer hier angeführten Anlage
mit 500 kWel ist Gülle von rund 4.000 Rindern notwendig. Gebiete mit solch
hohem Viehbesitz sind in Deutschland allerdings nur in Einzelfällen gegeben.65
Für die gleiche Anlagengröße ist alternativ eine Anbaufläche von rund 240 ha
Mais erforderlich.66
Die Aufbereitung von Biogas zu Bioerdgas erfordert Strom und Wärme und geht
– je nach Verfahren in unterschiedlicher Größenordnung – mit Emissionen aus 62 Vgl. Vogt (2008), S. 11, Differenzbetrachtung (Werte dort in kg/MJ angegeben). 63 Vgl. Bundesministerium für Umwelt (2008a), S. 7. 64 Für die Gülle-Variante sind keine Zahlentabellen angegeben, der Wert ist aus den Aufwand-
und Gutschrift-Grafiken für Gülle abgeschätzt. Vgl. Vogt (2008), S. 22. Ähnliche Größenordnungen für den Vorteil von Gülle- ggü. NaWaRo-Anlagen sind auch ablesbar in Gärtner et al. (2008), S. 112, und Wuppertal Institut für Klima Umwelt Energie et al. (2005), S. 69.
65 Vgl. Gärtner et al. (2008), S. 91. 66 10.500 t/a bei 43,6 t/ha. Vgl. Vogt (2008), S. 1 und 10.
2 Das Produkt Bioerdgas 44
Methanschlupf der Anlage einher. Eine Klimabilanz von Bioerdgas ist ceteris
paribus also immer nachteiliger als von Biogas. Allerdings eröffnet die Aufbe-
reitung auf Bioerdgas neue Nutzungsmöglichkeiten. Ins Netz eingespeistes
Bioerdgas ist, anders als Biogas, in seiner Verwendung nicht an den Ort der
Produktion gebunden, ein BHKW kann also an einer Stelle errichtet werden, an
der eine vergleichsweise höhere Wärmenutzung möglich ist, etwa in einem
Industriepark. Eine höhere energetische Nutzung führt dann für Bioerdgas zu
einer besseren Treibhausgasbilanz als für Biogas: Die ifeu-Studie vergleicht ein
Biogas-BHKW mit 20%iger Wärmenutzung und ein Bioerdgas-BHKW mit
vollständiger Wärmenutzung. Unter diesen Rahmenbedingungen führt die
Bioerdgas-Variante im Vergleich mit der Biogas-Variante zu einer Erhöhung der
gegenüber Äquivalenzprozessen eingesparten Treibhausgase um rund 45 %.67
Bioerdgas kann also grundsätzlich einen nennenswerten Beitrag zur Reduktion
von Treibhausgasemissionen leisten. Dies setzt allerdings voraus, dass die
Anlagen daraufhin optimiert sind, was zumindest bei zahlreichen Biogas-
Bestandsanlagen nicht der Fall ist.
67 Vgl. Vogt (2008), S. 40, Abb. 5 (Variante 7 zu Variante 2).
3 Bioerdgas im Markt 45
3 Bioerdgas im Markt
3.1 Gaswirtschaft zwischen infrastruktureller Prägung und Handelswelt
3.1.1 Bioerdgas in der Struktur der Gaswirtschaft Die klassische deutsche Gaswirtschaft zeichnet sich durch einen kaskadischen,
infrastrukturell geprägten Aufbau aus, der von der Förderung bis zum Endver-
brauch immer feingliedriger wird. Die großen Förder- und Verbrauchsregionen
des deutschen und europäischen Erdgasmarktes liegen weit auseinander (vgl.
2.2). Mit der Erschließung der großen Erdgasfelder ab Mitte der 60er Jahre
erfolgte deshalb gleichzeitig Auf- und Ausbau einer leistungsfähigen Transport-
infrastruktur. Rund 50.000 km umfasst mittlerweile das europäische Pipeline-
Verbundsystem, das auf Hochdruckebene für den länderübergreifenden
Transport des Erdgases sorgt.68 Nach Förderung und Aufbereitung lässt sich der
Transportweg bis zum typischen Endkunden in drei Stufen einteilen, in denen
Durchmesser und Druck der Leitungen abnehmen69: Ferngasnetz, Regionalgas-
netz und örtliches Verteilnetz. Große Industriekunden sind häufig direkt an das
Fern- oder Regionalgasnetz angeschlossen. Während Ferngasnetze zum Teil mit
Drücken von über 100 bar betrieben werden, erfolgt die Versorgung über das
örtliche Verteilnetz im Niederdruckbereich mit weniger als 100 Millibar. Aus
bestimmten Regionen wird Erdgas nicht via Pipeline, sondern in verflüssigter
Form mit speziellen Tankschiffen transportiert, etwa aus Afrika oder dem Nahen
Osten. Dieses verflüssigte Erdgas (Liquified Natural Gas, LNG) wird in Europa
68 Vgl. Fasold (2004), S. 14. 69 Vgl. Cerbe et al. (2008), S. 171 und 177 f.
3 Bioerdgas im Markt 46
an speziellen Anlande-Terminals wieder regasifiziert. Anschließend erfolgt
ebenfalls eine Einspeisung in das Pipeline-Verbundsystem, welches auch für
LNG einen zentralen Stellenwert behält.
Bis zur Liberalisierung des Gasmarktes erfolgten Handel und Transport
typischerweise in integrierten Erdgasunternehmen, die erworbenes Gas in
eigenen Leitungen bis zum Kunden transportierten. Der jeweilige Kunde konnte
dabei ein anderes Gasunternehmen auf einer nachfolgenden Wertschöpfungsstufe
sein oder ein Endverbraucher. Die nach wie vor gebräuchliche Unterscheidung
von Unternehmen in Ferngasgesellschaften, Regionalgasgesellschaften und
örtliche Gasversorgungsunternehmen entstammt diesen Zusammenhängen.70 Die
drei Handelsstufen lassen sich wie folgt charakterisieren71 und neuerdings um die
Kategorie der Händler und Bioerdgas-Produzenten ergänzen (vgl. Abbildung
3.1):
70 Mit der Liberalisierung des Gasmarktes werden die Rollenmuster, in denen Unternehmen
aktiv sein können, vielfältiger. Zur Einordnung von Unternehmen, insbesondere vor dem Hintergrund der sehr langfristigen Importverträge, ist eine Unterscheidung der verschiedenen Stufen aber nach wie vor hilfreich.
71 Vgl. Monopolkommission (2007), S. 111-114, Monopolkommission (2009), S. 61 und Schiffer (2008), S. 170.
3 Bioerdgas im Markt 47
Abbildung 3.1: Struktur deutsche Gaswirtschaft
Quelle: Eigene Darstellung in Abwandlung von Monopolkommission (2009), S. 62, und Schiffer (2008), S. 170.
Ferngasgesellschaften fördern entweder Gas in in- und ausländischen Lager-
stätten oder importieren – in der Regel in langfristigen Lieferverträgen mit zum
Teil Laufzeiten von mehr als 20 Jahren – Gas von ausländischen Lieferanten.
Zugleich sind sie im Besitz der Fernleitungsnetze. Ihre Speicher sorgen für einen
Ausgleich kurzfristiger wie jahreszeitlich bedingter Schwankungen des Gasver-
brauchs und können bei temporären Lieferausfällen die Versorgung aufrechter-
halten. In Deutschland werden nach Abgrenzung des Bundeskartellamtes sieben
Unternehmen zu dieser Stufe gezählt:72 E.ON Ruhrgas, Erdgas Münster (vormals
Erdgas-Verkaufs-Gesellschaft), ExxonMobil, RWE, Shell, VNG und Wingas.
Diese verkaufen Gas an nachgelagerte Handelsstufen, direkt an große Industrie-
kunden oder handeln Gas an europäischen Gasbörsen.73
72 Vgl. Monopolkommission (2007), S. 112. Aktualisierungen der Unternehmensnamen, wie
auch bei den Regionalgasgesellschaften, durch den Verfasser. 73 Einen Überblick über Unternehmensverflechtungen auf und zwischen einzelnen Stufen gibt
Monopolkommission (2007), S. 112-114 in Verbindung mit S. 165-197 und Schiffer (2008),
3 Bioerdgas im Markt 48
Regionalgasgesellschaften beziehen Gas von Unternehmen der vorausgehenden
Handelsstufe, mit dem sie entweder örtliche Gasversorgungsunternehmen oder
direkt private Haushalte, Gewerbe- und Industriekunden beliefern. In Deutsch-
land sind dies acht Unternehmen: Bayerngas, E.ON Avacon, Enovos Deutsch-
land (vormals Saar Ferngas), EWE, Ferngas Nordbayern, Gas-Union, Gasver-
sorgung Süddeutschland und Erdgasversorgungsgesellschaft Thüringen-Sachsen.
Örtliche Gasversorgungsunternehmen kaufen Gas von vorgelagerten Handels-
stufen und verkaufen es an Endkunden im Haushalts-, Gewerbe- oder Industrie-
bereich. Unterscheiden lassen sich auf dieser Ebene noch einmal rund 40 Regio-
nalgasgesellschaften wie E.ON Hanse oder MITGAS und 650 örtliche Gasver-
sorgungsunternehmen, in erster Linie Stadtwerke.
Immer stärker spielen Händler eine Rolle, die Gas an europäischen Handels-
plätzen erwerben und an eine der aufgeführten Handelsstufen oder direkt an
Endkunden weiterverkaufen. Bei Interaktionen verschiedener Händler ist es
möglich, dass eine Tranche Gas mehrfach umgeschlagen wird, bevor sie an
Endkunden oder andere Ebenen weiterveräußert wird. Händler können Parteien
sein, die neu in den Gasmarkt eintreten, aber auch etablierte Teilnehmer, etwa
Ferngasgesellschaften oder Stadtwerke, die eine weitere Rolle besetzen und
neben dem klassischen Gasgeschäft über Trading-Abteilungen im Markt
vertreten sind.74
Mit dem Auftreten von Händlern und Handelsmöglichkeiten aller beteiligten
Parteien wurde der klassische kaskadenförmige Verkauf des Erdgases durch-
brochen. Insbesondere Stadtwerken und Industriekunden stehen neue Beschaf-
fungsmöglichkeiten offen, die sich nicht mehr an der früheren, netztechnisch
S. 180 ff. sowie (für die Zeit vor der Übernahme der Ruhrgas AG durch die E.ON AG im Jahre 2002) Monopolkommission (2002), S. 20 ff.
74 Vgl. etwa die Aktivitäten der E.ON Ruhrgas im Handelssegment, E.ON Ruhrgas AG (2008), S. 26 f.
3 Bioerdgas im Markt 49
geprägten Hierarchie orientieren. Haushalts- und Gewerbekunden haben im
liberalisierten Erdgasmarkt erstmals die Möglichkeit, zwischen verschiedenen
Lieferanten zu wählen.
Bioerdgas trägt mit seiner dezentralen Erzeugung – bei entsprechendem Aufbau
der Kapazitäten – zu einer weiteren Auflösung der bisherigen hierarchischen
Gliederung des Gasmarktes bei. Die Einspeisung des Gases kann im Rahmen der
Aufnahmefähigkeit auf allen drei Netzstufen erfolgen, mithin Gas in Stadtwerke-
Netze strömen, welches zuvor durch keines der vorgelagerten Netze geflossen
ist. Die Produktion von Bioerdgas ist zudem nicht an die sehr ungleich verteilten
Vorkommen von Erdgasquellen gebunden. Sämtliche Handelsstufen können als
Produzenten auftreten, beispielsweise Stadtwerke als Betreiber einer Biogas-
anlage. Darüber hinaus können auch völlig neue Teilnehmer als reine Bioerdgas-
produzenten agieren, die entweder eine der Handelsstufen beliefern oder das
Bioerdgas direkt an Endverbraucher veräußern, beispielsweise an Betreiber von
KWK-Anlagen.75
Die Vielfalt neuer Beziehungen spielt sich in erster Linie auf der Handelsebene
ab. Physikalisch waren und bleiben Netze die technisch notwendige Voraus-
setzung jeglicher Lieferbeziehung, auf die auch Bioerdgas angewiesen ist.
3.1.2 (Bio)Erdgasnetz als natürliches Monopol Ein natürliches Monopol ist gegeben, wenn die Nachfrage nach einem Gut am
kostengünstigsten durch nur einen Anbieter bedient werden kann. Es liegt dann
eine subadditive Kostenfunktion im relevanten Bereich der Nachfrage vor.
Gründe für solche Größenvorteile können u. a. in Fixkosten-Degressionen, in
Economies of Scale oder in Dichteeffekten liegen. Eine typische, wenn auch
nicht zwingende Ausprägung natürlicher Monopole sind sinkende Durchschnitts- 75 Deutsche Energie-Agentur [dena] (2008), S. 24-34 stellt beispielhaft Unternehmen vor, die im
Bereich Bioerdgas aktiv sind.
3 Bioerdgas im Markt 50
kosten im relevanten Nachfragebereich. Erdgasnetze zeichnen sich grundsätzlich
sowohl durch Fixkostendegression, Economies of Scale wie auch Dichteeffekte
aus:
• Vergleichsweise hohe Investitionskosten gehen mit geringeren variablen
Kosten einher. Eine Erhöhung des Auslastungsgrades verteilt – solange
die Kapazitätsgrenze nicht erreicht ist – die hohen Fixkosten der Investi-
tion auf eine größere Outputmenge (Fixkosten-Degression).
• Economies of Scale liegen vor, wenn eine proportionale Vermehrung des
Einsatzes aller Produktionsfaktoren zu einer überproportionalen Erhöhung
des Outputs führen. Dies ist ein typisches Phänomen im Bereich von
Rohrleitungen, bei denen das Volumen rascher wächst als der Rohrum-
fang: Nach der ingenieurwissenschaftlichen Zwei-Drittel-Regel ist –
innerhalb einer bestimmten Bandbreite – eine Verdoppelung der Kapazität
erfahrungsgemäß mit einem Anstieg der Materialkosten in Höhe von nur
zwei Dritteln verbunden.
• Mit steigendem Ausbaugrad von Netzen sinken die Anschlusskosten je
zusätzlichem Kunden, da beispielsweise die Wegstrecke vom Neukunden
bis zum Anschlusspunkt oft kürzer ausfällt als bei einem weniger
entwickelten Netz (Dichteeffekte).76
Bei ausreichendem Marktvolumen können im (internationalen) Ferntransport
Größenvorteile erschöpft sein und die Kostenverläufe effizient mehrere Anbieter
ermöglichen.77 In der Praxis ist die Frage nach dem Vorliegen eines natürlichen
76 Vgl. Fritsch et al. (2007), S. 182-193. 77 So nimmt Recknagel sinkende Durchschnittskosten – was allerdings nicht unmittelbar in
Subadditivität übersetzt werden kann – im Fernleitungsbereich bis zu einer Kapazität von 3,2 Mio. m³/h an. Danach sinken die spezifischen Pipeline-bezogenen langfristigen Kosten zwar weiter, werden jedoch überkompensiert von steigenden Kosten für Verdichtung, zu denen insbesondere auch das zur Verdichtung notwendige Antriebsgas zum Betreiben der Verdichteranlagen zählt. Vgl. Recknagel (1990), S. 165 ff., zitiert nach Hirschhausen et al. (2007), S. 19 und Kesting (2005), S. 566. Eine hohe Auslastung einer Kapazität von 3,2 Mio. m³/h mit 8.000 (von maximal 8.760 möglichen) Stunden pro Jahr ergäbe eine Jahreskapazität von 25,6 Mrd. m³. Zumindest auf europäischer Ebene übersteigen die
3 Bioerdgas im Markt 51
Monopols im Ferntransport umstritten. So kommen für den innerdeutschen
Ferntransport Knieps (2002) (kein monopolistischer Bottleneck) und
Hirschhausen et al. (2007) (Kostenstrukturen eines natürlichen Monopols) zu
gegenläufigen Aussagen.
Bei den lokalen Verteilnetzen mit ihrem hohen Grad an Vermaschung und
kurzen Einzelstrecken, auf denen keine weitere Verdichtung des Gases
notwendig ist, führen die zuvor beschriebenen Effekte zu einem Lehrbuchfall
eines natürlichen Monopols. Hier ist auch unmittelbar einsichtig, dass es
gesamtwirtschaftlich – wie analog bei Strom- oder Telekommunikationsnetzen –
ineffizient wäre, zur Belebung des Wettbewerbs parallel zur vorhandenen Infra-
struktur eine zweite oder dritte aufzubauen, so dass jedes Haus zwei oder drei
Anschlüsse besäße, aber jeweils nur einer genutzt würde. Die Verteilnetze sind
für Bioerdgas besonders relevant, da davon ausgegangen werden kann, dass das
gesamte Bundesgebiet auf regionaler und örtlicher Versorgungsebene
weitgehend mit Erdgas erschlossen und damit für eine Bioerdgaseinspeisung
erreichbar ist.78 Bioerdgas ist hier auf den Zugang zu den bestehenden Erdgas-
netzen angewiesen, der Aufbau einer eigenen Infrastruktur wäre nicht effizient.
Aus ökonomisch-normativer Perspektive erscheint Regulierung insbesondere
dann sinnvoll, wenn die gegebenen Marktbedingungen kein effizientes Ergebnis
erzeugen (können) und staatliche Eingriffe in die Gewerbe- und Vertragsfreiheit
(unter Berücksichtigung der Kosten solcher Eingriffe) eine Effizienzver-
besserung erwarten lassen. Das Vorliegen eines natürlichen Monopols ist ein
typischer Fall hierfür. Referenzpunkt ökonomischer Bewertungen ist dabei die
Lieferungen aus Russland mit 154,4 Mrd. m³ pro Jahr (inkl. Türkei) diesen Wert um ein Mehrfaches (die deutschen Importe aus Russland betragen 36,2 Mrd. m³). Vgl. BP p.l.c. (2009), S. 30. Die verschiedenen bestehenden Transportwege werden derzeit u.a. vor dem Hintergrund steigender erwarteter Bezüge aus Russland um die zwei durch die Ostsee führenden Stränge der Nord-Stream Pipeline erweitert mit je 27,5 Mrd. m³ Jahreskapazität. Vgl. Nord Stream AG (2009).
78 Vgl. Wuppertal Institut für Klima Umwelt Energie et al. (2005), S. 41 f.
3 Bioerdgas im Markt 52
allokative (Pareto-)Effizienz79 gesellschaftlicher Zustände. Unter bestimmten
Annahmen erzeugen Märkte gemäß dem ersten Hauptsatz der Wohlfahrtsöko-
nomik eine Pareto-effiziente Allokation knapper Ressourcen, wenn sie sich im
Gleichgewicht befinden und die dezentral getroffenen, individuell rationalen
Entscheidungen allein durch den Preismechanismus koordiniert werden. In
diesem allgemeinen Konkurrenzgleichgewicht entsprechen die Preise der Güter
ihren Grenzkosten.80
Monopolistische Marktmacht führt im Falle des Erdgasnetzes zu den üblichen
ökonomischen Problemstellungen wie sie das Modell der Cournot-Preisbildung
veranschaulicht: Mit Gewinnmaximierung eines Monopolisten geht ein gesamt-
gesellschaftlich zu geringes Angebot81 einher (Wohlfahrtsverlust) – sowie eine
insbesondere unter Verteilungsaspekten zu diskutierende Aneignung von
Konsumentenrente. Weiter akzentuiert wird die Marktmachtstellung eines
solchen natürlichen Monopolisten aufgrund der Essential-Facility-Eigenschaft
des Netzes. Der Zugriff auf das Netz ermöglicht es, Wettbewerb auf anderen
Wertschöpfungsstufen der (Bio)Erdgaswirtschaft zu beeinflussen oder zu unter-
binden, die für sich genommen nicht durch natürliche Monopole geprägt sind.
Eine Begrenzung erfährt die monopolistische Marktmacht allerdings durch die
Substitutionskonkurrenz zu anderen Energieträgern wie Erdöl: Bezogen auf die
gesamte Wertschöpfungskette Erdgas begrenzt sie – langfristig – die Preis-
setzungsspielräume auf das Niveau dieser alternativen Energien. Das Marktver-
sagen im Bereich der Gas(verteil)netze führt zu einer ökonomischen Begründung
staatlicher Eingriffe. Neben den Fragen, zu welchen Preisen ein natürlicher 79 Das Pareto-Kriterium bietet eine Definition, wann – bei gegebener Anfangsausstattung – der
gesamtgesellschaftliche Wohlstand maximal wird: Ein Zustand ist dann optimal oder effizient, wenn kein Individuum mehr besser gestellt werden kann, ohne die Nutzenposition eines anderen Individuums zu verschlechtern.
80 Vgl. Fritsch et al. (2007), Kapitel 2 und 7, Schumann (2002), Sohmen (1992), Kapitel 1 und 5 und Weimann (2009), Kapitel 1.2, 3.3 und 4.2.
81 Sollte dem Monopolisten eine Preisdifferenzierung möglich sein, könnten – je nach Art der Preisdifferenzierung – die allokativen Verzerrungen abgeschwächt werden, bei gleichzeitig wachsender Aneignung der Konsumentenrenten.
3 Bioerdgas im Markt 53
Monopolist seine Produkte anbietet und wie er eine diskriminierungsfreie
Nutzung seiner Essential Facility sicherstellt, geht es dabei um eine Klärung, ob
der natürliche Monopolist auch auf vor- und nachgelagerten Wertschöpfungs-
stufen tätig sein soll.82
Dass in der Regulierungspraxis neben ökonomischen Argumenten der Markt-
struktur weitere Aspekte eine Rolle spielen, zeigt die deutsche und europäische
Entwicklung staatlicher Rahmenbedingungen für die Erdgas- und Bioerdgas-
wirtschaft.
3.2 Positiver regulatorischer Rahmen für Erdgas und Bioerdgas
3.2.1 Ziele und Entwicklung staatlicher Eingriffe Die infrastrukturelle Prägung der deutschen Gaswirtschaft (vgl. 3.1.1) spiegelt
sich in der Historie des regulatorischen Ordnungsrahmens für Erdgas, welcher
die Rahmenbedingungen für Bioerdgas setzt. Eine sichere und günstige Energie-
versorgung mit allgemeiner Anschlusspflicht, die „volkswirtschaftlich schädliche
Auswirkungen des Wettbewerbs […] verhindern“83 und statt dessen den öffent-
lichen Einfluss auf die Energieversorgung sichern sollte, stand im Zentrum des
Gesetzes zur Förderung der Energiewirtschaft (Energiewirtschaftsgesetz EnWG)
von 1935, welches – mit gewissen Modifikationen – bis 1998 Bestand hatte.
Zusammen mit dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) von
1958, welches für die Energiewirtschaft Freistellungen von Regelungen des
allgemeinen Kartellrechts vorsah, bildete es die rechtlichen Grundlagen der
klassischen Gaswirtschaft. Demarkations- und Konzessionsverträge84 führten auf
82 Ein Überblick über verschiedene Regulierungsalternativen findet sich bei Fritsch et al. (2007),
Kapitel 8. 83 Präambel zum Gesetz zur Förderung der Energiewirtschaft (Energiewirtschaftsgesetz) vom
13.12.1935 (RGBl I S. 1451-1456). 84 In Demarkationsverträgen vereinbarten Energieunternehmen untereinander, sich in den von
ihnen jeweils beanspruchten Gebieten keinen Wettbewerb zu liefern. Konzessionsverträge
3 Bioerdgas im Markt 54
dieser Basis zu einer weitgehenden Aufteilung Deutschlands in geschlossene
Versorgungsgebiete mit jeweils monopolistischen Strukturen – sowohl bei den
örtlichen Gasversorgungsunternehmen wie bei den Regional- bzw. Ferngas-
gesellschaften, die erstere mit Gas belieferten.85
Die Rahmenbedingungen der Erdgaswirtschaft unterlagen in den vergangenen
Jahren einem tiefgreifenden Wandlungsprozess: Liberalisierung, Regulierung
und Wettbewerb haben zu weitreichenden Änderungen in der Branche geführt.
Das Marktumfeld für Bioerdgas wird wesentlich geprägt von diesen neuen
Regeln, die operative und strategische Spielräume der Akteure bei Erdgas wie
bei Bioerdgas bestimmen. Während Privatisierung, Liberalisierung und
Wettbewerb als „policy paradigm in energy“86 bereits die 1980er Jahre in den
USA und im UK prägten und dort die nachkriegliche Fokussierung auf Versor-
gungssicherheit verdrängten, blieb in Deutschland die Ausrichtung auf Versor-
gungssicherheit weiterhin bestimmend.87
Die wettbewerbsbetonte Ausrichtung der Energiewirtschaft hielt hier erst Einzug
im Zuge der Verwirklichung der im Maastrichter Vertrag über die Europäische
Union verankerten Prinzipien des europäischen Binnenmarktes. Nach der euro-
päischen Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie im Jahre 1996 folgte 1998 die
Erdgasbinnenmarktrichtlinie88 mit dem Ziel einer wettbewerblichen und
werden zwischen Kommunen und Energieversorgern geschlossen und regeln die ausschließliche Wegenutzung in der jeweiligen Kommune gegen Entgelt, die zur Versorgung der Kunden mit leitungsgebundener Energie notwendig ist.
85 Vgl. Aumüller (2006), S. 65 f., Klag (2003), S. 254 f., Lohmann (2006), S. 20, Schiffer (2008), S. 196 f. und Schultz (2008) S. 32.
86 Helm (2005), S. 2. 87 Zur Vorbildrolle des UK und der USA für die Entwicklung in Kontinentaleuropa und zur
angelsächsischen Debatte über einen erneuten Paradigmenwechsel zurück zu Versorgungssicherheit und hin zu klimafreundlichen Energieerzeugungen vgl. International Energy Agency [IEA] (2000), S. 39-48 und 70, und Helm (2005).
88 Richtlinie 98/30/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Juni 1998 betreffend gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, L 204, 21.7.98.
3 Bioerdgas im Markt 55
internationalen Öffnung der Gasmärkte. Die Übernahme in deutsches Recht
erfolgte mit der EnWG-Novelle des Jahres 2003. Spätestens seit diesem Zeit-
punkt ist der deutsche Gasmarkt formal vollständig geöffnet. Bereits zuvor
sorgten das EnWG von 1998 und die 6. Novelle des GWB von 1999 für einem
Bruch mit dem Denken in Versorgungsgebieten: Die bis dahin geltende
Freistellung von Konzessions- und Demarkationsverträgen wurde außer Kraft
gesetzt und damit das allgemeine Kartellverbot des § 1 GWB auch im Energie-
bereich wirksam. Das GWB enthielt nun eine für alle Netzinfrastrukturen
geltende Regelung zum Netzzugang, gemäß der ein marktbeherrschendes Unter-
nehmen missbräuchlich agiert, wenn es einem anderen Unternehmen den Zugang
zu Infrastruktureinrichtungen auch gegen angemessenes Entgelt verweigert. De
facto breitete sich umfassender Wettbewerb jedoch erst auf Basis des EnWG von
200589 aus. Die Richtung gab hier wiederum die Europäische Union vor, die in
der sogenannten Beschleunigungsrichtlinie Gas90 2003 neue Impulse mit einer
wesentlichen Verschärfung der Regulierungsvorgaben setzte. Zusammen mit der
gesellschaftsrechtlichen Separierung („Unbundling“) von Netzbetreibern und
Gashändlern kam es mit dem EnWG von 2005 auch in Deutschland zu einem
regulierten Netzzugang.91 Aus einem Punkt-zu-Punkt-Netzzugangsmodell, bei
dem der Transportkunde transportpfadabhängig den gewünschten Weg ggf. über
verschiedene Netzhierarchien und bei verschiedenen Netzbetreibern buchen
musste, wurde ein Entry-Exit-System mit regulierten Entgelten.92
89 Energiewirtschaftsgesetz vom 7. Juli 2005 (BGBl. I S. 1970 (3621)), zuletzt geändert durch
Artikel 2 des Gesetzes vom 18. Dezember 2007 (BGBl. I S. 2966). Wichtige Ergänzungen des EnWG sind die auf seiner Basis erlassenen GasNZV und GasNEV (Verordnung über die Entgelte für den Zugang zu Gasversorgungsnetzen (Gasnetzentgeltverordnung -GasNEV) vom 25. Juli 2005 (BGBl. I S. 2197), zuletzt geändert durch Artikel 2 Abs. 4 der Verordnung vom 17. Oktober 2008 (BGBl. I S. 2006)).
90 Richtlinie 2003/55/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2003 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 98/30/EG, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, L 176 vom 15.7.2003, S. 57.
91 Zuvor hatte sich Deutschland für einen nach der Erdgasbinnenmarktrichtlinie bislang möglichen, von der neuen Richtlinie nun jedoch ausgeschlossenen verhandelten Netzzugang entschieden, bei dem Interessenverbände von Gaslieferanten und Gaskunden die Bedingungen der Netznutzung abstimmten.
92 Vgl. Klag (2003), S. 247-274 und Schiffer (2008), S. 196-206.
3 Bioerdgas im Markt 56
Die heutige Ausgestaltung des Netzzugangs, der Transporte und der Abwicklung
von Kundenbelieferungen ist wesentlich geprägt von der Bundesnetzagentur. In
der Beschleunigungsrichtlinie Gas ist den europäischen Mitgliedsstaaten die
Schaffung einer Regulierungsbehörde vorgeschrieben. In Deutschland wurde
dies im EnWG von 2005 umgesetzt. Betraut mit der Energieregulierung für
Strom und Gas wurde die Bonner Regulierungsbehörde für Telekommunikation
und Post (RegTP), die heutige Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Tele-
kommunikation, Post und Eisenbahnen (Bundesnetzagentur BNetzA).93 Nicht
zuletzt durch konsequentes Ausnutzen ihrer gestalterischen Möglichkeiten im
Zuge von Festlegungs- und Missbrauchsverfahren gemäß §§ 29-31 EnWG94
sorgte die BNetzA für einen handelsaffinen Wettbewerbsrahmen, in dem
wesentliche physische Aspekte der Gasversorgung auf regulierte Netzbetreiber
übertragen sind und die Teilnehmer des Handelsmarktes in einer zum Teil
virtuellen, von physischen Gegebenheiten abstrahierten Welt agieren.95 Bioerd-
gas findet mithin ein grundsätzlich wettbewerbsoffenes Marktumfeld auf Basis
eines regulierten Netzzugangs vor,96 in dem jenseits der Importstufe auch die
früher maßgeblichen langfristigen Erdgasbezugverträge durch Untersagungen
des Bundeskartellamtes an Bedeutung verloren haben.97
93 In Deutschland obliegt die Regulierung des Netzbetriebs entsprechend der Regelungen des
EnWG der BNetzA im Zusammenspiel mit den Landesregulierungsbehören (vgl. Koenig et al. (2008), S. 234.
94 Hervorzuheben sind hier die Entscheidungen der BNetzA zur alleinigen Durchsetzung des 2-Vertrags-Modells im Juli 2006 (Bundesnetzagentur (2006)) und zur Einführung der Tagesbilanzierung im Mai 2008 (Bundesnetzagentur (2008b)).
95 Zur Rolle der BNetzA bei der Liberalisierung der deutschen Gaswirtschaft vgl. Lohmann (2009a).
96 Eine umfassende Diskussion über die gegenwärtigen Marktstrukturen mit verbliebenen Schwachstellen und weiteren Verbesserungsmöglichkeiten des regulatorischen Rahmens führt die Monopolkommission im Rahmen ihres 2009er Sondergutachtens. Vgl. Monopolkommission (2009).
97 Als Folge der in den Jahren 2006 bis 2008 geführten Verfahren durften Gaslieferverträge von Ferngasunternehmen mit Weiterverteilern bei einer Bezugsquote des Kunden zwischen 50 und 80 % beim betreffenden Ferngasunternehmen maximal 4 Jahre und bei einer Bezugsquote oberhalb von 80 % maximal 2 Jahre laufen. Die langfristigen Vertragsbindungen zwischen Ferngas- und Weiterverteilerstufe wurden gelöst, die Lieferantenvielfalt bei Weiterverteilern nahm zu und die durchschnittliche Vertragslaufzeit ab. Nach einer grundlegenden Marktevaluierung kam das Bundeskartellamt Mitte 2010 zu dem Ergebnis, den gewünschten
3 Bioerdgas im Markt 57
3.2.2 Gemeinsamer Marktrahmen für Erdgas und Bioerdgas Für Transportkunden von Erdgas wie Bioerdgas ist die Vielzahl der verschie-
denen Netze und Netzbetreiber auf unterschiedlichen Druckebenen heute nicht
mehr relevant. Auf Basis der gesetzlichen Grundlagen, Ausgestaltungen durch
die BNetzA und Vereinbarungen zwischen den verschiedenen Netzbetreibern
ergibt sich – skizzenhaft dargestellt – gegenwärtig folgendes Modell eines allen
Marktteilnehmern diskriminierungsfrei offenstehenden Netzzugangs und
Abwicklung des Transports:98
Die Netze sind zu Marktgebieten zusammengefasst. Ein Marktgebiet
besteht aus einer Verknüpfung von Netzen über die verschiedenen Druck-
stufen hinweg, so dass von den Fernleitungsnetzen an den Importpunkten
bzw. Punkten inländischer Produktion bis hin zu den Abnahmestellen von
Industriekunden und Haushalten ein zusammenhängendes Gebilde
entsteht.
Innerhalb eines Marktgebietes werden nur noch zwei Transportverträge
benötigt (2-Vertrags-Modell): Einer zur Einspeisung des Gases in das
Marktgebiet (Entry) und einer zur Entnahme des Gases aus dem Markt-
gebiet zum Verbrauch beim Endkunden oder zur Übergabe in ein anderes
Marktgebiet bzw. zu einem Exportpunkt an der Landesgrenze (Exit). Für
die physische Abwicklung sind die zu Kooperation verpflichteten Netz-
betreiber verantwortlich. Diese betrachten nur noch das Gesamtsystem
und keine pfadabhängigen Transporte mehr: Falls die Händler (Transport-
kunden) A und B jeweils 100 Einheiten Gas an verschiedenen Punkten
einspeisen, um damit je einen Kunden zu beliefern, so ist es möglich, dass
wettbewerblichen Effekt nachhaltig erzielt zu haben, so dass es die bis zum 30.09.2010 befristete Beschränkung der Vertragslaufzeiten nicht verlängerte. Vgl. Bundeskartellamt (2010).
98 Die wesentlichen Bestandteile dieses regulatorischen Rahmens bilden (vgl. Monopolkommission (2009), S. 96-124): EnWG (insbesondere §§ 20 ff.), GasNZV, Vereinbarung über die Kooperation gemäß § 20 Abs. 1 b) EnWG zwischen den Betreibern von in Deutschland gelegenen Gasversorgungsnetzen, Änderungsfassung vom 29.07.2008 (Kooperationsvereinbarung – KOV III) und die 2008 durch die Bundesnetzagentur erfolgte „Festlegung in Sachen Ausgleichsleistungen Gas“ (GABi Gas) (Bundesnetzagentur (2008b)).
3 Bioerdgas im Markt 58
physisch von dem einen Händler eingespeistes Gas zum Kunden des
anderen Händlers fließt und umgekehrt.
Die von den Netzbetreibern erhobenen Transportentgelte (Entry und
Exit), die intern auf die einzelnen Netzbetreiber verrechnet werden,
unterliegen einer kosten- bzw. anreizbasierten Regulierung durch die
BNetzA.99
In jedem Marktgebiet wird ein sogenannter „Virtueller Punkt“ (VP)
eingerichtet, an dem Mengen ohne Buchung von Transportkapazitäten
zwischen verschiedenen Marktteilnehmern übertragen und gehandelt
werden können. Mit dem Entry in ein Marktgebiet sind die Gasmengen
am VP verfügbar und können dort auch mehrfach gehandelt und über-
tragen werden, bis sie schließlich an einem Exit das Marktgebiet
verlassen.
Die operative Abwicklung der Gastransporte erfolgt über Bilanzkreise, in
denen eingespeiste, ausgespeiste und an andere Bilanzkreise (d.h. an
andere Marktteilnehmer am VP) übertragene Mengen eines oder mehrerer
Transportkunden (TK) erfasst werden. Der jeweilige Bilanzkreisverant-
wortliche (BKV) hat sicherzustellen, dass sich die in seinen Bilanzkreis
ein- und ausgespeisten Mengen in Balance halten. Ist dies nicht gegeben,
wird ihm für die Differenz zwischen Ein- und Ausspeisung vom Bilanz-
kreisnetzbetreiber, der zentralen Abwicklungsstelle der marktgebietsauf-
99 In der GasNEV ist gemäß § 3 Ziff. (2) grundsätzlich die Möglichkeit einer
wettbewerbsorientierten Entgeltbildung angelegt (Vergleichsverfahren), an der sich die Ferngasgesellschaften nach Inkrafttreten der Verordnung auch orientiert haben. Der Verordnungsgeber hat damit anerkannt, dass Wettbewerb auf Ebene der Fernleitungsnetze prinzipiell möglich ist. Im Jahr 2008 hat die BNetzA, auch als Ergebnis einer umfangreichen Sektorenuntersuchung, jedoch festgestellt, dass Fernleitungsnetze in Deutschland „nicht zu einem überwiegenden Teil wirksamem bestehenden oder potentiellen Leitungswettbewerb ausgesetzt“ seien (hier zitiert aus dem Beschluss der Beschlusskammer 4 zum Verfahren E.ON Gastransport, vgl. Bundesnetzagentur (2008a), S. 2). Nachdem diese Entscheidung einer gerichtlichen Überprüfung standgehalten hat, unterliegt nun neben dem Verteilnetz auch das gesamte deutsche Transport- und Verteilnetz neben der Netzzugangs- auch der Entgeltregulierung. Vgl. Lohmann (2010).
3 Bioerdgas im Markt 59
spannenden Netzbetreiber für das Bilanzkreismanagement, Ausgleichs-
energie in Rechnung gestellt.
Mit Beginn des Gaswirtschaftsjahres 2008/09 am 01.10.2008 wurde das
zuvor geltende System einer stündlichen Bilanzierung auf eine Tages-
bilanzierung umgestellt (Festlegung in Sachen Ausgleichsleistungen Gas
(GABi Gas) der BNetzA vom 28.05.2008)100: Ein- und ausgespeiste
Mengen müssen sich damit nicht mehr stundenscharf entsprechen,
sondern auf Tagesbasis ausgeglichen sein. Stundenwerte wurden
allerdings nicht gänzlich aus dem System entfernt: Für den Fall, dass
bestimmte, von der Lieferart abhängige stündliche Toleranzgrenzen für
die Abweichungen zwischen Ein- und Ausspeisung überschritten werden,
greift mit dem Strukturierungsbeitrag eine auf Stundenbilanzierung abge-
stellte Pönale. Aus Sicht des Transportkunden ergibt sich jedoch eine
deutliche Erleichterung dadurch, dass für bestimmte Ausspeisegruppen
virtuell ein über sämtliche Stunden des Tages gleichmäßiger Bezug unter-
stellt wird: Bei der Belieferung von Haushalts- und Gewerbekunden
werden Standardlastprofile unterstellt, bei denen dem Lieferanten bereits
am Tag vor der Lieferung bekannt ist, wie viel Gas er für diese Ausspei-
segruppen bereitzustellen hat.101 Und bei der Belieferung von kleinen und
mittleren Industriekunden wird die tatsächliche Verbrauchsmenge des
jeweiligen Tages in 24 gleiche Stundenwerte umgerechnet. Für den
größten Teil der Endverbraucher kann der Lieferant mithin Tagesbänder
an Gas einspeisen und muss kein stundenscharfes Profil darstellen. Dies
verringert den Aufwand an untertägiger Strukturierung des Gases und
erleichtert den Gashandel mit Standardprodukten.
100 Vgl. Bundesnetzagentur (2008b), Anlage 2. 101 Diese Werte werden von den Netzbetreibern aufgrund von Temperaturprognosen bzw.
Vortageswerten geschätzt. Abweichungen zum tatsächlichen Bezug werden von den Netzbetreibern ebenso wie die stündliche Strukturierung mit Hilfe von Regelenergie bereitgestellt. Dabei wird einerseits interne Regelenergie z.B. aus der Nutzung des Netzpuffers verwendet und andererseits externe Regelenergie, die diskriminierungsfrei auszuschreiben ist.
3 Bioerdgas im Markt 60
Die Ausgleichsenergie für abweichende Mengen zwischen täglicher Ein-
und Ausspeisung rechnet der Bilanzkreisnetzbetreiber mit dem Bilanz-
kreisverantwortlichen auf Basis von tagesaktuellen Marktnotierungen auf
Großhandelsmärkten für Gas ab. Für zu wenig eingespeiste Mengen
(positive Ausgleichsenergie) berechnet der Bilanzkreisnetzbetreiber dem
Bilanzkreisverantwortlichen einen Zuschlag auf den zweithöchsten Kauf-
preises eines definierten Notierungskorbes102. Für zu viel eingespeiste
Mengen (negative Ausgleichsenergie) erstattet der Bilanzkreisnetz-
betreiber dem Bilanzkreisverantwortlichen den zweitgeringsten
Verkaufspreises dieses Notierungskorbes mit einem Abschlag. Bei
Systemeinführung betrugen Zu- und Abschlag jeweils 10 % des rele-
vanten Korbpreises.
Die Entkoppelung der Handelssphäre der Bilanzkreisverantwortlichen (bzw.
Transportkunden) von den physischen Strömen fossilen Erdgases wie Bioerd-
gases in der GABi Gas-Welt ist in Abbildung 3.2 noch einmal veranschaulicht.
102 Den Notierungskorb bilden Tages-Referenzpreise vier liquider europäischer Handelsmärkte,
u. a. der Leipziger Energiebörse EEX.
3 Bioerdgas im Markt 61
Abbildung 3.2: Die GABi Gas-Entkoppelung der bilanziellen Handelswelt von den physischen Strömen
Quelle: Eigene Darstellung.
3.2.3 Spezielle Regeln für Bioerdgas Für Bioerdgas gelten gemäß GasNZV und GasNEV einige Sonderregeln, die
Bioerdgas ggü. konventionellem Erdgas beim Netzzugang, beim Transport und
in der operativen Transportabwicklung privilegieren. Die daraus resultierenden
Kosten werden auf alle Netze eines Marktgebiets umgelegt und über die
Transportentgelte von allen Erdgaskunden getragen (§ 20b GasNEV):
Biogasanlagen sind vorrangig an die Gasversorgungsnetze anzuschließen,
wobei der Netzbetreiber die Hälfte der Anschlusskosten und sämtliche
Kosten für Wartung und Betrieb des Netzanschlusses trägt
(§ 41c GasNZV).
Netzbetreiber sind verpflichtet, Ein- und Ausspeiseverträge vorrangig mit
Transportkunden von Bioerdgas abzuschließen und Bioerdgas vorrangig
zu transportieren (§ 41d GasNZV).
3 Bioerdgas im Markt 62
Begründet mit der dezentralen Einspeisung von Bioerdgas, erhält der
Einspeiser von Bioerdgas (als Transportkunde) ein pauschales Entgelt
vom Einspeisenetzbetreiber in Höhe von 0,7 Ct/kWh für vermiedene
Netzkosten (§ 20a GasNEV)103.
Für Bioerdgas können gesonderte Biogas-Bilanzkreise104 in Anspruch
genommen werden, die einen erweiterten Bilanzierungszeitraum105 von 12
Monaten statt einem Tag und einen Flexibilitätsrahmen von 25 %
aufweisen. Während Bioerdgasmengen auch in konventionelle Erdgas-
bilanzkreise eingespeist oder übergeben werden können, für die dann
allerdings kein erweiterter Bilanzausgleich möglich ist, ist dies umgekehrt
nicht möglich (§ 41e GasNZV).
Vorgaben der GasNZV zum gesonderten, erweiterten Biogas-Bilanzkreis werden
konkretisiert im „Leitfaden Bilanzierung Biogas“106, der von den Verbänden
BDEW, Fachverband Biogas und Deutscher Bauernverband erarbeitet und von
der Bundesnetzagentur im August 2009 angenommen wurde. Wesentliche
Bestandteile des Modells der Biogas-Bilanzkreise sind demnach:
Der 12monatige Bilanzierungszeitraum ist im Normalfall das Kalender-
jahr. Eine kürzere Bilanzierungsperiode kann vereinbart werden, um
beispielsweise im Jahr der Inbetriebnahme in den Kalenderjahres-
Rhythmus zu gelangen.
103 Die Höhe dieses Entgeltes wird im Rahmen des Monitoringberichts, welchen die BNetzA
gemäß § 41g GasNZV für Bioerdgas zum 31.05.2011 und danach jährlich verfasst, überprüft (§ 20a GasNEV).
104 Da die GasNZV den Begriff „Biogas-Bilanzkreis“ verwendet, wird dies hier übernommen, auch wenn im Sinne einer konsistenten Terminologie der Begriff Bioerdgas-Bilanzkreis angebracht wäre.
105 Aufgrund entsprechender Subventionen durch das EEG ist eine bevorzugte Verwendung von Bioerdgas der Einsatz zur kombinierten Strom- und Wärmegewinnung in Blockheizkraftwerken (BHKW). Der erweiterte Bilanzausgleich soll eine relativ konstante Bioerdgasproduktion und -einspeisung bei weitgehend wärmegeführter Nutzung im BHKW ermöglichen.
106 Vgl. Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft [bdew] (2009).
3 Bioerdgas im Markt 63
Bezugsgröße für die 25%ige Flexibilität eines Biogas-Bilanzkreises ist die
physisch durch Biogasanlagen eingespeiste Jahresmenge an Bioerdgas
(nicht gezählt werden Mengen, die aus anderen Biogas-Bilanzkreisen oder
anderen Marktgebieten übertragen wurden, es sei denn Flexibilität wird
explizit zwischen Biogasbilanzkreisen übertragen; unter Einhaltung
bestimmter Fristen und Regeln ist dies möglich, soweit die Bilanzierungs-
zeiträume der Bilanzkreise am gleichen Tag enden). Da diese Menge erst
am Ende des Jahres feststeht, können das Einhalten des Flexibilitäts-
rahmens auch erst ex post festgestellt und das potentielle Nicht-Einhalten
erst anschließend abgerechnet werden.
Der Ausgleich von Differenzen erfolgt nach Ablauf des Bilanzierungszeit-
raums (am Ende des Jahres). Es wird dann die kumulierte Abweichung
zwischen Ein- und Ausspeisung im Jahresverlauf tageweise betrachtet.
Verletzt der kumulierte Saldo am jeweiligen Tag den Flexibilitätsrahmen
von +/- 25 %, wird Gas, welches die 25 % überschießt/unterschreitet vom
Bilanzkreisnetzbetreiber bereitgestellt/abgenommen und entsprechend der
Ausgleichsenergiepreise von GABi Gas abgerechnet. Ab diesem Zeit-
punkt wird nur noch der entsprechend gekürzte kumulierte Saldo weiter-
geführt. Gas, welches vom Bilanzkreisnetzbetreiber bereitgestellt wird, ist
Erdgas und kein Bioerdgas. Der entsprechende Biogas-Bilanzkreis enthält
dann nicht mehr 100 % Bioerdgas.
Am Ende des Bilanzierungszeitraums verbleibende Differenzmengen
werden grundsätzlich vollständig abgerechnet, wobei hierfür der durch-
schnittliche Ausgleichsenergiepreis des Bilanzierungszeitraums
Anwendung findet. Der Biogas-Bilanzkreisverantwortliche hat im Falle
eines positiven Endsaldos jedoch das Recht, diesen auf den nachfolgenden
Bilanzierungszeitraum zu übertragen, allerdings maximal in Höhe des
Flexibilitätsrahmens von 25 % der physisch eingespeisten Bioerdgas-
Menge.
3 Bioerdgas im Markt 64
Für die tatsächlich in Anspruch genommene Flexibilität hat der Biogas-
Bilanzkreisverantwortliche an den Bilanzkreisnetzbetreiber ein Entgelt in
Höhe von 0,1 Ct/kWh zu entrichten (§ 41e GasNZV). Die tatsächlich in
Anspruch genommene Flexibilität bemisst sich nach dem im Laufe des
Bilanzierungszeitraums höchsten angefallenen kumulierten Saldo
zwischen Einspeisemengen und Ausspeisemengen innerhalb des maxi-
malen Flexibilitätsrahmens.
Daneben können vom Bilanzkreisnetzbetreiber Entgelte erhoben werden
für Gasmengen, welche über den virtuellen Punkt zwischen verschiedenen
Bilanzkreisen übertragen werden.107
Der Mechanismus des Flexibilitätsrahmens ist in Abbildung 3.3 veranschaulicht.
Unterstellt ist eine Biogasanlage, die kontinuierlich 100.000 kWh Bioerdgas pro
Tag in das Netz einspeist. Das Gas sei für ein wärmegeführtes BHKW bestimmt.
Im Beispiel wird vom 01.01. bis zum 30.04. vom BHKW 175.000 kWh pro Tag
entnommen – 75.000 kWh mehr als Bioerdgas produziert und eingespeist wird
(die Differenz wird vom Netzbetreiber de facto als Erdgas bereitgestellt, welches
jedoch als Bioerdgas gewertet wird, solange der Biogas-Bilanzkreisverantwort-
liche dieses Bioerdgas später nachliefert). Der Flexibilitätsrahmen ist am 30.04.
nahezu ausgeschöpft und wird anschließend bei niedrigem Sommerverbrauch in
die entgegengesetzte Richtung zurückgeführt. Bei weiterhin konstanter Produk-
tion von 100.000 kWh werden nun nur 25.000 kWh pro Tag entnommen. Am
Ende des Jahres sei der Biogas-Bilanzkreis ausgeglichen (ab 01.10. wird dafür
wieder mehr ausgespeist als produziert). Damit fallen keine Entgelte für den
Kauf von Gas vom Bilanzkreisnetzbetreiber oder den Verkauf an ihn an. Zu
bezahlen ist die in Anspruch genommene Flexibilität. Die kumulierte Flexibilität
107 Dies ist ein übliches Vorgehen, welches auch für Erdgas praktiziert wird. Beispielsweise
berechnet der Bilanzkreisnetzbetreiber NCG für zwischen Bilanzkreisen am VP übertragene Mengen eine Aufwandsgebühr von 0,0009 Ct/kWh, welche sowohl der Gas abgebende Bilanzkreisverantwortliche wie der Gas aufnehmende Bilanzkreisverantwortliche zu entrichten haben (vgl. NetConnect Germany (2009)).
3 Bioerdgas im Markt 65
beträgt am 30.04. genau 9,0 Mio. kWh. Die maximale Flexibilität von 25 % der
Jahresmenge wird damit fast vollständig in Anspruch genommen (die Jahres-
menge beträgt 36,5 Mio. kWh, 25 % entsprechen 9,1 Mio. kWh). Entsprechend
sind 9,0 Mio. kWh x 0,1 Ct/kWh = 9.000 € vom Biogas-Bilanzkreisverantwort-
lichen an den Bilanzkreisnetzbetreiber zu entrichten. Bezogen auf die gesamte
Jahrsmenge des Biogas-Bilanzkreises sind dies spezifisch 0,025 Ct/kWh.
Abbildung 3.3: Beispielhafte Inanspruchnahme des Biogas-Flexibilitätsrahmens (schematische Darstellung)
Quelle: Eigene Darstellung.
Das vom Gesetzgeber für die Inanspruchnahme von Flexibilität festgeschriebene
Entgelt ist vergleichsweise niedrig, wenn es mit Speicherentgelten verglichen
wird, die als Marktpreis für die Strukturierung von Mengen über das Jahr
betrachtet werden können. Die in Anspruch genommene Flexibilität des Biogas-
Bilanzkreises kann bei einem solchen Vergleich dem Arbeitsgas des Speicher-
produkts gegenübergestellt werden. Die am Markt angebotenen Speicher-
produkte unterscheiden sich hinsichtlich ihres Verhältnisses von
Einspeiseleistung, Ausspeiseleistung und Arbeitsgas sowie der maximalen
3 Bioerdgas im Markt 66
Umschlaghäufigkeit des Arbeitsgases. Beispielhaft sei der spezifische Arbeits-
gas-Preis des nach eigenen Angaben derzeit größten Erdgasspeichers West-
europas, des Wingas-Speichers in Rehden herangezogen. Dieser beträgt
gegenwärtig 0,6 Ct/kWh und liegt damit um den Faktor 6 über dem Entgelt,
welches für die Flexibilität des Biogas-Bilanzkreises zu entrichten ist: Bezogen
auf das Beispiel des Biogas-Bilanzkreises ergäbe sich für die gesamte Jahres-
menge ein Wert von 9,0 Mio. kWh Arbeitsgas x 0,6 Ct/kWh / 36,5 Mio. kWh
Jahresmenge = 0,15 Ct/kWh als Speicherkosten ggü. 0,025 Ct/kWh Kosten der
Flexibilitäten des Biogas-Bilanzkreises.108
Das für Bioerdgas-Einspeisungen gewährte Entgelt für vermiedene Netzkosten
von 0,7 Ct/kWh ist hoch bemessen, wenn tatsächlich vermiedene Netzkosten im
Fokus stehen. Wingas Transport beispielsweise berechnet für die Nutzung ihres
Fernleitungsnetzes 4,32 €/(kWh/h)/a.109 Bei einer Einspeisestruktur einer Bioerd-
gasanlage von angenommenen 6.750 Benutzungsstunden pro Jahr (vgl. 2.1.2)
ergäben sich damit spezifische Transportkosten von 0,064 Ct/kWh.110 Die
108 Der spezifische Arbeitsgas-Preis ist ermittelt als Gesamtkosten der Buchung des
kleinstmöglichen gebündelten Speicherproduktes bezogen auf das Arbeitsgasvolumen dieses Produktes (Winstore-Pack, Arbeitsgasvolumen 35 GWh, 212.500 €) gemäß Speicherrechner der Wingas am 14.11.2009 (www.wingas.de > Speicherung > Speicherrechner). Auch eine probeweise durchgeführte Eingabe der fünffachen Menge führte zum gleichen spezifischen Ergebnis. Speicher und Flexibilität eines Biogas-Bilanzkreises entsprechen sich nicht 1:1, so dass ein Vergleich der beiden Entgelte nur näherungsweise zulässig ist. Grundsätzlich liegt die Flexibilität eines Biogas-Bilanzkreises jedoch über der eines physischen Speichers, da ein Speicher erst zu befüllen ist und anschließend Gas entnommen werden kann. Der Biogas-Bilanzkreis ermöglicht hingegen, wie im Beispiel dargestellt, eine Unterdeckung der Einspeisung, welche erst später ausgeglichen wird.
109 Der Betrag setzt sich zusammen aus 2,22 €/(kWh/h)/a für die Einspeisung und 2,10 €/(kWh/h)/a für die Ausspeisung (Stand 14.11.2009, abrufbar unter www.wingas-transport.de > Download > Netzzugang). Für den Standardfall einer Entnahme des Gases im regionalen oder örtlichen Verteilnetz wird die Ausspeisung aus dem Fernleitungsnetz beim 2-Vertrags-Modell von den Transportkunden nicht separat gebucht, die Entgelte sind jedoch über Wälzungsprozesse in den Exit-Kosten an der Ausspeisestelle enthalten.
110 Die im Beispiel in Abbildung 3.3 unterstellte vollkommen gleichmäßige Bandeinspeisung des Biogases diente Veranschaulichungsaspekten (dies entspräche einer Benutzungsstruktur von 8.760 h/a). Tatsächlich variiert die eingespeiste Menge, wobei auch Revisionen und Ausfälle zu beachten sind. Selbst bei einer Biogasanlage die mit einer typischen Stadtwerke-
3 Bioerdgas im Markt 67
tatsächlich erstatten 0,7 Ct/kWh entsprechen dem 11fachen dieses Wertes.
Zudem erfolgt die Erstattung gemäß § 20a GasNEV unabhängig von der Netz-
ebene. Auch eine Einspeisung ins Fernleitungsnetz, beispielsweise direkt neben
dem Importpunkt, wird bezuschusst, selbst wenn vermiedene Netzkosten
tatsächlich nicht festzustellen sind. Dafür hat der Bioerdgas-Einspeiser im
Fernleitungsnetz, anders als im örtlichen Verteilnetz (hier entfällt nach
§ 18 Ziff. (1) GasNEV ein Entgelt für die Einspeisung, so dass die 0,7 Ct/kWh
ungeschmälert zum Tragen kommen), das reguläre Entgelt zu zahlen: Der Bio-
erdgas-Einspeiser erhält dann 0,7 Ct/kWh angeblich „vermiedene“ Netzkosten
und zahlt im Beispielfall 0,064 Ct/kWh tatsächliche Netzkosten.
Die Sonderregeln für Bioerdgas sind Ausdruck einer politisch gewünschten
Privilegierung eines erneuerbaren Energieträgers gegenüber seinem fossilen
Pendant. Offen kommuniziert wird dies beispielsweise beim Einspeisevorrang
von Bioerdgas. An anderen Stellen werden gaswirtschaftliche Begründungen
angeführt, Bioerdgas finanzielle Gutschriften (vermiedene Netzentgelte) oder
Belastungen (Entgelt für erweiterten Bilanzrahmen) zuzuschreiben. Sachlich
lassen sich diese Zuschreibungen qualitativ grundsätzlich nachvollziehen,
quantitativ zeichnen sie sich jedoch dadurch aus, dass die Gutschriften massiv zu
hoch und die Belastungen massiv zu niedrig ausfallen. Da dies auf den ersten
Blick nicht transparent wird, verschwimmen politisch gewünschte Sonderregeln
und sachlich nachvollziehbare Abweichungen zum Erdgas.
Struktur von 3.000 h/a produzierte, ergäbe sich mit 0,14 Ct/kWh ein Satz, der deutlich unterhalb von 0,7 Ct/kWh liegt.
3 Bioerdgas im Markt 68
3.3 Wettbewerbsfähigkeit von Bioerdgas
3.3.1 Ölindexierung und Preisdifferenzierung auf dem Erdgas-markt
Als technisch vollkommenes Substitut zu konventionellem Erdgas lässt sich
Bioerdgas als Erdgas vermarkten, welches schlicht einen besonderen Produkti-
onshintergrund hat, der für den Nutzer des Produktes jedoch keinen Belang in
Bezug auf die Verwendungseigenschaften des Produktes hat. Dies gilt insbeson-
dere, da sich das von einem Lieferanten für einen bestimmten Kunden einge-
speiste und das von diesem Kunden entnommene Gas physisch – in der Identität
von Molekülen – nicht entspricht (vgl. 3.2.2). Alternativ ist die Vermarktung von
Bioerdgas – analog zu Ökostrom – als grünes Produkt möglich, für das andere
Nutzen und Zahlungsbereitschaften gelten könnten. Im ersteren Falle eines
homogenen Gutes „Erdgas“ stehen die Produzenten von Erdgas und Bioerdgas
im direkten Wettbewerb. Als neuer Marktteilnehmer müsste sich Bioerdgas in
einem freien Markt ohne staatliche Unterstützung preislich gegen konventio-
nelles Erdgas behaupten. Die Preismechanismen konventionellen Erdgases und
deren Entwicklungstendenzen sind daher zentral für eine Einschätzung aktueller
und zukünftiger Wirtschaftlichkeit von Bioerdgas.
Die Bepreisung konventionellen Erdgases erfährt derzeit eine Umbruchphase.
Historisch gewachsenen Indexierungen von Gaspreisen an die Substitutions-
energie Öl stehen zunehmend handelsplatzbasierte Preise mit Spot- und Termin-
notierungen gegenüber.111 Ob beide Preismechanismen mittelfristig eine
Symbiose eingehen, die Preisfindung über Börsen die Ölbindung ersetzt oder die
Ölbindung eine Wiedergeburt feiert und bereits verloren geglaubtes Terrain
111 Handelsplatzbasierte Gaspreise werden einerseits an Börsen generiert. In Deutschland wird
Gas an der European Energy Exchange EEX in Leipzig gehandelt. Andererseits veröffentlichen Informationsdienstleister und Broker Preise für den bilateral abgewickelten OTC-Handel (Over-the-Counter). In beiden Fällen werden Preise nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage generiert.
3 Bioerdgas im Markt 69
zurückgewinnt, wird sich in den kommenden Jahren herausstellen. Solange beide
Systeme eine relevante Marktrolle spielen, sind beide in der Wettbewerbsbe-
trachtung für Bioerdgas zu berücksichtigen.
Die Ölindexierung ist die klassische Form der kontinentaleuropäischen Gaspreis-
bildung. Mit ihr ist auch die Erfolgsgeschichte der deutschen Gaswirtschaft
verknüpft, die sich binnen weniger Jahrzehnte zu einem Pfeiler der deutschen
Energieversorgung entwickelt hat:112 Der Anteil des Erdgases am Primärenergie-
verbrauch der Bundesrepublik Deutschland betrug im Jahre 1960 gerade einmal
0,4 % und stieg bis 1994 (letzter Wert für die „alten“ Bundesländer) auf 18,5 %
an (vgl. auch 2.1.2).113 Als Newcomer galt es für das Erdgas, insbesondere Öl
und zum Teil auch Kohle als etablierte Platzhirsche zu verdrängen. Dies geschah
mit Hilfe des „anlegbaren Gaspreises“, nach dem die Gasverbraucher einen Preis
zahlen, der Erdgas gegenüber der jeweiligen Konkurrenzenergie wettbewerbsfä-
hig hält.114 Für die Gruppe der Haushaltskunden im Wärmemarkt war leichtes
Heizöl die relevante Konkurrenzenergie, für die Großindustrie bzw. Kraftwerke,
für die die anlegbaren Preise zum Teil individuell berechnet wurden, daneben
auch schweres Heizöl und Kohle. Ausgehend von den anlegbaren Gaspreisen für
die Verbrauchermärkte ergibt sich rückwärts nach der „Netback-Preisbildung“
der anlegbare (Misch)Preis für die Importstufe, der Kosten für Transport und
112 Ein bestimmter historischer Entwicklungspfad zeigt selbstverständlich nur an, dass eine
Entwicklung in bestimmter Weise möglich war, er sagt jedoch nichts darüber aus, welche alternativen Wege zum gleichen Ergebnis hätten führen können.
113 Vgl. Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen [AGEB] (1998). 114 Der europäische anlegbare Gaspreis geht auf die niederländische Regierung zurück. Mit
Entdeckung des riesigen Groningen-Gasfeldes im Jahre 1959 wurden die Niederlande für Jahrzehnte zum Referenzpunkt der europäischen Gaswirtschaft. Extrem niedrige Produktionskosten von rund einem niederländischen Cent je Kubikmeter hätten Spielraum für unterschiedlichste Preisstrategien gelassen. Mit dem Ziel, die Staatseinnahmen aus dem neu entdeckten Bodenschatz Erdgas zu maximieren, folgte der damalige niederländische Wirtschaftsminister de Pous einem Vorschlag des Unternehmens Exxon, den Gaspreis an den jeweiligen Konkurrenzenergien auszurichten und etablierte so 1962 in der „Nota de Pous“ den anlegbaren Gaspreis, der in der heimischen Verwendung des Erdgases ebenso Anwendung fand wie in den Exportverträgen. Vgl. Energy Charter Secretariat (2007), S. 144-149.
3 Bioerdgas im Markt 70
Verteilung, Steuern und Abgaben sowie Margen der verschiedenen Handels-
stufen berücksichtigt.115
Um die für Gasgewinnung und -transport notwendigen hochspezifischen Investi-
tionen abzusichern, die nach Erstellung sunk costs darstellen und ohne institutio-
nelle Regelungen Anreize zu opportunistischem Verhalten116 bieten, werden auf
der Importseite üblicherweise Langfristverträge über 20 und mehr Jahre
geschlossen. In diesen Verträgen verpflichtet sich der Verkäufer zur Bereit-
stellung einer festgelegten jährlichen Menge und der Käufer zur festen Abnahme
einer Mindestmenge, die auch bei Nichtabnahme zu bezahlen ist (Take-or-Pay).
Die Vermarktbarkeit des Gases stellt – in der Theorie der Ölpreisbindung – der
anlegbare Gaspreis sicher, wobei sich der Gaspreis in vertraglich vereinbarten
Abständen an die sich ändernden Preise der Substitutionsenergien anpasst. Über
diese automatische Anpassung hinaus bestehen üblicherweise in bestimmten
Abständen Möglichkeiten zu Preisrevisionen, in denen systematische
Änderungen der Märkte berücksichtigt werden können. Diese Ausgestaltung der
Verträge führt dazu, dass der Produzent das Preisrisiko und der Importeur das
Mengenrisiko trägt.117
Preisdifferenzierung liegt vor, wenn ein bestimmtes Gut zu unterschiedlichen
Preisen verkauft wird und diese Preisunterschiede keine entsprechenden Kosten-
unterschiede widerspiegeln.118 Auch wenn ein Kubikmeter Erdgas physisch eine
homogene Einheit darstellt, so führt seine Verwendung in unterschiedlichen
vertraglichen Ausgestaltungen zu unterschiedlichen Produkten, hinter denen
unterschiedliche Leistungen und Kosten des Lieferanten stehen. Beispielsweise
stellt der Vertrag mit einem Haushaltskunden, der – im Rahmen seiner
Anschlussleistung – in einem Monat oder Jahr beliebig viel Gas und im nächsten 115 Vgl. Schiffer (2008), S. 361-375, und Konstantin (2009), S. 21-23. 116 Verfolgung des Eigennutzes unter Zuhilfenahme von Arglist. Vgl. Erlei et al. (2007), S. 202. 117 Vgl. Hensing et al. (1998), S. 80-84 und Schiffer (2008), S. 361-375. 118 Vgl. Fritsch et al. (2007), S. 199.
3 Bioerdgas im Markt 71
Monat bzw. Jahr beliebig wenig Gas abnimmt, ein anderes Produkt dar als der
Vertrag mit einem Industriekunden, der sich Take-or-Pay-Verpflichtungen
unterwirft und eine Mindestabnahme auch in Sommermonaten garantiert. Unter-
schiedliche Gaspreise für unterschiedliche Kundensegmente stellen also nicht
zwangsläufig Preisdifferenzierungen dar. Vielmehr können sie begründet sein
durch etwa unterschiedliche Flexibilitäten (mit oder ohne Mindestabnahme),
Transportkosten (direkter Anschluss an das Transportnetz versus Anschluss an
das Verteilnetz), Versorgungssicherheiten (Recht auf jederzeitigen Verbrauch
von Gas durch den Kunden versus unterbrechbare Verträge mit Recht des
Lieferanten, die Lieferung vorübergehend einzustellen). Die Philosophie anleg-
barer Gaspreise setzt allerdings nicht bei unterschiedlichen vertraglichen
Ausstattungen an, sondern bei der jeweiligen Substitutionsenergie. Zwei unter-
schiedliche Industriekunden mit ansonsten völlig identischen vertraglichen
Ausstattungen hinsichtlich Mengenflexibilitäten und anderen relevanten
Bestimmungen hätten danach unterschiedliche Gaspreise, soweit der eine Kunde
alternativ schweres Heizöl als Prozesswärme einsetzen könnte und der andere
Kunde aufgrund des speziellen Produktionsprozesses auf leichtes Heizöl
angewiesen wäre.119 Das Prinzip anlegbarer Gaspreise impliziert mithin
Preisunterschiede, die allenfalls zufällig mit entsprechenden unterschiedlichen
Produktausstattungen einhergehen und anonsten zu Preisdifferenzierungen
führen.
Die ökonomische Theorie unterscheidet drei Arten von Preisdifferenzierungen:
Bei der Preisdifferenzierung 1. Grades ist der Verkäufer in der Lage, die indivi-
duellen Zahlungsbereitschaften abzurufen, jeder Käufer zahlt seinen individuel-
len Reservationspreis. Im Vergleich zu einem einheitlichen Wettbewerbspreis
119 Wie ein anlegbarer Gaspreis in der Praxis tatsächlich gehandhabt wird, ist von dieser
Feststellung losgelöst. Betriebswirtschaftlich sind dem anlegbaren Gaspreis spätestens an der Stelle Grenzen gesetzt, an der die Unterbietung einer Substitutionsenergie für den Gaslieferanten nicht mehr wirtschaftlich darstellbar ist. Dies könnte beispielsweise der Fall sein, wenn Restbrennstoffe verfeuert werden können.
3 Bioerdgas im Markt 72
kommt es zu einer vollständigen Umschichtung von Konsumenten- zu Produ-
zentenrente. Bei der Preisdifferenzierung 2. Grades realisiert der Verkäufer zwar
auch unterschiedliche Preise für ein Produkt, die jedoch nicht käuferindividuellen
Zahlungsbereitschaften entsprechen, sondern denen verschiedener Konsumen-
tengruppen. Durch Kaufentscheidung ordnen sich die Kunden selbst einer
Gruppe zu, wobei alle Gruppenmitglieder den gleichen Preis zahlen. Innerhalb
jeder Gruppe realisieren die Käufer mit Zahlungsbereitschaften oberhalb des
Preises eine Konsumentenrente. Bei der Preisdifferenzierung 3. Grades lassen
sich die Kunden nach objektiven Kriterien Gruppen zuordnen, deren unter-
schiedlichen Zahlungsbereitschaften durch unterschiedliche Preise Rechnung
getragen wird. Auch hier realisieren innerhalb jeder Gruppe die Käufer mit
Zahlungsbereitschaften oberhalb des jeweiligen Preises eine Konsumentenrente.
Voraussetzung für Einführung und Aufrechterhaltung von Preisdifferenzierungen
ist die Separierbarkeit der Märkte, so dass die Preisdifferenzierungen nicht durch
Arbitrage unterlaufen werden.120 In Deutschland ermöglichte der Staat diese
Separierbarkeit lange Zeit durch Ausnahmen der Gaswirtschaft vom allgemeinen
Wettbewerbsrecht (vgl. 3.2.1).
Das Prinzip des anlegbaren Gaspreises führt zu einer Preisdifferenzierung dritten
Grades, soweit unterschiedliche Kundengruppen unterschiedlich bepreist werden,
und ist eines der wenigen Praxisbeispiele, in denen eine Preisdifferenzierung
ersten Grades umgesetzt wird, soweit anlegbare Gaspreise großer Industrie-
kunden individuell berechnet werden.121 Schematisch ist die Situation in
Abbildung 3.4 veranschaulicht.
120 Vgl. Knieps (2007), S. 81-83, und Phlips (1983), S. 11-16. 121 Der letzte Fall setzt voraus, dass dem Lieferanten hinlängliche Informationen zur Verfügung
stehen, den Reservationspreis des Kunden auch tatsächlich bestimmen zu können.
3 Bioerdgas im Markt 73
Abbildung 3.4: Preisdifferenzierung nach anlegbarem Gaspreis
Bei Gaspreisfindung nach Anlegbarkeits-Prinzip ergeben sich – auch bei gleicher Ausstattung des Produktes – unterschiedliche Gaspreise je nach anzusetzender Substitutionsenergie, beispielsweise leichtes Heizöl (HL), schweres Heizöl (HS), Kohle (K) oder Mischungen daraus. Die Produzentenrente erhöht sich um die graue Fläche gegenüber einer Situation, in welcher ein einheitlicher Preis entsprechend des Grenznachfragers (hier P-HS/K) zum Tragen käme.
Quelle: Eigene Darstellung.
Das institutionelle Gefüge der Gaswirtschaft mit Ölpreisbindungen und Realisie-
rung gruppenspezifischer Zahlungsbereitschaften (Abschöpfung von Konsu-
mentenrente) führte zu schnellen Amortisationen getätigter Investitionen, was der
jungen Erdgasindustrie zusätzlichen Aufschwung verlieh und Kapital freisetzte
bzw. anzog, eine verlässliche Infrastruktur mit diversifizierten Bezugsquellen bis
ins unzugängliche Sibirien aufzubauen. Mit zunehmender Ausreifung der Infra-
struktur und Industrie wurde dann verstärkt auf die Kehrseite dieses Arrange-
ments verwiesen. So formulierte die Internationale Energie Agentur in einer
Untersuchung des (kontinental)europäischen Gasmarktes im Jahre 2000:
„These institutional systems have fulfilled the purpose of building mature and secure gas supply systems. They have provided great benefits to Europe’s energy supply in terms of secure energy supply diversification. The drawbacks of these systems are,
Preis
Menge
PHL
PHL/HS
PHS
PHS/K
Nachfrage
3 Bioerdgas im Markt 74
however, that downstream suppliers have enjoyed or enjoy monopoly positions that provide them with relatively weak incentives for cost-efficiency and customer care. This is particularly the case in gas distribution. The results are higher-than-necessary costs and end-user prices.
This represents an economic cost that may have been justified for as long as the gas supply industry in Europe was young. But most of Europe has now passed this stage. [...]
In this environment, by introducing or improving gas-to-gas competition, market forces can be freed that will empower consumers, reduce end-user gas prices, and force companies to increase the quality of the energy services/products they offer. This will add to industrial competitiveness and to domestic consumption – both drivers of GDP.“122
Die Liberalisierung der deutschen (und europäischen) Gasindustrie (vgl. 3.2.1)
hat zu einer neuen Situation geführt, in der sich ölpreisgebundene Verträge nun
im Wettbewerb mit Spot- und Terminpreisen an Börsen bzw. Großhandels-
märkten wiederfinden. Produzenten wie Importeuren ist es möglich, neben Gas
in langfristigen ölgebundenen Verträgen zusätzliche Mengen über Großhandels-
märkte abzusetzen. Und Importeure wie Stadtwerke und große Industriekunden
haben alternativ zu klassischen ölgebundenen Verträgen die Möglichkeit, Gas am
Großhandelsmarkt zu beziehen und die dort angebotenen Produkte zu nutzen
bzw. auf Angebote von Händlern zurückzugreifen, die darauf basieren. Die
Einkaufspolitik eines Stadtwerks entscheidet dabei nicht nur über die eigene
Marge, die bei besonders günstiger Beschaffung c. p. gesteigert werden kann,
sondern auch über die Wettbewerbsfähigkeit bei ihren eigenen Kunden. Selbst
wenn die Wechselquote im Endkundensegment derzeit noch relativ gering ist,123
setzen neue Wettbewerbsangebote Stadtwerke und ihre klassische Produktpalette
unter Druck.124 Darauf reagierend bieten zahlreiche Stadtwerke ihren Kunden
122 International Energy Agency [IEA] (2000), S. 24. 123 Im Jahre 2008 betrug die Wechselquote 2,85 % (Anzahl Lieferantenwechsel bezogen auf
Anzahl der Letztverbraucher). Vgl. Bundesnetzagentur (2009b), S. 228. 124 Dass die deutsche Gaswirtschaft vor einem Umbruch stand und die traditionellen
Lieferpartnerschaften mit gegenseitiger Rücksichtsnahme zwischen Vorlieferanten und Stadtwerken nicht länger Bestand haben würden, zeigte im Februar 2007 der Marktauftritt der neu gegründeten E.ON-Tochter E-WIE-EINFACH Strom & Gas GmbH. Bemerkenswert war dabei nicht nur die Tatsache, dass E-WIE-EINFACH als erstes Unternehmen bundesweit Gas im Endkundenbereich anbot und damit auch den Kunden der E.ON Ruhrgas AG Konkurrenz
3 Bioerdgas im Markt 75
mittlerweile Festpreise (für ein Jahr) an. Um bei Festpreisangeboten nicht in ein
Verlustrisiko zu laufen, welches sich bei gleichzeitig ölindexiertem Bezug dieser
Mengen einstellt125, ist es naheliegend, solche Mengen bereits als Festpreise
einzukaufen – bei klassischen Lieferanten, die ihrerseits ihre Angebotspalette
erweitern, oder auf dem Großhandelsmarkt.
Abbildung 3.5 stellt die Preisentwicklungen der ölgebundenen Verträge auf der
Importstufe und des Großhandelsmarktes gegenüber. Der vom Bundesamt für
Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) monatlich auf Basis von Meldungen
der Importeure veröffentlichte Grenzübergangspreis repräsentiert den Wert des
Erdgases an der deutschen Grenze, in dem sich die (noch weitgehend) ölgebun-
denen Konditionen der Importgesellschaften spiegeln.126 Als Großhandelspreis
sind die Notierungen für den niederländischen Virtuellen Handelspunkt TTF
angegeben. Der Handel dort ist derzeit noch liquider als der jüngere deutsche
Großhandel (dessen Preise jedoch weitgehend auf gleicher Höhe mit den TTF-
Preisen liegen) und bietet eine tiefere Preishistorie.
machte. Bemerkenswert war insbesondere die Art des Angebots: E-WIE-EINFACH unterbot pauschal den Preis des jeweiligen Grundversorgers um 2 Ct/m3 – und garantierte diesen Preisabstand auch für etwaige Preissenkungen dieses Grundversorgers (bei Preiserhöhungen des Grundversorgers wurde zudem der Ausgangspreis für ein Jahr als Preisdeckel garantiert). Vgl. E-WIE-EINFACH Strom & Gas GmbH (2007) und Lohmann (2009a), S. 65.
125 Typisch für den Gasbezug von Stadtwerken über ölindexierte Verträge sind quartärliche Anpassungen des Gaspreises über Gleitklauseln, in die dann beispielsweise der Durchschnitt der Ölpreise von sechs Monaten mit zeitlichem Versatz von drei Monaten einfließt. Vgl. Schiffer (2008), S. 365 ff.
126 Vgl. Schiffer (2008), S. 367. Eine groß angelegte Sektorenuntersuchung der EU-Kommission mit umfangreichen Erhebungen bei Marktteilnehmern (mehr als 3.000 Fragebögen wurden versandt) führte zu dem Ergebnis, dass im Jahre 2004 in langfristigen Gaslieferverträgen mit russischen, norwegischen und niederländischen Produzenten jeweils mehr als 80 % des Gaspreises an die Preisentwicklungen von leichtem und schwerem Heizöl gebunden waren. Vgl. Commission of the European Communities (2007), S. 102 f. E.ON Ruhrgas-Vorstandsvorsitzender Bernhard Reutersberg gibt den Anteil ölgebundener Gasmengen in Langfristverträgen im Jahr 2009 mit über 90 % an, wobei er davon ausgeht, dass mittelfristig eine Indexierung an Großhandelspreise mit 10 bis 20 % höheres Gewicht als bisher bekommt. Vgl. Reutersberg (2009).
3 Bioerdgas im Markt 76
Abbildung 3.5: Grenzübergangspreis vs. TTF
Quelle: Daten aus APX B.V. (2010) und Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle [BAFA] (2009) mit Veröffentlichungsstand 31.12.2009.
Haupteinflussfaktoren der Spotpreise sind neben den Preisen der Substitutions-
energie Öl vor allem Speicherstände, kurzfristig verfügbare Transportkapazitäten
und Wetterentwicklungen.127 So ist bei den Spotpreisen ein saisonaler Einfluss
127 Vgl. Janssen/Wobben (2008), S. 47. Die Wechselwirkungen zwischen Öl- und Gaspreisen
sind komplex und unterliegen dynamischen Veränderungen. Die kurzfristigen physischen Substitutionspotentiale zwischen Öl und Gas sind weitgehend auf duale Feuerungsanlagen beschränkt. Aufgrund der Kosten, nicht zuletzt durch die notwendige Lagerhaltung für Öl, und aufgrund zunehmend rigiderer Umweltauflagen hinsichtlich der Verbrennung von (schwerem) Heizöl werden solche Anlagenkapazitäten zukünftig eher ab- als zunehmen (vgl. Stern (2007a), S. 6). Über ölgebundene Verträge, deren Gas eine potentielle Angebotsquelle für den Spotmarkt darstellt, ist eine Verbindung zwischen Öl- und Gaspreis derzeit aber auch unabhängig von tatsächlichen Substitutionsbeziehungen gegeben. Zudem existieren auch Beziehungen zwischen Öl und Gas über die Angebotsseite, wie die Internationale Energieagentur (IEA) in einer Untersuchung des nordamerikanischen Gasmarktes, der sich durch einen reinen Gas-zu-Gas-Wettbewerb ohne Ölpreisbindungen auszeichnet, herausstreicht: Da zahlreiche Produzenten sowohl Öl als auch Gas fördern, hängen die Investitionen in die jeweilige Energie auch vom Preisniveau ab: Hohe Gaspreise lenken Gelder in die Gasproduktion, was zu steigender Förderung und wieder sinkenden Preisen führt. Längere Vorlaufzeiten bei Offshore-Projekten und eine verstärkte Förderung unkonventionellen Gases mit besonderen Kostenstrukturen und zunehmender Spezialisierung von Unternehmen könnte diese Beziehung zukünftig allerdings schwächen (vgl. International Energy Agency [IEA] (2009b), S. 513). Eine engere Kopplung könnte auch der Ausbau von
3 Bioerdgas im Markt 77
zwischen Winter- und Sommerpreisen erkennbar, der sich bei den ölgebundenen
Preisen nicht widerspiegelt. Letztere zeigen sich unbeeindruckt von vergleichs-
weise geringen Gasverbräuchen im Sommer aber auch von besonderen Kälte-
perioden im Winter. Der Kälteeinbruch im März 2006 schien dagegen einer der
Gründe der TTF-Preisspitze zu dieser Zeit. Entsprechend wird ölgebundenen
Gaspreisen vorgehalten, keine Knappheitssignale zu erzeugen, welche das
(kurzfristige) Verhältnis von Angebot und Nachfrage repräsentieren.128
In den Jahren 2006 bis 2008 lagen die Preisnotierungen an der TTF in den
Wintermonaten zeitweilig über dem Grenzübergangspreis bzw. im relativ
warmen Winter 2006/07 zumindest nahezu auf dem Niveau des Grenzüber-
gangspreises. Die Preisentwicklung im zweiten Halbjahr 2009 stützt die
Einschätzung einer zukünftig generellen Entkoppelung der handelsplatzbasierten
Gaspreise von den ölgebundenen Verträgen (in ihrer bisherigen Preisgestaltung)
bzw. dem dahinterliegenden Prinzip der Anlegbarkeit und einer damit einherge-
henden nachhaltigen Umgestaltung der kontinentaleuropäischen Gaswirtschaft .
Eine solche Entwicklung skizziert die Internationale Energie Agentur (IEA) im
World Energy Outlook 2009:129
• In den kommenden Jahren ist mit einer Gasschwemme und damit
einhergehenden niedrigen Großhandelspreisen zu rechnen. Auf der Ange-
botsseite führt der rasante Anstieg der unkonventionellen Gasproduktion
in Nordamerika130 zu einer nicht vorhergesehenen Ausweitung der
Gas to Liquids-Verfahren mit sich bringen, bei denen aus Erdgas beispielsweise Kraftstoff für Dieselmotoren gewonnen wird.
128 Vgl. Commission of the European Communities (2007), S. 107. 129 Vgl. International Energy Agency [IEA] (2009b), S. 432-437 und 518-520. 130 Die Vereinigten Staaten, in denen derzeit rund drei Viertel der weltweiten Produktion
unkonventionellen Erdgases konzentriert ist, haben die Förderung unkonventioneller Ressourcen seit 1990 nahezu vervierfacht. Mit knapp 300 Mrd. m3 machte unkonventionelles Erdgas 2008 über 50 % der gesamten US-Produktion aus und mit knapp 60 Mrd. m3 ein Drittel der kanadischen Produktion. Als unkonventionelles Erdgas werden Tight Gas, Coalbed Gas, Shale Gas und Methan Hydrate bezeichnet, die schwer zugängliche Gasvorkommen in
3 Bioerdgas im Markt 78
Produktion. Zudem nehmen bereits vor Jahren initiierte neue LNG- und
Pipeline-Projekte ihre Produktion auf. Zahlreiche LNG-Projekte waren
ursprünglich für den nordamerikanischen Markt bestimmt, werden dort
nun aber nicht mehr benötigt. Dieses LNG-Gas könnte nun zum Teil
zusätzlich auf den europäischen Gasmarkt strömen. Auf der Nachfrage-
seite führt gleichzeitig die Krise der Weltwirtschaft zu einem Rückgang
des Verbrauchs. Die jährliche Unterauslastung der weltweiten inter-
regionalen gaswirtschaftlichen Pipeline- und LNG-Kapazitäten steigt
gemäß IEA-Prognose von 60 Mrd. m3 in 2007 auf knapp 200 Mrd. m3 in
der Periode 2012-2015.131
• Ein solcher Käufermarkt mit handelsplatzbasierten Gaspreisen, die
deutlich unter den Importpreisen ölgebundener kontinentaleuropäischer
Langfristverträge notieren, treibt diejenigen Produzenten und Importeure,
die bislang noch (weitgehend) an der Ölpreisbindung festhalten, in die
Enge. Aus Sorge um ihren Marktanteil, aber auch auf der Suche nach
zusätzlichem Gasabsatz zur Auslastung getätigter Investitionen könnte
eine Umgestaltung der relativ teuren Langfristverträge hin zu einer
deutlich höheren Bindung an günstige Spotnotierungen erfolgen.132
unterschiedlichen Formationen darstellen. Die Produktionstechnologie hat in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht, so dass in den Vereinigten Staaten die durchschnittlichen Produktionskosten unkonventionellen Gases unter die konventionellen Gases fielen. Vgl. International Energy Agency [IEA] (2009b), S. 391 und 397 f.
131 200 Mrd. m3 entsprechen rund dem Doppelten des gesamten jährlichen deutschen Gasverbrauchs.
132 Der mit einer solchen Umgestaltung der Preisfindung einhergehende Einschnitt ist nicht zu unterschätzen. Die beteiligten Unternehmen müssen ihre Rolle neu definieren. Das kurzfristige Agieren unter weitgehend gegebenen Rahmenbedingungen dürfte den meisten Marktteilnehmern wohl nicht schwer fallen, sobald klar erkennbar wird, welche Preise zukünftig relevant sind (alles andere führte wohl schnell ins betriebswirtschaftliche Abseits). Den neuen Preismechanismen auch so sehr zu trauen, darauf langfristige Weichenstellungen und Investitionen vorzunehmen, sollte dagegen nicht von vornherein als gegeben angenommen werden. Hier könnten sich auch zahlreiche Marktteilnehmer in eine Position des Abwartens begeben, die Investitionen verzögert: „Markets only become credible by the herd behaviour of their participants“ (Clingendael International Energy Programme [CIEP] (2008), S. 4).
3 Bioerdgas im Markt 79
• Das mit dem Überangebot an Gas einhergehende niedrige Preisniveau
könnte mittelfristig zu einer Belebung des Absatzes führen, wenn dadurch
insbesondere im Kraftwerkssegment zusätzliche Nachfrage generiert wird.
Den Boden für eine solche preisliche Entwicklung in Deutschland bereiteten die
neuen Rahmenbedingungen der Gaswirtschaft mit ihren komplett veränderten
Zugangs- und Wettbewerbsmöglichkeiten. Damit könnte sich für die deutsche
Gaswirtschaft Michael E. Porters Diktum schmerzlich bewahrheiten, nach dem
es die Strukturen einer Branche sind, die ihre Profitabilität bestimmen – und
Änderungen der Strukturen damit weitreichende Folgen haben können.133 Die
einbrechenden Unternehmensergebnisse des Branchenführers E.ON Ruhrgas im
Kalenderjahr 2009 könnten davon zeugen: Gegenüber dem Vorjahr sank der
Adjusted EBIT des unregulierten Geschäfts der E.ON Market Unit „Pan-
European Gas“ mit E.ON Ruhrgas als Führungsgesellschaft um 54 % oder
882 Mio. €. Der Hauptgrund hierfür lag im gesunkenen Ergebnis des Gashan-
delsgeschäfts der E.ON Ruhrgas AG, das u. a. in wettbewerbsbedingtem Druck
auf die Verkaufspreise begründet wird.134
Eine fortgesetzte Entwicklung sinkender Gaspreise erschwerte die Wettbewerbs-
fähigkeit von Bioerdgas – als Substitut zu Erdgas wie als eigenständiges grünes
Produkt. In einem Marktumfeld anlegbarer Gaspreise könnte Bioerdgas dagegen
insbesondere in den Segmenten antreten, in denen Erdgas die höchsten Preise
erzielt, beispielsweise bei den Haushalts- und Gewerbekunden.
133 „Industry structure drives competition and profitability, not whether an industry produces a
product or service, is emerging or mature, high tech or low tech, regulated or unregulated.“ (Porter (2008a), S. 3).
134 Vgl. E.ON AG (2010), S. 23.
3 Bioerdgas im Markt 80
3.3.2 Bioerdgas in Konkurrenz zu konventionellem Erdgas Soweit Bioerdgas ohne staatliche Förderung und ohne Sonderregeln und soweit
konventionelles Erdgas in einem funktionierenden Wettbewerbsmarkt vertrieben
werden, gelten bei Einspeisung am gleichen Punkt bzw. in die gleiche Netzebene
für beide anschließend die gleichen weiteren Kosten für Strukturierung,
Transport und Vertrieb.135 Als Referenzpunkte für die Wirtschaftlichkeit von
Bioerdgas als Erdgassubstitut kommen aufgrund der derzeitigen Umbruchphase
der Gaswirtschaft einerseits die klassischen Importpreise in Frage, deren Abhän-
gigkeit vom Ölpreis Rechnung zu tragen ist (Szenario Ölpreisbindung). Daneben
treten andererseits immer stärker knappheitsgetriebene handelsplatzbasierte
Gaspreise, die ebenfalls mögliche Referenzpunkte für die Wirtschaftlichkeit von
Bioerdgas darstellen, insbesondere falls sie zukünftig die ölgebundenen Preise
auch auf der Importstufe als Preisführer ablösen (Szenario Gaswettbewerb).
Für das Szenario Gaswettbewerb wird nachfolgend das langfristig darstellbare
untere Preisniveau herangezogen, das somit eine untere Preisgrenze für Erdgs
darstellt. Dieses Preisniveau wird – von einem Wettbewerbsmarkt ausgehend –
bestimmt durch die langfristigen Produktionskosten des Grenzanbieters. Markt-
konstellationen mit Marktmacht oder staatlichen Eingriffen könnten auf
Handelsplätzen selbstverständlich zu anderen Ergebnissen als kostenorientierten
Grenzpreisen führen. Gas muss sich jedoch immer gegen andere Substitutions-
energien behaupten. Das dem klassischen Importpreis zu Grunde liegende
Prinzip der Anlegbarkeit (Szenario Ölpreisbindung) bildet diese Substitutions-
beziehung bereits ab und kann deshalb als Obergrenze für Erdgas betrachtet
werden, die auch Produzenten mit monopolistischer Marktmacht nicht länger-
fristig überschreiten können.
135 Falls Bioerdgas direkt ins örtliche Verteilnetz eingespeist und in diesem Netz auch
verbraucht wird, entfiele ein Teil der Transportkosten, der mit weniger als 0,1 Ct/kWh aber vergleichsweise gering wäre (vgl. 3.2.3).
3 Bioerdgas im Markt 81
Falls der Preis von Erdgas, wie im Szenario Gaswettbewerb unterstellt, zukünftig
über Angebot und Nachfrage auf Großhandelsmärkten gebildet werden sollte,
wäre selbst bei Marktmacht der Produzenten eine Preisdifferenzierung in der
bisherigen Form nicht mehr möglich: Für ein Produkt gibt es dann nur einen
Preis. Dieser bestimmt sich durch die Grenznachfrage des Gases – entspricht
idealtypisch also dem Preis der Substitutionsenergie, welche das Erdgas gerade
noch verdrängt. Die durch die Anlegbarkeit generierte zusätzliche Produzenten-
marge (vgl. Abbildung 3.4) kommt nicht mehr zum Tragen.136
Das Szenario Ölpreisbindung basiert auf einer Modellierung der Importkondi-
tionen. Die individuellen preislichen Gestaltungsdetails der Importverträge sind
nicht öffentlich zugänglich. Grundsätzlich kann für für den betrachteten Zeithori-
zont jedoch überwiegend von einer Ölindexierung ausgegangen werden (vgl.
3.3.1), so dass eine positive Korrelation zwischen den veröffentlichten monat-
lichen Grenzübergangspreisen und der Entwicklung des Ölpreises gegeben sein
sollte. Bei den Ölprodukten existiert eine große Vielfalt nicht nur hinsichtlich
verschiedener Produkte (beispielsweise leichtes oder schweres Heizöl mit jeweils
unterschiedlichen Schwefelgehalten), sondern auch hinsichtlich der Notie-
rungsorte (beispielsweise internationale Notierungen mit Lieferort Rotterdam
oder deutsche Notierungen des Statistischen Bundesamtes für Rheinschiene-
Lieferungen oder Lieferungen in Hamburg oder München). Ausgangsstoff für die
verschiedenen Produkte ist jeweils Rohöl. Als für Europa relevanter Leitpreis für
Rohöl gelten die in Dollar je Barrel ($/bbl) notierten Preise der Sorte Brent.
136 Entsprechend kann es nicht verwundern, dass Produzenten wie Gazprom zumindest
öffentlich (noch) vehement an der Ölpreisbindung festhalten und Gazprom-CEO Alexei Miller erklärt, es seien „extravagant ideas that we may connect the natural gas price to a spot gas market price“ (vgl. ICIS Heren (2009)). Andererseits gründen sich die auf Wachstum setzenden Hoffnungen einer vermehrten Nachfrage nach Erdgas auf einen verstärkten Einsatz in der besonders preissensiblen Stromerzeugung, in der das vergleichsweise klimafreundliche Erdgas Kohle verdrängen könnte. Vgl. beispielsweise die Energieprognose der ExxonMobil für die Jahre 2009-2030, ExxonMobil Central European Holding GmbH (2009), S. 5 f. Dafür müsste Erdgas – unter Berücksichtigung vermiedener CO2-Zertifikatskosten und geringerer Kraftwerksinvestitionen – preislich mit Kohle konkurrieren.
3 Bioerdgas im Markt 82
Diese Brentpreise werden nachfolgend – in Euro umgerechnet – zu den Grenz-
übergangspreisen in Beziehung gesetzt. Dabei wird (als Hypothese) auf eine bei
Schiffer angeführte lineare Beziehung zwischen Öl- und Gasimportpreisen
zurückgegriffen, bei der die Ölpreise der zurückliegenden neun Monate jeweils
als arithmetisches Mittel in den sich monatlich ändernden Gaspreis einfließen.137
Diese Art der Indexierung, die Abbildung 3.6 illustriert, wird auch als Preisan-
passungsrhythmus 9-0-1 bezeichnet.138 Abbildung 3.7 zeigt die Ergebnisse des
modellierten Grenzübergangspreises139 im Vergleich zu den veröffentlichten
Werten.
137 Vgl. Schiffer (2008), S. 364 ff. 138 9-0-1 ist wie folgt zu lesen: Der Gaspreis errechnet sich in Abhängigkeit des arithmetischen
Mittels der Ölpreise aus 9 Monaten. Es handelt sich dabei um die neun Monate, die unmittelbar dem Preisanpassungstermin des Gases vorangehen, also beispielsweise bei einer Gaspreisanpassung zum 1. November um die Monate Februar bis Oktober (das Time-lag beträgt mithin 0 Monate; ein Time-Lag von beispielsweise einem Monat hätte dagegen zur Folge, dass der erste dem Preisanpassungstermin vorausgehende Monat übersprungen würde, bei einer Preisanpassung zum 1. November also die Monate Januar bis September herangezogen würden). Der so berechnete Gaspreis gilt jeweils für 1 Monat, wird also jeden Monat neu angepasst (bei quartärlicher Preisanpassung nähme die letzte Ziffer dagegen den Wert 3 an).
139 Die Abschätzung der linearen Abhängigkeit des Gaspreises vom Ölpreis erfolgt über einfache lineare Regression, Methode der kleinsten Quadrate, auf Basis der Zeitreihen der Gaspreise und Öl-Referenzpreise von Januar 1993 bis September 2009, in der aufgrund signifikanter Tests auf Heteroskedastizität und Autokorrelation Newey-West Standardfehler verwendet werden, die unter diesen Bedingungen konsistente Hypothesentests gewährleisten (vgl. Hill et al. (2008), S. 235 und Griffiths et al. (2008) S. 174). Die als Monatswerte von der U.S Energy Information Administration veröffentlichten Rohölpreise (vgl. Energy Information Administration [eia] (2010)) werden mittels korrespondierenden monatlichen Referenzkursen der Europäischen Zentralbank EZB von $/bbl in €/bbl umgerechnet. Geschätzt wird die Beziehung P = α + βX mit P als Gaspreis und X als Brent-Referenzwert gemäß Preisanpassung 9-0-1, wobei eine lineare Beziehung zwischen Öl- und Gaspreis als statistisch hoch signifikant einzustufen ist (vgl. Probability-Werte in Tabelle in Abbildung 3.7).
3 Bioerdgas im Markt 83
Abbildung 3.6: Preisanpassungsrhythmus 9-0-1 illustriert
Quelle: Eigene Darstellung.
Abbildung 3.7: Grenzübergangspreis Ist-Daten und modellierte Werte
Quelle: Eigene Darstellung.
3 Bioerdgas im Markt 84
Die modellierte Formel für den Grenzübergangspreis ist nun – bei gegebenem
Umrechnungskurs $/€ – in Abhängigkeit vom dollarbasierten Ölpreis darstellbar,
so dass unterschiedlichen Ölpreisen die korrespondierenden ölindexierten Gas-
importpreise zugeordnet werden. Die Produktionskosten von Bioerdgas und von
konventionellem Erdgas lassen sich c. p. (als starke Annahme ist insbesondere
eine Abhängigkeit vom Ölpreis ausgeblendet140) diesen Preisen gegenüberstellen
und Break-Even-Punkte identifizieren, ab denen Bioerdgas und konventionelles
Erdgas im Szenario Ölpreisbindung wirtschaftlich sind (Kostendeckung bei
Grenzübergangspreisniveau). Für konventionelles Erdgas lassen sich unter-
schiedliche Kosten verschiedener Vorkommen heranziehen, welche gleichzeitig
für das Szenario Gaswettbewerb als Indikatoren für potentielle grenzkosten-
basierte Spotpreisniveaus betrachtet werden, die sich wiederum mit den Produk-
tionskosten von Bioerdgas vergleichen lassen (vgl. Abbildung 3.8):
Die Kosten der Produktion, Aufbereitung und Einspeisung von Bioerdgas
werden gemäß Kapitel 2.3 angesetzt. Betrachtet wird gemäß Tabelle 2.3
einmal die günstigste Variante für eine Anlage, die hauptsächlich mit
nachwachsenden Rohstoffen betrieben wird (Gülle 10/NaWaRo 90), und
einmal die Variante eines hauptsächlichen Gülleeinsatzes
(Gülle 90/NaWaRo 10). Die Kosten betragen im ersten Fall 6,33 Ct je
eingespeister kWh Bioerdgas und im zweiten Fall 5,45 Ct/kWh.
Für die Abschätzung der Kosten konventionellen Erdgases werden die
Untersuchungen der Internationalen Energie Agentur aus dem World
Energy Outlook 2009 für verschiedene Gasvorkommen herangezogen:141
– Konventionelles Erdgas: Die Produktionskosten für die leichter
zugänglichen Felder liegen zwischen 0,5 und 6,0 $/MBtu142; die
140 Dies bedeutet für Bioerdgas eine vereinfachende Annahme, die zu optimistischen
Kostenstrukturen führt. Eine realistischere Annahme einer positiven Abhängigkeit der Bioerdgas-Kosten vom Ölpreis (Einsatz von Kunstdüngern, Treibstoff, etc.) führte zu Bioerdgas-Preiskurven, die nicht horizontal, sondern ansteigend verliefen. Die dargestellten Schnittpunkte der Kurven der Bioerdgas-Kosten mit dem ölpreisabhängigen Erdgaspreis verschöben sich dann in Richtung höherer Ölpreise nach rechts.
141 Vgl. International Energy Agency [IEA] (2009b), S. 416 f.
3 Bioerdgas im Markt 85
verbleibenden erschließbaren Ressourcen143 dieser Felder betragen
55.000 Mrd. m3 (zum Vergleich: der weltweite Verbrauch an
Erdgas im Jahr 2008, der nicht nur Vorkommen dieser Felder
umfasste, betrug 3.150 Mrd. m3)144; weitere 220.000 Mrd. m3
zwischen 3,1 und 10,0 $/MBtu machen Sauergase aus, deren
Produktionskosten denen unkonventionellen Erdgases ähneln und
deshalb nicht separat in der Abbildung aufgenommen sind.
– Unkonventionelles Erdgas: Die Produktionskosten liegen zwischen
2,7 und 9,0 $/MBtu; die verbleibenden erschließbaren Ressourcen
betragen 380.000 Mrd. m3, die sich aufteilen auf 110.000 Mrd. m3
Tigth Gas, 180.000 Mrd. m3 Shale Gas und 90.000 Mrd. m3
Coalbed Methane.
– Weitere Vorkommen, deren Preise nicht in der Grafik aufgeführt
sind: Die Produktionskosten betragen für arktische Vorkommen
(50.000 Mrd. m3) zwischen 3,8 und 12 $/MBtu und für
Tiefwasser-Vorkommen (80.000 Mrd. m3) zwischen 5 und
11 $/MBtu; die Methan-Vorkommen in Gashydraten werden von
der IEA noch nicht betrachtet, da deren wirtschaftliche Gewinnung
bislang noch nicht unter Beweis gestellt werden konnte.
Die Transportkosten betragen nach IEA für Pipeline-Transporte zwischen
0,3 und 1,2 $/MBtu je 1.000 km und für LNG zwischen 3,1 und
4,7 $/MBtu.145
Als weiteren Kostenbestandteil bezieht ein dargestellter Fall CO2-Kosten
konventionellen Erdgases ein. Dabei wird nicht nur auf die CO2-Differenz
zwischen konventionellem Erdgas und Bioerdgas abgestellt, sondern auf
142 Million british thermal units; 1 MBtu entspricht rd. 293 kWh; die hier aus International
Energy Agency [IEA] (2009b) wiedergegebenen $/Mbtu-Werte sind in Abbildung 3.8 in €-Ct/kWh umgerechnet.
143 Remaining recouverable ressources, vgl. International Energy Agency [IEA] (2009b), S. 392. 144 Vgl. International Energy Agency [IEA] (2009b), S. 88. 145 Vgl. International Energy Agency [IEA] (2009b), S. 417.
3 Bioerdgas im Markt 86
die gesamten CO2-Emissionen konventionellen Erdgases (245 g/kWh, vgl.
2.4.2), die mit einem hohen, für die Wirtschaftlichkeit von Bioerdgas
günstigen CO2-Preis von 30 €/t146 bewertet werden.
Abbildung 3.8: Wirtschaftlichkeit von Bioerdgas ggü. konventionellem Erdgas
Quelle: Eigene Darstellung. Für Herleitung Grenzübergangspreis vgl. Abbildung 3.7, für Produktionskosten Bioerdgas Tabelle 2.3, für Produktionskosten Erdgas International Energy Agency [IEA] (2009b) S. 417, für Devisenkurse Deutsche Bundesbank (2009), für Rohölpreise Energy Information Administration [eia] (2010) und für IEA-Ölpreis-Prognose International Energy Agency [IEA] (2009b), S. 64.
Wie aus Abbildung 3.8 ersichtlich, ist Bioerdgas auf Basis von nachwachsenden
Rohstoffen (Gülle 10/NaWaRo 90), auf denen die Ausbaubestrebungen ruhen, in
Szenario Ölpreisbindung erst ab einem Ölpreis von 230 $/bbl Brent wirtschaft-
lich. Für Bioerdgas auf Basis von Gülle (Gülle 90/NaWaRo 10) liegt dieser Wert
bei 197 $/bbl. Im Vergleich zu einem möglichen Spotpreisniveau im Szenario
Gaswettbewerb, welches sich an den langfristigen Produktionskosten konventio-
nellen Erdgases orientierte, käme Bioerdgas selbst gegenüber den teureren der 146 Der Höchststand der europäischen Emissionshandelszertifikate der zweiten Handelsperiode
im Jahre 2008 betrug rund 30 €/t. Vor dem Hintergrund der Finanzkrise verloren die Zertifikate dann bis Ende des Jahres dramatisch an Wert und notierten Anfang 2009 zwischenzeitlich unter 10 €/t (vgl. Parker (2010), S. 4 f.).
3 Bioerdgas im Markt 87
unkonventionellen Vorkommen, welche per LNG transportiert und zudem noch
mit den vollen Kosten der CO2-Emissionen von Erdgas belastet würden, nicht
zum Zuge. Vielmehr bliebe selbst in diesem teuersten Falle ein Fehl zur
Wirtschaftlichkeitsschwelle für Bioerdgas auf NaWaRo-Basis von 2,4 Ct/kWh.
Für Bioerdgas auf Gülle-Basis beträgt dieses Fehl 1,5 Ct/kWh.
Bei einer Einbeziehung der CO2-Emissionen haben variierende CO2-Preise
gegenüber den hier betrachteten 30 €/t Auswirkungen auf die Wirtschaftlich-
keitsbetrachtungen. Abbildung 3.9 stellt die Break-Even CO2-Preise dar, die bei
den einzelnen Gas-Produktionskosten-Szenarien notwendig wären, um die
Wirtschaftlichkeitsschwelle für Bioerdgas unter der Maßgabe zu erreichen, dass
Bioerdgas als regenerative Energie selbst CO2-Emissionen von Null aufzuweisen
hätte und Erdgas in der Gegenüberstellung mithin die gesamten CO2-Emissionen
angelastet würden und nicht nur eine Differenz zu den Emissionen von Bioerd-
gas.147 Selbst im für Bioerdgas günstigsten Falle der teureren der unkonventio-
nellen Ressourcen mit LNG-Transport läge dieser Break-Even CO2-Preis für die
NaWaRo-Variante mit 127 €/t um ein Vielfaches über aktuellen Preisen des CO2-
Emissionshandels.
147 Für die CO2-Emissionen bestehender Biogas-Anlagen vgl. 2.4.2.
3 Bioerdgas im Markt 88
Abbildung 3.9: CO2-Break-Even-Preise für Bioerdgas
Quelle: Eigene Darstellung (für Annahmen vgl. Abbildung 3.8).
Falls die nicht gegebene Wirtschaftlichkeit durch staatliche Subventionierungen
von Bioerdgas überwunden werden sollten, haben diese beachtlich auszufallen,
wie aus Abbildung 3.10 hervorgeht. Bei einem Rohölpreisniveau wie im Jahre
2008 von 62 $/bbl erforderte die Erreichung des staatlich gesetzten Bioerdgas-
Einspeiseziels von 10 Mrd. m3 eine jährliche Förderung von 4,5 Mrd. € (bzw. bei
Berücksichtigung von CO2-Kosten von 30 €/t für Erdgas und keinen CO2-Kosten
für Bioerdgas 3,8 Mrd. €). Bei dem von der IEA für 2030 erwarteten Rohölpreis-
niveau von 115 $/bbl wären es im Falle ohne CO2 jährlich 3,1 Mrd. € und im
Falle mit CO2 2,3 Mrd. €. Die auf das Jahr 2008 bezogenen 4,5 Mrd. EUR
entsprechen 0,52 Ct/kWh bezogen auf den jährlichen Primärenergieverbrauch an
Erdgas in Deutschland (vgl. Tabelle 2.2). Bei einem Ölpreisniveau entsprechend
dem Jahre 2008 könnte die gewünschte Produktion und Einspeisung von Bioerd-
gas also über Subventionen erreicht werden, deren Höhe – bei einer Finanzierung
dieser Subventionen über alle Gaskunden – in etwa der gegenwärtigen Mineral-
ölsteuer auf Erdgas in Höhe von 0,55 Ct/kWh entspräche.
3 Bioerdgas im Markt 89
Abbildung 3.10: Jährlicher Subventionsbedarf von Bioerdgas
Quelle: Eigene Darstellung.
Soweit Bioerdgas und Erdgas als homogenes Gut wahrgenommen werden,
besteht für Bioerdgas keine Erfolgsaussicht, sich gegen Erdgas zu behaupten.
Bioerdgas wäre eine technisch machbare, aber wirtschaftlich nicht rationale
Option der Gaserzeugung. Soweit die Konsumenten Bioerdgas jedoch als ein von
Erdgas differenziertes Produkt erachten, könnten höhere Zahlungsbereitschaften
vorliegen.
4 Bioerdgas als eigenständiges grünes Produkt 90
4 Bioerdgas als eigenständiges grünes Produkt
4.1 Grüne Produkte und Konsumentenethik
(Moralische) Präferenzen zumindest eines Teils der Konsumenten könnten
Bioerdgas einen eigenständigen Markt als grünes Produkt eröffnen.
„Grünes Produkt“ ist ein eher schillernder Begriff mit inflationären Tendenzen,
wobei die originäre Konnotation auf eine im Verhältnis zu vergleichbaren
Produkten relative Umweltfreundlichkeit eines Produktes abstellt oder – pathe-
tisch ausgedrückt – „just had to do with saving the planet“148. Was genau als
grünes Produkt qualifiziert, bleibt unbestimmt. Anbieter von „Grünstrom“
beispielsweise treten mit sehr unterschiedlichen Produkten an, die sich in der
Erzeugung voneinander abgrenzen (ist beispielsweise der Strom aus alten
Bestandswasserkraftwerken als „grüner“ Strom zu behandeln oder nicht?) als
auch in der Wirkung der Produkte (kommt es beispielsweise „nur“ zu einer
Verbesserung der persönlichen CO2-Bilanz des Käufers oder wird auch ein
Beitrag zur globalen CO2-Bilanz geleistet?).149 Im Rahmen dieser Arbeit soll
unter einem „grünen“ Produkt Bioerdgas eine Vermarktung nicht als Erdgassub-
stitut sondern als eigenständiges Produkt verstanden werden, welches ein preis-
liches Premium gegenüber Erdgas realisiert, in dem sich eine Präferenz des
Käufers spiegelt, die sich wesentlich gründet auf eine wahrgenommene höhere
Umweltfreundlichkeit bzw. Nachhaltigkeit.
148 Mercier (2009). 149 Vgl. Bode (2009). Eine Untersuchung verschiedener Ökostrom-Tarife durch ÖKO-TEST
zeigte, dass zahlreiche Ökostrom-Angebote einer strengen Definition, nach der ökologisch korrekter Strom in Anlagen zu erzeugen ist, die aufgrund der Ökostrom-Nachfrage zusätzlich errichtet werden, nicht standhalten (vgl. Claßen et al. (2010)).
4 Bioerdgas als eigenständiges grünes Produkt 91
Verschiedene Dimensionen von Umweltfreundlichkeit und Nachhaltigkeit lassen
sich nicht allgemein konsensfähig zu einer einzigen Kennzahl verdichten (vgl.
Ausführungen zur Ökobilanz unter 2.4). Individuelle Präferenzen für Bioerdgas
könnten in unterschiedlichsten Umwelt- und Nachhaltigkeitsaspekten begründet
liegen: Für einen Konsumenten mag die Klimabilanz ganz im Vordergrund
stehen. Ein anderer könnte Bioerdgas völlig losgelöst von der Klimabilanz
dadurch einen Wert beimessen, dass es dem Ideal eines Erntens nachwachsender
Ressourcen entspricht, welches zu keinem Verzehr in Bezug auf menschliche
Zeithorizonte nicht regenerierbarer fossiler Ressourcen führt. Für wieder einen
anderen Konsumenten könnte Bioerdgas das Unbehagen nehmen, das aus dem
Konsum importierter fossiler Brennstoffe aus Ländern resultiert, deren Öl- und
Gasreichtümer nicht zu allgemeinem wirtschaftlichen Aufschwung und
Wohlstand führten, sondern die Entwicklung der Länder eher hemmten und die
Kluft zwischen Reichtum und Elend weiter wachsen ließen.150 So appelliert
„WorldChanging : Das Handbuch der Ideen für eine bessere Zukunft“, welches
durch ein Vorwort des ehemaligen US-Vizepräsidenten und Friedensnobelpreis-
träger Al Gore prominente Unterstützung erfährt:
„Wir können die Veränderungen [hin zu Nachhaltigkeit] schneller herbeiführen, indem wir mit unserer Kaufkraft entscheiden und zeigen, dass wir nach ‚klügeren’ Produkten verlangen, die uns mehr Qualität und weniger Schuldgefühle geben, und indem wir bereit sind, unseren Worten an der Kasse Taten folgen zu lassen.“151
Eindringlich und dem einzelnen Adressaten viel abverlangend äußert sich in
Richtung Konsumentenethik auch Papst Benedikt XVI in seiner Enzyklika
„Caritas in veritate“:
„Es ist gut, daß sich die Menschen bewußt werden, daß das Kaufen nicht nur ein wirtschaftlicher Akt, sondern immer auch eine moralische Handlung ist. Die Konsu-
150 Vgl. Collier (2008), S. 58-76, und Seifert/Werner (2005), S. 187-190. Emotional besonders
eindringlich sind filmische oder photografische Auseinandersetzungen mit dieser Thematik, vgl. für letztere etwa Effendi (2009).
151 Steffen (2008), S. 32.
4 Bioerdgas als eigenständiges grünes Produkt 92
menten haben daher eine klare soziale Verantwortung, die mit der sozialen Verantwortung des Unternehmens einhergeht.“152
In ökonomischer Einordnung darf individuelles nachhaltiges Handeln nicht
dahingehend missverstanden werden, es könne eine adäquate Wirtschaftsordnung
ersetzen: Selbst ein Utopia, in dem alle Menschen tatsächlich nur nach moralisch
höchsten Handlungen strebten, müsste an der Unmöglichkeit menschlicher
Allwissenheit scheitern: Den einzelnen Menschen fehlt zwangsläufig das Wissen,
welche Handlung den größten Beitrag zum Gemeinwohl liefert.153 Entsprechend
postuliert Walter Eucken: „Von den Menschen darf nicht gefordert werden, was
allein die Wirtschaftsordnung leisten kann: ein harmonisches Verhältnis
zwischen Einzelinteresse und Gesamtinteresse herzustellen.“154 Dies wird umso
einleuchtender, wenn Moral, wie bei Hermann Lübbe, als eine knappe Ressource
verstanden wird, die sich bei permanenter Herausforderung erschöpft. Dies wäre
der Fall, wenn jede einzelne Kaufentscheidung und nicht nur besondere Fälle, in
denen sich der Einzelne engagieren möchte, als moralische Handlung empfunden
würde, da es dann kaum noch möglich wäre, die Moral dadurch zu stützen, „ein
Maximum alltäglicher Lebensvollzüge gewissensentspannt [zu] halten“155.
Allerdings unterliegt der bestehende Ordnungsrahmen beständig Veränderungen.
In derartigen Prozessen sehen Goldschmidt/Habisch (2010) moralischen Konsum
als Beispiel individueller Verantwortungsübernahme, welche es von der
Ordnungsethik „als Motor für verbesserte Regeln“ wiederzuentdecken gelte.156
Individuelles nachhaltiges Handeln lässt sich in diesem Kontext als potentielles
Vorbild zukünftig verallgemeinerter Handlungsregeln begreifen, wobei es in
Wettbewerben mit anderen gesellschaftlichen Interessen um öffentliche
Aufmerksamkeit und Durchsetzbarkeit in allgemeine Regeln steht. In Anlehnung
152 Benedikt XVI (2009), Ziff. 66, Hervorhebung durch den Verfasser. 153 Vgl. Eucken (2004), S. 367, und Matthews (1981), S. 290 ff. 154 Eucken (2004), S. 368. 155 Lübbe (1987), S. 106 f. 156 Vgl. Goldschmidt/Habisch (2010).
4 Bioerdgas als eigenständiges grünes Produkt 93
an Hayek ist ein Prozess skizzierbar, in dem Mitglieder der Gesellschaft in Bezug
auf gesellschaftliche Konventionen austarieren, „welche Güter knapp, oder
welche Dinge Güter sind, oder wie knapp oder wertvoll sie sind“:157 Wird
beispielsweise echter Pelz geächtet oder nicht?158 Systemtheoretisch (vgl. 2.4.1)
kann es bei ausreichender Aufmerksamkeit gelingen, ethische Anliegen in den
wirtschaftlichen Code zu integrieren – als Wählermobilisierung über die Politik
oder direkt über eine Beziehung zwischen Kunden bzw. Stakeholdern und
Unternehmen.159 Individuellem (moralischem) Handeln kann so eine Vorbild-
und Multiplikatorrolle zukommen.160 Dieser idealtypisch dargestellte Prozess, in
welchem „ein intrinsisch motivierter Antrieb des Handelns“161 zur Übernahme
individueller Verantwortung führt, bürgt im Einzelfall natürlich nicht für eine
bestimmte Qualität der Ergebnisse: Gutmeinende Konsumenten etwa können
inhaltlich irren hinsichtlich vorschnell unterstellter Umweltbeeinträchtigungen
und trotzdem einen solchen (medialen) Druck auf Unternehmen ausüben, dass
diese kostenträchtige Nonsens-Anforderungen übernehmen. Trotz unvermeid-
licher Fehlschläge lässt ein solcher Wettbewerb der Ideen insgesamt aber auf
wertvolle gesellschaftliche Beiträge hoffen.
157 Hayek (1968), S. 7. 158 In England sah sich sogar die Queen veranlasst mitzuteilen, dass sie zukünftig (weitgehend)
auf echten Pelz verzichten werde. Vgl. Der Spiegel (2000). 159 Ein Abwandern von Käufern zu (teureren) Ökoanbietern könnte beispielsweise
konventionelle Produzenten veranlassen, auf umweltfreundlichere Produktionsprozesse umzustellen. Bei entsprechender Massenproduktion und weiteren Innovationen sind diese am Ende ggf. nicht einmal kostenintensiver als die bisherigen Prozesse oder gar günstiger. Kundenverhalten könnte in solchen Fällen auf Unternehmen vergleichbare Wirkungen haben wie Regulierungen, die nach Michael E. Porter oftmals notwendig sind, um Unternehmen zu Innovationen zu motivieren. Porter verweist insbesondere auf begrenzte Informationen, Zeit und Aufmerksamkeit, die dazu führen, dass Unternehmen selbst profitable umweltfreundliche Innovationen unterlassen. Vgl. Porter (2008b), S. 359.
160 Soweit nachhaltiges individuelles Handeln in Situationen von (staatlich bislang nicht adressiertem) Marktversagen erfolgt, kann es zu einem Abmildern von Marktdefiziten führen. Beispielsweise können negative externe Effekte so geringer ausfallen, als nach rein marktimmanentem Kalkül entsprechend dem gegebenen Preissystem zu erwarten wäre.
161 Kromka (2008), S. 216.
4 Bioerdgas als eigenständiges grünes Produkt 94
Die Bereitschaft selbst der Menschen, die grundsätzlich bereit sind, zur Gewähr-
leistung öffentlicher (Umwelt-)Güter freiwillige Beiträge zu leisten, kennt nicht
zuletzt aufgrund der Trittbrettfahrerproblematik Grenzen: Der Bezieher eines
grünen Produktes hat die vollen Kosten des Konsums zu tragen, den Klima-
schutznutzen erfährt er jedoch nur anteilig in gleicher Höhe wie sein Nachbar,
der sich nicht an den Klimaschutzbemühungen beteilgt. Roland Menges und
Stefan Traub kommen entsprechend bei der experimentellen Untersuchung von
Zahlungsbereitschaften für Ökostromprodukte zu dem Ergebnis, dass die indivi-
duelle Zahlungsbereitschaft für eine staatliche Förderung von Ökostrom, bei der
sich über Steuern alle an der Finanzierung beteiligen und ein Trittbrettfahren
ausgeschlossen ist, auch bei klarem Bewusstsein der persönlichen Belastung aus
dieser Steuer (keine Kostenillusion) wesentlich höher ausfällt als für freiwillige
Ökostrom-Angebote über den Markt.162
Auf der Angebotsseite könnte Bioerdgas über die Bedienung der besonders
zahlungsbereiten grünen Avantgarde hinaus aus strategischen Erwägungen
zusätzliche Impulse erfahren: Erdgasunternehmen könnten bestrebt sein, ihr
Unternehmen bzw. ihr fossiles Produkt durch den ergänzenden Vertrieb von
Bioerdgas in der Wahrnehmung von Konsumenten und Stakeholdern163 nachhal-
tiger zu positionieren und so auch den Absatz von Erdgas langfristig zu sichern.
4.2 Ergrünen von Erdgasunternehmen durch Bioerdgas
Erdgas gehört zu den fossilen Energien, die im Kontext von Klimawandel und
Endlichkeit natürlicher Ressourcen teils empathisch vorgetragener moralischer
Kritik ausgesetzt sind. Scharf ins Gericht mit den großen deutschen Energie-
unternehmen, die auch zu den größten Erdgaslieferanten zählen, geht beispiels-
162 Vgl. Menges/Traub (2008). 163 Nach Freeman sind Stakeholder definiert als „any group or individual that can affect or is
affected by the achievement of a corporation’s purpose“. Vgl. Freemann (2004), S. 229.
4 Bioerdgas als eigenständiges grünes Produkt 95
weise Sven Giegold, Mitbegründer von Attac Deutschland und Europaabgeord-
neter der Grünen, der als Einleitung zum Kapitel „Die Zukunft der Energie“ im
2009er „Atlas der Globalisierung“ von LE MONDE diplomatique schreibt:
„Nur ein schneller Umstieg auf erneuerbare Energien kann die drohenden katastro-phalen [klimatischen] Entwicklungen noch abwenden. Deshalb sind die Bremser so gefährlich. Das sind in Deutschland zuerst und vor allem die vier großen Energiekonzerne, die immer noch 80 Prozent der Stromerzeugung kontrollieren. Sie betreiben hoch subventionierte Atom- und Kohlekraftwerke. Sie tun, was sie können, um den Umstieg auf grünen Strom zu verzögern oder gar zu verhindern.“164
Kumi Naidoo, Direktor von Greenpeace International, erklärt, beim Klimawandel
habe die Umweltbewegung „mit der Industrie der fossilen Energien die weltweit
am besten organisierte und einflussreichste Lobby gegen [sich]“165. Ähnlich
argumentieren Brunnengräber et al.:
„Nach zweieinhalb Jahrzehnten Klimapolitik ist jedenfalls zu bezweifeln, dass die erforderlichen und dem Klimawandel angemessenen Maßnahmen auf internationalem Parkett in einem vertretbaren zeitlichen Rahmen erzielt werden können. [...] Es ist zu vermuten, dass den mächtigen fossilistischen Interessen in Markt, Staat und Gesell-schaft, die die energiepolitische Wende zu verhindern suchen, nur über soziale Ausein-andersetzungen und eine breite Öffentlichkeit begegnet werden können.“166
Wie sehr gesellschaftliche Auseinandersetzungen in Bezug auf Operationsweisen
eines Unternehmens relevant werden können, hat besonders plastisch die
Auseinandersetzung zwischen Greenpeace und Shell um die Versenkung der
Nordsee-Ölplattform Brent Spar im Sommer 1995 verdeutlicht. Am Ende stand
ein Sieg der Umweltbewegung Greenpeace über den Großkonzern Shell: Nach
Konsumentenboykotten beugte sich das Unternehmen dem geschickt
orchestrierten öffentlichen Druck und verzichtete auf eine Versenkung der
Plattform.167 Die zunehmende Verbreitung der Nachhaltigkeitsberichterstattung
von Unternehmen, die mittlerweile von sämtlichen DAX-30-Unternehmen
praktiziert wird,168 kann als Beleg dafür gedeutet werden, dass Corporate Social
164 Giegold (2009), S. 70. 165 die tageszeitung [taz] (2010), Hervorhebung durch den Verfasser. 166 Brunnengräber et al. (2008), S. 126. 167 Vgl. Klaus (1997). 168 Vgl. Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) GmbH/gemeinnützig und future
e.V. - verantwortung unternehmen (2007), S. 7-11 und 29 f.
4 Bioerdgas als eigenständiges grünes Produkt 96
Responsibility an Bedeutung gewinnt und Unternehmen hoffen, durch nachhal-
tige Projekte ihre Reputation gegenüber Stakeholdern zu verbessern.169
Für Anbieter fossiler Energie können regenerative Energien zu Projekten
gehören, die gemäß dem Ansatz des Shared-Values gesellschaftliche Anliegen
unterstützen und gleichzeitig Wert für das Unternehmen erzeugen:170
Gesellschaftliches Umwelt-Engagement wäre verbunden mit eigenem Know-
How-Aufbau im Bereich eines (potentiellen) Zukunftssegments.
Für Erdgasunternehmen könnte es mithin Gründe geben, auch dann in ein grünes
Produkt Bioerdgas zu investieren, wenn dies nach kaufmännischen Gesichts-
punkten, die rein auf den Bereich Bioerdgas fokussieren, nicht gerechtfertigt
erschiene. Ergrünten die jeweiligen Unternehmen wie die Branche insgesamt in
der Wahrnehmung von Konsumenten und Politikern, ließe dies auf Absatz-
sicherung auch der fossilen Produkte hoffen. Ob und in welchem Ausmaß eine
solche Absatzsicherung auch die laufende Subventionierung der variablen
Kosten eines grünen Produktes rechtfertigt, dürfte stark vom Geschäftsmodell
und Zeithorizont der jeweiligen Unternehmen abhängen. Ein auf Großmärkte und
Börsen fokussierter Erdgashändler unterscheidet sich hier sicherlich vom lokal
auf Kundenbindung fokussierten Stadtwerk.
Notwendige Bedingung für entsprechende grüne Imagestrategien ist, dass Bio-
erdgas tatsächlich ein nachhaltiges und in den Augen der Verbraucher (jenseits
seiner Wirtschaftlichkeit) gegenüber fossilen Energien vorzugswürdiges Produkt
darstellt. Dass Bioerdgas aus biogenen Stoffen gewonnen wird, spricht grund-
sätzlich für eine solche Sichtweise. Dem gegenüber steht allerdings eine poten-
169 In den Hintergrund scheint hierbei zu rücken, dass Unternehmen an sich bereits einen
positiven Beitrag für die Gesellschaft leisten: „The most important thing a corporation can do for society, and for the community, is contribute to a prosperous economy.“ Porter (2008c), S. 498.
170 Vgl. Porter (2008c), S. 480 f. und 486 f.
4 Bioerdgas als eigenständiges grünes Produkt 97
tielle Nutzungskonkurrenz landwirtschaftlicher Flächen zwischen Bioenergie und
Nahrung, die zu der Frage führt, ob Bioenergie den Hunger in der Welt
verschärft oder zumindest ein Grund ist, dass Unterernährung nicht weiter als
eigentlich möglich reduziert wird.
4.3 Nutzungskonkurrenzen mit der Nahrungsmittelproduktion um Landflächen
Bioenergien wie Bioerdgas, Biodiesel oder Bioethanol verknüpfen zunehmend
Energie- und Agrarmärkte miteinander. Eine Ackerfläche, auf der Energiemais
für eine Biogasanlage wächst, steht nicht gleichzeitig für die Nahrungsmittel-
produktion zur Verfügung. Die Preisrallys 2007/2008 auf Nahrungsmittel- wie
Energiemärkten (vgl. Abbildung 4.1) rückten beide Waren in die öffentliche
Aufmerksamkeit. Die hohen Nahrungsmittelpreise waren eines der wichtigsten
Themen des G8-Weltwirtschaftsgipfels im Juli 2008 im japanischen Toyako.171
Sie wurden von verschiedenen Seiten in den direkten Zusammenhang mit der
Produktion von Biokraftstoffen und damit den Entwicklungen auf den volatilen
Energiemärkten gebracht. Die deutsche Entwicklungshilfeministerin Heidemarie
Wieczorek-Zeul erklärte: „Der Konflikt zwischen Nahrungsmittelanbau für die
Energieerzeugung und Nahrungsmittelanbau, um Menschen vom Hunger zu
befreien, muss zugunsten des Rechts auf Nahrung gelöst werden.“172 Perus
Präsident Alan García sprach von einem „Selbstmord der Menschheit“ in Bezug
auf die Umstellung der Landwirtschaft von Lebensmitteln auf Biokraftstoffe.173
Die Commodity-Preise für Weizen und Mais erreichten parallel zu steigenden
Energiepreisen zwischenzeitlich Werte, die um rund 300 % über denen im Januar
2006 lagen. Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten
Nationen (FAO) charakterisiert diese Preisentwicklung bei den Nahrungsmitteln
als bedeutendsten Preisanstieg seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhun- 171 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung [FAZ] (2008c). 172 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung [FAZ] (2008b). 173 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung [FAZ] (2008a).
4 Bioerdgas als eigenständiges grünes Produkt 98
derts.174 Anfang 2008 herrschten Hungersnöte u. a. in Haiti, Indonesien,
Ägypten und Senegal. In 37 Ländern kam es zu Aufständen und
Demonstrationen, darunter im März 2008 in Kamerun mit mehr als 100 Toten.175
Abbildung 4.1: Relative Preisentwicklung Brent, Mais und Weizen
Quelle: Eigene Darstellung, Daten aus Energy Information Administration [eia] (2010), Food and Agriculture Organization of the United Nations [FAO] (2010a) und Food and Agriculture Organization of the United Nations [FAO] (2010c).
Jean Ziegler, von 2000 bis 2008 UN Sonderberichterstatter für das Recht auf
Nahrung, klassifiziert die Umwandlung landwirtschaftlicher Produkte in Energie
als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“176 und als ein Element einer zuneh-
menden Aversion der Menschen der südlichen Länder gegen die westlichen
Gesellschaften. Um den 50-Liter-Tank eines Mittelklassewagens mit Bioethanol
zu füllen, werde Mais in einer Menge verbrannt, von der ein Kind in Mexico
oder Sambia ein Jahr lang leben könne. Den Produzenten und Vermarktern von
Bioerdgas sollte gegenwärtig sein, dass sich entsprechende Zahlen auch für den 174 Vgl. Food and Agriculture Organization of the United Nations [FAO] (2009), S. 22. 175 Vgl. Sinn (2008), S. 238 und 244 f. 176 Ziegler (2009), S. 257.
4 Bioerdgas als eigenständiges grünes Produkt 99
Maiseinsatz zur Erzeugung von Bioerdgas für eine bestimmte Anzahl von Heiz-
stunden eines mittleren Einfamilienhauses errechnen und in einer Mobilisierung
gegen ihr Produkt oder Unternehmen verwenden lassen.
Donald Mitchell kommt in einer Weltbank-Studie zu dem Ergebnis, dass
verschiedene Faktoren für die Preisdynamik der Nahrungsmittel verantwortlich
waren, darunter höhere Energiepreise, die sich über steigende Preise für Trakto-
rentreibstoff und Düngemittel sowie steigende Transportkosten bemerkbar
machten, und ein schwacher Dollar. Bis zu 75 % der Preisanstiege der von ihm
betrachteten Nahrungsmittel-Commodities im Zeitraum Januar 2002 bis Juni
2008 seien jedoch direkt oder indirekt auf die zugenommene Produktion von
Biokraftstoffen zurückzuführen, welche wesentlich durch staatliche Subven-
tionen in den USA und Europa begünstigt wurde: Die Nutzung von Mais zur
Produktion von Ethanol hat sich seit Beginn des 21. Jahrhunderts vervielfacht
und machte im Jahr 2007 86 Mio. t oder 11 % der weltweiten Maisproduktion
aus. Im Zuge der durch Biokraftstoffe getriebenen Nachfragesteigerung nach
Mais und Ölfrüchten wurden Landflächen umgewidmet und andere Feldfrüchte
wie Weizen und Sojabohnen verdrängt, so dass auch hier eine zunehmende
Knappheit zu anziehenden Preisen führte. Für weiteren Preisauftrieb sorgten im
Verlauf der Nahrungsmittelkrise von verschiedenen Staaten wie Argentinien,
Indien, Ukraine und Russland erlassene Exportbeschränkungen, welche die
heimische Versorgung sichern sollten, die Verwerfungen auf dem Weltmarkt
jedoch weiter anwachsen ließen.177
Diese Entwicklung könnte nur ein Vorgeschmack auf das sein, was bei
steigender Bioenergieproduktion und sich verschärfender Verwendungs-
konkurrenz landwirtschaftlicher Flächen – Energie oder Nahrung – nach den
Befürchtungen Hans-Werner Sinns in der Zukunft bevorstehen könnte:
177 Vgl. Mitchell (2008).
4 Bioerdgas als eigenständiges grünes Produkt 100
„Nie werden die Armen der Welt akzeptieren, dass die Reichen in den Tank [oder in den Fermenter (der Verfasser)] stecken, was sie gerne auf dem Teller hätten. Wenn dieser Entwicklung nicht Einhalt geboten wird, indem neue Barrieren [zwischen Energierohstoffen und Nahrungsmitteln] errichtet werden, drohen Mord und Totschlag auf dieser Erde.“178
Es ist evident, dass ein solches Szenario (in christlich-humanistischer Tradition)
weder gesellschaftlich akzeptabel ist noch einen Rahmen darstellt, in dem Unter-
nehmen der Einstieg in die Bioerdgasproduktion nahegelegt werden könnte.
Allerdings ist umstritten, in wieweit Bioenergie und Nahrungsmittel in
Konkurrenz zueinander stehen müssen oder Bioenergie nicht doch nachhaltig
nutzbar ist, ohne die Welternährung zu gefährden.
Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltver-
änderungen (WGBU) hat ein Gutachten erstellt, das dieser Frage detailliert für
verschiedene Nutzungspfade von Bioenergie nachgeht. Es bestätigt die potentiell
gravierenden Nutzungskonkurrenzen zwischen Nahrung und Energie, die durch
weiteres Bevölkerungswachstum und dem Trend zu einer mit mehr Flächenver-
brauch einhergehenden fleisch- und obstintensiveren Wohlstandsernährung
weiter anwachsen werden: Im Jahr 2030 werden dadurch etwa 50 % mehr
Nahrungsmittel benötigt als gegen Ende der 2000er Jahre. Durch intelligente
Rahmenbedingungen hält der WBGU diese Nutzungskonflikte aber für soweit
beherrschbar, dass für Bioenergie jene durchaus beachtlichen Potentiale genutzt
werden sollten, die ohne Gefährdung der Welternährung nachhaltig erschließbar
seien:179
Unter Einschluss der Verwertung von Reststoffen aus der Land- und
Forstwirtschaft liegt das weltweite nachhaltige Potential für die Nutzung
von Bioenergie in der Spannbreite von 80-170 Exajoule (EJ), von dem
178 Sinn (2008), S. 242. 179 Vgl. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen
[WGBU] (2009), S. 39, 59, 61-68, 75, 136, 164, 191, 217 f., 224 f., 242 ff., 246, 262 f. und 329-346.
4 Bioerdgas als eigenständiges grünes Produkt 101
rund die Hälfte wirtschaftlich nutzbar sein könnte (zum Vergleich: der
Weltprimärenergiebedarf im Jahr 2007 betrug 503 EJ)180.
Gerade in ländlichen Gebieten vieler Entwicklungsländer wird heute noch
traditionelle Bioenergie in der Verbrennung von Holz und Holzkohle in
einfachen Öfen auf sehr ineffiziente und gesundheitsschädliche Art
genutzt. Die lokale Produktion und Nutzung moderner Bioenergie bieten
hier Chancen zur Armutsbekämpfung und ländlichen Entwicklung.
Priorität für die Nutzung als Bioenergie sollten Abfall- und Reststoffe
genießen, da hierfür keine zusätzlichen Landflächen benötigt werden. Bei
bestimmten Stoffen wie Gülle können sogar Treibhausgasemissionen
eingespart werden gegenüber der Nichtnutzung als Bioenergie.
Energiepflanzen sollten bevorzugt auf degradierten und marginalen
Flächen angebaut werden, die nur ein geringes Produktionspotential für
Nahrungsmittel aufweisen bzw. ihr ursprüngliches Potential eingebüßt
haben. Durch den Anbau mehrjähriger Energiepflanzen ist grundsätzlich
sogar eine Verbesserung solcher Böden möglich. Insbesondere ist zu
vermeiden, dass Energiepflanzen Wasserstress und Bodendegeneration
verstärken. Bereits heute sind Wasser und Boden in vielen Regionen
prekäre Ressourcen.
Die Umwandlung von Waldflächen und Feuchtgebieten in Agrarland ist
aufgrund negativer Auswirkungen auf die biologische Vielfalt und den
Treibhausgaseffekt abzulehnen.
Die Umnutzung von Ackerflächen für Energiepflanzen ist kritisch zu
sehen, da einerseits direkte Konkurrenzen zur Nahrungsmittelproduktion
erzeugt werden und andererseits die indirekten Landnutzungsänderungen
kaum verlässlich abzuschätzen oder zu kontrollieren sind. Letztere
entstehen, wenn die Nutzung von Ackerland als Anbaufläche für Energie-
pflanzen dazu führt, dass an anderer Stelle (auf der Welt) zusätzliches
180 Vgl. International Energy Agency [IEA] (2009b), S. 74.
4 Bioerdgas als eigenständiges grünes Produkt 102
Ackerland geschaffen wird, beispielsweise durch Umwandlung von
(tropischen) Waldflächen mit entsprechenden negativen Auswirkungen
auf die Umwelt. Industrieländer nutzen insbesondere durch Futtermittel-
importe bereits heute oftmals mehr landwirtschaftliche Fläche als sie im
eigenen Land besitzen („virtuelle Flächen“). Eine zunehmende
Konkurrenz von Nahrungsmitteln und Bioenergie um landwirtschaftliche
Flächen führt zu steigenden Agrarpreisen, was insbesondere einkommens-
schwache Länder, die Nahrungsmittel importieren, vor existentielle
Herausforderungen stellt.
Um Rahmenbedingungen zu garantieren, die Bioenergie in Konsistenz mit
Zielen zur Ernährungssicherheit, zum Klimaschutz und zum Naturschutz
bringen, sind die Bioenergiestrategien der einzelnen Staaten abhängig von
ihren sozioökonomischen und agroökologischen Rahmenbedingungen
differenziert zu gestalten und gleichzeitig – möglichst international –
strenge Standards und Zertifikate für die Nutzung von Bioenergie einzu-
führen. Dafür sollte ein globales Landnutzungskataster aufgebaut werden,
welches in der Lage wäre, für jeden importierten Bioenergieträger
Auskunft über die entsprechende Produktionsfläche zu geben. Die
Mindeststandards stellen u. a. auf Schwellenwerte hinsichtlich der
Treibhausgasemissionen ab: erreicht werden soll unter Berücksichtigung
direkter und indirekter Landnutzungsänderungen eine Treibhausgasreduk-
tion gegenüber einem fossilen Referenzsystem von 30 t CO2-eq pro TJ an
eingesetzter Rohbiomasse. Dieser Wert kann bei Einsatz von Bioerdgas
auf Maissilage in GuD-Anlagen bzw. BHKW erreicht werden.
Falls Bioenergie staatlich gefördert wird, sollte als Mindestvoraussetzung
eine entsprechende Treibhausgasemission von 60 t CO2-eq pro TJ erzielt
werden. Diese anspruchsvolleren Werte sind beispielsweise im BHKW-
/GuD-Einsatz von Bioerdgas auf Basis von Grassilage/Gülle möglich.
Daneben sollten zusätzliche Förderkriterien aufgestellt werden, etwa
4 Bioerdgas als eigenständiges grünes Produkt 103
Beiträge zur Reduktion von Energiearmut oder zu erhöhtem Klima-,
Biodiversitäts- oder Bodenschutz.
Innerhalb der Gruppe der Bioenergien wird Bioerdgas (Biomethan)
insgesamt als ein besonders vielversprechender Energieträger identifiziert.
Einerseits ist es durch Einspeisung in ein Erdgasnetz möglich, das Gas in
Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen mit besonders guter Wärmenutzung zu
verbrennen. Andererseits ist es perspektivisch vorstellbar, das bei der
Aufbereitung des Biogases auf Erdgasqualität sowieso zu entfernende CO2
zu deponieren. Biogasanlagen könnten somit Teil einer aufzubauenden
Infrastruktur für CCS (Carbon Dioxide Capture and Storage) werden.
Abgelehnt werden hingegen flüssige Biokraftstoffe wie Raps-Biodiesel
oder Ethanol aus Zuckerrohr, Mais oder Getreide, die unter Einbeziehung
indirekter Landnutzungsänderungen allesamt negative Treibhausgas-
Bilanzen aufweisen (d. h. den Treibhauseffekt zusätzlich bestärken statt
ihn abzuschwächen).
Innerhalb der Bioenergien stellt Bioerdgas also eine präferierte Energieform dar.
Die Vorzugswürdigkeit von Bioerdgas gegenüber anderen Bioenergieformen
ließe sich zukünftig noch steigern, wenn es tatsächlich gelingt, Bioerdgasanlagen
in eine CCS-Infrastruktur zu integrieren und das bei der Aufbereitung auf
Erdgasqualität abzuscheidende CO2 dauerhaft einzulagern. Dieses Zusammen-
spiel von Bioerdgas und CCS könnte gerade für investitions- und
technologiestarke große Energieunternehmen interessant sein.
Aufgrund des inhärenten Konfliktpotentials zwischen Nahrung und Bioenergien
empfiehlt der WBGU allerdings die Nutzung auch von Bioerdgas nur beim
Einsatz von Reststoffen oder dem Anbau von (mehrjährigen) Energiepflanzen
auf degenerierten Flächen, die ansonsten kaum einen Beitrag zur Nahrungs-
mittelproduktion leisten. Bei Nutzungskonkurrenz wird der Nahrungsmittel-
produktion – gerade vor dem Hintergrund einer steigenden Weltbevölkerung mit
4 Bioerdgas als eigenständiges grünes Produkt 104
zunehmend flächenintensiveren Ernährungsgewohnheiten – eindeutig ein Primat
gegenüber der Produktion von Bioenergie eingeräumt. Nicht nur die bestehende
deutsche Biogasproduktion basiert zu einem wesentlichen Teil auf nachwach-
senden Rohstoffen, vor allem Mais, sondern insbesondere auch die möglichen
Wachstumspfade setzen wesentlich auf den Anbau von nicht mehrjährigen
Energiepflanzen (vgl. 2.1.2 und 2.2). Diese Ausrichtung der deutschen
Bioerdgasproduktion entspricht also nicht dem vom WBGU entworfenen
Leitbild eines globalen Primats der Nahrungsmittelproduktion.181
Wenn nicht die Politik den Empfehlungen des WBGU folgt, so könnten einzelne
Unternehmen natürlich individuell sicherstellen und durch Zertifizierungen
dokumentieren und kommunizieren, dass für ihr Bioerdgas ausschließlich Rest-
stoffe bzw. degradierte Flächen verwendet werden. Die Abgrenzung „normaler“
Flächen zu degradierter Flächen, die ja grundsätzlich auch für eine auszuwei-
tende Nahrungsmittelproduktion herangezogen werden könnten, dürfte allerdings
eine graduelle bleiben und das Konfliktpotential somit latent erhalten.
Zumindest in der heute praktizierten Form der Bioerdgasproduktion kommt der
Nutzungskonflikt zwischen Nahrung und Energie zum Tragen. Er schlägt
mittlerweile bereits Wellen zwischen den landwirtschaftlichen Betrieben in
Deutschland, was als Ausdruck eines agrarischen Strukturwandels hin zu mehr
Bioenergie gewertet werden kann. So veranstaltete der Westfälisch-Lippische
Landwirtschaftsverband im Juni 2010 in Münster eine Tagung unter dem Titel
„Zwingt Biogas unsere Tierhalter in die Knie?“. Hinter der Fragestellung verbarg
sich die Sorge der Tierhalter, dass die durch Biogas angetriebene Nachfrage nach
Mais die Pachtpreise für Land so verteuert, dass einige auf Pachtflächen ange-
181 Die in 2.2 angeführte Studie im Auftrag von BGW/DVGW, die das mehrfach angeführte
Bioerdgas-Potential von rund 10 % des derzeitigen Erdgasverbrauchs als realistisch für 2030 ausweist, abstrahiert von globalen Märkten und einer weltweiten Interdependenz landwirtschaftlicher Flächen. Vgl. Wuppertal Institut für Klima Umwelt Energie et al. (2005), S. 2-8.
4 Bioerdgas als eigenständiges grünes Produkt 105
wiesene Betriebe kein wettbewerbsfähiges Fleisch mehr produzieren können. In
den Münsterlandkreisen Borken, Steinfurt und Coesfeld nimmt Biogas bereits
10 % der landwirtschaftlichen Nutzfläche in Anspruch.182
Jedes Versprechen, der Hunger in der Welt sei trotz verstärkten Ausbaus von
Bioenergien zu lösen, wird immer auch mit dem Erfolg früherer Aussagen zur
Hungerbekämpfung verglichen werden. So etwa mit der Vorhersage des US-
Außenministers Henry Kissingers auf der ersten Welternährungskonferenz 1974
in Rom, in zehn Jahren werde kein Kind dieser Welt mehr hungrig zu Bett gehen.
Im Jahre 2009, 35 Jahre später, sind es immer noch rund eine Milliarde
Menschen, die das Hungerschicksal teilen – jeder siebte Mensch auf der Erde.183
Das erste Ziel der Millenium Development Goals, die auf dem UN-Milleniums-
gipfel im Jahr 2000 von der Generalversammlung verabschiedet wurden, zielt auf
eine Halbierung der unterernährten Menschen auf der Welt bis zum Jahr 2015 im
Vergleich zu 1990. Im Jahr 1990 lag dieser Wert bei rund 850 Millionen
Menschen. Nach Rückgängen in der ersten Hälfte der 90er Jahre erfolgte ab
Mitte der 90er Jahre eine deutliche Zunahme der Hungernden, weit über den
Basiswert von 1990 hinaus. Die wirtschaftliche Krise im Jahr 2009 führte zu
einem nochmaligen steilen Anstieg, der mit der wirtschaftlichen Erholung im
Jahre 2010 weitgehend zurückgeführt werden konnte. Die Ziele des Milleniums-
gipfels bleiben jedoch in weiter Ferne, weiterhin sind (in absoluten Zahlen) mehr
Menschen unterernährt als im Basisjahr 1990.184
So verlockend grundsätzlich die grüne Aufwertung des Produktes Erdgas durch
Engagement bei Bioerdgas erscheinen mag, so sehr sind auch Risiken mit ihr
verbunden im Konflikt mit Nahrungsmitteln, der gänzlich wohl nur durch sehr
rigide Maßnahmen, wie den ausschließlichen Einsatz von Reststoffen zur
182 Vgl. Ries (2010) und agrarheute.com (2010). 183 Vgl. The Economist (2009). 184 Vgl. Food and Agriculture Organization of the United Nations [FAO] (2010b), S. 8-10.
4 Bioerdgas als eigenständiges grünes Produkt 106
Bioerdgasproduktion, zu entschärfen ist. Wenn regenerative Energieerzeugung
als Beitrag zu einer nachhaltigeren Entwicklung verstanden wird, ist zu beachten,
dass nachhaltige Entwicklung, zumindest in der die heutige Begriffsverwendung
prägenden Beschreibung der Brundlandt-Kommission, nicht nur das Wohler-
gehen zukünftiger Generationen im Blick hat, sondern ebenso sehr dasjenige der
heutigen Armen:
„Sustainable development is development that meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs. It contains within it two key concepts:
the concept of ‚needs’, in particular the essential needs of the world’s poor, to which overriding priority should be given; and
the idea of limitations imposed by the state of technology and social organiza-tion on the environment’s ability to meet present and future needs.“
Bislang werden die Risiken aus der Konkurrenz mit Nahrungsmitteln auf poli-
tischer wie einzelwirtschaftlicher Ebene allerdings nicht so ausgeprägt wahrge-
nommen, dass die Unterstützung für Bioenergien im Allgemeinen und Bioerdgas
im Besonderen gebremst würde. Die Zielvorstellungen von 10 Mrd. m3 in
Deutschland eingespeistes Bioerdgas im Jahre 2030 (vgl. 2.2) wurde durch die
novellierte GasNZV von September 2010185 nicht revidiert. Der Gesetzgeber
sieht Bioerdgas also weiter als wünschenswertes grünes Produkt an, welches
durch die etablierten und neuen Energieunternehmen bereitgestellt und von den
Verbrauchern nachgefragt werden sollte.
4.4 Grünes Produkt Bioerdgas im Markt
Bioerdgas stellt noch einen jungen Markt dar. Dies zeigt sich allein schon in der
maximal zur Verfügung stehenden Bioerdgas-Kapazität im Jahr 2010 von
189 Mio. m3 oder rund 0,2 % der deutschen Erdgasnachfrage (vgl. 2.1.2). Um
das politisch avisierte Ziel von 10 Mrd. m3 im Jahr 2030 zu erreichen, müsste
185 Verordnung über den Zugang zu Gasversorgungsnetzen (Gasnetzzugangsverordnung -
GasNZV) vom 3. September 2010 (BGBl. I S. 1261).
4 Bioerdgas als eigenständiges grünes Produkt 107
diese Kapazität jährlich um 22 % wachsen. Auch wenn die realisierten Absätze
derzeit noch bescheiden ausfallen, bieten zunehmend mehr Gaslieferanten im
Wärme-Segment der Haushalts- und Gewerbekunden Bioerdgas-Produkte an und
öffnen Bioerdgas damit zusätzlich zur EEG-subventionierten Stromerzeugung
ein zweites Absatzfeld. Gemäß dem Energie-Datendienstleister ene’t stieg die
Anzahl der Gaslieferanten mit Bioerdgas-Angeboten im halben Jahr zwischen
Oktober 2009 und April 2010 um zwei Drittel von 44 auf 73. Neben zahlreichen
Stadtwerken befinden sich unter den Anbietern auch sechs der sieben Regional-
gesellschaften des E.ON-Konzerns. In der Regel handelt es sich um Produkte mit
einem definierten Bioerdgas-Anteil, wobei über die Hälfte der Anbieter ihren
Beimischungsanteil auf 10 % beziffert. Die Spannbreite des Bioerdgas-Anteils
reicht von 5 bis 100 %.186
Abbildung 4.2 zeigt beispielhaft einige Unternehmen mit Bioerdgas-Produkten,
wobei der Bioerdgas-Anteil an der Lieferung in Klammern angegeben ist. Als
Annahme für die Preisermittlung ist eine jährliche Abnahmemenge von 20.000
kWh unterstellt, was in der Größenordnung des Wärmebedarfs eines Einfami-
lienhaushalts liegt. Monatliche oder jährliche Grundbeträge sind spezifisch auf
diese 20.000 kWh umgelegt. Betrachtet werden Nettopreise zum 01.04.2010, in
denen zwar die Erdgassteuer aber keine Mehrwertsteuer enthalten ist. Als Basis
sind die Preise eines Bezuges fossilen Erdgases beim jeweiligen Unternehmen in
dieser Größenordnung dargestellt. Herangezogen werden dabei nicht die Preise
der Grundversorgung, sondern jeweils günstigere Sonderkonditionen für die
angeführte Abnahmekategorie. Anschließend ist der rechnerische Aufschlag für
Bioerdgas für die jeweils angebotene anteilige Bioerdgas-Lieferung dargestellt.
Dieser ermittelt sich als Differenz aus dem Preis für das angebotene Bioerdgas-
Produkt und dem reinen Erdgas-Produkt bei gleicher Abnahmemenge von 20.000
kWh pro Jahr. Erdgaspreis und rechnerischer Aufschlag ergeben also in Summe
186 Vgl. ene't GmbH (2010a) und ene't GmbH (2010b).
4 Bioerdgas als eigenständiges grünes Produkt 108
den Preis des jeweiligen Bioerdgasproduktes. In einem dritten Schritt wird aus
dem rechnerischen Aufschlag für das Bioerdgasprodukt mit jeweils individu-
ellem Bioerdgas-Anteil auf ein hundertprozentiges Bioerdgas-Produkt extra-
poliert.
Abbildung 4.2: Anteilige Bioerdgas-Produkte im Preisvergleich mit rein fossilen Produkten
Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der Produktbeschreibungen der dargestellten Unternehmen mit Stichtag 01.04.2010 (der Bioerdgasanteil der jeweiligen Bioerdgasprodukte ist in Klammern angegeben).187
Bei der Extrapolation auf ein hundertprozentiges Bioerdgasprodukt resultiert im
Durchschnitt der betrachteten Unternehmen (ohne 100 %-Bioerdgas-Produkt von
naturstrom) ein Aufschlag auf das rein fossile Produkt von 4,29 Ct/kWh.188 Die
187 Bei den herangezogenen Produkten handelt es sich bei E.ON Mitte um Erdgas Vario und
E.ON BioErdgas 10+, bei EWE um Erdgas classic und BioErdgas10, bei naturstrom um naturstrom Biogas 100%, bei SW Düsseldorf um Düsselgas Vario 2010 und Naturrhein-Gas 2010 und bei SW Heidelberg um heidelberg GAS vario und heidelberg BIOGAS (alle Informationen abgerufen am 13.04.2010 auf den jeweiligen Internetseiten der Unternehmen).
188 Von der Größenordnung her passt dieser zu in Tabelle 2.3 abgeleiteten Bioerdgaskosten zwischen 5,45 und 7,13 Ct/kWh (an der Einspeisestelle ins Netz, nicht beim Endverbraucher),
4 Bioerdgas als eigenständiges grünes Produkt 109
Aufschläge auf die angebotenen Bioerdgas-Produkte (ohne 100 %-Bioerdgas-
Produkt von naturstrom) betragen im Durchschnitt 0,54 Ct/kWh oder 11,0 %
bezogen auf die reinen Erdgas-Produkte. Bei ausschließlicher Betrachtung der
drei Bioerdgas-Produkte mit 10 % Bioerdgas-Anteil sind es 0,42 Ct/kWh oder
8,5 %. Die zusätzliche Zahlungsbereitschaft von Ökostromkunden für Ökostrom
gegenüber konventionellem Strom taxieren die Beratungsgesellschaften
Neumorgen und brandseven auf 5-10 %.189 Überträgt man diese Werte eins zu
eins auf Bioerdgas wird deutlich, dass bereits die Produkte mit 10%iger Beimi-
schung an die Grenzen des Vermarktbaren stoßen dürften. Schließlich wird dem
Kunden zwar ein „grünes“ Produkt offeriert, welches – anders als bei Ökostrom
– tatsächlich aber nur anteilig aus Bioerdgas gespeist wird. In wieweit ein nur
anteiliges regeneratives Produkt dauerhaft glaubwürdig als „Bioerdgas“ (unter
Angabe einer Mischquote) firmieren und einen Preisaufschlag durchsetzen kann,
bleibt eine herausfordernde Frage für das Produktmarketing.
Die Schwierigkeiten einer wirtschaftlichen Vermarktung von Bioerdgas beheben
könnte eine umfassende staatliche Förderung, für die es aus ökonomischer
Perspektive jedoch hinreichender Gründe bedarf.
von denen ja die Kosten für fossiles Erdgas abzuziehen sind, um zum Aufschlag für Bioerdgas zu gelangen.
189 Vgl. Zeitung für kommunale Wirtschaft [ZfK] (2010).
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 110
5 Bioerdgas als staatliches Produkt
5.1 Begründung und Ziele staatlicher Energiepolitik
Es waren fossile Energien, welche die Industrielle Revolution befeuerten, und
nach wie vor sind es überwiegend fossile Energien, welche die Produktions-,
Kommunikations- und Verkehrssysteme der Globalisierung antreiben:190
„Da revolutionierten der Dampf und die Maschinerie die industrielle Produktion. Die große Industrie hat den Weltmarkt hergestellt [mit] Industrien, die nicht mehr einhei-mische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten[.] An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlos-senheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen vonein-ander [-] durch die unendlich erleichterten Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen“191,
beschrieben Karl Marx und Friedrich Engels 1848 die Dynamik eines gerade
anbrechenden neuen Zeitalters, welches Produktion und weltweiten Austausch
revolutionierte, so dass die Welt heute eine globalisierte192 ist.
Der verlässliche Zugang zu günstiger Energie war bereits für vorindustrielle
Gesellschaften eine essentielle Voraussetzung ihrer Wirtschaftstätigkeit.
Während diese jedoch wesentlich auf lokale und regionale Quellen der Energie-
gewinnung wie Wasser, Wind und Biomasse angewiesen waren, bedeutete die
Industrialisierung im 19. Jahrhundert mit der intensiven Nutzbarmachung von
Kohle einen Wechsel im Energieregime. Dieser brachte etwa für Frankreich,
Italien oder Südchina aufgrund unzureichender heimischer Produktion notge- 190 Vgl. Osterhammel (2009), S. 909-938, und Smil (2006), S. 85-90. 191 Marx/Engels (2007), S. 21, 23 und 24 (die zitierten Aussagen sind aus Passagen
verschiedener Seiten zusammengesetzt). 192 Globalisierung kann verstanden werden als „the widening, deepening and speeding up of
worldwide interconnectedness in all aspects of contemporary social life“. Held et al. (2000), S. 2.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 111
drungen auch den Import von Kohle aus Überschussregionen mit sich.193 Versor-
gungssicherheit erfuhr mit der Industrialisierung und erst recht mit dem partiellen
Übergang von Kohle auf die geographisch deutlich konzentrierteren Energie-
träger Erdöl und Erdgas eine gesteigerte Bedeutung. Geopolitisch wird dies
besonders greifbar im Kontext militärischer Fragestellungen. Als England, im
Angesicht eines wahrscheinlicher werdenden Krieges mit Deutschland, zu
Beginn des 20. Jahrhunderts unter Winston Churchill als Erstem Lord der Admi-
ralität die Schlachtschiffe der Royal Navy von Kohle- auf Ölbefeuerung
umstellte, bedeutete dies auch den Wechsel von einem heimischen Energieträger
auf einen Energieträger, dessen Zugang in Übersee Unsicherheiten beinhaltete.
Churchill betraute Admiral John Arbuthnot Fisher mit der Schaffung der dafür
zentralen Voraussetzung:194
„You have to find the oil; show how it can be stored cheaply: how it can be purchased regularly & cheaply in peace, and with absolute certainty in war.“195
Eine sichere und preisgünstige Energieversorgung bilden bis heute zwei grund-
legende Ziele staatlicher Energiepolitik (vgl. auch 3.2.1). Dazu kommt seit
einigen Jahren der Schutz der Umwelt, der seit 1994 als Staatsziel in Artikel 20a
Grundgesetz verfassungsrechtlich normiert.196
Die Untersuchungen in Kapitel 3.3 haben gezeigt, dass eine Wirtschaftlichkeit
von Bioerdgas gegenüber Erdgas auf absehbare Zeit nicht ansatzweise gegeben
ist. Ein ordnungspolitisch nachvollziehbares staatliches Protegieren von Bioerd-
gas müsste also entweder in der Umweltpolitik, die sich hier als Klimapolitik
manifestiert, oder der Versorgungssicherheit begründet liegen. Der gesellschaft-
liche Nutzen in diesen Feldern müsste die fehlende Wirtschaftlichkeit mindestens
aufwiegen.
193 Vgl. Osterhammel (2009), S. 928-935. 194 Vgl. Yergin (1993), S. 150-164. 195 Brief Winston Churchills an Admiral Fischer, zitiert nach Yergin (1993), S. 157. 196 Vgl. Schöbener (2009), S. 105-129, und Berg et al. (2007), S. 247 f.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 112
5.2 Klimawandel als Ansatz staatlicher Bioerdgas-Politik
5.2.1 Physikalische und politische Realität des Klimawandels Spätestens seit der ersten Weltklimakonferenz im Jahre 1979 in Genf steht der
anthropogene Klimawandel an prominenter Stelle auf der Tagesordnung der
Vereinten Nationen (UN).197 Um den aktuellen Kenntnisstand über Ursachen und
Folgen einer globalen Klimaänderung zu bündeln, darzustellen und zu evalu-
ieren, wurde 1988 der Zwischenstaatliche Ausschuss für Klimaänderungen
(Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC) durch das Umweltpro-
gramm der Vereinten Nationen (UNEP) und die Weltorganisation für Meteoro-
logie (WMO) gegründet. 1990 veröffentlichte der IPCC seinen ersten
Sachstandsbericht mit Darstellung von Situation und Prognosen der globalen
Klimaentwicklung:
„Our judgement is that global-mean surface air temperature has increased by between 0.3° and over 0.6°C over the last hundred years [...] the size of this warming is broadly consistent with predictions of climate models, but it is also of the same magnitude as natural climate variability.“198
Der Bericht legte die wissenschaftliche Grundlage für das 1992 auf dem Earth
Summit in Rio de Janeiro von 150 Staaten unterzeichnete und 1994 in Kraft
getretene Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaände-
rungen (Framework Convention on Climate Change, UNFCCC). Darin setzt sich
die Weltgemeinschaft als Ziel:
„The ultimate objective of this Convention and any related legal instruments that the Conference of the Parties may adopt is to achieve, in accordance with the relevant provisions of the Convention, stabilization of greenhouse gas concentrations in the atmosphere at a level that would prevent dangerous anthropogenic interference with the climate system. Such a level should be achieved within a time frame sufficient to allow ecosystems to adapt naturally to climate change, to ensure that food production is not threatened and to enable economic development to proceed in a sustainable manner.“199
197 Zur nachfolgend skizzierten Entwicklung der Klimapolitik der Vereinten Nationen und des
IPCC vgl. Brunnengräber et al. (2008), S. 87-97. 198 Zitiert nach Hulme (2009), S. 51, Hervorhebung durch den Verfasser. 199 § 2 United Nations Framework Convention on Climate Change, United Nations [UN] (1992).
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 113
Der zweite Sachstandsbericht des IPCC aus dem Jahre 1995 fundierte die
wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Klimaänderungen und schloss auf
einen erkennbaren Einfluss des Menschen auf das globale Klima: „[T]he balance
of evidence suggests that there is a discernible human influence on global
climate“200. Damit trug er wesentlich zur Verabschiedung des „Protokolls von
Kyoto zum Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaände-
rungen“ (Kyoto-Protokoll) im Jahre 1997 bei, in dem konkrete Reduktionsziele
mit Zeitplänen und Instrumenten vereinbart wurden. In den längeren Zeitraum
weiterer zäher Verhandlungen um die detaillierte Ausgestaltung des Protokolls
fiel der dritte IPCC-Sachstandsbericht aus dem Jahre 2001, in dem es heißt:
„[M]ost of the observed warming over the last fifty years is likely to have been
due to the increase in greenhouse gas emissions“201. Nachdem auch Russland
Ende 2004 das Protokoll zertifiziert hatte, waren die Voraussetzungen für ein
Inkrafttreten erfüllt (eine Ratifizierung in mindestens 55 Staaten, welche zugleich
für mindestens 55% der weltweiten CO2-Emissionen der Industrieländer verant-
wortlich sind), so dass es Anfang 2005 in Kraft treten konnte. Im Jahre 2007
legte der IPCC seinen vierten und bislang jüngsten Sachstandsbericht vor, dessen
Botschaft noch einmal deutlicher ausfällt: „Most of the observed increase in
global average temperatures since the mid twentieth century is very likely due to
the observed increase in anthropogenic greenhouse gas concentrations.“202 Der
vierte Sachstandsbericht bildete den wissenschaftlichen Rahmen für den Kopen-
hagener Klimagipfel im Dezember 2009, der jedoch hinter seinen Erwartungen
zurück blieb und keinen belastbaren Grundstein für ein Folgeabkommen für die
2012 auslaufenden Treibhausgas-Reduktionsverpflichtungen des Kyoto-Proto-
kolls legen konnte.203
200 Zitiert nach Hulme (2009), S. 51, Hervorhebung durch den Verfasser. 201 Zitiert nach Hulme (2009), S. 51, Hervorhebung durch den Verfasser. 202 Zitiert nach Hulme (2009), S. 51, Hervorhebung durch den Verfasser. 203 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung [FAZ] (2009).
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 114
Auch wenn sich der IPCC im Zeitablauf vom ersten bis zum vierten Sachstands-
bericht in der Lage sah, seinen Aussagen zum anthropogenen Klimawandel und
dessen Auswirkungen eine zunehmend höhere Sicherheit zuzuordnen, bestehen
nach wie vor erhebliche Unsicherheiten. Allerdings wäre es ein nicht einzulö-
sender Anspruch an Wissenschaft, letzte Wahrheiten einzufordern, die eine durch
Widerspruch und Falsifizierung voranschreitende Wissensmehrung, die zudem
zwangsläufig durch subjektive Elemente der Forschenden geprägt ist, gar nicht
bieten kann. Politik ist auf die Ergebnisse der Wissenschaft angewiesen, gerade
wenn es darum geht, angesichts potentiell großer zukünftiger Gefährdungen, die
sich aus heutigem Handeln ergeben, weitreichende Entscheidungen zu treffen.
Mit der Institution IPCC hat sich die internationale Politik entschieden, wissen-
schaftliche Erkenntnisse in einem auf Konsens der beteiligten Wissenschaftler
ausgerichteten Modell als Entscheidungsgrundlage zu nutzen. Dies bietet keine
Garantie, dass nicht doch Gefahren aufgezeigt werden, die sich später als unbe-
gründet herausstellen (sei es aufgrund eines begrenzten Wissensstandes, sei es
aufgrund politischen Drucks oder des Anreizes einmal geschaffener Organisa-
tionen, ihr Fortbestehen zu rechtfertigen), oder umgekehrt Gefahren unterschätzt
werden (beispielsweise da eine Konsensbildung bei einer großen Zahl von
Teilnehmern sehr träge verläuft oder politische und wirtschaftliche Interessen
dramatischeren Aussagen mit entsprechend konsequenten Handlungsnotwendig-
keiten entgegen stehen). Falls dieser Konsensprozess jedoch offen, transparent
und gut geführt abläuft, kann er Politik und Bürgern Informationen bereitstellen,
die den Stand der Wissenschaft repräsentieren.204 In Abwandlung von Winston
Churchills berühmtem Aphorismus über die Demokratie als Regierungsform
204 Wie sehr der IPCC auch zukünftig diesem Bild gerecht wird, dürfte nach den jüngsten
Vorwürfen um manipulierte Daten, Umgang mit Kritikern und der Aufdeckung einer falschen Darstellungen im vierten Sachstandsbericht zu Gletscher-Entwicklungen im Himalaja-Gebirge (vgl. Wyssuwa (2010)) auch daran liegen, wie offen und transparent die Vorwürfe aufgearbeitet werden und individuelle Fehlverhalten mit Sanktionen belegt werden.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 115
formuliert Mike Hulme: „[T]he IPCC is [...] the worst of all possible ways of
assessing knowledge about climate change ... apart from all the others.“205
Im vierten Sachstandsbericht (Fourth Assessment Report) untersucht der IPCC
Grundlagen und Auswirkungen des Klimawandels ebenso wie Aspekte des
Klimaschutzes: Fakt ist danach eine Erwärmung der Erdatmosphäre, deren
wesentlicher Teil mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 90 % durch den
Anstieg anthropogener Treibhausgase bedingt ist. Das bedeutendste Treibhaus-
gas ist CO2, dessen seit 1750 erfolgte anthropogene Emissionen zu rund zwei
Dritteln aus dem Verbrennen fossiler Energien resultieren. Mit hoher Wahr-
scheinlichkeit sind die beobachtete Abnahme des arktischen Eises und der
gemessene Anstieg des Meeresspiegels Folge des anthropogenen Klimawandels.
Die prognostizierten weiteren Auswirkungen des Klimawandels wiegen schwer,
mit negativen Effekten auf menschliche Existenzgrundlagen wie Frischwasser,
Ernährung und Ökosysteme. Besonders gravierend wird dies in zahlreichen der
sogenannten Entwicklungsländer zu spüren sein, während an anderen Stellen der
Welt auch positive Folgen der Klimaerwärmung zu verzeichnen sind, etwa die
Nutzbarmachung von Bodenschätzen in der Arktis. Eine Abmilderung des
Klimawandels im Vergleich zu einem ohne entsprechende Anstrengungen
ausgestalteten Basisszenario ist nach Einschätzung des IPCC grundsätzlich
möglich, sieht sich aber ambitionierten Herausforderungen gegenüber. Die
Hauptlast einer solchen Anpassung des derzeitigen wirtschaftlichen und gesell-
schaftlichen Entwicklungspfades läge in den Sektoren Stromerzeugung und
Industrie, die abhängig vom betrachteten Szenario 60 bis 80 % aller CO2-Reduk-
tionen zu tragen hätten. Selbst eine sehr hohe Anlastung sozialer Kosten in Höhe
von 100 $/tCO2-eq führte bis zum Jahr 2030 „nur“ zu einer Reduktion der CO2-
Emissionen zurück auf das Niveau des Jahres 1990. Die Konzentration der CO2-
Emissionen in der Atmosphäre stiege auch dann noch weiter an. Dies ergibt sich
205 Hulme (2009), S. 98, vgl. Hulme (2009), S. 76-99.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 116
schon aus dem Zusammenspiel einer Bestandsgröße (hier CO2-Konzentration)
und einer Stromgröße (hier CO2-Emissionen), welches grundsätzlich zu einem
weiteren Aufbau der Bestandsgröße führt, solange die Stromgröße oberhalb einer
Abbaugröße liegt. Bei der Klimaänderung geht es zudem um äußerst komplexe
Rückkoppelungsprozesse zwischen Atmosphäre, Biosphäre und Ozeanen, die für
menschliche Zeithorizonte extrem zeitverzögert ablaufen: So führte eine hypo-
thetische Stabilisierung der CO2-Emissionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts am
Ende des 21. Jahrhunderts zu einer CO2-Konzentration, die 60 % oberhalb der zu
Beginn des 20. Jahrhunderts läge. Und selbst eine erreichte Stabilisierung der
atmosphärischen CO2-Konzentration führte aufgrund der thermischen Trägheit
der Ozeane noch über Jahrhunderte zu weiteren Temperaturanstiegen (wenn auch
im Zeitablauf abnehmend).206
Auch bei zahlreichen Kritikern internationaler Klimapolitik ist unumstritten, dass
der anthropogene Klimawandel real ist und im Ergebnis (überwiegend) zu
ernsthaften nachteiligen Auswirkungen auf Menschen und Natur führt. Bjorn
Lomborg beispielsweise betont jedoch, dass ungeachtet allen politischen und
medialen Alarmismus’ die menschliche Zivilisation durch den Klimawandel
nicht unmittelbar in ihrer Existenz bedroht sei und Klimawandel nur eines unter
anderen, unter Umständen drängenderen Problemen darstelle.207 Ein Abwägen
des Mitteleinsatzes ist auch innerhalb der Herausforderung Klimawandel zu
leisten, zwischen Abschwächung des Klimawandels einerseits (Mitigation) und
Anpassung an den Klimawandel andererseits (Adaptation).
Das Zusammenspiel von CO2-Emissionen, atmosphärischen CO2-Konzentra-
tionen und Klimaerwärmung erfolgt, wie dargelegt, in für menschliche Horizonte
sehr langen Zeiträumen. Dieses zeitverzögerte Verhalten des Erdklimas bedeutet, 206 Eine ausführlichere Zusammenfassung des vierten Sachstandsberichts samt Quellenangaben
und weiteren Hinweisen befindet sich im Anhang (vgl. Anhang: Anthropogene Klimaänderung).
207 Vgl. Lomborg (2007), S. 8 und 148.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 117
dass sehr unterschiedliche Treibhausgasszenarien – die schnell ansteigenden
Emissionen entweder ihren freien Gang lassen oder die mit erheblichem
Aufwand den Anstieg von CO2-Emissionen begrenzen – zwar auf längere Sicht
unterschiedliche Ergebnisse in der resultierenden Erderwärmung ausweisen. In
der mittel- bis kurzfristigen Sicht bis etwa Mitte des 21. Jahrhunderts unter-
scheiden sie sich allerdings nicht erheblich voneinander.208 Die „Früchte“ in
Form nicht materialisierter Schäden werden erst von nachfolgenden Genera-
tionen für Anstrengungen zur CO2-Reduktion geerntet, welche in der Gegenwart
erbracht werden. Dass gegenwärtige Generationen zu solchen Opfern bereit
wären, ist nicht selbstverständlich.
5.2.2 Gesellschaftliche Dynamik des Klimawandels als Rahmen-bedingung der Erdgas- und Bioerdgas-Wirtschaft
Aus Sicht westlicher Industriestaaten, insbesondere aus mitteleuropäischer
Perspektive, fallen für Maßnahmen zur Verminderung der Treibhausgas-
emissionen heute Kosten an, ohne dass zeitnah konkrete klimabezogene Vorteile
damit einhergehen werden: Die Klimaänderungen laufen sehr träge ab und
betreffen zudem in besonderem Maße nichtwestliche Regionen (vgl. 5.2.1).
Wenn gleichwohl eine ausgeprägte öffentliche Debatte geführt wird, die den
Ausstoß von Treibhausgasen moralisch problematisiert, ist dies wesentlich auf
einem gesellschaftlichen Gerechtigkeitsanspruch gegenüber allen anderen
Menschen auf dieser Welt und/oder nachfolgenden Generationen zurückzu-
führen, welcher durch die „Antizipation zukünftiger Katastrophen in der
Gegenwart“209 herausgefordert wird. Die angenommenen Klimakatastrophen
erlangen dadurch unmittelbar realen Einfluss.
208 Vgl. Solomon et al. (2007), S. 68. 209 Beck (2010), S. 38.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 118
In christlich-humanistischer Tradition ist, wie es auch das deutsche Grundgesetz
in Artikel 1 verankert, „[d]ie Würde des Menschen [...] unantastbar“210. Die
gleiche Freiheit der Menschen und ihre Unverfügbarkeit als Person führen zu
deontologischen Moralprinzipien, die den Menschen Gerechtigkeitspflichten
auferlegen: Normen, mit denen Interessen- bzw. Verteilungskonflikte gelöst
werden, müssen in einer universalisierbaren Ausprägung gerecht sein, wie dies
beispielsweise im kategorischen Imperativ211 Immanuel Kants zum Ausdruck
kommt. Als gerechte Handlungsregeln qualifizieren sich nur solche, die
allgemein als konsensfähig angesehen werden können.212
Auf Konsens baut auch John Rawls’ Konzept einer (hypothetischen) Verfas-
sungswahl, das als Ausgangspunkt die Menschen einer Gesellschaft sieht, die
zwar rein eigennutzorientiert agieren, sich unter dem „Schleier des Nicht-
wissens“213 jedoch auf gerechte Normen verständigen, denen sie anschließend
unterliegen.214 In abgewandelter Form definiert Rawls auch „Gerechtigkeit
zwischen Staaten“215. Danach entsprechen gerechte politische Grundsätze für
gegensätzliche Ansprüche zwischen Staaten solchen Prinzipien, auf die sich
Abgesandte verschiedener Nationen einigen würden, die zwar wissen, dass sie
die eigennützigen Interessen einer Nation vertreten, „doch sie wissen nichts über
die besonderen Verhältnisse ihrer eigenen Gesellschaft, ihre Macht im Vergleich
210 Art. 1 Satz 1 GG (Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in der im
Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 100-1, veröffentlichten bereinigten Fassung, das zuletzt durch das Gesetz vom 21. Juli 2010 (BGBl. I S. 944) geändert worden ist).
211 Eine Formulierung lautet: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“, Kant (1974), S. 61.
212 Vgl. Anzenbacher (2010), S. 326-329. 213 Rawls (1979), S. 29. 214 Verteilungsprinzipien von kooperativ erzeugten gesellschaftlichen Grundgütern (zu denen
nicht nur Wirtschaftsgüter zählen, sondern beispielsweise auch erwünschte Sicherheiten oder Ausbildungschancen) sind dann als gerecht zu betrachten, wenn sie Grundsätzen entsprechen, auf die sich rationale, dem Eigennutz verschriebene Menschen unter Unkenntnis ihrer gesellschaftlichen Position in einer hypothetischen Verfassungswahl verständigen würden. Vgl. Kersting (2001), S. 49 f.
215 Rawls (1979), S. 416.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 119
zu anderen, und sie kennen auch nicht ihre persönliche Stellung in ihrer Gesell-
schaft“216. Analog verdeckt Rawls zur Herleitung gerechter Regeln für generatio-
nenübergreifende Problemstellungen auch die eigene Generationenzugehörigkeit
mit dem Schleier des Nichtwissens.217
Eine Situation, in der die Menschen in den westlichen Industriestaaten (ohne eine
einvernehmlich geregelte Kompensation) ihren Lebens- und Produktionsstil
dadurch aufrechterhalten, dass sie hohe Treibhausgasmengen emittieren, unter
denen insbesondere die Menschen in Entwicklungsländer zu leiden haben, ist mit
keiner der angeführten Gerechtigkeitskonzeptionen vereinbar. Mike Hulme hebt
das Phänomen Klimawandel auf eine Stufe mit einigen der wirkmächtigsten und
konfliktträchtigsten Entwicklungen in der Geschichte der Menschheit:218
„Climate change is everywhere. Not only are the physical climates of the world every-where changing, but just as importantly the idea of climate change is now to be found across the full parade of human endeavours, institutions, practices and stories. The idea that humans are altering the physical climate of the planet through their collective actions, an idea captured in the simple linguistic compound ‚climate Change’, is an idea as ubiquitous and as powerful in today’s social discourses as are the ideas of democracy, terrorism or nationalism. Furthermore, climate change is an idea that carries as many different meanings and interpretations in contemporary political and cultural life as do these other mobilising and volatile ideas.“219
Heinrich August Winkler begreift die in der Amerikanischen Revolution von
1776 und der Französischen Revolution von 1789 ausformulierten Menschen-
und Bürgerrechte als Maßstab des Westens, auf dessen Verheißungen sich
diskriminierte Gruppen stets wirkmächtig berufen konnten, sei es bei der
Abschaffung der Sklaverei oder der Durchsetzung der Gleichberechtigung von
216 Rawls (1979), S. 415. Ob wir mit dem Phänomen des anthropogenen Klimawandels nicht
sogar bereits in einer Weltgesellschaft angelangt sind, in der Rawls Verfassungswahl im ursprünglichen Sinne heranzuziehen wäre, ist an dieser Stelle nicht relevant für die zu ziehende Aussage und kann deshalb ausgeblendet bleiben.
217 Vgl. Rawls (1979), S. 327-332, und Kersting (2001), S. 149-154. 218 Ökonomisches Ringen um Effizienz und Abwägen alternativer Maßnahmen wird umso
weniger wahrgenommen, je stärker gesellschaftliche Auseinandersetzungen in eine solche totale Auseinandersetzung driften (für oder gegen Demokratie/Vaterland/Klimarettung/etc.).
219 Hulme (2009), S. 322, Hervorhebung im Original.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 120
Frauen. Es handele sich um „Ideen, aus denen sich Waffen gegen eine wider-
strebende Wirklichkeit schmieden ließen“220 – und weiterhin lassen.
Freien Menschen sind Werte selbstverständlich verfügbar, auch Verhaltens-
weisen sind unterschiedlich interpretierbar. So erklärt Friedrich Nietzsche,
Gerechtigkeit nehme „ihren Ursprung unter ungefähr gleich Mächtigen“221, die
eine Verständigung einem „erfolglosen gegenseitigen Schädigen“222 vorziehen.
Falls aber Gerechtigkeit „Vergeltung und Austausch unter der Voraussetzung
einer ungefähr gleichen Machtstellung“223 ist, fehlt eine Rationalität für Gerech-
tigkeit unter nicht gleich Mächtigen. Weder Entwicklungsländer noch zukünftige
Generationen können als gleichberechtigte Partner der westlichen Industrie-
staaten bei der Ausgestaltung ihrer Lebens- und Produktionsweise gelten. Die
metaphorische224 Frage des ehemaligen Direktors der London School of
Economics Anthony Giddens’, „why does anyone, anyone at all, for even a
single day longer, continue to drive an SUV?“,225 könnte hier ihre Antwort
finden: Weil wir es können – weil ein solcher Lebensstil vielen Menschen als
angenehm gilt und kein Geschädigter annähernd gleich mächtig ist, um „Gerech-
tigkeit“ tatsächlich einfordern zu können.
In den heutigen arbeitsteiligen komplexen Gesellschaften und ihren Austausch-
beziehungen untereinander werden der Ressourcenverbrauch und mit ihm weite
Teile der Treibhausgasemissionen über Märkte gesteuert. Deren enorme Produk-
tivität stellt eine wünschenswerte gesellschaftliche Errungenschaft dar, so dass
Märkte das beste bekannte Instrument zur Koordinierung von Knappheiten und
zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil darstellen.
220 Winkler (2009), S. 22. 221 Nietzsche (1990), S. 279 (Hervorhebung im Original). 222 Nietzsche (1990), S. 279. 223 Nietzsche (1990), S. 279. 224 Für Giddens sind wir (die westliche Welt) alle SUV-Fahrer. 225 Giddens (2009), S. 1.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 121
Erreicht wird dies mit Anreizen, die wesentlich in der gezielten Etablierung von
wettbewerblichen Interessenkonflikten liegen. Im Ergebnis steht das eigennüt-
zige dezentrale Handeln freier Akteure im Dienste gesellschaftlicher Kooperation
– aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive und unbenommen eines nicht uner-
heblichen Preises in Form beispielsweise von Konkurrenzdruck und individu-
ellen Härten: „Die Marktwirtschaft ist daher nicht [...] ‚effizient, aber asozial’,
sondern die der modernen ‚großen’ Gesellschaft angemessene institutionelle
Form solidarischer Kooperation.“226
Einer solchen gesellschaftlichen Organisationsweise entspricht es nicht, Ände-
rungen von Konsum- oder Produktionsmustern in einer substantiellen Größen-
ordnung über freiwillige Änderungen von etablierten (unmoralischen)
Verhaltensweisen zu erzielen (vgl. 4.1). Innerhalb des täglichen Wirtschaftens ist
die Beurteilung (moralisch) zulässiger Verhaltensweisen den institutionalisierten
Rahmenbedingungen überlassen, im Wesentlichen dem rechtlichen Rahmen, um
dessen Ausgestaltung selbstverständlich gerungen werden kann. Beim öffent-
lichen Gut Klimaschutz besteht für alle Akteure ein Anreiz zu nicht koopera-
tivem Verhalten (Defektion), unabhängig davon, ob die anderen Akteure
ebenfalls defektieren oder aber ihrerseits kooperieren. Angesichts der Dimension
des Klimaschutzproblems ist dieses Dilemma wirksam nur über (internationale)
staatliche Institutionen auflösbar.
5.2.3 Anthropogene Klimaänderungen aus ökonomischer Perspektive
Aus ökonomischer Perspektive stellen Treibhausgasemissionen negative externe
Effekte dar: Die von den nachteiligen Auswirkungen der Klimaänderungen
betroffenen Individuen erfahren Nutzeneinbußen aufgrund von Aktivitäten
anderer Individuen, ohne dass diese Auswirkungen vom Marktmechanismus
226 Suchanek (2007), S. 99.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 122
erfasst würden. Eine Belastung von Treibhausgasemissionen mit ihren externen
Kosten227 wäre aber Voraussetzung, um eine Fehlallokation fossiler Energien und
anderer Treibhausgasemittenten zu vermeiden. Die geschichtlich etablierte
Nutzung fossiler Energieträger ohne preislich ausgedrückte Berücksichtigung der
negativen Auswirkungen, den der durch sie hervorgerufene Klimawandel auf
andere Individuen hat, führt in einem marktwirtschaftlich organisierten System
zu einem höheren Einsatz von fossilen Brennstoffen als gesellschaftlich
wünschenswert ist. Nicholas Stern bewertet den negativen externen Effekt, der
sich im anthropogenen Klimawandel manifestiert als „greatest market failure the
world has ever seen“228.
Eine optimale Allokation setzt voraus, dass die durch die Emissionen entste-
henden Schäden (die Grenzschadenskosten, beispielsweise in Form von Schäden
durch den Anstieg des Meeresspiegels) den durch eine Drosselung der
Emissionen verbundenen gesellschaftlichen Nutzeneinbußen (den Grenzver-
meidungskosten, beispielsweise in Form erneuerbarer Energien als teurere
Substitute) entsprechen. Ökonomisch besteht eine gesellschaftlich optimale
Lösung grundsätzlich also keineswegs darin, sämtliche Umweltschäden zu
vermeiden: „Nothing could be more ‚anti-social’ than to oppose any action which
causes any harm to anyone“229. Vielmehr geht es darum, den Nutzen, den eine
Verwendung fossiler Energien stiftet, gegen die dadurch hervorgerufenen
Schäden auszubalancieren. 230 Aus heutiger Sicht dürfte es nur schwer vorstellbar
sein, was es hieße, in einer Welt zu leben, die im Jahre 1750 aus Sorge vor einer
möglichen Klimaänderung den Entschluss gefasst hätte, nicht den Pfad der
227 Externe Kosten entsprechen der – nicht unproblematischen – monetären Bewertung der
externen Effekte, vgl. Endres (2007), S. 18. 228 Stern (2007b), S. xviii. 229 Coase (1960), S. 35. 230 Zu den umweltökonomischen Grundlagen vgl. Hartwig (2007), S. 205-208, Endres (2007),
S. 16-21, und Tietenberg/Lewis (2009), S. 358-362.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 123
Industrialisierung einzuschlagen, dessen fortgeschrittene Produkte in Mobilität,
Kommunikation und Medizin die gegenwärtigen Generationen so schätzen.231
Da von Menschen empfundener Nutzen nicht direkt messbar und vergleichbar
ist, operieren ökonomische Studien mit monetarisierten Werten in Form von
Kosten und Erträgen. Dies bedeutet für Kosten-Nutzen-Analysen des Klimas und
seiner Veränderung, dass Nutzenpositionen, deren Werte nicht über Märkte
herzuleiten sind, entweder sehr pauschal geschätzt werden müssen oder gar keine
Berücksichtigung finden. Gesellschaftlicher Konsens ist hierfür bei einem so
umfassenden Phänomen wie Klimaänderung schwerlich zu erzielen. Religiöse
oder ethische Imperative zur Bewahrung der Schöpfung bzw. zum Recht zukünf-
tiger Generationen auf gleichen Zugang zur Natur entziehen sich per Definition
sogar gänzlich einer Marktlogik mit Substituierbarkeit verschiedener Güter. Der
Grad der Substituierbarkeit von natürlichem und menschengemachtem Kapital
hat jedoch erhebliche Konsequenzen auf das implizierte menschliche
Wirtschaften. Die gegenwärtigen Wirtschaftsstrukturen sind in starkem Maße
abhängig von klimabeeinflussenden fossilen Energieträgern (de facto wird damit
eine Substituierbarkeit zwischen natürlichem und menschengemachtem Kapital
bejaht). Je nachdem, wie hoch in Bezug auf das Klima die zukünftig als minimal
geforderte Umweltqualität angesetzt wird, sind die bestehenden Kraftwerks-,
Mobilitäts- und Heizstrukturen umgehend radikal umzugestalten: Fossile
Energiesysteme sind durch erneuerbare zu ersetzen, durch Energieeinsparung
231 Wohlstand und Energie sind untrennbar miteinander verbunden. Vor Entdeckung des Feuers
war Nahrung die einzige Energiequelle der Menschen. Sie konnten damit pro Kopf rd 2.000-4.000 Kcal pro Tag für sich an Energie zum Einsatz bringen. Mit Nutzbarmachung des Feuers vor einer halben bis einer Mio. Jahren steigerte sich dieser Wert auf 4.000-6.000 Kcal. Ab dem vierten Jahrtausend vor Christus gelang Zähmung und Einsatz von Tieren für landwirtschaftliche Arbeit und Transport, was die verfügbare Energie auf 6.000-15.000 Kcal anhob. Der massive Rückgriff auf fossile Energiequellen seit Beginn des 19. Jahrhunderts ermöglichte einen industriell geprägten Verbrauch von 70.000 Kcal und mehr pro Kopf, der in Westeuropa im Jahr 2000 auf 142.000 Kcal angestiegen ist. Vgl. Malanima (2010), S. 67 f. und 113.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 124
überflüssig zu machen bzw. durch CO2-Abscheidung in ihrer Klimawirkung zu
neutralisieren.
Klimawandel ist ein langfristiges Phänomen, bei dem Kosten und Nutzen von
Maßnahmen zur Abmilderung des Klimawandels zeitlich sehr weit auseinander-
fallen. In ökonomischen Analysen werden solche Größen analog zur betriebs-
wirtschaftlichen Investitionstheorie durch Diskontierung auf den Planungs-
zeitpunkt vergleichbar gemacht. Entscheidend für die Dringlichkeit heutiger
Klimaschutzmaßnahmen und in der Klimaökonomie entsprechend umstritten ist
die Höhe des anzusetzenden Diskontierungsfaktors. Wesentliche Motive einer
Diskontierung zukünftiger (realer) Kosten und Erträge sind die menschliche
Ungeduld oder Kurzsichtigkeit, der fallende Grenznutzen von Konsum bei
allgemeinem Wirtschaftswachstum, die Opportunitätskosten alternativer
Kapitalanlagemöglichkeiten und die allgemeine Unsicherheit zukünftiger
Ereignisse. Ein üblicher Ansatzpunkt für klimaökonomische Betrachtungen ist
die Diskontierung mit der (gesamten) gesellschaftlichen Zeitpräferenzrate, zu der
sich menschliche Ungeduld oder Kurzsichtigkeit (reine Zeitpräferenzrate) und
fallender Grenznutzen von Konsum (wachstumsbedingte Präferenzrate)
summieren.232 Die gesellschaftliche Präferenzrate gibt an, um wie viel die
Gesellschaft eine Einheit Konsum heute höher bewertet als eine Periode später.
Dabei ist die wachstumsbedingte Präferenzrate der unkritische Teil. Eine margi-
nale Ausweitung der Konsummöglichkeiten einer reicheren Zukunft ist mit
weniger Nutzen verbunden als eine marginale Ausweitung der Konsummöglich- 232 In typischen neoklassischen Gleichgewichtsrahmen sorgt ein exogen gegebener Marktzins
für eine Übereinstimmung von individueller Zeitpräferenzrate und Grenzproduktivität des Kapitals (Opportunitätskosten). Die nutzenmaximierenden Haushalte stellen solange Konsum zurück, bis ihre individuelle Zeitpräferenzrate dem Marktzinssatz entspricht. Analog weiten die gewinnmaximierenden Unternehmen ihre Investitionen solange aus, bis die Grenzproduktivität des Kapitals den Marktzins nicht mehr übersteigt. Von dieser Modellwelt ausgehend liegt es nahe, den Marktzins als Diskontierungsfaktor zu verwenden, auch wenn der skizzierte Modellrahmen natürlich immer nur als Referenz einer sehr unvollkommen abgebildeten Welt dienen kann. In diesem Fall ergibt sich jedoch die Schwierigkeit, dass Marktzinssätze für Jahrhunderte nicht existieren und der besonderen intergenerationellen Fragestellung nicht Rechnung getragen wird. Vgl. Bayer (2000), S. 27 ff.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 125
keiten in der relativ ärmeren Gegenwart. Entsprechend ist bei hier unterstelltem
Wirtschaftswachstum zukünftiger Konsum (bzw. dessen Verzicht) zu diskon-
tieren. Im umgekehrten Fall eines negativen Wirtschaftswachstums hat die
Diskontierung negativ zu erfolgen. Eine zusätzliche Konsummöglichkeit ist dann
in einer ärmeren Zukunft mehr wert als in der reicheren Gegenwart. Die Unter-
stellung einer positiven reinen Zeitpräferenzrate ist hingegen ethisch problema-
tisch, solange heutige und zukünftige Menschen die gleichen Rechte
zugesprochen bekommen.233
Richard S. J. Tol hat in einer Meta-Analyse verschiedene Abschätzungen zu den
Schäden der Klimaänderungen zusammengetragen:234 Die über 200 Schätz-
werte235 der sozialen Kosten des Kohlenstoffs (C), definiert als Netto-
Gegenwartswert des Grenzschadens von Kohlenstoffemissionen, variieren
erheblich und reichen von minus 6,6 $/t C (minus 24 $/t CO2)236 (ein negativer
Grenzschaden entspricht einem Nettonutzen, also einem positiven externen
Effekt) bis zu 2.400 $/t C (8.808 $/t CO2). Während das arithmetische Mittel der
sozialen Kosten über alle Studien 105 $/t C (385 $/t CO2) beträgt, liegt der von
Extremwerten unabhängige Median bei 29 $/t C (106 $/t CO2). Ein wesentlicher
Faktor für die breite Streuung der Schätzwerte ist die Verwendung unterschied-
licher Diskontierungsraten. Die obere Grenze von 2.400 $/t C ergibt sich bei
einer Studie mit 0 % reiner Zeitpräferenzrate. Die gleiche Studie mit einer reinen
Zeitpräferenzrate von 3 % führt zum Ergebnis von 120 $/t C (440 $/t CO2). Tol
legt nahe, in Bezug auf den Klimawandel eine Gegenwartspräferenz zu
unterstellen, wie sie auch bei anderen Entscheidungen zu beobachten ist. Als 233 Vgl. Bayer (2000), S. 31-41. 234 Vgl. Tol (2009). 235 Da sich verschiedene Studien zur Abschätzung der sozialen Grenzschadenskosten auf gleiche
Abschätzungen der Gesamtschadenskosten beziehen und je Studie zum Teil mehrere Werte ermittelt werden, ist die statistische Basis geringer als von der Anzahl der Schätzungen suggeriert wird. Letztlich liegen den Abschätzungen neun Studien zu Gesamtschadenskosten zu Grunde. Vgl. Tol (2009), S. 39.
236 Die molaren Massen von CO2 und C führen zu einem Verhältnis von 44 zu 12 oder 3,67 g CO2 je g C.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 126
Ergebnis seiner Metaanalyse resultiert als bester Stand des Wissens eine die
externen Grenzkosten repräsentierende (Pigou-)Kohlenstoffsteuer von 25-
50 $/t C (92-184 $/t CO2). Der beste Stand des Wissens sei derzeit aber nicht
besonders gut, was die breite Spannbreite in den untersuchten Schätzungen
anzeigt, die zustande kommt, ohne dass extreme Klimaszenarien mit beispiels-
weise veränderten Zirkulationen der Ozeane überhaupt in die Betrachtungen
eingeflossen wären. Tolls Fazit:
„Politicians are proposing to spend hundreds of billions of dollars on greenhouse gas emission reduction, and at present, economists cannot say with confidence whether this investment is too much or too little.“237
Aus ökonomischer Perspektive ist eindeutig, dass bei Treibhausgasemissionen
Marktversagen in Form negativer externer Effekte vorliegt, das politisches
Handeln verlangt.238 Kein einheitliches Bild existiert hingegen hinsichtlich der
Höhe der Schäden, was jedoch zur Ableitung adäquater (weltweiter) Maßnahmen
notwendig wäre. Die Politik erfährt auf der Stufe der Bestimmung des Zielwertes
zulässiger bzw. zu vermeidender Treibhausgasemissionen von ökonomischer
Seite bislang nur sehr begrenzt verlässliche Unterstützung.
5.2.4 Klimaschutz im internationalen Kontext Die deutschen Klimaschutzmaßnahmen, von denen die staatliche Förderung von
Bioerdgas einen Ausschnitt darstellt, fußen auf internationalen Übereinkommen.
Die internationale Staatengemeinschaft hat sich einen Schutz nachfolgender
Generationen durch Klimapolitik als Ziel gesetzt und als Mittel dafür das Kyoto-
Protokoll kreiert (vgl. 5.2.1). Darin gehen die vertretenen Industriestaaten
Verpflichtungen ein, dass ihre durchschnittlichen Treibhausgasemissionen in der
Periode 2008 bis 2012 gegenüber einem Basisjahr maximal einen bestimmten
237 Tol (2009), S. 46. 238 Die Schwere dieses Marktversagens lässt es ausgeschlossen erscheinen, dass staatliches
Handeln grundsätzlich gravierendere negative Folgen hätte als durch die Treibhausgasemissionen bewirkt wird und deshalb staatliches Handeln aus Sorge vor einem Staatsversagen von vornherein unterbleiben sollte.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 127
Wert annehmen. Insgesamt verpflichten sich die Industrieländer (Annex I-
Staaten der United Nations Framework Convention on Climate Change,
UNFCCC), ihre Emissionen für diese Periode um 5 % abzusenken.239 Im Jahre
2007 ist gegenüber 1990 zwar bereits eine Reduktion von 3,7 % erreicht.
Allerdings wird diese maßgeblich getragen von den Transformationsländern
Osteuropas, deren Emissionen im Zuge der Restrukturierung ihrer Wirtschafts-
systeme zwischen dem Basisjahr 1990 und 2000 um 41 % zurückgingen. Ohne
Einbezug dieser Länder ergibt sich im Jahre 2007 eine Steigerung von 11,2 %
gegenüber 1990. Und auch die Emissionen der Transformationsländer nahmen
vom Jahre 2000 bis 2007 um 7,8 % zu. Die bisherige Entwicklung zeugt also
nicht davon, dass die Industrieländer ihre Lebens- und Produktionsweise
tatsächlich treibhausgasärmer gestalten. Die USA als Industrieland mit den
höchsten Treibhausgasemissionen haben konsequenterweise das Kyoto-Protokoll
bis heute nicht ratifiziert.240 Gründe für ein entsprechendes Verhalten können
dabei nicht nur auf der Konsum-, sondern auch auf der Produktions- und
Ressourcenseite liegen. Die USA weisen, gefolgt von Russland und China, das
größte CO2-Potential in ihren heimischen fossilen Energiereserven auf, ausge-
drückt als Kohlendioxid, welches durch die fossile Verbrennung sämtlicher
heimischer Reserven an Kohle, Öl und Gas freigesetzt würde, vgl. Abbildung
5.1. Die Bodenschätze dieser Kohlendioxid-Großmächte241 erführen durch eine
rasche Reduktion der Verwendung fossiler Energieträger c. p. eine Entwertung.
239 § 3 Ziff. 1. Kyoto Protocol to the United Nations Framework on Climate Change, United
Nations Framework Convention on Climate Change [UNFCCC] (1998). 240 Vgl. United Nations Framework Convention on Climate Change [UNFCCC] (2010) und
United Nations Framework Convention on Climate Change [UNFCCC] (2009), S. 5-8. Die angegebenen Daten beziehen sich auf Treibhausgasemissionen ohne Berücksichtigung von Landnutzung, Landnutzungsänderungen und Forstwirtschaft (LULUCF: land-use, land-use Change and forestry). Die Entwicklung der Transformationsländer ist entnommen Ziesing (2008), S. 63.
241 Zu beachten ist, dass ein Teil dieser Großmächte (weiterhin) zu den sich entwickelnden Volkswirtschaften zählt, in denen hunderte von Millionen Menschen auf ein Leben mit mehr Wohlstand hoffen. In diesen Ländern ist nur schwer vorstellbar, dass günstige heimische fossile Ressourcen nicht zur weiteren wirtschaftlichen Entwicklung genutzt würden. In Indien betrug der Anteil von Menschen mit Zugang zu elektrischer Energie im Jahre 2008 gerade einmal 64,5 % (während er in China bereits 99,4 % ausmachte, vgl. International Energy
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 128
Abbildung 5.1: Kohlendioxid-Großmächte
Quelle: Eigene Darstellung, Basisdaten aus BP p.l.c. (2010).
Ungeachtet dessen haben die in der G8-Gruppe zusammengeschlossenen
führenden Industrieländer, zu denen die USA wie die Bundesrepublik Deutsch-
land zählen, auf dem Gipfel 2009 im italienischen L’Aquila – mit dem Ziel,
einen Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur um mehr als 2°C zu unter-
binden – eine Reduzierung der weltweiten Treibhausgasemissionen bis 2050 um
50 % proklamiert. Die Minderung in den entwickelten Industrieländern soll sogar
überproportional um 80 % erfolgen.242 Verglichen mit dem derzeitigen Entwick-
lungstrend des relevantesten Treibhausgases CO2 scheinen solche Absichtserklä-
rungen, die zudem mit keinerlei Sanktionen bei Nichterreichung verknüpft sind,
allerdings eher appellativen Charakter zu besitzen. Abbildung 5.2 stellt der
Absichtsbekundung der G8 für 2050 die Entwicklung der CO2-Emissionen der
Welt und ausgewählter Staaten(gruppen) von 1990 bis 2030 gegenüber, wie sie
von der Internationalen Energie-Agentur (IEA) in einem Referenz-Szenario
Agency [IEA] (2009a)).241 Bei einer indischen Gesamtbevölkerung von 1,15 Mrd. Menschen (vgl. United Nations [UN] (2010))241 bedeutet dies rund 400 Millionen Menschen, die noch keinen Zugang zu Elektrizität besitzen.
242 Vgl. Group of Eight [G8] (2009), Ziff. 65.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 129
prognostiziert wird, bei dem die bereits verabschiedeten Politikmaßnahmen zur
Emissionsminderung fortbestehen, jedoch keine weiteren ergriffen werden.243
Evident für wirksame internationale Klimaabkommen wird die maßgebliche
Rolle der beiden größten CO2-Emittenten, VR China und USA.244
Abbildung 5.2: CO2-Emissionen der Welt und ausgewählter Staaten(gruppen) nach IEA-Referenz-Szenario im Abgleich mit der G8-Absichtsbekundung für 2050
Quelle: Eigene Darstellung, Daten aus International Energy Agency [IEA] (2009b), S. 629, 633 und 647.245
243 Vgl. International Energy Agency [IEA] (2009b), S. 75. 244 Ein zur Minderung von Treibhausgas-Emissionen alternativer Ansatz, der die fossilen
Bodenschätze der Kohlendioxid-Großmächte nicht entwertete, könnte in einem Abmildern der Erderwärmung durch Geoingineering gesehen werden. Ein solcher Ansatz birgt jedoch extremes Risiko- und Konfliktpotential: Wer entscheidet über ob und wie unterschiedlicher Konzepte mit unterschiedlichen (regionalen) Risiken und Nebenwirkungen? Die Forschungen im Feld bewusster künstlicher Klimabeeinflussung, von denen die Emission von Sonnenlicht reflektierenden Kleinstpartikeln nur eine Idee unter vielen ist, werden dessen ungeachtet konkreter. Vgl. The Economist (2010).
245 Die Werte für 1990 und 2007 sind Ist-Daten, die für 2020 und 2030 sind Prognosen der IEA auf Basis ihres Referenz-Szenarios. Dem gegenübergestellt ist die Absichtsbekundung der G8 für das Jahr 2050, ausgelegt auf 1990 als einheitliche Bezugsgröße für die Reduzierung der globalen CO2-Emissionen um 50 % und die der Industrieländer um 80 % (unter den
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 130
Zu den Ausnahmen eines weiter steigenden Ausstoßes von Klimagasen zählt
Deutschland, welches seine Treibhausgasemissionen zwischen 1990 und 2007
um 21,3 % gesenkt hat.246 Damit erfüllt es seine Verpflichtungen zum Kyoto-
Protokoll auch innerhalb des europäischen Burden Sharing247. Wie bei den
Transformationsländern Osteuropas ist ein erheblicher Teil der Einsparungen auf
die Umstrukturierung der ostdeutschen Wirtschaft im Zuge der Wiedervereini-
gung zurückzuführen, jedoch sind diese nicht darauf beschränkt. Nach stärkeren
Rückgängen der CO2-Emissionen in den Jahren 1990 und 1991 setzten sich die
CO2-Emissionsminderungen anschließend nahe um einen Trend von 0,6 % pro
Jahr fort. Bei Fortführung dieses Wertes ergäbe sich 2020 eine CO2-Minderung
von rund 25 % gegenüber 1990. Dies entspräche dann einem Zielwert, welchen
die deutsche Bundesregierung in den Jahren 1995 bis 2001 für das Jahr 2005
kommuniziert hatte.248 Die aktuelle Zielvorstellung unter den Regierungen
Angela Merkels – die Vorstellungen der großen Koalition und ihrer schwarz-
gelben Nachfolgerin entsprechen sich – liegt bei einer Reduktion der Treibhaus-
gasemissionen im Jahr 2020 von 40 % gegenüber 1990.249 Neben einer
Steigerung der Energieeffizienz, einer Erneuerung des Kraftwerksparks durch
effizientere Kraftwerke und anderer Maßnahmen soll der Ausbau der erneuer-
baren Energien in Stromerzeugung und Wärmesektor rund ein Viertel zu diesem
Annahmen, dass die Reduzierung der Treibhausgase proportional für CO2 gilt und das 80 %-Ziel der entwickelten Industriestaaten einheitlich auf USA und EU angewendet wird; für die VR China lässt sich aus der G8-Erklärung kein eindeutiges Ziel ableiten), vgl. Group of Eight [G8] (2009), Ziff. 65.
246 Vgl. United Nations Framework Convention on Climate Change [UNFCCC] (2009), S. 9. 247 Die Europäische Gemeinschaft hat sich im Rahmen des Kyoto-Protokolls zu einer
gemeinsamen Reduktion ihrer Treibhausgase um 8 % in der Periode 2008 bis 2012 gegenüber 1990 verpflichtet, wobei die Reduktionsverpflichtungen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft unterschiedlich auf die einzelnen Mitgliedsländer verteilt sind. Während einigen Staaten wie Griechenland oder Portugal eine Steigerung der Emissionen zugestanden wird, übernehmen andere wie Großbritannien, Dänemark oder Deutschland eine überproportionale Senkung, die im Falle Deutschlands bei 21 % liegt. Vgl. United Nations Framework Convention on Climate Change [UNFCCC] (2002).
248 Vgl. Deutsche Physikalische Gesellschaft e. V. (2005), S. 4 und 8 f. 249 Vgl. Gabriel (2007) und CDU et al. (2009), S. 25 f.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 131
Ziel beitragen.250 Nach dem im September 2010 verabschiedeten Energiekonzept
der Bundesregierung wird die angestrebte Reduktion des Jahres 2020 um 40 %
im Jahr 2030 auf 55 %, im Jahre 2040 auf 70 % und im Jahre 2050 auf 80 bis
95 % fortgeführt. Der Primärenergieverbrauch soll dafür gegenüber 2008 bis zum
Jahr 2050 um 50 % sinken und der Anteil erneuerbarer Energien an der Stromer-
zeugung auf 80 % anwachsen.251
Nach der Systematik des Kyoto-Protokolls kann Ausnahmestaaten wie Deutsch-
land und dem Vereinigten Königreich (-17,3 % Treibhausgasemissionen in 2007
gegenüber 1990)252 eine erfolgreiche Reduktion der Treibhausgase und damit
zumindest ein Einschwenken in Richtung einer nachhaltigen Klimaentwicklung
attestiert werden. Eine Konstruktionsschwäche des Kyoto-Protokolls besteht
allerdings in einem geographischen Ansatz, welcher die Produktions-Emissionen
als relevante Messgröße ansieht. Somit ist es einem Staat möglich, die Treib-
hausgasemissionen auf seinem Staatsgebiet zu senken (beispielsweise durch
Fokussierung seiner Wirtschaft auf Dienstleistungen), gleichzeitig aber die
Treibhausgasemissionen, welche dem Konsum auf seinem Staatsgebiet zuzu-
ordnen sind, zu erhöhen (durch Importe treibhausgasintensiver Industrie-
Produkte). Falls die treibhausgasintensiven Produktionsprozesse in Staaten
verlagert werden, die wie China keinen Reduktionsverpflichtungen unter dem
Kyoto-Protokoll unterliegen, kann es zu einer Erreichung von Kyoto-Verpflich-
tungen ohne jegliche Auswirkungen auf die globalen Treibhausgasemissionen
kommen. Für das Vereinigte Königreich geht eine Abschätzung davon aus, dass
bei einer Messgröße, welche auf die dem Konsum zuzuordnenden Treibhausgas-
emissionen abstellt, die Emissionen des Vereinigten Königreichs zwischen 1990
250 Vgl. Gabriel (2007), Auflistung der einzelnen Maßnahmen. 251 Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie [BMWi]/Bundesministerium für
Umwelt (2010), S. 5. Die Ziele des Energiekonzepts wurden von der Bundesregierung auch nach ihrem im Frühjahr 2011 in Folge des Fukushima-Reaktorunglücks gefassten Ausstiegsbeschluss aus der nahezu CO2-freien Kernenergie explizit aufrechterhalten. Vgl. Merkel (2011).
252 Vgl. United Nations Framework Convention on Climate Change [UNFCCC] (2009), S. 9.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 132
und 2003 nicht abgenommen, sondern um 19 % zugenommen haben. Unter dem
Blickwinkel, dass der eigentliche Verursacher der Konsument und nicht der
Produzent ist, sind auch die gewaltigen Emissionssteigerungen Chinas zu einem
erheblichen Teil den Industrieländern zuzuordnen, für die Chinas Exporte
bestimmt sind. 253
Für Bioenergie gelten im bestehenden Kyoto-Vertragswerk besondere Regeln.
Die Verwendung von Bioenergie wird als kohlenstoffneutral betrachtet. Dies
folgt der Argumentation, dass die durch die Verwendung von Bioenergie freige-
setzten CO2-Emissionen in naher Vergangenheit durch Photosynthese der Atmo-
sphäre entzogen wurden, etwa bei einem Anbau von kurzlebigen
Energiepflanzen. Allerdings ist im Rahmen des Kyoto-Protokolls nicht sicher-
gestellt, dass alle durch Anbau und Ernte von Biomasse entstehenden Emissionen
den Anbauländern angelastet werden. Die Annex I-Länder (Industrieländer)
haben bestimmte Optionsmöglichkeiten, insbesondere was den Einbezug von
CO2-Emissionen durch Landnutzung, Landnutzungsänderungen und Forstwirt-
schaft (LULUCF) betrifft. Dies führt tendenziell zu einer Überbewertung der
Einsparungen von Treibhausgasemissionen bei einer Substitution fossiler
Energien durch Biomasse. Das Problem verschärft sich, wenn die Biomasse in
einem Nicht-Annex I-Land angebaut wird. Dann werden die bei der Produktion
anfallenden Emissionen überhaupt nicht innerhalb des Kyoto-Regimes berück-
sichtigt. Ein diese Biomasse importierendes Annex I-Land kommt aber gleich-
wohl in den vollen Genuss der Kohlenstofffreiheit von Biomasse. Selbst eine
Nutzung von Biomasse, die netto zu einer Steigerung der Emissionen führt,
könnte von einem Annex I-Land als Minderung seiner Emissionen verbucht
werden: „Das gegenwärtige Anrechnungssystem unterstützt damit den Import
von Bioenergie aus Entwicklungsländern unabhängig davon, ob Emissionen
253 Vgl. Helm (2008), S. 220 f., darin auch Ausführungen zur konsumbasierten Emissions-
zunahme des Vereinigten Königreichs nach Helm et al. (2007).
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 133
damit vermieden oder gesteigert werden.“254 Die aktuelle Ausgestaltung der
internationalen Treibhausgasinstitutionen bestärkt also die Befürchtung, dass
beim Ausbau von Bioerdgas (allgemein Bioenergien) nicht ausreichend
Rücksicht auf nachhaltige Entwicklung inklusive der Konkurrenz zu Nahrungs-
mitteln gelegt wird.
Deutschland hat im Rahmen des Kyoto-Protokolls und des EU-Burden Sharings
verbindliche Treibhausgasminderungen zugesagt, die es im Sinne der Kyoto-
Systematik als eines von wenigen Ländern auch tatsächlich erfüllt. Seine Erklä-
rungen im Rahmen der G8 und der laufenden Verhandlungen zu einem Kyoto-
Folgeabkommen bedeuten – so die politischen Absichtsäußerungen auch
zukünftig als belastbar unterstellt werden – eine erhebliche weitere Absenkung
der Treibhausgase. Die Ausbauziele und Subventionierungen von Bioerdgas als
Teil der erneuerbaren Energien basiseren auf dieser fortgesetzten Verfolgung
deutscher Klimaschutzanstrengungen.
5.2.5 Förderung von Bioerdgas über das EEG Die finanzielle staatliche Förderung der laufenden Produktion von Bioerdgas,
ebenso wie Biogas, erfolgt über das Gesetz für den Vorrang Erneuerbarer
Energien, kurz Erneuerbare-Energien-Gesetz EEG255 (Bioerdgas erfährt bei der
Einspeisung ins Erdgasnetz daneben eine weitere laufende Vergütung für
vermiedene Netzkosten in Höhe von 0,7 Ct/kWh, vgl. 3.2.3). Über das EEG wird
die marktpreisunabhängige Vergütung von ins Stromnetz eingespeistem regene-
rativ erzeugten Strom geregelt, wobei die Vergütungshöhe von der eingesetzten
Energiequelle abhängt. Von Zwischenstufen der Energieumwandlung wird dabei
abstrahiert: Während beispielsweise Windenergieanlagen und Solarzellen
254 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen [WGBU]
(2009), S. 231, vgl. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umwelt-veränderungen [WGBU] (2009), S. 228-231.
255 Erneuerbare-Energien-Gesetz vom 25. Oktober 2008 (BGBl. I S. 2074), das zuletzt durch das Gesetz vom 11. August 2010 (BGBl. I S. 1170) geändert worden ist.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 134
unmittelbar aus den regenerativen Energiequellen Wind und Sonne Strom produ-
zieren, ist bei Bio(erd)gas eine Zwischenstufe im Umwandlungsprozess gegeben.
Aus den regenerativen pflanzlichen und tierischen Ausgangsstoffen wird Biogas
erzeugt, welches dann in einem separaten Prozess verstromt wird. Im Falle von
Bioerdgas sind diese Prozesse auch räumlich getrennt, da das Biogas erst auf
Erdgasqualität aufbereitet, dann ins Erdgasnetz eingespeist und anschließend an
anderer Stelle zur Stromproduktion entnommen wird. Weder die Produktion von
Bioerdgas an sich noch die reine Verwendung für andere Zwecke wie Raum-
oder Prozesswärme führen zum Genuss der EEG-Vergütungen, sondern
ausschließlich die Bioerdgas-Nutzung für die Stromerzeugung. Als Ziel definiert
das EEG, „den Anteil erneuerbarer Energien an der Stromversorgung bis zum
Jahr 2020 auf mindestens 30 Prozent und danach kontinuierlich weiter zu
erhöhen“ (§ 1 Ziff. (2) EEG). Dieses Ziel steht im Dienste des Zwecks einer
klimaverträglichen Energieversorgung unter Einbeziehung langfristiger externer
Effekte sowie der Schonung fossiler Energieressourcen und der technologischen
Weiterentwicklung erneuerbarer Energien (§ 1 Ziff. (1) EEG).
Das EEG verfolgt einen technologiespezifischen Ansatz, der das homogene Gut
Strom je nach eingesetzter Energiequelle und abhängig von verwendeter
Technologie, Anlagenleistung und Zeitpunkt der Anlageninbetriebnahme mit
erheblichen Spreizungen differenziert vergütet. Einen Überblick über diese
Streuung vermittelt Abbildung 5.3, in der nur Grundvergütungen einzelner
Energieträger gemäß der §§ 23 bis 33 EEG in ausgewählten Größenklassen256
dargestellt sind, ohne weitere technologische oder zeitliche Ausdifferenzierungen 256 Hinsichtlich der Größenklassen ist zu beachten, dass eine Anlage einer bestimmten
Leistungsklasse gemäß § 18 Ziff. (1) EEG nicht ausschließlich den Vergütungssatz dieser Leistungsklasse erhält, sondern anteilig auch den Vergütungssatz der niedrigeren Leistungsklassen (in Abbildung 5.3 wird dies augenscheinlich bei der Wasserkraft, bei der für die Leistungsklasse bis 500 kW bei den Anlagen größer 5 Megawatt ein anderer Vergütungssatz gilt als bei Anlagen bis 5 Megawatt). Die Aufteilung erfolgt dabei nicht entsprechend der installierten Anlagenleistung, sondern entsprechend der tatsächlichen Jahresleistung der Anlage, die aus in einem Jahr erzeugter Arbeit und Stunden dieses Jahres ermittelt wird, vgl. Hinsch/Holzapfel (2009), S. 10.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 135
einzubeziehen. Nicht berücksichtigt ist die ab dem Jahr 2010 greifende Degres-
sion der Vergütungssätze (§ 20 EEG). Die Degression bewirkt eine Verringerung
der Vergütungssätze für neu in Betrieb genommene Anlagen im Vergleich zu den
Ausgangsbeträgen bzw. zum Vorjahr. Die bei Inbetriebnahme geltende Vergü-
tungshöhe bleibt dann aber für die gesamte EEG-Vergütungsdauer (§ 21 Ziff.
(2)) von grundsätzlich 20 Jahren zuzüglich des Inbetriebnahmejahres konstant.
Die eigentliche Subventionierung des EEG besteht nicht in der gesamten
Vergütung, sondern im Überschreiten des Marktwertes durch die jeweilige
Vergütung. Der Preis für Grundlaststrom als Indikator257 für den Marktwert lag
im Durchschnitt des Jahres 2009 an der Leipziger Energiebörse EEX bei 3,89
Ct/kWh258 und ist den Vergütungssätzen in Abbildung 5.3 gegenübergestellt.
257 Viele regenerativen Energiequellen sind nicht grundlastfähig und hinsichtlich ihrer
Produktionsbereitschaft nicht steuerbar, da sie auf natürliche Einflüsse wie Sonne und Wind angewiesen sind, so dass der tatsächliche Marktwert geringer ausfallen dürfte.
258 Dieser Preis ergibt sich als in Ct/kWh umgerechneter Mittelwert der vier Quartalswerte 2009 des von der EEX veröffentlichten KWK-Preises, der definiert ist als durchschnittlicher Preis für Baseload-Strom an der EPEX Spot je Quartal, abrufbar unter www.eex.com, vgl. European Energy Exchange [EEX] (2010b).
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 136
Abbildung 5.3: EEG-Vergütungssätze (§§ 23-33 ohne Berücksichtigung zeitlicher oder technologischer Sonderregelungen)
Quelle: Eigene Darstellung.
Die Subventionen durch das EEG sind insofern staatliche als sie gesetzlich
vorgeschrieben sind. Sie fließen jedoch nicht über den Staatshaushalt, sondern
werden über die Stromnetzbetreiber (Betreiber von Netzen aller Spannungs-
ebenen für die allgemeine Versorgung) abgewickelt, die die EEG-Vergütungen
zahlen und ihrerseits von den Übertragungsnetzbetreibern erstattet bekommen.259
Diese gleichen die Strommengen aus erneuerbaren Energien untereinander aus,
vermarkten sie an der Börse und stellen den durchschnittlichen Differenzbetrag
aus Marktwert und EEG-Vergütung (EEG-Umlage) den Stromlieferanten in
Rechnung, die sie an Letztverbraucher weiterreichen (§§ 16, 34-39, 53 und 54
EEG in Verbindung mit der Ausgleichsmechanismusverordnung,
259 Sachlich entspricht die EEG-Förderung damit einer staatlichen Subvention, die durch eine
spezielle Steuer auf den Stromverbrauch finanziert würde. Der fragwürdige Vorteil der im EEG gewählten Umlage ist, dass diese nicht im Staatsbudget ausgewiesen wird und entsprechend bei der Berechnung der Staatsquote keine Berücksichtigung findet. Vgl. Sinn (2008), S. 136.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 137
AusglMechV260). Die jährlich anzupassende EEG-Umlage beträgt 2010 je kWh
2,047 Ct. In 2011 steigt sie aufgrund des weiteren Ausbaus der erneuerbaren
Energien, vor allem der Photovoltaik, um 72 % auf 3,530 Ct/kWh. Für stromin-
tensive Unternehmen und Schienenbahnen bestehen Ausnahmetatbestände, um
ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit nicht zu sehr zu beeinträchtigen (§§ 4-
44 EEG). Ihre EEG-Umlage ist auf 0,05 Ct/kWh begrenzt.261
Für Bioerdgas, welches im EEG262 unter Biomasse subsumiert wird, greifen für
die Grundvergütung vier Förderstufen in Abhängigkeit von der Anlagenleistung:
Bis einschließlich einer Anlagenleistung von 150 kW beträgt die Grundver-
gütung 11,67 Ct/kWh, bis 500 kW 9,18 Ct/kWh, bis 5 MW 8,25 Ct/kWh und bis
20 MW 7,79 Ct/kWh. Darüber hinaus existieren drei Förderaufschläge in
Abhängigkeit von verwendeter Technologie, eingesetzten Rohstoffen und
Nutzung der bei der Stromproduktion erzeugten Wärme (Technologiebonus,
Bonus für nachwachsende Rohstoffe und KWK-Bonus), die auch kumulativ
geltend gemacht werden können. Abbildung 5.4 stellt die verschiedenen Fallge-
staltungen dar, wieder im Vergleich zum Börsenpreis als Marktwertindikator.
260 Verordnung zur Weiterentwicklung des bundesweiten Ausgleichsmechanismus vom
17. Juli 2009 (BGBl. I S. 2101). 261 Vgl. Verordnung zur Weiterentwicklung des bundesweiten Ausgleichsmechanismus
(AusglMechV) vom 17. Juli 2009 (BGBl. I S. 2101)), Wissenschaftliche Dienste Deutscher Bundestag (2010) und Amprion GmbH (2010).
262 Die Feinheiten der Bioerdgas-Förderung über das EEG, ihre Auslegungen und Auswirkungen stellen ein weites Themenfeld dar (vgl. beispielsweise Loibl et al. (2009)). Diese Arbeit stellt auf wesentliche Punkte und auswählte Details ab.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 138
Abbildung 5.4: EEG-Vergütungssätze bei Stromerzeugung aus Bioerdgas (§ 27 EEG)
Quelle: Eigene Darstellung.
Der Technologiebonus (§ 27 Ziff. (4) 1. EEG in Verbindung mit Anlage 1 EEG)
soll einen Anreiz für die Nutzung innovativer, besonders umwelt- und klima-
schonender Anlagentechnik und deren Entwicklung setzen, ist dabei jedoch auf
eine Leistung bis 5 MW begrenzt. Er kennt zwei Ausprägungen, über die der
Bonus alternativ erlangt werden kann. Ein doppelter Technologiebonus über
beide Wege ist nicht möglich. Zum einen greift er, wenn bei der Aufbereitung
des Biogases auf Erdgasqualität Mindestanforderungen hinsichtlich der
maximalen Methanemission, des maximalen Stromverbrauchs und der Bereit-
stellung der notwendigen Prozesswärme aus erneuerbaren Energien eingehalten
werden. Für diese Fallgruppe beträgt der Technologie-Bonus bis zu einer
maximalen Kapazität der Gasaufbereitungsanlage von 350 Normkubikmetern
aufbereiteten Rohgases pro Stunde 2,0 Ct/kWh und bis 700 Normkubikmetern
pro Stunde 1,0 Ct/kWh. Zum anderen greift er bei der Verwendung innovativer
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 139
Technologien263 wie dem Einsatz von Gasturbinen oder Organic-Rankine-
Anlagen264. Voraussetzung dafür ist jeweils, dass eine Wärmenutzung
entsprechend der Bedingungen des KWK-Bonus erfolgt oder ein elektrischer
Wirkungsgrad von mindestens 45 % erreicht wird. Für diese Fallgruppe beträgt
der Technologie-Bonus 2,0 Ct/kWh.265
Zur Erschließung nachwachsender Rohstoffe zur energetischen Nutzung, insbe-
sondere auch in kleineren Anlagen, soll der Bonus für nachwachsende Rohstoffe,
NaWaRo-Bonus, beitragen (§ 27 Ziff. (4) 2. EEG in Verbindung mit Anlage 2
EEG). Der NaWaRo-Bonus stellt einerseits auf nachwachsende Rohstoffe,
Pflanzen oder Pflanzenbestandteile ab, die in landwirtschaftlichen, forstwirt-
schaftlichen oder gartenbaulichen Betrieben oder im Rahmen der Landschafts-
pflege anfallen. Andererseits fällt auch der Einsatz von Gülle unter den
NaWaRo-Bonus, wobei als Gülle im EEG-Sinne zwar Exkremente und Urin von
Nutztieren gelten, nicht jedoch Fäkalien von Heimtieren, Zirkustieren und
Tieren, die der Liebhaberei dienen – mit Ausnahme von Pferden, deren Fäkalien,
auch wenn es sich nicht um Nutztiere handelt, für den NaWaRo-Bonus qualifi-
zieren. Eine Positivliste definiert 22 pflanzliche Nebenprodukte, von Biertreber
(frisch oder abgepresst) bis Zuckerrübenschnitzel, die in Kombination mit
NaWaRo und Gülle eingesetzt werden dürfen, ohne dass der Bonus verfällt. Für
den Strom, welcher auf diese Nebenprodukte zurückzuführen ist, wird jedoch
kein Bonus gezahlt. Die Abgrenzung der Strommengen erfolgt über Standard-
Biogaserträge, die allen 22 Nebenprodukten der Positivliste als Kilowattstunden
elektrisch pro Tonne Frischmasse zugeordnet sind. In Kombination mit dem zu
führenden Einsatzstoff-Tagebuch mit Angaben und Belegen über Art, Menge
263 Dabei sind nicht etwa Zielmarken in Hinblick auf Umweltfreundlichkeit, Wirtschaftlichkeit
oder Ähnliches definiert, sondern die „innovativen“ Technologien sind vom Gesetzgeber genau und abschließend aufgeführt.
264 Bei diesen wird die im Blockheizkraftwerk entstehende Abwärme genutzt, um über organische Flüssigkeiten mit besonders niedrigem Siedepunkt weiteren Strom zu produzieren.
265 Vgl. Bredow (2009).
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 140
und Einheit sowie Herkunft der eingesetzten Stoffe lassen sich so die bonus-
würdigen Mengen und die nicht bonuswürdigen Mengen abgrenzen. Für Biogas-
anlagen (für sonstige Biomasse gelten abweichende Sätze) beträgt der NaWaRo-
Bonus bis einschließlich einer Leistung von 500 kW 7,0 Ct/kWh. Für Strom aus
Biogasanlagen erhöht sich dieser Satz, falls der Gülleanteil mindestens 30
Masseprozent beträgt, dies gilt jedoch nicht für Strom aus Bioerdgas.266 Auch für
Bioerdgas gilt hingegen eine Erhöhung des Bonusses um 2,0 Ct/kWh, wenn
überwiegend Pflanzen oder Pflanzenbestandteile eingesetzt werden, die im
Rahmen der „Landschaftspflege“ anfallen (ohne dass im Gesetz ersichtlich wäre,
was genau unter Landschaftspflege zu verstehen ist).267
Für Bioerdgas ist gemäß § 27 Ziff. (3) 3. EEG eine Stromerzeugung in Kraft-
Wärme-Kopplung zwingend vorgeschrieben, um überhaupt in den Genuss der
Grundvergütung zu gelangen (dies stellt eine Verschärfung mit novelliertem
EEG im Jahre 2009 ggü. dem zuvor bestehenden EEG des Jahres 2004 dar)268.
Sobald eine Vergütung des Bioerdgas-Stroms über das EEG erfolgt, liegen also
auch die Anspruchsvoraussetzungen für den in § 27 Ziff. (4) 3. EEG angeführten
zusätzlichen KWK-Bonus von 3,0 Ct/kWh vor. Dieser wird gewährt bis
einschließlich einer Leistung von 20 MW – allerdings nur für den Stromanteil,
der der tatsächlich genutzten Wärme zuzurechnen ist. Bei Anlagen, die über
keine Wärmeabfuhreinrichtungen (sog. Notkühler in Form von Kondensations-,
Kühl oder Bypasseinrichtungen) verfügen, gilt die gesamte Nettostromerzeugung
als bonusfähiger KWK-Strom. Bei Anlagen mit Wärmeabfuhreinrichtung wird
der bonusfähige Strom aus der tatsächlichen Nutzwärme rückgerechnet.269 In
266 Die Ungleichbehandlung von Biogas und Bioerdgas in diesem Punkt ist sachlich nicht
plausibel nachvollziehbar. Vgl. Heigl (2009), S. 124 f. 267 Vgl. Walter (2009), S. 88-95, 109 und 111 f., und Poppe (2009), S. 127-134. 268 Damit sollte wohl eine vermeintliche Überförderung von Bioerdgas, auch im Hinblick auf
die Konkurrenz um Einsatzstoffe, die ohne Wärmenutzung nicht effizient genutzt würden, im Verhältnis zu anderen Biomasseanlagen verhindert werden. Vgl. Graßmann (2009), S. 263.
269 Der bonusfähige KWK-Strom errechnet sich in diesem Falle als Produkt aus Nutzwärme (kWh) und Stromkennzahl der Anlage. Die Stromkennzahl ist das Verhältnis der KWK-
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 141
letzterem Falle erfolgt die Vergütung der vollen Strommenge nach EEG also nur
dann, wenn das entsprechende BHKW streng wärmegeführt betrieben wird. Für
die Nutzung der Wärme aus dem KWK-Prozess bestehen weitere Vorgaben.
Entweder sie entspricht den Vorgaben einer definierten Positivliste, in der
beispielsweise Maximalwerte für die anrechenfähige Nutzwärme pro Quadrat-
meter für Gebäudeheizungen vorgegeben sind, Einschränkungen für Einspei-
sungen in ein Wärmenetz gemacht werden oder die Nutzung als Prozesswärme
auf bestimmte industrielle Prozesse begrenzt ist. Oder sie führt nachweislich zum
Ersatz fossiler Energie in einem definierten Mindestumfang und führt gleich-
zeitig zu bestimmten Mindestinvestitionen zur Bereitstellung der Wärme
(technische Einrichtungen wie Wärmetauscher, Dampferzeuger etc.). In diesem
Falle darf die Wärme jedoch nicht für Zwecke genutzt werden, die aus Sorge vor
missbräuchlicher Energieverschwendung zur Generierung der erhöhten Vergü-
tungen auf einer Negativliste enthalten sind, beispielsweise die Beheizung lange
offenstehender landwirtschaftlicher Maschinenhallen oder die Beheizung von
Kirchen.270
Die Wirtschaftlichkeit einer Bioerdgas-Anlage im Hinblick auf die EEG-Vergü-
tungen hängt von der individuellen Ausprägung von Technik, Substratkosten und
nicht zuletzt dem Grad der Wärmenutzung ab. Eine Studie des Fraunhofer
Instituts UMSICHT beispielsweise betrachtet wärmegeführte Bioerdgas-BHKW
mit einem Abwärmenutzungsgrad von 90% und kommt dabei auf Basis einer
Biogasanlage mit 1.000 Normkubikmeter Durchsatz pro Stunde je nach
Anlagentyp auf ein spezifisches Betriebsergebnis von 1,9 bis 2,0 Ct/kWh
bezogen auf das eingespeiste Bioerdgas. Dieses Ergebnis hängt maßgeblich ab
von der Wärmenutzung und dem erzielten Wärmeerlös, für den hier 5,0 Ct/kWhth
unterstellt sind. Bei einem Absinken des Wärmeerlöses auf 3,0 Ct/kWhth
Nettostromerzeugung zur KWK-Nutzwärmeerzeugung in einem bestimmten Zeitraum. Vgl. Loibl (2009), S. 163.
270 Vgl. Loibl (2009), S. 142-157 und Graßmann (2009), S. 263 f.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 142
verringert sich das Ergebnis bezogen auf das eingespeiste Bioerdgas um rd.
0,8 Ct/kWh.271
Für das Jahr 2010 gehen die Übertragungsnetzbetreiber von EEG-Stromein-
speisungen von 90,2 TWh aus: Davon 54 % Wind, 29 % Biomasse, 9 % Solar,
6 % Wasser und 2 % Deponie-/Klär-/Grubengase; Geothermie liegt mit 0,04 %
unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Bezogen auf den deutschen Bruttostrom-
verbrauch des Jahres 2009272 entspräche dies einem Anteil von 15,5 % und damit
rund der Hälfte des für 2020 avisierten Zielwertes (s. o.). Für die 90,2 TWh
prognostizieren die Übertragungsnetzbetreiber Einspeisevergütungen von
12,7 Mrd. €: Davon 34 % Wind, 31 % Biomasse, 31 % Solar, 3 % Wasser und
1 % Deponie-/Klär-/Grubengase (die auseinanderfallenden Werte der Einspeise-
und Vergütungsanteile spiegeln die technologiespezifischen Vergütungssätze,
vgl. Abbildung 5.3).273 Spezifisch sind dies durchschnittlich 14,1 Ct/kWh (in
ihrer Verlässlichkeit höherwertige Baseload-Jahresforwards an der EEX notieren
bei rund 5 Ct/kWh)274. Im Jahr 2011 steigen die erwarteten spezifischen Vergü-
tungen aufgrund der zunehmenden Einspeisungen aus Photovoltaik-Anlagen auf
17,0 Ct/kWh an.275
Der planwirtschaftliche Ansatz des EEG lenkt Ressourcen in Verwendungen, die
bei marktlichem Wettbewerb nicht überlebensfähig wären, soweit die Vergü-
tungssätze als Indiz für Kostenstrukturen herangezogen werden können:276
Wären die Stromlieferanten alternativ verpflichtet, einen bestimmten Anteil ihres 271 Vgl. Fraunhofer Institut für Umwelt- (2009), S. 69-102. 272 Der Bruttostromverbrauch des Jahres 2009 betrug nach vorläufigen Angaben der
Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen 582,5 TWh, vgl. Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen [AGEB] (2010), S. 22.
273 Vgl. Wissenschaftliche Dienste Deutscher Bundestag (2010). 274 Vgl. European Energy Exchange [EEX] (2010d). 275 Die Übertragungsnetzbetreiber prognostizieren EEG-Einspeisungen von 98,0 TWh und
EEG-Vergütungen von 16,7 Mrd. €. Vgl. 50Hertz Transmission GmbH et al. (2010), S. 26 f. 276 Nach ökonomischen Kalkül haben Investoren zumindest den Anreiz, die Anlagenkapazität
auch auf schlechtere Standorte so lange auszudehnen, bis die staatlich garantierte Vergütung den Grenzkosten entspricht.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 143
Stromes aus erneuerbaren Energien zu decken, müssten sie diesen im Wettbe-
werb um ihre Kunden möglichst günstig produzieren bzw. erwerben. Möglicher-
weise wäre Solarenergie dabei sogar eine Option, falls sie in Südeuropa oder
Afrika wettbewerbsfähig im Vergleich zu anderen erneuerbaren Energien erzeugt
werden könnte – nicht jedoch aus Deutschland zum rund zehnfachen des Börsen-
preises, wenn gleichzeitig Alternativen wie Wasser- oder Windenergie günstiger
zu realisieren sind.
Das EEG erzielt somit zwar den gewünschten Erfolg einer zunehmenden
Einspeisung erneuerbarer Energien, allerdings zu einem hohen Preis, unter den
nicht nur höhere Kosten für erneuerbare Energien (EEG-Umlage) als notwendig
fallen, sondern auch das Aushebeln der Entdeckungsfunktion des Marktes hin zu
innovativen neuen Lösungen: „[E]s sind jeweils die vorläufigen Ergebnisse des
Marktprozesses, die den einzelnen sagen, wonach zu suchen sich lohnt“277. Statt
dessen liegen die Anreize auf Lobbyismus im Gesetzgebungsverfahren278 und
möglichst findiger Ausschöpfung der staatlich bereitgestellten Subventionstöpfe,
die mit einem komplexen bürokratischen Regelwerk bedeckt sind: „Climate-
change policy [...] is likely to be one of the largest sources of economic rents
from policy interventions.“279 20jähriges Festschreiben von Vergütungen für
nicht wettbewerbsfähige Technologien wird nicht den Weg ebnen hin zu einer
globalen Umgestaltung der fossilen Energiebereitstellung in Richtung erneuer-
barer Quellen. Dies wird letztendlich nur möglich sein, wenn Verfahren
entwickelt werden, die zu einer so günstigen Bereitstellung erneuerbarer
Energien führen, dass es nicht mehr lohnend ist, fossile Quellen einzusetzen.
Eine darauf abgestellte umfassende Grundlagenforschung fällt – anders als die
Technologieauswahl des EEG – gut begründet in den staatlichen Aufgaben-
bereich: Grundlagenforschung stellt ein öffentliches Gut dar, welches ohne 277 Hayek (1968), S. 7. 278 Beispielhaft seien hier die politischen Auseinandersetzungen in 2010 um die Kürzung der
Solarförderung angeführt, vgl. Der Spiegel (2010). 279 Helm (2008), S. 225.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 144
staatliche Koordination kaum in gesellschaftlich wünschenswertem Umfang
bereitzustellen ist.
Der Stromkonsument ist in der aktuellen EEG-Welt seiner Wahlmöglichkeiten
völlig beraubt, da er zur Zahlung der Rechnung des EEG-Stroms verpflichtet ist,
aber keinerlei Einfluss auf die Produzenten ausüben kann – mit den Worten Carl
Christian von Weizsäckers: „Der Stromverbraucher wird als Zwangskonsument
eines überteuerten Gutes missbraucht. Die Konsumentensouveränität wird
eingeschränkt und durch ein Konsumdiktat ersetzt.“280 Damit einher geht der
Aufbau von Arbeitsplätzen auf Basis staatlicher Zuwendungen, der es mit
zunehmenden Beschäftigungszahlen politisch umso schwerer macht, einmal
eingeschlagene Subventionspfade wieder zu verlassen: 2009 waren nach Berech-
nungen des DIW rund 340.000 Menschen im Bereich erneuerbarer Energien
beschäftigt, eine Steigerung von 112 % gegenüber 2004, wobei Biomasse mit
128.000 noch vor der Windenergie mit 102.000 Beschäftigen den größten Block
stellt.281
Für sich genommen stellen bereits diese Ausführungen den Ansatz, den das EEG
zur Förderung erneuerbarer Energien wählt, in kein gutes Licht. Noch nicht
berücksichtigt ist dabei, dass der wesentliche Zweck des EEG, die Vermeidung
klimaschädlicher Treibhausgase, gleichzeitig über ein zweites Instrument
verfolgt wird, den europäischen Emissionshandel.
Obwohl die Europäische Union ursprünglich sehr skeptisch gegenüber einem
Handel mit Emissionsrechten eingestellt war, bildet dieser heute das zentrale
Element ihrer Klimaschutzstrategie.282 Die Energiewirtschaft und Teile der
280 Weizsäcker (2009). 281 Vgl. Edler/O'Sullivan (2010). 282 Bevor sich die EU gegen Ende der 90er Jahre dem Emissionshandel zuwandte, war der
Anfang der 90er Jahre initiierte Versuch einer unionsweiten Steuer auf Kohlenstoff am Widerstand von Mitgliedsländern und Industrie gescheitert. Auch die europäische Position in
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 145
energieintensiven Industrie benötigen seit 2005 für den Ausstoß von Kohlen-
dioxid begrenzt verfügbare und im Zeitablauf knapper werdende Zertifikate, die
sie nach erstmaliger Zuteilung durch den Staat untereinander über Märkte
handeln können (Cap and Trade).283 Der Emissionshandel macht sich die von
Ronald H. Coase herausgearbeitete Idee zunutze, dass wohldefinierte Eigentums-
rechte an knappen Umweltgütern (bei vollkommenem Markt) eine ökonomisch
effiziente Allokation erzeugen und Marktversagen wie im Falle des anthropo-
genen Klimawandels entgegenstehen.284 Als Korrektiv der ursprünglich vom
Preismechanismus nicht erfassten Knappheit der klimaneutralen Aufnahme-
fähigkeit der Atmosphäre für Treibhausgase stehen damit nicht nur Steuern und
Ordnungsrecht zur Verfügung, sondern auch (staatlich initiierte) Marktmecha-
nismen. Der europäische Emissionshandel285 befindet sich nach einer ersten, als
Pilotphase einzustufenden Handelsperiode der Jahre 2005 bis 2007 nun in der
zweiten Handelsperiode mit Zeithorizont 2008 bis 2013. Wie die meisten euro-
päischen Staaten teilte Deutschland die Zertifikate der ersten Handelsperiode
kostenfrei zu, im Wesentlichen auf Basis historischer Emissionen (Grand-
den Verhandlungen des Kyoto-Protokolls, einen zwischenstaatlichen Emissionshandel nicht zuzulassen, konnte sich gegenüber den USA, die dieses Instrument befürworteten, nicht durchsetzen. Vgl. Ellerman et al. (2010), S. 9 f.
283 Damit entschied sich die EU für eine Downstream-Regulierung der Emissionen zum Zeitpunkt ihrer Entstehung und gegen eine Upstream-Regulierung auf Ebene der Produzenten und Importeure fossiler Energien, die alternativ ebenfalls in der Diskussion war, vgl. Ellerman et al. (2010), S. 22. Letztere präferiert beispielsweise der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, vgl. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (2008), S. 5 f.
284 Coase ist natürlich bewusst, dass die Modellvorstellung eines kostenlosen Preissystems in der Realität nicht anzutreffen ist. In einer realistischeren Welt mit Kosten des Preissystems müssen Wohlstandssteigerungen von Allokationsanpassungen diese Kosten mindestens kompensieren um realisiert zu werden. Dann gilt: „In these conditions the initial delimitation of legal rights does have an effect on the efficiency with which the economic system operates. One arrangement of rights may bring about a greater value of production than any other. But unless this is the arrangement of rights established by the legal system, the costs of reaching the same result by altering and combining rights through the market may be so great that this optimal arrangement of rights, and the greater value of production which it would bring, may never be achieved.“ Coase (1960), S. 16.
285 Grundlage ist die am 25. Oktober 2003 in Kraft getretenen Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über ein System für den Handel mit Treibhausgaszertifikaten in der Gemeinschaft (2003/87/EG).
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 146
fathering).286 Für die Elektrizitätswirtschaft begrenzte es die für die zweite
Handelsperiode kostenfrei zugeteilten Zertifikate. Rund 9 % werden statt dessen
vom Staat veräußert. Seit Anfang 2010 erfolgt dies in wöchentlichen Auktionen
an der EEX in Leipzig, in denen die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) die
Emissionszertifikate in staatlichem Auftrag vermarktet. In der dritten Handels-
periode ab 2013 sollen die Zertifikate für die Elektrizitätswirtschaft europaweit
nach einheitlichen Anforderungen vollständig versteigert werden, später auch
zunehmend die der Industrie. Der Zuteilungsschlüssel der Erlöse dieser
Auktionen soll sich dabei – abgesehen von gewissen Umverteilungen zugunsten
ärmerer und neuer Mitgliedsstaaten – nach dem Verhältnis der CO2-Emissionen
der Mitgliedsstaaten zum Zeitpunkt des Starts des europäischen Emissions-
handels im Jahre 2005 richten.287
Die Summe der zulässigen deutschen CO2-Emissionen wird im internationalen
und europäischen Kontext bestimmt: Durch das Kyoto-Protokoll und dessen
europäische Umsetzung im Burden Sharing. Ein wesentlicher Teil der deutschen
und europäischen CO2-Emissionen, insbesondere die der Elektrizitätswirtschaft,
unterliegt seit 2005 dem Zertifikatehandel, bei dem die zulässigen CO2-
Emissionen eindeutig über die Anzahl der zum jeweiligen Zeitpunkt ausgege-
benen Zertifikate festgelegt sind. Solange diese Zertifikate zu einem positiven
Preis (> 0 €/t) gehandelt werden, sind sie knapp und werden somit auch in Gänze
in Anspruch genommen. Die zulässigen CO2-Emissionen für die Sektoren, die
nicht dem Zertifikatehandel unterliegen, ergeben sich aus Subtraktion der Zerti-
fikate von den zulässigen Gesamtemissionen. Das EEG fördert die Erzeugung
von Strom aus regenerativen Energien, welcher c. p. Strom aus konventionellen,
insbesondere fossilen Kraftwerken verdrängt, welcher dem Zertifikatehandel
286 Wesentliche rechtliche Grundlagen bilden das Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz
(TEHG), der Nationale Allokationsplan (NAP) und das Zuteilungsgesetz (ZuG). 287 Vgl. Ellermann et al. (2010), S. 9-31, Environment Directorate-General of the European
Commission (2010), Umweltbundesamt [UBA] (2010) und Umweltbundesamt [UBA]/Deutsche Emissionshandelsstelle [DEHSt] (2010).
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 147
unterliegt. Die Elektrizitätswirtschaft fragt somit weniger CO2-Zertifikate nach,
entsprechend sinkt deren Preis. Dies bedeutet aber nur, dass an anderer Stelle in
den vom Emissionshandel umfassten Sektoren weniger Anstrengungen unter-
nommen werden müssen, CO2 einzusparen, ohne dass jedoch insgesamt weniger
CO2 emittiert würde (zumindest solange der Preis der Zertifikate nicht auf Null
sinkt). Diese grundlegende Kritik an dem Zusammenspiel von EEG und Emissi-
onshandel hat der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für
Wirtschaft und Arbeit bereits Anfang 2004 ausgeführt, ohne dass dies zu einem
politischen Umsteuern hinsichtlich dieser Instrumente geführt hätte:
„Mit Beginn eines funktionierenden Marktes für CO2-Emissions-Lizenzen in Europa verändert sich die Wirkung des EEG. Hat es bisher, wenn auch mit sehr hohen volks-wirtschaftlichen Kosten, zur Reduktion von CO2-Emissionen beigetragen, so wird sein Gesamteffekt auf die Reduktion von CO2-Emissionen nach der Implementierung dieses Lizenzmarktes gleich Null sein. Es wird dann zu einem ökologisch nutzlosen, aber volkswirtschaftlich teuren Instrument und müsste konsequenterweise abgeschafft werden.“288
Selbst wenn die Instrumente aufeinander abgestimmt wären (beispielsweise
durch eine Stilllegung der durch die Einspeisung von EEG-Strom freigesetzten
CO2-Emissionszertifikate), entspräche dies keinesfalls einer effizienten Lösung
zur Vermeidung von Treibhausgasemissionen, denn dann gälte: Während über
das Instrument des Zertifikatehandels eine zusätzliche t CO2 zu rd. 16 €/t
eingespart werden kann (Grenzvermeidungskosten289), betragen die durchschnitt-
lichen Vermeidungskosten einer t CO2 über das EEG auf Basis der angeführten
EEG-Einspeiseerwartungen des Jahres 2011 rd. 213 €/t: Die Vermeidungskosten
des EEG ergeben sich auf Basis der von Technologie zu Technologie variie-
288 Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit (2004), S. 17. 289 Grenzvermeidungskosten stellen auf nur marginale Mengenänderungen ab und müssen kein
Indiz für die Kostenstrukturen umfangreicherer Änderungen des wirtschaftlichen Entwicklungspfades darstellen. Da einer marktlichen Lösung aber neben allen anderen Optionen auch die Technologien offen stehen, auf die derzeit das EEG setzt, sind die Kosten c. p. trotzdem in jedem Falle geringer.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 148
renden Vergütungssätze und erreichen für die Grundvergütung in der Spitze, bei
kleinen Solaranlagen bis 30 kW, 538 €/t.290
Bioerdgas zeichnet sich im Vergleich zu Biogas durch eine größere Verwen-
dungsflexibilität aus. Nicht eingespeistes Biogas ist kaum anders als zur
Stromerzeugung nutzbar (BHKW direkt neben der Biogasanlage) und unterliegt
damit zwangsläufig dem Spannungsfeld von EEG und Zertifikatehandel – mit
der Einschränkung, dass die Nutzung der KWK-Wärme aufgrund der ländlichen
Standorte der Anlagen im Normalfall nicht in großindustriellen Prozessen
erfolgt, welche dem Zertifikatehandel unterliegen, so dass zumindest ein
gewisser Zusatzeffekt gegenüber anderen EEG-Technologien zu verzeichnen ist
(dies gilt analog bei vergleichbarem KWK-Bioerdgas-Einsatz). Bioerdgas ist
grundsätzlich nicht auf eine Verwendung zur Stromerzeugung festgelegt.
Vielmehr ließe sich Bioerdgas auch primär im Haushalts-Wärmemarkt, der nicht
dem Zertifikatehandel unterliegt, als Erdgassubstitut verwenden. Losgelöst von
allen wirtschaftlichen Überlegungen könnte so zumindest eine Neutralisierung
der eingesparten Treibhausgasemissionen durch den Zertifikatehandel vermieden
werden. Die staatliche Förderung von Bioerdgas hingegen fokussiert – via EEG –
auf die Stromproduktion und ignoriert die Wechselwirkungen zwischen EEG und
Zertifikatehandel.
Während das EEG über Subventionen die Nutzung erneuerbarer Energien
vorantreibt, bedient sich das parallel zum EEG bestehende Erneuerbare- 290 Der den Grenzvermeidungskosten entsprechende Preis für CO2-Zertifikate (Forwards) für
2011 beträgt an der EEX mit Stichtag 08.10.2010 exakt 15,87 €/t, vgl. European Energy Exchange [EEX] (2010a). Die durchschnittlichen CO2-Vermeidungskosten des EEG sind unter der (optimistischen) Annahme berechnet, dass durch EEG-Strom zu 100 % Elektrizitätserzeugung aus Steinkohle substituiert wird (bei Ansatz von 0,8 Kg CO2-Emissionen je kWh Strom aus Steinkohle, vgl. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit (2004), S. 9) und dass EEG-Strom zu 100 % CO2-frei erzeugt werden kann. Die erwartete durchschnittliche EEG-Vergütung für 2011 in Höhe von 17,0 Ct/kWh ist oben bereits angeführt. 17,0 Ct/kWh / 0,8 kg CO2/kWh = 21,3 Ct/kg CO2 oder 213 €/t CO2. Die Grundvergütung für Solarstrom bis 30 kW beträgt 43,01 Ct/kWh, vgl. Abbildung 5.3.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 149
Energien-Wärmegesetz (EEWärmeG)291 des Ordnungsrechts: Um den Anteil
erneuerbarer Energien an der Wärmebereitstellung bis zum Jahr 2020 auf 14 %
zu erhöhen, sind die Eigentümer neu errichteter Gebäude seit 01.01.2009
verpflichtet, anteilig erneuerbare Energien zu nutzen, wobei der verpflichtende
Anteil erneuerbarer Energien von Technologie zu Technologie variiert: Während
bei solarer Strahlungsenergie ein Anteil von 15 % auskömmlich ist, wird bei
Geothermie ein Anteil von 50 % vorgeschrieben (§ 5 EEWärmeG). Auch mit
Bioerdgas (oder Biogas) sind die Anforderungen erfüllbar, der Wärmeenergie-
bedarf ist dann zu 30 % hieraus zu decken (§ 5 Ziff. (2) EEWärmeG) – allerdings
unter einer stringenten Voraussetzung: Die Nutzungspflicht erneuerbarer
Energien gilt bei gasförmiger Biomasse nur dann erfüllt, wenn die Nutzung in
einer KWK-Anlage erfolgt (Anlage zum EEWärmeG, II. 1.),292 also wiederum
Strom produziert wird. Eine Nutzung im Rahmen eines rein Wärme produzie-
renden Heizkessels – also im Standard-Fall der derzeitigen Gasnutzung im
Wärmesegment – ist mithin ausgeschlossen. Alternativ zur Nutzung erneuer-
barer Energien können auch Ersatzmaßnahmen vorgenommen werden, unter die
etwa bestimmte Energieeinsparmaßnahmen fallen oder der Anschluss an Nah-
oder Fernwärmenetze (§ 7 EEWärmeG). Gemäß § 3 Ziff. (2) eröffnet das
EEWärmeG den Bundesländern die Möglichkeit, auch für Bestandsgebäude
Pflichten zur Nutzung erneuerbarer Energien festzulegen. Eine solche Pflicht
besteht in Baden-Württemberg über das Erneuerbare Wärme Gesetz
(EWärmeG)293 für Bestandsgebäude, bei denen die Heizungsanlage ausgetauscht
wird, wobei auch hier alternativ die Vornahme von Ersatzmaßnahmen möglich 291 Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz vom 7. August 2008 (BGBl. I S. 1658), das durch
Artikel 3 des Gesetzes vom 15. Juli 2009 (BGBl. I S. 1804) geändert worden ist. 292 Für Bioerdgas ist zudem vorgeschrieben, dass bei Aufbereitung und Einspeisung des Gases
die Methanemissionen in die Atmosphäre und der Stromverbrauch nach der jeweils besten verfügbaren Technik gesenkt werden (dieses wird angenommen, wenn die Qualitätsanforderungen der Gasnetzzugangsverordnung eingehalten werden) und die zur Erzeugung und Aufbereitung des Gases eingesetzte Prozesswärme aus erneuerbaren Energien oder Abwärme gewonnen wird (Anlage zum EEWärmeG, II 1. b).
293 Gesetz zur Nutzung erneuerbarer Wärmeenergie in Baden-Württemberg (Erneuerbare-Wärme-Gesetz – EWärmeG) vom 20. November 2007 (GBl. vom 23. November 2007, S. 531).
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 150
ist. Beim Einsatz von Bioerdgas gilt die Vorgabe gemäß § 4 Ziff. (3) EWärmeG
als erfüllt, wenn hiermit mindestens zehn Prozent des Brennstoffbedarfs gedeckt
werden (eine KWK-Anlage ist nicht vorgeschrieben, so dass eine reine Wärme-
nutzung möglich ist).
Mit der Förderung von Bioerdgas und anderen erneuerbaren Energien und der
Einführung eines CO2-Zertifikatehandels nehmen Deutschland und die
Europäische Union – ungeachtet aller ausgeführten Effizienz- und Abstim-
mungsprobleme – eine Vorreiterrolle in der internationalen Klimaschutzpolitik
ein, die sich auch in den Kyoto-Reduktions-Verpflichtungen manifestiert. Es
sprechen auch gute ethische, gesellschaftliche und ökonomische Gründe dafür,
Verantwortung für die Folgen des eigenen Handelns, der eigenen Emissionen, zu
übernehmen (vgl. 5.2).
Mit zunehmendem Abstand zu anderen relevanten Emissions-Staaten steigt
allerdings gleichzeitig – kontraintuitiv zu den Argumenten der öffentlichen
Debatte – das Risiko eines verebbenden Effektes der eigenen unilateralen
Anstrengungen, die für den weiteren Prozess sogar nachteilige Auswirkungen
entfalten können. Die Emissionsminderungen stellen ein globales öffentliches
Gut dar, bei dem diejenigen, die einen Beitrag zum Gut leisten, die vollen Kosten
für diesen Beitrag leisten, alle anderen aber ebenfalls davon profitieren, ohne
dass ein Nutzenausschluss möglich wäre. Anders als bei öffentlichen Gütern im
nationalen Rahmen, beispielsweise der Gewährung innerer und äußerer
Sicherheit, ist global keine hinreichend mächtige Institution gegeben, welche
durch Zwangsausübung ein koordiniertes kollektives Handeln herbeiführen und
ein Trittbrettfahren unterbinden könnte.294 Unilateral Emissions-Minderungen
vorzunehmen ist nur für wenige Staaten ökonomisch rational. Dafür müsste der
sich im eigenen Land einstellende Vorteil einer Emissionsvermeidung 294 Eine effiziente Bereitstellung des kollektiven Gutes Emissionsminderungen ist somit nicht
möglich.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 151
mindestens den dafür aufgewendeten Kosten entsprechen. Eine solche Konstel-
lation ist nur für die bevölkerungsreichsten, wirtschaftlich leistungsfähigsten und
von der drohenden Klimaänderung am stärksten negativ betroffenen Länder zu
vermuten. Anders als beispielsweise die USA ist Deutschland somit prima facie
kein Kandidat für eine freiwillige Klimapolitik. Politisch beschreitet Deutschland
gleichwohl diesen Weg, was durch ein Aufwiegen der ökonomischen Nachteile
durch ökologische Präferenzen der Bevölkerung erklärt werden könnte. Ein
deutsches und europäisches Voranschreiten bedeutet jedoch, dass für die anderen
Staaten eigene Anstrengungen weniger dringlich werden: Bei weltweit durch die
europäischen Anstrengungen insgesamt geringeren Emissionen vermindert sich
c. p. der Grenznutzen eigener Anstrengungen anderer Staaten. Internationale
Kooperationen unter Einschluss aller (relevanten) Emittenten werden dadurch
nicht nur weniger wahrscheinlich. Ein voranschreitender Staat besitzt auch
weniger Einfluss auf die Verhandlungen hierzu, da seine bereits getroffenen
Festlegungen der Emissionsreduktionen seine Rückfallposition (Drohpunkt)
schwächt.295
Grundsätzlich ist vorstellbar und – auch im Hinblick auf eine Annäherung an
eine effiziente Bereitstellung des öffentlichen Gutes Treibhausgasminderungen –
wünschenswert, dass die geschilderten politökonomischen Anreize durch gesell-
schaftliche Prozesse ausgehebelt werden, in denen der öffentliche Druck auf alle
relevanten Regierungen ausreichend groß wird, wirksame internationale
295 Vgl. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen (2010). Dass das
entscheidende (Hinterzimmer-)Gespräch der aus deutscher Perspektive gescheiterten Weltklimakonferenz 2009 in Kopenhagen ohne Beisein europäischer Staaten zwischen Indien, China, Brasilien, Südafrika und den USA stattfand, passt zu diesem Erklärungsmuster. Vgl. Rapp et al. (2010). Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium der Finanzen empfiehlt, um das Problem des Trittbrettfahrens und das Schwächen der eigenen internationalen Verhandlungsposition zu umgehen, statt einer umfangreichen Vermeidungsstrategie ein verstärktes Hinwenden auf Anpassungen an Klimaveränderungen (Anpassung und Vermeidung stellten zwar keine Substitute hinsichtlich der klimatischen Ziele dar, jedoch hinsichtlich des ökonomischen Ziels möglichst geringer wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Klimakosten). Vgl. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen (2010).
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 152
Abkommen herbeizuführen. In einem solchen – visionären – Szenario könnten
voranschreitende Staaten als Vorbild dienen, so sie demonstrieren, dass eine
Verminderung von Emissionen unter Erhalt oder gar bei Steigerung des
Wohlstandes möglich ist. Dies wird jedoch nur gelingen können, wenn sich
voranschreitende Staaten wie Deutschland bei der Emissions-Vermeidung an das
Prinzip des rationalen Mitteleinsatzes halten: Ein gegebenes Ziel ist mit
möglichst geringem Mitteleinsatz zu erreichen bzw. gegebene Mittel so einzu-
setzen, dass das damit erzielte Ergebnis möglichst groß ist. Eine ineffiziente
Förderung erneuerbarer Energien, erst recht wenn diese nicht auf einen zugleich
stattfindenden Zertifikatehandel abgestimmt ist, ist damit nicht vereinbar. Ihr
wohnt vielmehr das Risiko inne, ein Beispiel für das Scheitern einer radikalen
Treibhausgas-Minderungsstrategie abzugeben und so nicht zum Vorbild sondern
zum Mahnmal zu avancieren.
5.2.6 Wirtschaftlichkeit einer Minderung von Treibhausgas-emissionen durch Bioerdgas
Losgelöst von der Schwierigkeit, verschiedene Instrumente zur Treibhausgas-
reduktion wirkungsvoll miteinander zu koordinieren, ist grundsätzlich eine
Emissionsminderung durch eine Substitution von Erdgas durch Bioerdgas
möglich, beispielsweise im Wärmemarkt.296 Mit dem Einsatz von Erdgas gehen
Treibhausgasemissionen von rund 245 g CO2-eq/kWh einher (vgl. 2.4.2). Mit
bester Technik ist mit der Produktion von Bioerdgas unter Einbeziehung der
umgebenden Prozesse297 bei einer reinen NaWaRo-Anlage eine Treibhausgas-
minderung von 196 g CO2-eq/kWh möglich, wobei dieser Wert durch anteiligen
296 Voraussetzung dafür ist, dass durch Bioerdgas verdrängtes Erdgas tatsächlich im Boden
verbleibt. Dies kann nicht als sicher angenommen werden, da Preissenkungsspielräume bestehen könnten (das hieße derzeit keine Grenzkostenpreise), durch die die Nachfrage ausgedehnt werden könnte.
297 D. h. unter Berücksichtigung der Emissionen beispielsweise des Stroms, mit dem die Biogas-Anlage betrieben wird, aber auch unter Berücksichtigung von Treibhausgas-Einsparungen, die sich etwa in der Produktion von Kunstdüngern ergeben, deren Einsatz durch die Nutzung des Gärrests vermieden werden kann. Der für Erdgas angeführte Emissionswert berücksichtigt diese Umgebungsprozsse nicht.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 153
Gülleeinsatz noch deutlich steigerbar ist (vgl. 2.4.2). Für nachfolgende Betrach-
tungen wird unterstellt, dass eine vollständige Einsparung der mit dem Erdgas-
Einsatz einhergehenden CO2-Emissionen bei einer Substitution durch Bioerdgas
möglich wäre.
Der Marktpreis für eine Jahres(band)lieferung Erdgas in 2011 beträgt rund
2,02 Ct/kWh298, die Produktionskosten Bioerdgas bei überwiegendem NaWaRo-
Einsatz im günstigsten Fall 6,33 Ct/kWh (vgl. 2.3). Für den Differenzbetrag von
4,31 Ct/kWh wäre also eine Substitution von Erdgas durch Bioerdgas möglich,
die annahmegemäß mit einer Einsparung von 245 g CO2-eq/kWh einherginge.
Diese Treibhausgaseinsparung weist damit einen Break-Even-Preis für CO2 von
176 €/t auf. Mit einem CO2-Preis von 176 €/t und mehr wäre es wirtschaftlich,
zur Treibhausgasminderung Erdgas durch Bioerdgas zu substituieren, darunter
nicht. Selbst bei einem Erdgas-Marktpreis von 3 Ct/kWh und damit einer
Differenz von 3,31 Ct/kWh zu Bioerdgas entspräche dieser Grenzwert immer
noch 134 €/t (vgl. auch 3.3.2).
Eine Substitution von Erdgas durch Bioerdgas zur Verminderung von Treibhaus-
gasemissionen ist damit ein ineffizientes Instrument, solange im Zuge des Treib-
hausgasemissionshandels eine Emissionsminderung zu deutlich geringeren
Kosten möglich ist, die derzeit gerade einmal bei rund einem Zehntel liegen
(16 €/t CO2-Zertifikatepreis zu 176 €/t Bioerdgas-Differenzkosten). Selbst die
Einführung der von Tol propagierten Kohlenstoffsteuer von 25-50 $/t C (92-
184 $/t CO2 bzw. 65-131 €/t CO2299, vgl. 5.2.3) könnte bei derzeitigen Kosten-
und Preisstrukturen nicht dazu führen, Bioerdgas ggü. fossilem Erdgas zu bevor-
zugen.
298 Schlusskurs Gas-Future Kalenderjahr 2011 an der EEX für die Lieferung frei Virtuellem
Punkt Markgebiet NCG am 15.10.2010 exakt 20,15 €/MWh. Vgl. European Energy Exchange [EEX] (2010c).
299 Gerechnet mit Euro-Referenzkurz der EZB vom 15.10.2010 in Höhe von 1,41 €/$. Vgl. Deutsche Bundesbank (2010).
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 154
Zur Vermeidung von Treibhausgas-Emissionen, die aus Gülle resultieren, mag
Bioerdgas eine interessante Option bieten. Hierzu bedarf es jedoch keiner
Subventionierung von Bioerdgas, sondern vielmehr einer Anlastung der externen
Kosten der Gülleproduktion an den Verursacher (solange dies nicht geschieht,
kann Fleisch aus volkswirtschaftlicher Sicht zu günstig angeboten werden). Dann
bestünde ein Anreiz, diese Emissionen zu reduzieren, wozu die Produktion von
Bioerdgas eine Möglichkeit unter ggf. vielen weiteren darstellte.
5.3 Versorgungssicherheit als staatlicher Ausgangspunkt für Bioerdgas
5.3.1 Versorgungssicherheit des Energieträgers Erdgas aus ökonomischer Perspektive
Bestünde im Hinblick auf fossile Energieträger weltweit ein akutes Knappheits-
problem, die Dramatik des Klimaproblems hätte sich bereits verflüchtigt. Dann
hätte der Preismechanismus auch längst zur Wettbewerbsfähigkeit der regenera-
tiven mit den schwindenden fossilen Energien geführt und eine Subventionierung
à la EEG erübrigt. Dass die Realität anders aussieht und die weltweite Verfüg-
barkeit fossiler Energien so umfangreich ist, dass ihre Wechselwirkung mit dem
Klima derzeit als Restriktion gesehen wird und nicht ihre Existenz oder
technische Nutzbarmachung, bedeutet natürlich nicht, dass der Zugang zu
bestimmten fossilen Energieträgern in gewünschtem Umfang am jeweiligen Ort
jederzeit sichergestellt wäre. So ist Kohle als CO2-intensivste fossile Energie
umfangreicher und regional diversifizierter vorhanden als Erdöl oder Erdgas:
Von den Ende 2009 ausgewiesenen Reserven an Kohle, Öl und Gas entfallen,
bezogen auf Energieeinheiten, über die Hälfte auf Kohle und jeweils ein knappes
Viertel auf Erdöl und Erdgas.300
300 Vgl. BP p.l.c. (2010).
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 155
In Anlehnung an Böske (2007) kann das Problem der Versorgungssicherheit mit
Energie wie folgt charakterisiert werden: Energie ist im Produktionsprozess zwar
nur ein Produktionsfaktor unter vielen, eine Produktion ohne Energie ist jedoch
nicht möglich, so dass Energie eine wesentliche Ressource darstellt. Staatlicher-
seits werden Energiemärkte entsprechend als strategische Sektoren angesehen,
die entscheidenden Einfluss auf internationale Wettbewerbsfähigkeit, ökono-
mische und soziale Entwicklung (auch im Hinblick auf die Daseinsfürsorge des
Staates) sowie die nationale Sicherheit haben. Da die Verfügbarkeit von Energie
für ein Gemeinwesen essentiell ist, kann Versorgungssicherheit in technisch-
physischer Hinsicht von der Angebotsseite her kommend definiert werden:
„Vollständige Versorgungssicherheit ist die jederzeitige physische Verfügbarkeit
von Endenergiemengen.“301
Das optimale Versorgungssicherheitsniveau lässt sich grundsätzlich in Kosten-
Nutzen-Betrachtung ableiten und ist erreicht, wenn die Kosten seiner Sicher-
stellung gleich sind den (vermiedenen) Kosten eines Ausfalls der Versorgung,
gewichtet mit ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit für eine bestimmte Periode. Für
eine konkrete Bestimmung wären nicht nur die Eintrittswahrscheinlichkeiten für
Ausfälle der Energieversorgung sondern auch sämtliche Informationen hinsicht-
lich der Angebots- und Nachfragekurven notwendig. Diese Werte sind in praxi
nicht verfügbar. Generell lässt sich jedoch feststellen, dass Angebots- und Nach-
fragekurven auf Energiemärkten sehr preisunelastische Bereiche aufweisen. Da
Nutzenergie durch Energieträger-Technologie-Kombinationen (ETK) bereit-
gestellt wird, sind diese preisunelastischen Bereiche stark vom betrachteten
Zeitintervall abhängig. Während Energie per se eine wesentliche Ressource
darstellt, bestehen zwischen einzelnen ETK Substitutionsbeziehungen, die
allerdings Infrastrukturabhängigkeiten kennen. In kalten Regionen ist ein
Mindestmaß an Heizenergie überlebensnotwendig. Falls zum Betrachtungszeit-
301 Böske (2007), S. 27.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 156
punkt nur eine Ölheizung zur Verfügung steht, wird für diese kurzfristig auch bei
stark steigenden Preisen Öl nachgefragt. Längerfristig jedoch besteht die
Möglichkeit, die Technik zu tauschen und auf Alternativen wie Erdgas-, Kohle-
oder Biomasse zu setzen. Keine Alternativen bestehen zwar in vielen Einsatzbe-
reichen der Elektrizität, insbesondere der modernen Datenverarbeitungstechno-
logie, Elektrizität selber lässt sich jedoch wieder auf zahlreichen Wegen
generieren – unter Einsatz von Kohle bis zu Photovoltaik.302
Langfristig bestehen nicht nur Substitutionspotentiale innerhalb der fossilen
Energien, sondern auch zwischen fossilen und erneuerbaren Energien, die grund-
sätzlich als für menschliche Zeithorizonte unbegrenzt verfügbare Backstoptech-
nologien zur Verfügung stehen. Abbildung 5.5 verdeutlicht diesen
Zusammenhang in Bezug auf den Energieträger Erdgas. Bioerdgas stellt in dieser
Betrachtung ein physisch äquivalentes, wenn auch derzeit noch nicht wirtschaft-
liches (vgl. 3.3.2) Substitutionsprodukt zu Erdgas dar. Gleiches gilt für synthe-
tisches Methan, welches sich unter Einsatz von Strom via Elektrolyse gewinnen
lässt, das sich derzeit allerdings noch im Entwicklungsstadium befindet.303 Da es
in ökonomischer Betrachtung nicht um physische Produkteigenschaften geht,
sondern um Bedürfnisbefriedigungen, sind diese – ggf. mit gewissen Nutzen-
einbußen – auch mit alternativen Energieträgern jenseits von Erdgas und Bioerd-
gas darstellbar, wie der rechte Teil der Abbildung verdeutlicht. Sollte eine
klimapolitische Nebenbedingung greifen und beispielsweise die Substitution von
Erdgas durch Kohle in Frage stellen, könnte letztere mit Kohlendioxid-
Abtrennung und Einlagerung (CCS) kombiniert werden.
302 Vgl. Böske (2007), S. 7-62. 303 Eine Kombination von Wasserstoff-Herstellung via Elektrolyse und Methanisierung dieses
Wasserstoffs durch Reaktion mit Kohlendioxid führt zu synthetischem Erdgas (synthetischem Methan). Eine Nutzung dieses Verfahrens könnte darin bestehen, überschüssigen Strom aus erneuerbaren Energien gewissermaßen im Gasnetz zwischenzuspeichern, indem anschließend aus dem Gas wieder Strom erzeugt wird. Vgl. Fraunhofer Gesellschaft zur Förderung der angewandten Forschung e. V. (2010).
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 157
Abbildung 5.5: Ökonomische Knappheiten und Substitutionspotentiale von Erdgas
Quelle: Eigene Darstellung.
Zukünftige Reserven können sich aus bereits bekannten oder aber noch unbe-
kannten Ressourcen generieren. Reserven bezeichnen die Mengen eines Energie-
rohstoffs, die mit großer Genauigkeit erfasst wurden und mit den derzeitigen
technischen Möglichkeiten wirtschaftlich gewonnen werden können. Ressourcen
heißen die Mengen eines Energierohstoffs, die geologisch nachgewiesen sind,
aber derzeit nicht wirtschaftlich gewonnen werden können, und die Mengen, die
nicht nachgewiesen sind, aber aus geologischen Gründen in dem betreffenden
Gebiet erwartet werden können. Bei den Ressourcen von Erdöl und Erdgas
werden dabei analog zur Definition von Reserven nur die Teile berücksichtigt,
die unter aktuellen Rahmenbedingungen potentiell wirtschaftlich gewinnbar
sind.304 Die Ressourcenbasis vergrößert sich entsprechend nicht nur durch neue
Explorationserkenntnisse, sondern auch durch neue technologische Entwick-
lungen, die es ermöglichen, bestehende Lagerstätten zu einem höheren Anteil
auszubeuten oder Vorkommen zu erschließen, die zwar bereits bekannt waren,
aber bislang technisch bzw. wirtschaftlich als nicht förderbar galten. Letzteres
304 Vgl. Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoff [BGR] (2009), S. 83.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 158
traf bis vor wenigen Jahren noch auf unkonventionelles Erdgas zu, das mittler-
weile in großen Mengen in Nordamerika gefördert wird (vgl. 3.3.1).
5.3.2 Bioerdgas im Verhältnis alternativer Erdgas-Versorgungs-potentiale
Neue Funde und neue Technologien haben dazu geführt, dass sich die weltweiten
Reserven an Erdgas von 1980 bis 2008 trotz steigenden Verbrauchs mehr als
verdoppelt haben. Dieser Trend dürfte in den kommenden Jahren anhalten: Die
Internationale Energie Agentur (IEA) gibt die Reserven an Erdgas im Jahre 2008
mit 182 Billionen (1012) m3 an. Sie schätzt jedoch, dass unter Einbeziehung noch
nicht hinreichend erkundeter konventioneller wie vor allem unkonventioneller
Potentiale insgesamt – mit bestehender Technologie – tatsächlich noch
785 Billionen m3 wirtschaftlich erschließbar sind (Remaining Recoverable
Resources). Nicht berücksichtigt sind hier Gashydrate, beispielsweise in der
Arktis vorkommende eisähnliche Kristalle aus Wasser und Methan, deren
Erschließung wirtschaftlich noch nicht realisierbar ist, die jedoch noch einmal
1.000 bis 5.000 Billionen m3 an Gas enthalten könnten.305
Abbildung 5.6 zeigt die Entwicklung der Statischen Reichweite der für Deutsch-
land relevanten Produzentenländer306 (vgl. Abbildung 2.5) und der Welt insge-
samt. Die Statische Reichweite ist definiert als Quotient aus Reserven und
aktueller Jahresproduktion und gibt rechnerisch an, in wie vielen Jahren die als
konstant betrachteten Reserven bei gleichbleibender Förderung erschöpft wären.
Sie reflektiert damit die Dynamik aus Reservenzuführung und Produktions-
entwicklung. In Bezug auf die Welt lag dieser Wert im Jahre 2008 bei rund 60
Jahren. Verwendet man statt der Reserven die Abschätzung der IEA hinsichtlich
305 Vgl. International Energy Agency [IEA] (2009b), S. 390-416. 306 Außerdem ist aufgrund des in Teilen ähnlichen Verlaufs das Vereinigte Königreich als
Vergleich zur deutschen Produktion mit aufgenommen.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 159
der Remaining Recoverable Resources in Höhe von 785 Billionen m3 als
Divident, erhöht sich die weltweite Reichweite von 60 auf mehr als 250 Jahre.
Die Potentiale zur Erhöhung der Ressourcen und Reserven sind dabei ungleich
verteilt. So weist Europa (ohne die frühere Sowjetunion) rund 4 % der unkon-
ventionellen Gasmengen (ohne Gashydrate) auf, während die Staaten der
früheren Sowjetunion auf 17 % kommen, Nordamerika auf 25 % und die
asiatisch-pazifische Region auf 30 %.307 Alleine die europäischen 4 %,
35 Billionen m3, entsprechen, bezogen auf das Jahr 2008308, dem Verbrauch von
rund 70 Jahren der gesamten Europäischen Union. Nicht sämtliche Mengen
dieser Gase werden jedoch technisch zu wirtschaftlichen Konditionen zu fördern
sein. Abgesehen davon wird zu sehen bleiben, in wieweit die europäischen
Staaten bereit sind, die mit der Förderung unkonventionellen Erdgases einherge-
henden Flächen- und Umweltbeanspruchungen zu akzeptieren.309
307 Vgl. International Energy Agency [IEA] (2009b), S. 397. 308 Der Erdgasverbrauch der Europäischen Union lag im Jahre 2008 bei 489,9 Mrd. m3. Vgl. BP
p.l.c. (2010). 309 Testbohrungen in Niedersachsen werden aufgrund der dabei verwendeten Chemikalien in
Medien und Teilen der Politik bereits als „Riskante Gassuche“ diskutiert, vgl. Schultz (2010).
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 160
Abbildung 5.6: Statische Reichweiten an Erdgas im Zeitablauf
Quelle: Eigene Darstellung auf Basis BP p.l.c. (2010).
Weltweit darf Erdgas für die kommenden Jahrzehnte nach den vorstehenden
Ausführungen als ausreichend vorhanden betrachtet werden. Und auch in Europa
schlummern Erdgas-Potentiale, die die in Abbildung 5.6 dargestellte Tendenz
rückläufiger Erdgas-Verfügbarkeiten potentiell abmildern. Da Europa im
weltweiten Maßstab aber nur überschaubare Mengen an unkonventionellen
Vorkommen besitzt und derzeit völlig offen ist, in wieweit sich diese wirtschaft-
lich und politisch fördern lassen, ist erst einmal von einer weiter rückläufigen
Selbstversorgung Europas mit Erdgas auszugehen. Die entspricht im Umkehr-
schluss einer steigenden Abhängigkeit von anderen Regionen, beispielsweise den
enormen russischen Potentialen.
Die IEA prognostiziert im World Energy Outlook 2009 für die Europäische
Union eine anhaltend hohe Bedeutung des Energieträgers Erdgas, sowohl bei
Fortsetzung aktueller Politiken (Referenzszenario) wie auch bei verstärkten
Klimaschutz-Anstrengungen (450 Szenario). Das 450 Szenario ist so gestaltet,
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 161
dass global die atmosphärische Treibhausgaskonzentration auf 450 ppm CO2-eq
begrenzt und so mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Temperaturanstieg um mehr
als 2°C gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter verhindert wird.310 In beiden
Szenarien sind die Auswirkungen der Finanzkrise, welche im Jahr 2009 zu
globalen Rückgängen der Energienachfrage führte, berücksichtigt. Im Referenz-
szenario steigt der Erdgasverbrauch gegenüber 2007 bis zum Jahr 2030 um 20 %
an. Gleichzeitig erhöhen sich die Nettoimporte um 65 %. Im 450-Szenario
reduziert sich der Erdgasverbrauch im gleichen Zeitraum leicht um 3 %. Die
Importe nehmen hier um 37 % zu.311 In beiden Szenarien sinkt die heimische
Produktion. Abbildung 5.7 stellt die Entwicklung im Zeitablauf dar, wobei sich
der Erdgasverbrauch aus den beiden Bestandteilen heimische Produktion und
Nettopimport zusammensetzt.
Abbildung 5.7: EU-Gasverbrauch bis 2030 (IEA-Prognose)
Quelle: Eigene Darstellung auf Basis International Energy Agency [IEA] (2009b), S. 478. Auch die Linien für das 450-Szenario sind als Stapeldiagramm zu lesen.
310 Vgl. International Energy Agency [IEA] (2009b), S. 196 in Verbindung mit Barker et al.
(2007), S. 39. 311 Vgl. International Energy Agency [IEA] (2009b), S. 478.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 162
Die Europäische Union strebt einen gemeinsamen Erdgasbinnenmarkt an.
Wesentliche Impulse in diese Richtung gaben die europäische Erdgasbinnen-
marktrichtlinie von 1998 und die Beschleunigungsrichtlinie Gas von 2003 (vgl.
3.2.1). Einen weiteren Schritt formuliert das im Juli 2009 verabschiedete dritte
Energiebinnenmarktpaket, das u. a. auf eine Stärkung des diskriminierungsfreien
Netzzugangs zielt, der durch eine effektivere Trennung des Netzbetriebs von der
Energieversorgung erreicht werden soll, und von den Mitgliedsstaaten bis März
2011 in nationales Recht umzusetzen ist. Eines der Hauptziele der Gas betref-
fenden Richtlinie 2009/73/EG312 ist der „Aufbau eines wirklichen Erdgasbinnen-
marktes durch ein in der ganzen Gemeinschaft verbundenes Netz“
(Präambel Ziff. 57). Neben die wettbewerblichen Aspekte tritt aus EU-Perspek-
tive beim Erdgas zudem der krisengeeignete Ausbau der Infrastruktur. Gemäß
des Entwurfs der Kommission zu einer Versorgungssicherheits-Verordnung313
sollen die Mitgliedsstaaten verpflichtet werden, für eine Erdgas-Infrastruktur zu
sorgen, die bei Ausfall der größten Infrastruktur mit der verbleibenden Infra-
struktur (n-1) in der Lage ist, die Gasmenge bereit zu stellen, die im jeweils
betreffenden Gebiet bei extrem kalter Witterung, wie sie statistisch einmal in
zwanzig Jahren auftritt, für die Dauer von 60 Tagen benötigt wird (Art. 6 Ziff. 1).
Grenzkuppelstellen sollen so ausgebaut werden, dass sie in der Lage sind, Erdgas
in beide Richtungen zu transportieren (Art. 6 Ziff. 5). Notfallpläne sind zu
erstellen. In definierten Krisenstufen mit weitreichenden behördlichen Befug-
nissen soll dabei auch im Notfall so lange wie möglich auf Marktmechanismen
zurückgegriffen werden. So sollen die Mitgliedsstaaten verpflichtet werden, auch
in Ausnahmesituationen den grenzüberschreitenden Zugang zu Gasspeichern
aufrechtzuerhalten (Präambel 12, Ziff. 9 und Ziff. 10).
312 Richtlinie 2009/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über
gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/55/EG, Amtsblatt der Europäischen Union vom 14.08.2009 L 211/94-136, abgerufen am 10.09.2009 unter http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do? uri=OJ:L:2009:211:0094:0136:DE:PDF.
313 Kommission der Europäischen Gemeinschaften (2009).
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 163
In wieweit sämtliche dieser Maßnahmen angemessene Vorschläge darstellen,
führt über diese Arbeit hinaus. Grundsätzlich entfaltet eine weitere europäische
Integration des Erdgasmarktes mit adäquater Infrastruktur, die alternative Last-
flüsse der verschiedenen Lieferanten zulässt, aus deutscher Perspektive eine
diversifizierende Wirkung. Die Bedeutung der wichtigsten deutschen Lieferanten
relativiert sich durch den Zugang zu alternativen Pipeline- und LNG-Quellen.
Russland und Norwegen stellen zwar auch für die EU die wichtigsten Liefer-
länder dar, allerdings zu geringeren Anteilen als für Deutschland. Aus Perspek-
tive des europäischen Binnenmarktes gehen nur von Staaten außerhalb der EU
politische Unsicherheitsfaktoren für die Versorgungssicherheit aus. Abbildung
5.8 zeigt für die EU wie Deutschland den Anteil auf, den in 2008 einzelne Nicht-
EU-Lieferländer an den Nicht-EU-Lieferungen insgesamt einnehmen.314
Während etwa russisches Erdgas 57 % der Importe Deutschlands aus Nicht-EU-
Staaten ausmacht, sind es aus EU-Perspektive nur 37 %.
314 Für die Relation der Nicht-EU-Importe zur heimischen EU-Produktion bzw. heimischen
deutschen Produktion und deutschen Importen aus EU-Staaten vgl. Abbildung 2.5 und Abbildung 5.7.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 164
Abbildung 5.8: Struktur der Erdgas-Importe aus Nicht-EU-Staaten 2008
Quelle: Eigene Darstellung auf Basis Eurostat (2010) und Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle [BAFA] (2010a).
Ende 2009 verfügten 25 Staaten über Erdgasreserven von jeweils mehr als 1
Billion m3 (Abbildung 5.9).315 Von diesen Staaten gehören die Nummer 1 der
Gasmächte (Russland) sowie die Nummern 17 und 25 (Norwegen und Nieder-
lande) zu den klassischen deutschen Lieferanten, die in der Abbildung schwarz
hinterlegt sind. Unter den Top 10 der Gasstaaten befinden sich weitere drei, die
zwar nicht mit Deutschland, aber mit anderen Staaten der Europäischen Union
nennenswerte Lieferbeziehungen unterhalten (dunkelgrau dargestellt), darunter
Katar, das weltweit die drittgrößten Reserven verzeichnet. Neben den beste-
henden Lieferbeziehungen ist es möglich, zu Kosten, die unterhalb des deutschen
Grenzübergangspreises liegen, Lieferbeziehungen zu weiteren Ländern aufzu-
bauen (hellgrau dargestellt), darunter zu den zweit- und viertgrößten Gasreser-
venhaltern Iran und Turkmenistan.
315 Die deutschen Reserven betrugen Ende 2009 nach gleicher Quelle 0,08 Billionen m3.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 165
Abbildung 5.9: Staaten mit mehr als 1 Billion m3 Erdgasreserven (Stand Ende 2009)
Quelle: Eigene Darstellung auf Basis BP p.l.c. (2010). Einen Überblick über die wesentlichen Drittlieferanten der Europäischen Union gibt Eurostat (2010).
Die Einordnung dieser hellgrau dargestellten Länder erfolgt auf Basis der
Einschätzung der IEA zu Erschließungskosten inkl. Transport weiterer Liefer-
quellen für Europa bei Lieferung an der deutschen Grenze.316 Abbildung 5.10
stellt die Kosten dieser neuen Erdgasbezüge dar, ergänzt um die Kosten für
Bioerdgas und verglichen mit dem durchschnittlichen deutschen Grenzüber-
gangspreis der vergangenen 5 Jahre (vgl. auch Abbildung 3.8). Nicht berück-
sichtigt bei den Kostenprognosen der IEA sind Steuern, Förderabgaben oder
Zölle. Auch Preiserwartungen der Förderländer oberhalb der Grenzkostenpreise
aufgrund der besonderen Knappheitsrente endlicher Energieträger oder beste-
hender Marktmacht sind nicht enthalten. Die Differenz zum gegenwärtigen
Grenzübergangspreis lässt für derartige Preiselemente allerdings Spielraum.
Selbst eine deutliche Anhebung des Grenzübergangspreises änderte nichts an der
316 Es ist nicht ausgeschlossen, dass weitere Staaten zu ähnlichen Kosten Gas liefern könnten,
insbesondere unter Berücksichtigung von LNG.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 166
Situation, dass Bioerdgas in Konkurrenz zu diesen Potentialen keine wirtschaft-
liche Option darstellt. Absehbar ist auch nicht mit einer Wettbewerbsfähigkeit
von Bioerdgas zu rechnen (vgl. 3.3.2).
Abbildung 5.10: Kosten neue Erdgasbezüge für Europa
Quelle: Eigene Darstellung. Dargestellt sind Kosten-Abschätzungen der IEA für neue Erdgas-Importe nach Europa für das Jahr 2020 (in 2008er Preisen), umgerechnet in €-Ct/kWh (1,47 $/€, Mittelwert 2008) auf Basis Bezugsort deutsche Grenze, sowie die in Tabelle 2.3 angeführten Kosten für Bioerdgas auf hautsächlich Gülle- bzw. NaWaRo-Basis. Nicht berücksichtigt in den IEA-Daten sind Steuern, Förderabgaben und Zölle. Die Werte für LNG-Lieferungen beziehen sich auf die Lieferorte Vereinigtes Königreich (Norwegen, Russland) bzw. europäische Mittel-meerländer (Katar); hier ist unterstellt, dass Lieferungen zu ähnlichen Kosten an ein deutsches LNG-Terminal möglich wären. Vgl. International Energy Agency [IEA] (2009b), S. 480-485. Für die Importpreise vgl. Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle [BAFA] (2010b).
Bei der Erschließung neuer Quellen aus Russland, der kaspischen Region und
dem Nahen Osten könnte Deutschland die Rolle einer Drehscheibe für Pipeline-
lieferungen innerhalb Europas zukommen. Deutschland weist nicht nur eine
günstige geografische Lage auf, es existieren auch bereits zahlreiche Pipeline-
Anbindungen, insbesondere Richtung Russland, die vielfach günstiger ausgebaut
werden könnten anstatt komplett neue Trassen zu verlegen. Damit einher gingen
Chancen, Wertschöpfungsstufen des Erdgashandels und der Dienstleistungen
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 167
rund um diese Energiequelle in Deutschland auszubauen. Mit dem Bau eines
deutschen LNG-Anlandeterminals ließe sich eine solche Position noch weiter
festigen. Zwar wurde bereits 1972 eine Projektgesellschaft zur Planung und
Schaffung eines LNG-Anlandeterminals in Wilhelmshaven gegründet. Die Pläne
der Deutsche Flüssigerdgas Terminal Gesellschaft mbH, an der aktuell E.ON
Ruhrgas 90 % und VNG 10 % halten, sehen eine Jahreskapazität von 10 Mrd. m3
Erdgas vor. Dies entspricht genau der Zielmarke, die die GasNZV für Bioerdgas
im Jahr 2030 definiert (vgl. 2.2). Grundsätzlich ist LNG auch wettbewerbsfähig,
wie die Terminals in Belgien, Spanien und dem Vereinigten Königreich zeigen317
(vgl. zu LNG-Preisen im Vergleich zu Pipelinegas und Bioerdgas Abbildung 3.8
und Abbildung 5.10). Nicht zuletzt aufgrund der guten Pipeline-Anbindung
wartet das Wilhelmshavener LNG-Terminal, dessen Investment auf rund
1 Mrd. € geschätzt wird, aber immer noch auf eine Realisierung.318 Selbst wenn –
aus Gründen der Versorgungssicherheit – der deutsche Staat dieses Terminal auf
eigene Kosten bauen würde und durch Vermarktung der Kapazitäten nicht
einmal anteilig wieder einspielen könnte, bedeutete dies (zur Realisierung eines
zusätzlichen Gas-Potentials von 10 Mrd. m3/a) im Vergleich mit Bioerdgas eine
einmalige Ausgabe von 1 Mrd. € gegenüber einer jährlichen Subventionierung
von bis zu 4,5 Mrd. € (vgl. Abbildung 3.10).
Voraussetzung für eine Erdgas-Drehscheibenfunktion Deutschlands – mit oder
ohne LNG – dürfte sein, dass Erdgas in Deutschland weiterhin eine politisch
gewünschte Energieform darstellt und politisch die entsprechenden Rahmenbe-
dingungen für eine Diversifizierung mit der für langfristige Investitionen
notwendigen Planungssicherheit geschaffen werden. Zumindest zwischenzeitlich,
bevor in Folge des Reaktorunglücks im japanischen Fukushima die schwarz-
gelbe Bundesregierung aus ihrem eigenen Ausstieg aus dem Ausstieg der Kern- 317 Für eine Übersicht über die bestehenden und geplanten europäischen LNG-Anlagen und den
LNG-Preisentwicklungen vgl. Bundesregierung (2009b). 318 Vgl. Deutsche Flüssigerdgas Terminal Gesellschaft mbH (2007) und Energie
Informationsdienst [eid] (2008).
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 168
energie wieder ausstieg, wurde Erdgas nach dem im September 2010 vorge-
stellten Energiekonzept der Bundesregierung eher als Auslaufmodell für eine
Energieversorgung Deutschlands betrachtet. Dem Energiekonzept liegt eine
Studie zugrunde, die die Institute EWI, GWS und Prognos im Auftrag der
Bundesregierung erstellt haben und welche verschiedene Energieszenarien in
Abhängigkeit von der damals noch unterstellten Laufzeitverlängerung der Kern-
kraftwerke und der dafür anfallenden Nachrüstkosten der Reaktoren ausweist.
Das Referenzszenario prognostiziert die weitere Entwicklung bei Fortschreibung
der bislang angelegten Politiken in die Zukunft. Die alternativen Szenarien
berücksichtigen, neben unterschiedlichen Laufzeitverlängerungen der Kern-
kraftwerke, als politische Vorgaben jeweils eine Reduktion der Treibhausgas-
emissionen um 40 % gegenüber 1990 bis 2020 und um 85 % bis 2050, wobei der
Anteil erneuerbarer Energien am Primärenergieverbrauch im Jahr 2050
mindestens 50 % zu betragen hat (zum Fortbestand der Klimaziele auch nach
dem erneuten Kernenergie-Ausstieg vgl. 5.2.4). Im Referenzszenario reduziert
sich der Erdgasverbrauch gegenüber dem Basisjahr 2008 bis 2050 um 38 %. In
den übrigen Szenarien fällt diese Reduktion deutlich stärker aus. Im Falle einer
Laufzeitverlängerung von 12 Jahren (Szenario II A), dies entspricht dem am 28.
Oktober 2010 im Bundestag beschlossenen Gesetzentwurf,319 beträgt sie 65 %,
wobei in der Stromerzeugung des Jahres 2050 überhaupt kein Erdgas mehr
eingesetzt wird.320
319 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung [FAZ] (2010a). 320 Vgl. Prognos AG et al. (2010). Die Angaben zur Entwicklung des Erdgasverbrauchs sind
Anhang A 1-5 und Anhang A 1-12 entnommen. Der Ausschluss von Erdgas zur Stromerzeugung im Jahre 2050 geht auf die angenommene Preisentwicklung von Steinkohle und Erdgas zurück. Bei den in der Studie unterstellten Entwicklungen, die einen Preisrückgang von Steinkohle im Zeitraum 2008 bis 2050 (in 2008er Preisen) um 19 % und einen Preisanstieg von Erdgas im gleichen Zeitraum um 26 % vorsehen, ist Steinkohle als neben der heimischen Braunkohle zur Stromerzeugung verbleibende fossile Energie die wirtschaftlichere Alternative gegenüber Erdgas. Mit anderen preislichen Annahmen wären andere Aussagen zum Gaseinsatz möglich, wie die Studie explizit betont (S. 41). Nicht explizit ausgeführt wird, zu welchem Grad die angeführten relevanten Preisannahmen für Steinkohle und Erdgas Gegenstand des „fortlaufenden Diskussionsprozesses zwischen Auftraggeber (BMWi/BMU) und den Gutachtern“ (S. 1) waren.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 169
Diese Prognosen stehen in einem deutlichen Kontrast zur Abschätzung der IEA
für die Europäische Union, wie sie in Abbildung 5.7 dargestellt ist. Abbildung
5.11 stellt beide Entwicklungen in relativer Entwicklung gegenüber – für die
Referenzszenarien wie für die Klimaschutzszenarien. Deutlich wird die
vollkommen unterschiedliche Einschätzung zur zukünftigen Bedeutung des
Energieträgers Erdgas. Sollte die deutsche Politik auch nach Fukushima
weiterhin eine Marginalisierung des Erdgases in der Energieversorgung sehen,
relativiert sich gleichzeitig die Dringlichkeit der Versorgungssicherheit und der
Diversifizierung von Lieferländern. Dem entgegen steht allerdings erstens eine
durch den erneuten Kernenergieausstieg gestiegene Bedeutung fossiler Energie-
träger und zweitens, dass die Bundesregierung bereits in ihrer Energiestrategie
2010 ausdrücklich die Unterstützung für Infrastrukturprojekte im Erdgasbereich
zusichert. Dies betrifft sowohl die Realisierung der Pipelines Nordstream und
Nabucco wie auch LNG.321
321 Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie [BMWi]/Bundesministerium für
Umwelt (2010), S. 31.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 170
Abbildung 5.11: Prognose Erdgasverbrauch bis 2030/2050
Quelle: Eigene Darstellung auf Basis International Energy Agency [IEA] (2009b), S. 478, und Prognos AG et al. (2010), A 1-5.
Insgesamt weisen Deutschland und die Europäische Union zwar nur begrenzte
eigene Erdgas-Reserven auf. Dafür liegen sie aber sehr günstig mit (potentiellem)
Zugriff auf die zwei reservenreichsten Regionen der Welt, Russland und dem
Nahen Osten. In mittelfristiger Perspektive besteht also kein Mangel an grund-
sätzlich verfügbaren Erdgasmengen zu wirtschaftlichen Konditionen, so dass hier
kein Ansatzpunkt für staatliche Subventionierungen von Bioerdgas besteht –
ganz abgesehen davon, dass wesentliche Bedürfnisbefriedigungen langfristig
auch von alternativen Energieträgern übernommen werden könnten. In einer
optimistischen Sichtweise lässt sich dieser letzte Punkt mit Julian Simon
ausführen:
„In the short run, all resources are limited. [...] The longer run, however, is a different story. The standard of living has risen along with the size of the world’s population since the beginning of recorded time. There is no convincing economic reason why these trends towards a better life should not continue indefinitely. [...] A higher price [reflecting actual and expecting shortages] represents an opportunity that attracts profit-minded entrepreneurs and socially minded inventors to seek new ways to satisfy the shortages. [...] The main fuel to speed our progress is our stock of knowledge, and the
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 171
brake is our lack of imagination. The ultimate resource is people – skilled, spirited, and hopeful people[.]”322
Die konkrete Versorgung mit Erdgas könnte in kurz- bis mittelfristiger Perspek-
tive allerdings problematischer als dargestellt einzuordnen sein, wenn potentielle
Lieferländer keine verlässlichen Handelspartner darstellten oder aus überge-
ordneten politischen Rahmenbedingungen nicht in Betracht kämen.
5.3.3 Verlässlichkeit und Akzeptanz von Lieferländern Ressourcenimporteure und Ressourcenexporteure fossiler Energien stehen in
enger Verbindung miteinander. Importeure sind auf Energielieferungen ange-
wiesen, die je nach Diversifizierungsgrad auf bestimmte Länder fokussiert sein
können, Exporteure spiegelbildlich auf die Einnahmen aus diesen Lieferungen,
insbesondere wenn ihre Wirtschaft und Staatseinnahmen in wesentlichen Teilen
auf Energieexporten basieren.323 Exporteure und Importeure einander gegenüber-
gestellt ergeben ein äußerst kontrastreiches Bild im Hinblick auf gesellschaftliche
und staatliche Entwicklung: Zahlreiche Ressourcenexporteure, insbesondere im
Nahen Osten und Afrika, zählen zu den weltweit autokratischsten Regimen und
weisen eine hohe Ungleichheit in der Verteilung des Vermögens auf. Das damit
einhergehende Konfliktpotential trägt dazu bei, dass zahlreiche Ressourcenländer
als fragile Staaten eingestuft werden. Abbildung 5.12 stellt den vom Center for
Systematic Peace und Center for Global Policy veröffentlichten State-Fragility-
Index für Staaten dar, die für die europäische Gasversorgung relevant sind bzw.
werden könnten. Neben aktuellen und potentiellen Lieferländern sind auch
Transitstaaten wie Ukraine und Weißrussland aufgeführt. Für potentielle neue
Lieferwege spielt die Türkei eine wesentliche Rolle (vgl. Abbildung 5.10). Der
322 Simon (1998), S. 588 f. 323 Die Energieexporte Katars beispielsweise machen 90 Prozent ihrer Gesamtexporte aus und
entsprechen 36 Prozent des BIP. Vgl. Fischer Taschenbuch Verlag (2010), S. 278 und 395. Auch im Falle der Russischen Föderation, des wichtigsten europäischen Erdgaslieferanten, nehmen diese Kennzahlen hohe Werte an mit 61 % (Gesamtexporte) und 15 % (BIP). Russland ist mit seiner industrialisierten Wirtschaft gleichwohl nicht als typischer, auf Ressourcen basierender Staat anzusehen. Vgl. Handke/Jong (2007), S. 12.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 172
Index berücksichtigt die beiden Dimensionen Effektivität (Security Effective-
ness, Political Effectiveness, Economic and Social Effectiveness) und Legitimität
(Security Legitimacy, Political Legitimacy, Economic and Social Legitimacy). Er
bewegt sich zwischen 0 (keine Fragilität) und 25 (extreme Fragilität). Insgesamt
werden sechs Stufen unterschieden, deren Grenzen in der Abbildung wiederge-
geben sind.324
Abbildung 5.12: State Fragility-Index wichtiger Gaslieferanten und Transitländer
Quelle: Eigene Darstellung auf Basis Integrated Network für Societal Conflict Research [INSCR] (2009).
Im Vergleich mit den westlichen Erdgas-Konsumentenländern weisen die für die
Erdgasversorgung Europas relevanten Drittstaaten eine erhöhte Fragilität auf. Die
Mehrheit der potentiell neuen Lieferanten wie Iran, Turkmenistan oder Saudi
Arabien kommt dabei sogar auf besonders hohe Index-Werte. Katar stellt hier
eine erfreuliche Ausnahme dar. Allerdings geht diese Stabilität mit einer monar-
chischen Staatsverfassung einher: Katar und Saudi Arabien sind weltweit die
324 Vgl. Marshall/Cole (2009) und Marshall/Goldstone (2007).
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 173
einzigen Staaten mit mehr als 500.000 Einwohnern, die in der State-Fragility-
Studie als vollständig institutionalisierte Autokratien eingestuft werden. Während
die Fragilität von Lieferstaaten eine Frage der Versorgungssicherheit ist, könnten
deren Staatsformen und innerstaatliche Organisation gesellschaftliche Vorbehalte
in Konsumentenländern schüren (vgl. 4.1).325 In Bezug auf die Versorgungs-
sicherheit ist bei fragilen Staaten jedoch gerade mangels alternativer leistungs-
fähiger wirtschaftlicher Strukturen davon auszugehen, dass selbst politische
Umbrüche allenfalls kurzfristig zu Unterbrechungen von Energielieferungen
führen werden. Egal aus welchen Gruppen sich die neuen Machthaber rekru-
tieren: Sie werden auf die Einnahmen aus Erdöl und Erdgas angewiesen sein.
Besondere Herausforderungen für eine Energie-Sicherheits- und Energie-Außen-
politik stellen die Prävention politisch motivierter Energieblockaden analog der
ersten Ölkrise 1973 und die Sicherung von Transportwegen dar, die nicht zuletzt
Angriffsziele für Terroristen darstellen könnten. Die Sicherung von Versor-
gungswegen sieht auch die NATO als so bedeutend an, dass sie diese in ihr neues
strategisches Konzept integrieren wird.326
Selbst wenn die deutsche Gesellschaft zu dem Schluss käme, die bereits jahr-
zehntelang, insbesondere im Erdöl,327 praktizierte Verbundenheit mit instabilen
325 Eingängliche (journalistische) Schilderungen über Schicksale einzelner Menschen und
ganzer Gesellschaftsschichten in Staaten mit reichhaltigen Energieressourcen, insbesondere Öl, finden sich beispielsweise in Maas (2009). Auf mehr Transparenz in Ressourcenländern und bei den von ihnen generierten Einnahmen zielen Ansätze, die wie die Extractive Industries Transparency Initiative (EITI) eine nachhaltige und breite gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung eintreten. Vgl. http://eiti.org. Selbst für Unternehmen, welche sich gesellschaftlicht engagieren möchten, verweist Michael E. Porter auf ein zwangsläufig verbleibendes Spannungsfeld hin zu moralischen Forderungen, die von verschiedenen Seiten zudem unterschiedlich ausfallen können: „It is the nature of moral obligations to be absolute mandates, [...] while most corporate social choices involve balancing competing values, interests and costs.“ (Porter (2008c), S. 484).
326 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung [FAZ] (2010b). 327 Die in Abbildung 5.12 mit hohem State-Fragility-Index-Wert aufgeführten Staaten Algerien
und Nigeria zählen zu den deutschen Rohöllieferanten. Vgl. Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen [AGEB] (2010), S. 11.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 174
Staaten oder aus westlicher Sicht weniger legitimierten Regierungen sei nicht
länger wünschenswert, führte dies nicht automatisch zur Subventionierung von
Bioerdgas als rationales erstes Mittel einer neuen Politik. Erst einmal müsste
politisch vielmehr definiert werden, welche Energieträger aus welchen Staaten
(ggf. in welchen Anteilen) akzeptabel wären und welche annehmbaren Alterna-
tiven bestünden – beispielsweise in Form einer weiteren Verringerung der
Energieintensität insgesamt oder Öl- bzw. Erdgasintensität, etwa durch weitrei-
chende Verlagerungen des Individualverkehrs auf die Schiene. Diese neuen
Restriktionen bildeten dann den langfristigen Rahmen, an dem sich Unternehmen
mit ihren Investitionen orientieren könnten. Dass dadurch in den betreffenden
Ressourcenländern eine Verbesserung im Hinblick auf Menschenrechte und
politischer Mitbestimmung einträte, wenn die Ressourcen dann alternativ
beispielsweise von China abgenommen würden, darf jedoch bezweifelt werden.
Ohne schlüssige Konzepte zur Gestaltung einer wirksamen alternativen Politik
offenbaren sich solche Politikentwürfe also schnell als Utopien, die eher zur
Verdrängung unangenehmer Realitäten führen und damit die Chance
verschließen, im Rahmen wirtschaftlicher Beziehungen zumindest einen
gewissen Einfluss auf die zivilgesellschaftliche Entwicklung bestimmter Staaten
zu nehmen.
Gegenwärtig ist Russland Deutschlands wichtigster Erdgaslieferant. Die Erdgas-
Liaison beider Staaten hatte ihren Ursprung unter den heiklen politischen
Rahmenbedingungen des Kalten Krieges. Trotz unterschiedlicher Blockzugehö-
rigkeit banden sie sich durch langfristige Lieferbeziehungen und den Aufbau
einer entsprechenden Infrastruktur aneinander. Das sogenannte Erdgas-Röhren-
Abkommen von 1970, in dem sich die damalige Sowjetunion zur Lieferung von
Erdgas an die Ruhrgas AG und zum Kauf von Großröhren von der Mannesmann
Export AG verpflichtete, stellte das bis dahin größte Ost-West-Geschäft dar.
Schon damals gab es Bedenken, das ab 1973 strömende russische Erdgas werde
zu sowjetischer Abhängigkeit führen – wie umgekehrt sowjetische Funktionäre
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 175
fürchteten, die russische Wirtschaft mache sich durch die Lieferbeziehung von
dem deutschen Großabnehmer abhängig. Der Aufbau von Gasspeichern und die
weitere Diversifizierung von Lieferländern sollten diesen Bedenken entgegen
wirken. Während des gesamten Kalten Krieges und auch in den anschließenden
schwierigen Transformationsphasen haben sich die Sowjetunion bzw. in der
Nachfolge Russland als äußerst verlässliche Partner erwiesen:328
„The 1990s brought Russia the economic and geopolitical loss of the former Soviet republics, the collapse of the country’s economy after hasty reforms, state bankruptcy due to manipulations by the new oligarchic business elite, and the extension of NATO to its very borders. During all these years, Russian energy companies continued to fulfil all contracts with their European partners and to ship the agreed oil and gas supplies to Western Europe, without any delay or extra demands.“329
Dieses Bild zuverlässiger russischer Lieferungen wurde mit den Gaskrisen der
Jahre 2006 und insbesondere 2009, in denen russisch-ukrainische Dispute zu
Lieferunterbrechungen führten, in Frage gestellt. Die Gaskrisen von 2006 und
2009 spielen sich ab in der Dreiecksbeziehung zwischen Russland als weltweit
größtem Gasproduzenten, der Ukraine als größtem Einzelabnehmer russischen
Gases und gleichzeitig entscheidendem Transitland für russisches Erdgas in
Richtung der übrigen europäischen Staaten (rund 80 % fließen über die Ukraine)
und den übrigen europäischen Staaten (Europa), die zusammen die wichtigsten
Kunden für russisches Erdgas darstellen und für die ihrerseits Russland
wichtigster Erdgas-Lieferant ist.330 Der eigentliche Konflikt betraf die russisch-
ukrainischen Vertragsbeziehungen um Lieferregime (Einbeziehung oder Nicht-
Einbeziehung von Zwischenhändlern und Umgang mit zentralasiatischen Liefe-
328 Vgl. Ruhrgas AG (2004), S. 33-36, Schöllgen (2007) und Ruge (2008), S. 155. 329 Handke/Jong (2007), S. v. 330 Die Gaskrisen zeichnen sich durch ein Neben- und Miteinander staatlicher und
unternehmerischer Akteure aus, wobei die wesentlichen russischen und ukrainischen Unternehmen, Gazprom und Naftogaz, staatlich dominierte bzw. staatliche Unternehmen darstellen. Die Bezeichnungen Russland, Ukraine und Europa stellen an dieser Stelle sowohl auf die staatlichen wie auf die unternehmerischen Akteure ab. Der damalige russische Präsident Putin hat die Rolle des russischen Staates in der Gaswirtschaft einmal wie folgt klargestellt: „We intend to retain state control over the gas transport system and over Gazprom. We will not split Gazprom up. And the European Commission should not have any illusions. In the gas sector, they will have to deal with the state.“ Zitiert nach Giddens (2009), S. 45.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 176
rungen via Russland an die Ukraine), Gaspreise, Transitgebühren und Beglei-
chung ukrainischer Erdgas-Verbindlichkeiten.331 Die Auseinandersetzungen im
Januar 2006 führten zu einer dreitägigen Reduktion der russischen Mengen
Richtung Ukraine: Russland stellte die Lieferungen für die Ukraine ein, hielt die
Transitlieferungen über die Ukraine jedoch aufrecht, die von der Ukraine
wiederum nicht vollumfänglich an die europäischen Kunden weitergegeben
wurden, so dass es in Europa zu Lieferkürzungen, aber nicht Lieferunterbre-
chungen kam. Eine neue Qualität erreichten die Dispute im Januar 2009, als die
konfligierenden Parteien in Kauf nahmen, dass die russischen Lieferungen über
die Ukraine in Richtung Europa für 13 Tage mitten in der kältesten Jahreszeit
komplett zum Erliegen kamen. Während die westeuropäischen Abnehmerländer
aufgrund ihrer diversifizierten Lieferbeziehungen und vergleichsweise komfor-
tablen Speicherausstattung den Ausfall der ukrainischen Transportroute gut
kompensieren konnten, kam es in Südosteuropa, insbesondere auf dem Balkan,
zu echten Versorgungskrisen, in denen Wohnungen nicht mehr geheizt werden
konnten. Eine Reihe von südosteuropäischen Ländern wie Serbien und Bulgarien
ist weitgehend von russischen Lieferungen abhängig und verfügt zudem nur über
geringe Speicherkapazitäten.332
331 Das ukrainische Transitnetz war ehemals Bestandteil des sowjetischen Erdgas-Binnennetzes.
Nach Auflösung der Sowjetunion standen Russland und die Ukraine vor der Aufgabe, den Transit von Erdgas nach Europa wie auch die Lieferung russischen Erdgases an die Ukraine neu zu regeln. In den 1990er Jahren vermischten sich diese Fragen zudem mit Abkommen über die Stationierung der russischen Schwarzmeerflotte auf der Krim und weiteren militärischen Dienstleistungen, so dass die geschlossenen Paket-Vereinbarungen intransparent ausfielen und selten länger Bestand hatten. Ab 2004 zielte Gazprom zunehmend darauf, die Preise im Raum der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) auf europäisches Niveau zu heben und eine Entkopplung von Transitgebühren und Gaslieferungen herbeizuführen. Politische Vermischungen finden jedoch bis in die Gegenwart immer wieder statt. So unterzeichneten die Staatspräsidenten Wiktor Janukowytsch und Dmitri Medwedew am 21.04.2010 ein neues Gasabkommen, das für die Ukraine einen Rabatt russischen Importgases vorsieht. Als Gegenleistung verlängerte die Ukraine den Vertrag mit Russland über die Pacht der Marinebasis Sewastopol (Krim) für die russische Schwarzmeerflotte. Vgl. Westphal (2009), S. 7-13 und Fischer Weltalmanach (2010), S. 491.
332 Vgl. Pirani et al. (2009).
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 177
Die Januarkrisen stellen zwar keinen Einsatz einer russischen „Gaswaffe“ gegen
Europa dar. Und sie ändern auch nichts an der wechselseitigen russisch-europäi-
schen Abhängigkeit als Kennzeichen der bestehenden (grundsätzlich weiter
verlässlichen) Lieferpartnerschaft. Allerdings werden die einmal gemachten
Erfahrungen die europäischen Bestrebungen zu mehr Versorgungssicherheit in
kurz- wie längerfristiger Perspektive stärken. Gerade im Hinblick auf die Versor-
gungslage Südosteuropas ist es auch dringend geboten, Konsequenzen aus den
Erfahrungen des Winters 2009 zu ziehen. Hier wurde deutlich, wie verwundbar
Volkswirtschaften sind, wenn sie elementare Energiebedürfnisse nicht durch
diversifizierte Quellen und Speicher zur Überbrückung kritischer Situationen
absichern. In solchen Fällen besteht ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis von
dem einen Lieferanten, der ein entsprechend großes Machtpotential besitzt.
Selbst wenn für Europa als ganzes zuträfe, was Marshall I. Goldman 2008, also
vor der zweiten Januarkrise, wie folgt formuliert:
„Den Europäern ist klar, wie sehr sie sich von Russland abhängig machen, wenn sie jedes Jahr mehr auf russische Erdgasimporte zurückgreifen. Gazprom und somit auch die russische Regierung erfreuen sich schon jetzt einer Macht über ihre europäischen Nachbarn, die weit über die Träume der einstigen Zaren der Romanow-Dynastie oder der Generalsekretäre der Kommunistischen Partei hinausgeht.“333,
bedeutete dies nicht, dass Bioerdgas die sinnvollste und insbesondere wirtschaft-
lichste Alternative darstellte, eine solche Situation zu entschärfen (vgl.
Abbildung 5.10). Das Zitat drückt jedoch eine sehr einseitige Sichtweise aus. Ein
ganzheitliches Bild müsste die wechselseitige europäisch-russische Abhängigkeit
und die (mittelfristigen) europäischen Reaktionsmöglichkeiten auf den tatsäch-
lichen Einsatz einer Gaswaffe aufzeigen, die einer solchen Machtausübung
entscheidende Grenzen setzt.334 Die Frage, in wieweit der derzeitige russische
333 Goldman (2009) 334 Spieltheoretisch handelt es sich bei langfristigen Gaslieferbeziehungen um wiederholte
Spiele und nicht um ein One-Shot-Game. Zudem ist anzunehmen, dass eine europäische Reaktion auf den tatsächlichen Einsatz einer „Gaswaffe“ nicht nach rein kommerziellen, sondern nach politischen Spielregeln verliefe. Über die Dynamik, die eine solche Situation
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 178
Gasbezug aus deutscher oder europäischer Perspektive (bzw. umgekehrt die
europäische Abnahme aus russischer Perspektive) unter Abhängigkeitsgesichts-
punkten eine kritische Grenze erreicht hat, ist nicht Gegenstand dieser Arbeit.
Wie zweifellos ein Risiko zu großer Abhängigkeit (bestimmter europäischer
Staaten) vom russischen Erdgas gegeben ist, besteht umgekehrt ein Risiko, dass
die Reaktionen auf die Januar-Krisen hin zu mehr Diversifizierung in ein gegen-
läufiges Extrem verfallen und russisches Erdgas wie der Energieträger Erdgas
insgesamt dadurch zukünftig ihr ökonomisches und ökologisches Potential nicht
entfalten können (vgl. 5.3.2 zur Rolle des Erdgases in der Energiestrategie der
deutschen Bundesregierung):
„Over the next 10-20 years, European companies and governments will have options in relation to decisions from where their additional gas supplies should be sourced; and options to reorient energy balances away from gas towards other sources of energy, particularly for power generation. It is certainly possible that choices will include non-gas alternatives, and non-Russian gas supplies reaching Europe via non-Russian routes.“335
Für Russland als Produzent und die europäischen Staaten als Abnehmer bleibt
die Ukraine in den kommenden Jahren und Jahrzehnten ein strategischer Akteur,
den es bei der Schaffung stabiler politischer und energiewirtschaftlicher
Rahmenbedingungen einzubeziehen gilt. Die Fertigstellung der Nord-Stream-
Pipeline als direkte Verbindung Russlands und Deutschlands durch die Ostsee
wird die Bedeutung der Ukraine als Transitstaat zwar relativieren, aber nicht
grundsätzlich in Frage stellen.
Um die russisch-europäischen Gasbeziehungen langfristig auf einer soliden Basis
zu halten bzw. auf eine neue zu stellen, bedarf es Planungssicherheit (analog gilt
freisetzte, kann zwar nur spekuliert werden, außergewöhnliche rechtliche Maßnahmen (beispielsweise Eilgenehmigungen für neue Pipelines, LNG-Anlandeterminals, Speicher, Substitutionsenergien von Atom über Kohle bis zu Erneuerbaren) wie wirtschaftliche Mittel (staatliche Förderung oder Ausführung solcher Vorhaben) der europäischen Staaten könnten dazu zählen und nachhaltig für veränderte Rahmenbedingungen sorgen.
335 Pirani et al. (2009), S. 64.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 179
dies für die aktuellen oder potentiellen Beziehungen zu anderen Lieferländern).
Es sind enorme Investitionen in die russische Erdgas-Infrastruktur notwendig,
insbesondere in die Erschließungen neuer Felder und in Pipeline-Infrastruktur.
Die IEA veranschlagt in ihrem Referenz-Szenario für Russland hierfür Investi-
tionen von 592 Mrd. $ im Zeitraum 2008 bis 2030.336 Eine Erschließung dieser
Ressourcen für den europäischen Markt wird jedoch nur soweit erfolgen, wie
dieses Erdgas – planbar – in Europa auch gewünscht ist und ihm politisch der
Weg bereitet wird. Wie Deutschland und Europa eine Diversifizierung ihrer
Erdgas-Importe anstreben, ist Russland spiegelbildlich um eine Export-Diversifi-
zierung bemüht, die bis 2030 insbesondere den Asiatisch-Pazifischen Raum
erschließen soll. Gemäß Energiestrategie der russischen Regierung soll der
Erdgas-Exportanteil dieser Region dann rund 20 % betragen.337
Falls die deutsche Bundesregierung nach dem erneuten Kernenergieausstieg
nicht eine verlässliche Wertschätzung des Energieträgers Erdgas glabhauft
macht, sollte es nicht verwundern, wenn dies zu Rückwirkungen auf langfristige
nationale wie internationale Infrastrukturprojekte führt. Die Infragestellung der
Versorgungssicherheit mit fossilem Erdgas – gerade falls angestrebte Beiträge
von Bioerdgas aufgrund neuer Bewertung der Kosten oder Konfliktpotentiale mit
Nahrungsmitteln nicht realisiert werden sollten – könnte dann zur Self-Fulfilling-
Prophecy werden, obwohl adäquate Rahmenbedingungen eine sichere Versor-
gung gewährleisten könnten. Ein russischer Beitrag zu solch adäquaten Rahmen-
bedingungen könnte in der Rückkehr zum Energy Charter Treaty liegen.338
336 Vgl. International Energy Agency [IEA] (2009b), S. 447. 337 Vgl. Ministry of Energy of the Russian Federation (2010), S. 21-23. 338 Der Energy Charter Treaty (Energiecharta-Vertrag) wurde nach Ende des Kalten Kriege im
Europa der 1990er Jahre entwickelt und soll internationalen Energiebeziehungen verlässliche rechtliche Rahmenbedingungen für Handel, Transit und Investitionen bieten. Die Russische Föderation, die den Vertrag zwar 1994 unterzeichnet hatte, dessen endgültige Ratifizierung jedoch noch ausstand, erklärte im August 2009, nicht länger Vertragspartei werden zu wollen. Vgl. Energy Charter Secretariat (2010).
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 180
Losgelöst von mittel- bis langfristigen Erwägungen verdeutlichen die Gaskrisen
von 2006 und 2009 die Relevanz kurzfristiger Reaktionsmöglichkeiten auf
Versorgungsengpässe.
5.3.4 Beitrag von Bioerdgas bei kurzfristigen Lieferausfällen Der Bedarf an Erdgas unterliegt Schwankungen aufgrund vielfältiger Einflüsse:
Industrielle Leistungsspitzen können (werk)täglich beim morgendlichen
Anfahren von Anlagen auftreten. Die Nachfrage von Gaskraftwerken richtet sich
nicht nur nach dem Strombedarf, sondern auch nach den Verfügbarkeiten alter-
nativer Energieträger zur Stromerzeugung, nicht zuletzt von Witterung abhän-
giger erneuerbarer Energien. Wesentlichste Einflussgröße ist aufgrund der
Bedeutung des Wärmemarktes jedoch die Temperatur, so dass der Erdgasver-
brauch im Winter deutlich höher ausfällt als im Sommer. Einen gewissen Puffer
für untertägige Schwankungen stellen die Erdgasnetze dar, in denen Gas mit
unterschiedlich hoher Kompression enthalten sein kann. Für den saisonalen
Ausgleich sorgen einerseits angepasste Förderprofile der Quellen und anderer-
seits Erdgasspeicher, in denen zu warmer Jahreszeit Gas eingelagert wird,
welches bei kalter Witterung dann zusätzlich zum sonstigen Aufkommen zur
Verfügung steht. Dieser Einsatz von Speichern ermöglicht eine konstantere
Ausnutzung und damit Dimensionierung von Anlagen- und Transportkapazi-
täten. Zudem stellen Speicher Sicherheiten für den Ausfall von Lieferungen dar.
Auf der Angebotsseite können Ausfälle einzelner Lieferquellen oder Transport-
wege über Speicher oder vorhandene, zum Zeitpunkt des Ausfalls nicht
vollständig ausgelastete Infrastruktur kompensiert werden. Bei einem Ausfall
norwegischer Lieferungen könnte beispielsweise verstärkt auf niederländisches
Gas zurückgegriffen werden. Die deutsche Importinfrastruktur lässt für derartige
Ausweichreaktionen Spielräume zu. Eine Untersuchung für das Jahr 2005 gibt
die maximal importierbare Erdgasmenge nach Deutschland, d. h. die Menge, die
bei voller Auslastung der Importkapazitäten an sämtlichen 8.760 Stunden des
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 181
Jahres eingeführt werden könnte, mit 208 Mrd. Normkubikmetern an (rund 2.000
TWh). Die gesamte tatsächliche Einfuhrmenge des Jahres 2005 lag bei etwa der
Hälfte dieser Menge (1.004 TWh). Für die Einfuhren aus den wesentlichen
Lieferländern ergaben Benutzungsstundenstrukturen (maximal 8.760 h/a)
hinsichtlich der technischen Kapazität rund 4.200 für Russland, 5.100 für
Norwegen und 2.900 für die Niederlande.339
Dass tatsächlich nennenswerte Verlagerungen möglich sind, hat die Einstellung
der russischen Lieferungen über die Ukraine zwischen dem 7. und 19. Januar
2009 verdeutlicht. Dies stellte die längste und größte Unterbrechung von Erdgas-
lieferungen in der 35jährigen Geschichte des russischen Erdgasimports dar (vgl.
5.3.3). Ein detaillierter Abgleich der Lastflüsse während dieser Zeit mit üblichen
Strömen durch die Bundesnetzagentur zeigt zum einen Verlagerungen russischer
Lieferungen über Weißrussland – es handelte sich ja nicht um Einstellungen der
russischen Lieferungen an Deutschland oder Westeuropa, sondern um einen
russisch-ukrainischen Konflikt. Zum anderen verzeichnet er Mengenerhöhungen
an Grenzübergangspunkten zu Belgien (Importe aus Großbritannien über den
Interconnector), den Niederlanden und Norwegen (Pipeline-Anbindung an der
deutschen Küste). Insgesamt hat die deutsche Erdgaswirtschaft in Kombination
veränderter Lastströme mit dem Einsatz von Speichern den russischen Liefer-
ausfall relativ problemlos kompensiert. Die Speicher wiesen zu Beginn der Krise
einen Füllstand von 76,6 % auf und an deren Ende von 64,5 %. Die gesamte
Ausspeicherleistung wurde zu keinem Zeitpunkt zu mehr als 63 % benötigt. Der
Gaskonflikt mitsamt Lieferunterbrechung hat nicht einmal wesentlichen Einfluss
auf die Gashandelspreise an den europäischen Großmärkten ausgeübt. Die
Bundesnetzagentur zieht das Fazit, die Lieferunterbrechung in der kältesten
Winterperiode hätte „bei gleichen Bedingungen wohl einen erheblich längeren 339 Vgl. Institut für Energetik und Umwelt gGmbH/Hochschule für Technik (2007), S. 122 f.,
und Wittke/Ziesing (2006), S. 123. Die Benutzungsstrukturen ergeben sich aus der Zusammenführung der maximalen Kapazitäten je Lieferland (für Norwegen ist der Mittelwert der divergierenden Werte angesetzt) und den tatsächlichen Einfuhren.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 182
Zeitraum dauern dürfen, bevor die Versorgungssicherheit in Deutschland
ernsthaft berührt gewesen wäre.“340 Zum Teil war es sogar möglich, Transport-
flüsse umzukehren und Mengen von Deutschland nach Tschechien zu
exportieren. Maßnahmen dieser Art stießen jedoch an Grenzen der derzeitigen
Infrastruktur für andere Länder, so dass hierdurch Versorgungskrisen auf dem
Balkan nicht verhindert werden konnten (zu Planungen der EU zum Ausbau der
Erdgasinfrastruktur vgl. 5.3.2).341
Entscheidend für eine Reaktion auf Ausfälle ist Flexibilität, wie sie auf der
Angebotsseite von Speichern, nicht vollständig ausgelasteten Transportkapazi-
täten oder LNG bereitgestellt werden kann, vorausgesetzt die Speicher sind
gefüllt und zusätzliche Gas- und LNG-Mengen verfügbar. Die deutschen Erdgas-
speicher wiesen Ende 2009 ein technisch maximales Arbeitsgasvolumen von
20,8 Mrd. m3 aus, was mehr als 20 % des Jahresverbrauchs entspricht. Mit dem
Arbeitsgasvolumen steht Deutschland nach den USA, Russland und der Ukraine
weltweit auf Platz vier der Länder mit den umfangreichsten Speichern. Weitere
13,9 Mrd. m3 befinden sich in Planung oder Bau.342 Aufgrund der in Deutschland
durch den Markt bereitgestellten guten (Speicher)Infrastruktur und der diversifi-
zierten Beschaffungswege ist die Bundesregierung auch der Auffassung, dass
„verbindliche strategische Gasspeicher nicht erforderlich und unverhältnismäßig
teuer sind.“343 Der Nutzen zusätzlicher Versorgungssicherheit durch ein staatlich
organisiertes Mehr an Speichern wird also geringer eingeschätzt als die damit
einhergehenden Kosten.
Die Produktion von Bioerdgas ist auf eine möglichst gleichmäßige Anlagenaus-
lastung angelegt. Solange nicht bewusst technische Infrastruktur samt notwen-
diger Einsatzstoffe (Mais) vorgehalten werden, die nur bei Bedarf Bioerdgas 340 Bundesnetzagentur (2009a), S. 16. 341 Vgl. Bettzüge/Lochner (2009), Bundesnetzagentur (2009a) und Lohmann (2009c). 342 Vgl. Landesamt für Bergbau (2010), S. 44-52. 343 Bundesregierung (2009a), S. 3.
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 183
produzieren,344 leistet Bioerdgas – über eine grundsätzliche Diversifizierung der
Bezüge hinaus – keinen Beitrag zur kurzfristigen Versorgungssicherheit.
Abbildung 5.13 verdeutlicht die unterschiedlichen Flexibilitäten: Die gleiche
Menge an Gas, welche eine Bioerdgasanlage idealtypisch über das Jahr
produziert (Bandeinspeisung), kann aus einem gefüllten Speicher bedarfsgerecht
ausgespeist werden – innerhalb einer kürzeren Zeitspanne (hier ist eine
Quartalseinspeisung dargestellt) oder variabel verteilt über das Jahr (hier mit
beispielhafter Temperaturabhängigkeit). Zusätzliches Gas könnte in Zeiträumen
hoher Nachfrage ebenso durch LNG bereitgestellt werden (möglichst konstante
Einspeisung analog dem dargestellten Quartalsprodukt).
344 Dies erscheint aufgrund des organisatorischen Aufwandes der dezentralen Bioerdgas-
Strukturen wie der ungünstigen Bioerdgas-Kostenstrukturen nicht sinnvoll: Marktpreise für Speicher liegen bei jährlich 0,6 Ct/kWh bezogen auf das Arbeitsgas (vgl. 3.2.3), während allein die Kapitalkosten von Bioerdgasanlagen bei Umlage auf eine Bioerdgasmenge aus laufendem Betrieb, bei dem die Anlage nicht für Versorgungssicherheit als reine Reseserveanlage vorgehalten wird, mit spezifisch 0,8 bis 1,2 Ct/kWh darüber liegen, Personal und Wartung noch gar nicht berücksichtigt (vgl. Tabelle 2.3).
5 Bioerdgas als staatliches Produkt 184
Abbildung 5.13: Unterschiedliche Einspeisestrukturen gleicher Jahresmengen
Quelle: Eigene Darstellung.
Insgesamt gilt in lang- wie kurzfristiger Betrachtung von Versorgungssicherheit:
Zwar könnte Bioerdgas technisch zur Versorgungssicherheit beitragen,
ökonomisch ist dies jedoch nicht sinnvoll. Unabhängig davon, dass Deutschland
bereits ein hohes Maß an Versorgungssicherheit bescheinigt wird, ließen sich
weitere Verbesserungen der Versorgungssicherheit günstiger durch alternative
Maßnahmen realisieren – seien es langfristig die Erschließung neuer Lieferländer
via Pipeline und LNG oder kurzfristig die (vom Markt sowieso geplante)
Errichtung neuer Speicher. Ein ökonomisches Kalkül zur optimalen Versor-
gungssicherheit müsste zudem Maßnahmen auf der Angebotsseite wie
abschaltbare Verträge, (kurzfristige) Umstellungen bivalenter Anlagen auf
alternative Energieträger oder (längerfristige) Substitutionspotentiale zwischen
verschiedenen Energieträgern berücksichtigen.
6 Fazit 185
6 Fazit
Bioerdgas hat binnen kurzer Zeit in den Strategien der deutschen Gasunter-
nehmen augenscheinlich einen bedeutenden Platz eingenommen: Die Zahl der
Anbieter von Bioerdgas im Wärmemarkt stieg in dem halben Jahr zwischen
Oktober 2009 und April 2010 um zwei Drittel von 44 auf 73. Von Nischen-
anbietern wie naturstrom über zahlreiche Stadtwerke bis hin zu den Vertriebs-
einheiten des größten deutschen Erdgaskonzerns, E.ON, werben die
unterschiedlichsten Akteure um die Gunst des Konsumenten für ihre neuen
grünen Produkte. Noch fallen die realisierten Absätze allerdings bescheiden aus.
Dies zeigt sich schon anhand der maximal zur Verfügung stehenden Bioerdgas-
Kapazität im Jahr 2010 von rund 0,2 % des deutschen Erdgasverbrauchs.
Hiervon dürfte zudem ein wesentlicher Teil der Stromerzeugung zuzurechnen
sein, die über das Erneuerbare Energien Gesetz (EEG) subventioniert wird. Zur
Erreichung der in der Gasnetzzugangsverordnung niedergelegten politischen
Ziele, die Bioerdgas im Jahr 2030 bei 10 Mrd. m3 oder rund 10 % des derzei-
tigen Erdgasverbrauchs sehen, müsste die Wachstumsrate an Bioerdgas-Kapazi-
täten post 2010 jährlich 22 % betragen. Die vorliegende Arbeit hat versucht zu
ergründen, welche Strukturveränderungen mit dem Ausbau von Bioerdgas
einhergehen, welche Marktchancen Bioerdgas jenseits staatlicher Förderung als
Erdgassubstitut wie als eigenständiges grünes Produkt aufweist, in wieweit
bestimmte Hürden nur durch staatliche Förderung zu überwinden wären, welche
staatlichen Ziele dies grundsätzlich rechtfertigen könnten und nicht zuletzt, ob
der aktuell eingeschlagene Weg aus ökonomischer und gesellschaftlicher
Perspektive empfehlenswert ist.
6 Fazit 186
Bioerdgas als auf Erdgasqualität aufbereitetes und ins Erdgasnetz eingespeistes
Biogas öffnet dem in der Vergangenheit meist direkt am Ort der Produktion
verstromten Biogas den Weg in das Erdgasnetz. Damit steht ihm der Zugang zu
jedem Industrieunternehmen, Kraftwerk und Haushalt mit einem Anschluss an
das Gasnetz der allgemeinen Versorgung offen. Technisch ist in Deutschland –
unter Einschluss von freigesetztem Ackerland durch zunehmende Nahrungs-
mittelimporte – ausreichend Potential an Gülle und Fläche für die Produktion von
Bioerdgas nutzbar, um die avisierten 10 Mrd. m3 im Jahre 2030 zu realisieren.
Der weitere Ausbau ruht dabei insbesondere auf Nachwachsenden Rohstoffen
(NaWaRo). Das Aufkommen von Bioerdgas führt zu Strukturveränderungen
innerhalb der Gaswirtschaft. Bioerdgas durchbricht die bislang strikt hierarchisch
ausgerichtete Ordnung der Netzinfrastruktur, die von den Quellen bis zu den
Verbrauchspunkten kaskadenförmig immer feingliedriger verläuft. Denn Bioerd-
gas kann dezentral an nahezu jeder Stelle des Erdgasnetzes produziert und
eingespeist werden. Einer Industrie, die bislang maßgeblich auf wenige Import-
länder angewiesen war, erschließen sich dadurch grundsätzlich neue Freiheits-
grade.
Eine Wirtschaftlichkeit von Bioerdgas im Vergleich zum Substitut Erdgas ist
gegenwärtig allerdings nicht gegeben und auch zukünftig nicht absehbar. Der
Break-Even-Preis für Bioerdgas mit überwiegendem NaWaRo-Einsatz liegt bei
traditioneller ölpreisabhängiger Gaspreisbildung bei 230 $/bbl Brent-Rohöl.
Selbst wenn sich der Ölmarkt in den kommenden Jahren in diese Größenordnung
bewegen sollte, ist nicht davon auszugehen, dass die klassische Ölpreisbindung
(in unveränderter Form) fortbesteht. Mit dem Wegfall staatlich sanktionierter
Gebietsmonopole, der Trennung von Netz und Handel und der Einführung von
Marktgebieten mit diskriminierungsfreien Entry-Exit-Systemen hat sich in
Deutschland durch regulatorische Eingriffe ein neues Marktumfeld eingestellt, in
dem eine Bepreisung von Erdgas nach dem früheren Prinzip der Anlegbarkeit
nicht länger praktikabel ist. Leitfunktion für die Preissetzung von Erdgas-
6 Fazit 187
produkten kommt zunehmend Großhandelsmärkten und Börsen zu, auf denen
sich Preise nach Angebot und Nachfrage bilden. Als Indikator zukünftig
möglicher Preise können – bei Annahme eines Wettbewerbsmarktes – Grenz-
kosten für Produktion und Transport herangezogen werden. Selbst diejenigen der
unkonventionellen Erdgasvorkommen, die im oberen Produktionskostenbereich
liegen und teuer per LNG transportiert werden, liegen mit 3,2 Ct/kWh bei etwa
der Hälfte der Bioerdgaskosten (NaWaRo) von 6,3 Ct/kWh. Das gegenwärtige
Preisniveau von gut 2 Ct/kWh macht rund ein Drittel dieser Kosten aus.
Erst die staatliche Förderung von Bioerdgas ermöglicht eine betriebswirt-
schaftlich lohnende Produktion. Die Förderung setzt dabei an zwei Stellen an.
Auf der einen Seite stehen Privilegien gegenüber Erdgas im Netzzugang und der
Ausgestaltung von Bilanzkreisen für Bioerdgas. Hier verschwimmen offen
kommunizierte Besserstellungen wie der Einspeisevorrang mit versteckten
Förderungen. Bei letzteren fallen sachlich grundsätzlich zu rechtfertigende
Sonderbehandlungen über die Maßen vorteilhaft aus, etwa überhöhte Gut-
schriften für vermiedene Netzentgelte, oder sind sachlich nachvollziehbare
Sonderbelastungen von Bioerdgas zu gering angesetzt, beispielsweise beim
erweiterten Bilanzausgleich. Auf der anderen Seite – auf dieser erfolgt die
wesentliche finanzielle Förderung – steht die Subventionierung der Strom-
produktion aus Bioerdgas durch das EEG. Je nach Anlagenleistung, verwendeter
Technologie, eingesetzten Rohstoffen und Nutzung der bei der Stromproduktion
erzeugten Wärme greifen für Strom aus Bioerdgas unterschiedliche Vergütungs-
sätze zwischen 7,8 Ct/kWh für die niedrigste Grundvergütung345 und
25,7 Ct/kWh in der Spitze. Der durchschnittliche Börsenpreis des Jahres 2009 lag
bei 3,9 Ct/kWh.
345 Hinzu kommt mindestens der Bonus für Kraft-Wärme-Kopplung von 3,0 Ct/kWh für den
Stromanteil der tatsächlich genutzten Wärme, da das EEG für Bioerdgas eine Stromerzeugung in Kraft-Wärme-Kopplung zwingend vorschreibt.
6 Fazit 188
Die klassische Zieltrias staatlicher Energiepolitik vereinigt Wirtschaftlichkeit,
Versorgungssicherheit und Umweltverträglichkeit, wobei sich letztere im
Spannungsfeld fossiler und regenerativer Energien als Klimapolitik manifestiert.
Da Bioerdgas zur Wirtschaftlichkeit der Energieversorgung keinen Beitrag
leisten kann, sondern ganz im Gegenteil auf finanzielle Förderung angewiesen
ist, müssten die beiden anderen Ziele eine staatliche Förderung begründen.
Die Versorgungssicherheit mit Erdgas ist nicht durch einen Mangel an grund-
sätzlich vorhandenem und zu marktfähigen Preisen gewinnbarem Erdgas
gefährdet. Die Internationale Energieagentur schätzt, dass die weltweiten
Vorkommen, die mit gegenwärtiger Technologie wirtschaftlich förderbar sind,
eine Reichweite von 250 Jahren bei aktuellem Jahresverbrauch aufweisen. Diese
Vorkommen sind ungleich verteilt. Deutschland und die EU verzeichnen bei
rückläufiger heimischen Produktion in den kommenden Jahren c. p. eine
verstärkte Importabhängigkeit. Die EU insgesamt und Deutschland im Beson-
deren liegen jedoch geografisch günstig zu einer Reihe von Ländern mit großen
Erdgasvorkommen. Neben einem Ausbau der Lieferbeziehungen mit Russland ist
eine Diversifizierung zusätzlicher Bezüge, insbesondere in Richtung kaspische
Region und Naher Osten, zu aktuellen Marktkonditionen möglich. Auch ein
Ausbau von Bioerdgas führte zwar zu einer Diversifizierung des Bezugs, ist
jedoch bei Kosten, die rund das Dreifache des aktuellen Marktpreises für Erdgas
betragen, nicht wettbewerbsfähig.
Investitionen in den Ausbau der Erdgasinfrastruktur für zusätzliche Pipeline-
bzw. LNG-Transporte bedürfen allerdings Planungssicherheit, die gegenwärtig
politisch nicht eindeutig zu verzeichnen ist. Während die Europäische Union
Erdgas als wesentlichen Baustein ihrer zukünftigen Energiestrategie betrachtet,
erfährt Erdgas im Energiekonzept der deutschen Bundesregierung bestenfalls
widersprüchliche Aussagen und schlechtestensfalls eine Marginalisierung. Im
Hinblick auf eine Überbrückung kurzfristiger Lieferausfälle leistet Bioerdgas
6 Fazit 189
abgesehen von einer diversifizierteren Aufkommensstruktur keinen Beitrag. Die
bei kurzfristigen Lieferausfällen geforderte Flexibilität der Einspeisung ist gerade
nicht Kennzeichen möglichst gleichmäßiger Bioerdgasproduktion.
Wie kein anderes Thema stellt der anthropogene Klimawandel etablierte Pfade
der industriellen Energieerzeugung und -nutzung in Frage. Die fehlende preis-
liche Berücksichtigung der negativen externen Effekte der Treibhausgas-
emissionen fossiler Energien führt zu ihrer Nutzung in höherem Maße als
gesellschaftlich wünschenswert wäre und verursacht so das „größte Marktver-
sagen aller Zeiten“ (Nicholas Stern). Eine staatlich (international) herbeigeführte
Belastung fossiler Energien mit ihren externen Kosten entspricht ökonomischer
Rationalität. Der anthropogene Klimawandel mit seinen gravierenden Risiken für
bestimmte Teile der Welt im Hinblick auf Wasser, Nahrung und Naturkata-
strophen, ist – ungeachtet verbleibender naturwissenschaftlicher Unsicherheiten
– eine politische Realität mit immenser gesellschaftlicher Dynamik. Um das
Eskalationspotential mit Menschen und Ländern, die sich in der Rolle der Leid-
tragenden sehen, zu vermindern, ist es den Verursachern auch jenseits ethischer
Imperative geboten, ihre Emissionen zu reduzieren und Alternativen der
Energieerzeugung bereit zu stellen. Staatliche Maßnahmen zur Nutzung erneuer-
barer Energien können hierzu einen wertvollen Beitrag leisten.
Die in Deutschland praktizierte Subventionierung erneuerbarer Energien erfolgt
zu einem wesentlichen Teil über das EEG. Das EEG weist gravierende Schwach-
stellen auf, die es als Instrument diskreditieren und sogar ad adsurdum führen:
Der planwirtschaftliche Ansatz des EEG schaltet konsequent den Wettbewerb
zwischen alternativen erneuerbaren Energien aus. Dies führt zu einer ineffi-
zienten Marktstruktur, unterbindet die Entdeckungsfunktion des Marktes und
verhindert Konsumentensouveranität. Der Strommarkt unterliegt darüber hinaus
bereits dem Europäischen CO2-Zertifikatehandel. Da im Rahmen des Zertifikate-
handels die Gesamthöhe an CO2-Emissionen festgelegt ist, führt die Subventio-
6 Fazit 190
nierung regenerativer Stromerzeugung über das EEG insgesamt zu keinen
zusätzlichen Emissionsminderungen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass
Bioerdgas überhaupt nur in Bereichen einen zusätzlichen Beitrag zur CO2-
Reduktion leisten kann, die nicht dem Zertifikatehandel unterliegen, also insbe-
sondere im Wärmemarkt. Dieser ist jedoch gerade nicht Gegenstand des EEG.
Seit 01.01.2009 bestehen im Wärmemarkt für Neubauten über das Erneuerbare-
Energien-Wärmegesetz (EEWärmeG) Pflichten zur anteiligen Nutzung regenera-
tiver Energien, wobei der jeweilige Prozentsatz von Technologie zu Technologie
schwankt. Bioerdgas qualifiziert grundsätzlich zur Erfüllung dieser Vorschrift,
wenn sein Anteil an der Wärmedeckung mindestens 30% ausmacht. Allerdings
wird der Einsatz von Bioerdgas dadurch erschwert, dass eine Nutzung im
klassischen Heizkessel nicht ausreichend ist. Vielmehr verlangt eine Erfüllung
der EEWärmeG-Anforderungen eine Nutzung in Kraft-Wärme-Kopplung. Damit
wird erneut eine Verquickung mit der Stromproduktion vorgenommen, deren
Emissionen bereits der Zertifikatehandel reguliert.
Eine Substitution von Erdgas durch Bioerdgas ist losgelöst von der konkreten
Ausgestaltung der staatlichen Förderung aufgrund der hohen Bioerdgaskosten ein
derzeit ineffizientes Instrument zur Vermeidung von Treibhausgasemissionen.
Bei aktuellen Erdgas-Marktpreisen liegt der Break-Even für Bioerdgas bei einem
CO2-Preis von 176 €/t – mehr als dem Zehnfachen des CO2-Preises im Zertifika-
tehandel. Der Wert von 176 €/t unterstellt, dass für Bioerdgas selbst keine Treib-
hausgasemissionen anfallen und somit die kompletten Treibhausgasemissionen
von Erdgas eingespart werden könnten. Moderne Bioerdgasanlagen auf reiner
NaWaRo-Basis, die nach bester Technik betrieben werden, sparen rund 65 % der
Emissionen von Erdgas ein, wenn der gesamte Äquivalenzprozess betrachtet
wird. Eine weitere Verbesserung der Klimabilanz ergibt sich mit zunehmendem
Einsatz von Gülle, da Gülle bei direkter Ausbringung auf das Feld hohe Treib-
hausgasemissionen aufweist, die durch Fermentierung zu Biogas vermindert
werden können. Die Gülle-Emissionen stellen allerdings keine Begründung für
6 Fazit 191
eine Subventionierung von Bioerdgas dar. Aus ökonomischer Perspektive müsste
vielmehr eine Internalisierung dieser externen Kosten durch Anlastung bei den
jeweiligen Verursachern (den Landwirten) erfolgen, die dann zur Produktion von
Bioerdgas oder aber alternativen Vermeidungsstrategien führen könnte. Wenn
die Förderung erneuerbarer Energien losgelöst von der Verminderung von
Treibhausgasemissionen als eigenständiges Ziel verfolgt wird und der Staat dabei
über Grundlagenforschung und Demonstrationsanlagen hinausgeht, ist
mindestens Technologieoffenheit der Förderung einzufordern, so dass verschie-
dene Energiequellen wie Wasser, Wind, Photovoltaik und (nachhaltige)
Biomasse im Wettbewerb miteinander stehen.
Die Mehrkosten von Bioerdgas gegenüber Erdgas übersteigen bei weitem die
zusätzlichen Zahlungsbereitschaften, mit denen bestimmte Konsumentengruppen
vergleichbare grüne, nachhaltige Produkte honorieren. Entsprechend sind die am
Markt anzutreffenden „Bioerdgas“-Produkte in der Regel solche, die Bioerdgas
nur anteilig zu 10 oder 20 % fossilem Erdgas zumischen. Ob Kunden derartige
Mischprodukte langfristig als „grüne“ Produkte akzeptieren, ist zumindest
fraglich. Darüber hinaus ist Bioerdgas wie andere Bioenergieträger mit einer
zusätzlichen Nachhaltigkeits-Hürde konfrontiert, die aus der potentiellen
Konkurrenz zur Nahrungsmittelproduktion resultiert. Rund 1 Milliarde
Menschen auf der Erde hungern. Staatliche Subventionen für Bioenergien, die
knappe Landflächen von der Nahrungsmittelproduktion zur Energieproduktion
umwidmen, vermindern und verteuern c. p. die verfügbaren Nahrungsmittel.
Entsprechend empfiehlt der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung
Globale Umweltverändrungen (WBGU) die Nutzung von Bioenergien nur beim
Einsatz von Reststoffen oder dem Anbau von (mehrjährigen) Energiepflanzen
auf degenerierten Flächen. Die bestehende deutsche Bioerdgasproduktion wie ihr
angestrebter Ausbau setzen jedoch wesentlich auf NaWaRo, vor allem Mais, die
in Konkurrenz zur Nahrungsmittelherstellung stehen. Ein Primat der Nahrungs-
mittelproduktion wird weder in der staatlichen Förderung noch in der praktischen
6 Fazit 192
Umsetzung gewährleistet. Das repräsentative deutsche Bioerdgas ist somit zwar
als regenerativ, nicht jedoch als nachhaltig zu klassifizieren.
Hieraus resultiert für die immer zahlreicheren Unternehmen, die Bioerdgas
anbieten, ein Dilemma: Im unternehmerischen Alltag sind staatliche Rahmen-
bedingungen, die ja den Ausbau von Bioerdgas in Deutschland forcieren, gege-
bene Leitplanken, innerhalb derer in einer marktwirtschaftlichen Ordnung zum
wechselseitigen Vorteil gewinnorientiert gehandelt wird. Die Auseinander-
setzung um diese Rahmenbedingungen findet mithin grundsätzlich auf
politischer Ebene statt. Gleichwohl haben sich Unternehmen darauf einzustellen,
von ihren Kunden und anderen Stakeholdern für Auswirkungen ihrer Produkte
durch Kaufentscheidungen oder öffentliche Aktionen in Verantwortung
genommen zu werden. Gesellschaftlich kann individuelles nachhaltiges Handeln
als Vorbild zukünftig verallgemeinerter Handlungsregeln wertvolle Dienste
leisten. Wenn es ausreichend Aufmerksamkeit generiert, hat es, systemtheo-
retisch betrachtet, das Potential, ethische Anforderungen in den wirtschaftlichten
Code zu transferieren – direkt über eine Beziehung zwischen Stakeholdern und
Unternehmen oder als Wählermobilisierung über die Politik.
Noch sind die erzeugten Mengen an Bioerdgas überschaubar, so dass ein
Überdenken der Strategien möglich erscheint. Zahlreiche Anbieter von Bioerdgas
befinden sich mit ihrem klassischen, fossilen Produkt Erdgas im Zuge der
anthropogenen Klimaänderung bereits in einer der konfliktträchtigsten globalen
Auseinandersetzung dieses Jahrhunderts. Aufgrund der im Vergleich zu anderen
fossilen Energien geringen Emissionen von Erdgas besitzen sie jedoch relativ zu
beispielsweise Kohle noch eine gute Ausgangsposition. So groß die Versuchung
sein mag, das eigene Unternehmen als auch das Produkt Erdgas durch eine
Verbindung mit Bioerdgas ergrünen zu lassen, ein solcher Pakt könnte sich im
Konflikt um Nahrung oder Bioenergie als faustisch erweisen und zur Diskredi-
tierung auch des Produktes Erdgas führen. Wenn die Produktionsstrukturen für
6 Fazit 193
Bioerdgas auf NaWaRo-Basis im großen Maßstab erst einmal geschaffen sind,
wird ein Rückzug umso kostspieliger.
Staat wie Unternehmen sollten umgehend Ausstiegsoptionen aus dem Energie-
träger Bioerdgas eruieren und wahrnehmen. Wirklich anspruchsvolle Nachhal-
tigkeitskriterien könnten, obwohl sie in der Kommunikation gegenüber
Stakeholdern und Wählern die derzeitige Strategie lediglich nachzujustieren
scheinen, de facto zu einer Abkehr von den bisherigen (NaWaRo-)Ausbauplänen
führen und so ein gesichtswahrendes Verlassen bereits eingeschlagener Pfade
ermöglichen. Solche Nachhaltigkeitskriterien könnten politisch in die regulato-
rischen Rahmenbedingungen einfließen oder auf unternehmerischer Ebene
angenommen werden.
Anhang 194
Anhang: Anthropogene Klimaänderung
Im vierten Sachstandsbericht (Fourth Assessment Report) untersucht der IPCC in
drei Arbeitsgruppen i) die wissenschaftlichen Grundlagen des Klimawandels mit
Abschätzung zukünftiger Klimaänderungen, ii) die Auswirkungen von Klima-
änderungen auf natürliche, bewirtschaftete und menschliche Systeme sowie
deren Anpassungsfähigkeit und Verwundbarkeit und iii) die wissenschaftlichen,
technischen, umweltbezogenen, wirtschaftlichen und sozialen Aspekte des
Klimaschutzes.346
Hinsichtlich der wissenschaftlichen Grundlagen und Abschätzungen zukünftiger
Klimaänderungen stellt der IPCC fest:347, 348
Die seit der Industrialisierung zugenommene Konzentration von
Treibhausgasen in der Atmosphäre ist der dominierende Faktor für Ände-
rungen im Gleichgewicht von einfallender und abgehender Energie im
System Erde-Atmosphäre (Strahlungsantrieb). Zwischen Strahlungs- 346 Vgl. Intergovernmental Panel on Climate Change [IPCC] (2007a), S. 2, Intergovernmental
Panel on Climate Change [IPCC] (2007b), S. 20 und Intergovernmental Panel on Climate Change [IPCC] (2007c), S. 42.
347 Vgl. Solomon et al. (2007), S. 25, 27, 31 f., 36, 43, 48 f., 51, 60, 65, 68, 70 und 74, Denman et al. (2007), S. 511-515, Randall et al. (2007), S. 629 f, Parry et al. (2007), S. 34, und Barker et al. (2007), S. 27.
348 Für eine vom Fraser Institute herausgegebene Zusammenfassung und Ergänzung der Ergebnisse der IPCC Arbeitsgruppe 1, in der vor allem die Unsicherheiten heutiger Klimaerkenntnisse und –prognosen hervorgehoben werden, vgl. McKitrick et al. (2007). Dort heißt es (S. 9): „There is no compelling evidence that dangerous or unprecedented changes are underway. [...] The hypothesis that greenhouse gas emissions have produced or are capable of producing a significant warming of the Earth’s climate since the start of the industrial era is credible, and merits continued attention. However, the hypothesis cannot be proven by formal theoretical arguments, and the available data allow the hypothesis to be credibly disputed. […] [T]here will remain an unavoidable element of uncertainty as to the extent that humans are contributing to future climate change, and indeed whether or not such change is a good or bad thing.“
Anhang 195
antrieb und Durchschnittstemperaturen auf der Erde ist von einem posi-
tiven linearen Zusammenhang auszugehen.
Die bedeutendsten Treibhausgase sind Kohlendioxid (CO2), Methan
(CH4), Lachgas (N2O) und Halogenkohlenwasserstoffe. Den mit Abstand
größten absoluten Klimaeinfluss leistet CO2, dessen Konzentration in der
Atmosphäre von einem vorindustriellen Wert von 280 ppm (Parts per
million) im Jahre 1750 um knapp 100 ppm auf 379 ppm im Jahre 2005
zugenommen hat, wobei die Wachstumsraten mindestens seit 1960 nach
oben weisen. In den 8.000 Jahren vor dem Beginn der Industrialisierung
nahm die Konzentration um gerade einmal 20 ppm zu. Seit 1750 sind rund
zwei Drittel der anthropogenen CO2-Emissionen auf das Verbrennen
fossiler Brennstoffe zurückzuführen, der Rest rührt im wesentlichen aus
Landnutzungsänderungen wie etwa der Umwidmung von Wald- oder
Prärieflächen zu Ackerland. Die atmosphärische Methan-Konzentration
hat sich gegenüber ihrem vorindustriellen Wert mehr als verdoppelt, die
von Lachgas hat um knapp ein Fünftel zugenommen. Sämtliche Treib-
hausgase, entsprechend ihrer Treibhauswirkung in CO2-Äquivalenten
ausgedrückt, führen zu einem Wert von 455 ppm CO2-eq. Unter
Berücksichtigung von Kühleffekten, die unter anderem von Aerosolen
ausgehen (kleine Partikel in der Atmosphäre, die die Sonneneinstrahlung
abmildern), ergibt sich eine effektive Konzentration von 311-
435 ppm CO2-eq.
Die Erde hat sich in den vergangenen Jahrzehnten erwärmt. Dies belegen
konsistente Veränderungen in Atmosphäre, Kyrosphäre (der von Eis
bedeckte Teil der Erde, in dem 75% des weltweiten Frischwassers
gespeichert sind) und Ozeanen. 2005 und 1998 waren die wärmsten zwei
Jahre in der Geschichte der instrumentellen Temperaturaufzeichnung seit
1850. Von den zwölf Jahren 1995 bis 2006 gehörten elf zu den zwölf
wärmsten Jahren seit 1850. In der Zeitspanne 2001 bis 2005 lagen die
Anhang 196
durchschnittlichen globalen Oberflächen-Temperaturen um 0,76°C über
dem Wert der Jahre 1850 bis 1899.
Mit einer Wahrscheinlichkeit größer 90 % sind die anthropogenen Treib-
hausgase für den größten Teil der beobachteten Klimaerwärmung seit
Mitte des 20. Jahrhunderts verantwortlich. Sie haben in Folge mit einer
Wahrscheinlichkeit von größer 66% zur jüngeren Abnahme des arktischen
Eises und mit einer Wahrscheinlichkeit von größer 90 % zum Anstieg des
Meeresspiegels in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beigetragen.
Zwischen 1961 und 2003 ist ein jährlicher Anstieg des durchschnittlichen
mittleren globalen Meeresspiegels um 1,8 Millimeter/Jahr zu verzeichnen;
für die Jahre 1993 bis 2003 betrug er sogar 3,1 Millimeter/Jahr, wobei
unklar ist, ob es sich dabei um Schwankungen im üblichen Rahmen oder
eine Erhöhung des Trends handelt.
Viele Wirkprozesse der Treibhausgase erfolgen stark zeitverzögert und
mit Rückkoppelungen zwischen Atmosphäre, Biosphäre und Ozeanen.
Dies führt dazu, dass bei einem Übergang von steigenden zu konstanten
Treibhausgasemissionen die atmosphärischen CO2-Konzentrationen noch
lange Zeit weiter ansteigen und dass selbst das Erreichen einer stabilen
atmosphärischen CO2-Konzentration die Erderwärmung nicht unmittelbar
stoppt.349
349 Anders als Methan oder Lachgas wird das bedeutendste Klimagas Kohlendioxid weder durch
chemische Prozesse in der Atmosphäre zersetzt noch von Sonnenstrahlung zerstört. Kohlendioxid ist Teil des Kohlenstoffkreislaufs der Erde. Kohlenstoffhaltige Verbindungen kommen vor sowohl in der Lithosphäre (in der Erdkruste sind weit mehr als 99 % des globalen Kohlenstoffs gespeichert, wobei die fossilen Energieträger gegenüber Carbonatgesteinen wie Calcit und Dolomit einen relativ geringen Anteil ausmachen), der Hydrosphäre (0,05 % des globalen Kohlenstoffs), der Atmosphäre (0,001 % am globalen Kohlenstoff) als auch der Biosphäre (ebenfalls 0,001 %). Über verschiedene Austauschprozesse stehen die einzelnen Systeme miteinander in Verbindung. Für den langfristigen Wirkmechanismus der Treibhausgase ist insbesondere der kontinuierliche CO2-Austausch zwischen Atmosphäre und Ozeanen von Bedeutung. CO2 reagiert mit Wasser und ist darin löslich. Während sich die obersten Meeresschichten innerhalb von Jahrzehnten bzw. Jahrhunderten durchmischen und so eine Angleichung veränderter CO2-Konzentrationen herbeiführen, dauert dieser Prozess für die Tiefenwasser Jahrtausende. In Bezug auf die Atmosphäre bedeuten die Austauschprozesse, dass 50% einer Erhöhung von CO2-Konzentrationen innerhalb von 30 Jahren wieder aus der
Anhang 197
Die Gleichgewichts-Klimasensitivität gibt an, wie die globale mittlere
Jahresoberflächen-Temperatur – nach Abschluss der langfristigen
Rückkoppelungseffekte – auf eine Verdoppelung des CO2-Anteils in der
Atmosphäre reagiert. Mit einer Wahrscheinlichkeit größer 66 % liegt die
Gleichgewichts-Klimasensitivität bezogen auf die vorindustrielle CO2-
Konzentration (d. h. für eine nachhaltige Verdoppelung der vorindus-
triellen CO2-Konzentration auf rund 550 ppm) im Bereich zwischen 2°C
und 4,5°C, mit einem besten Schätzwert von 3°C. Mit einer Wahrschein-
lichkeit von weniger als 5% liegt sie unterhalb von 1,5°C.
Es werden sechs verschiedene Emissions-Szenarien betrachtet, für die
jeweils eine korrespondierende Spanne der Erderwärmung für das letzte
Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts gegenüber dem letzten Jahrzehnt des 20.
Jahrhunderts mit einer Wahrscheinlichkeit größer 66 % angegeben wird
(betrachtet wird hier die globale Durchschnittstemperatur; bezogen auf die
kontinentalen Regionen der Erde ist mit einem größeren Anstieg der
Temperaturen zu rechnen). Die untere Prognosegrenze des Szenarios mit
den geringsten Emissionen liegt bei plus 1,1°C (bester Schätzwert für
dieses Szenario 1,8°C, korrespondierende CO2-Konzentration am Ende
des 21. Jahrhunderts 540 ppm), die obere Prognosegrenze des Szenarios
mit den höchsten Emissionen bei 6,4°C (bester Schätzwert 4,0°C,
Atmosphäre entfernt sind, weitere 30 % nach einigen Hundert Jahren und die restlichen 20 % dort für mehrere tausend Jahre verbleiben. Eine (hypothetische) Stabilisierung der anthropogenen CO2-Emissionen mit Beginn des 20. Jahrhunderts führte dazu, dass die atmosphärischen CO2-Konzentration über das gesamte 21. Jahrhundert weiter anstiegen und am Ende des 21. Jahrhunderts um 60 % höher lägen als zu Beginn. Selbst eine komplette Eliminierung der anthropogenen CO2-Emissionen zu Beginn des 21. Jahrhunderts hätte „nur“ zur Folge, dass die atmosphärische CO2-Konzentration am Ende des 21. Jahrhunderts um etwas mehr als 10 % (40 ppm) unter der zu Beginn des 21. Jahrhunderts läge. Eine tatsächlich erreichte Stabilisierung der atmosphärischen CO2-Konzentrationen führt insbesondere aufgrund der thermischen Trägheit der Ozeane nicht unmittelbar zu einem Halt der globalen Erwärmung. Vielmehr ist von einer weiteren, zeitverzögerten Erwärmung auszugehen, die im ersten Jahrhundert nach Stabilisierung der atmosphärischen CO2-Konzentrationen bei rund 0,5°C liegen dürfte und anschließend deutlich geringer ausfiele. Noch zeitverzögerter geschieht der Anstieg des Meeresspiegels, der sich über viele Jahrhunderte vollzieht. Vgl. Kappas (2009), S. 158 f., Denman et al. (2007), S. 511-515, und Meehl et al. (2007), S. 822-827.
Anhang 198
korrespondierende CO2-Konzentration 958 ppm). Die entsprechenden
unterste bzw. oberste Prognosegrenze für den Anstieg des Meeresspiegels
am Ende des 21. Jahrhunderts liegen bei 18 und 59 Zentimetern.
Die Auswirkungen eines Klimawandels werden nach Einschätzung des IPCC
schwerwiegend sein und u. a. in folgenden, nur ausgewählt dargestellten
Bereichen erfolgen (die in Klammern angegebenen Prozentsätze beziffern die
von den IPCC-Experten geäußerte Überzeugung für die jeweiligen Auswir-
kungen im 21. Jahrhundert bei unvermindertem Klimawandel):350
Frischwasser (≥ 90 %): Abnehmende Wassermengen, die in Gletschern
und Schnee gespeichert sind, werden das Sechstel der Weltbevölkerung
betreffen, das an Flussbecken lebt, die von solchen Wassern gespeist
werden. Ein Anstieg der Meeresspiegel führt zu ausgeweiteter Versalzung
von Grundwasser und Flussmündungen. Veränderte Niederschlagsmuster
mit steigender Variabilität erhöhen in zahlreichen Gebieten die
Wahrscheinlichkeit von Überschwemmungen und Dürren.
Ökosysteme (≥ 80 %): Die Widerstandsfähigkeit zahlreicher Ökosysteme
wird mit einer Wahrscheinlichkeit zwischen 66 und 90 % überschritten
aufgrund einer beispiellosen Kombination von Klimawandel, damit
verbundenen Störungen wie Überschwemmungen, Insektenplagen oder
Ozeanversauerungen und weiteren Treibern des globalen Wandels in
Form von Landnutzungsänderungen, Verschmutzung oder Übernutzung
von Ressourcen. 20 bis 30 % aller bekannten Arten sind bei einem
mittleren globalen Temperaturanstieg von 2 bis 3°C gegenüber dem
vorindustriellen Niveau mit zunehmend hohem Risiko vom Aussterben
bedroht (für diese Aussage gilt Überzeugung ≥ 50 %).
Ernährung (≥ 50 %): Während eine gemäßigte Erwärmung in nördlichen
Breitengraden die landwirtschaftliche Produktion begünstigt, führen
350 Vgl. Parry et al. (2007), S. 35-43.
Anhang 199
bereits geringe Erwärmungen in trockenen und tropischen Regionen zu
verringerten Erträgen.
Küstenregionen (≥ 90 %): Viele Küstenregionen sind besonders betroffen,
da sie sowohl zunehmenden Stürmen als auch dem steigenden Meeres-
spiegel ausgesetzt sind.
Gesundheit (≥ 80 %): Der Gesundheitszustand von Millionen von
Menschen wird mit einer Wahrscheinlichkeit zwischen 66 und 90 % in
Mitleidenschaft gezogen, u. a. aufgrund zunehmender Unterernährung,
zunehmender Todesfälle durch Hitzewellen, Überflutungen, Stürme und
Dürren und einer veränderten räumlichen Verbreitung von Überträgern
von Infektionskrankheiten.
Eine Abmilderung des Klimawandels im Vergleich zu einem ohne entsprechende
Anstrengungen ausgestalteten Basisszenario ist nach Einschätzung des IPCC
grundsätzlich möglich, sieht sich gleichwohl aber auch schwerwiegenden
Hemmnissen und großen Herausforderungen gegenüber:351
Die Weltgemeinschaft hat sich im Rahmen der UNFCCC bereits das Ziel
gesetzt, eine Stabilisierung der atmosphärischen Treibhausgasemissionen
auf einem Niveau zu erreichen, bei dem eine gefährliche anthropogene
Störung des Klimasystems verhindert wird, wobei allerdings offen
gelassen ist, auf welchem Niveau die Emissionen konkret stabilisiert
werden sollen und wie genau Anpassungen und Kosten zwischen
verschiedenen Nationen und Generationen zu verteilen sind.
Der Fokus der betrachteten verschiedenen Szenarien liegt jeweils auf der
Reduktion der CO2-Emissionen352 und damit insbesondere auf Entwick-
lungen in den Sektoren Energie und Industrie, die abhängig vom betrach-
teten Szenario 60 bis 80 % aller Reduktionen zu tragen haben. Besondere
351 Vgl. Barker et al. (2007), S. 28, 32 f., 35, 41, 44-47, 49 und 77. 352 Eine Knappheit fossiler Energieträger ist dabei auf globaler Ebene kein relevanter Faktor, der
quasi automatisch zu einer Anpassung der Treibhausgasemissionen führte.
Anhang 200
Bedeutung innerhalb des Energiesektors kommt der Stromerzeugung zu,
für die im wesentlichen drei Anpassungsoptionen bestehen: Effizienz-
verbesserungen fossiler Kraftwerke in Kombination mit einem Umsteigen
von fossiler Energie mit hohen CO2-Emissionen wie Kohle auf fossile
Energie mit relativ geringen CO2-Emissionen wie Erdgas; der Ausbau von
Erneuerbaren Energien und Atomkraft; und dem Abscheiden und der
dauerhaften Einlagerung von CO2 in der fossilen Stromerzeugung (CCS).
Dabei ist zu beachten, dass sowohl konventionelle wie erneuerbare
Energiesysteme durch Klimawandel verwundbar sind. Offshore-Förde-
rungen von Öl und Gas können durch extreme Wetterverhältnisse
beeinträchtigt werden, die Kühlwasser benötigende Atomkraft durch
wärmere oder weniger Wasser führende Flüsse, Wasserkraftwerke
ebenfalls durch veränderte Wasserstände der Flüsse, Solarenergie durch
veränderte Wolkenbildungen, Windkraftanlagen durch veränderte Wind-
geschwindigkeiten und Energiepflanzen durch Trockenheit.
Eine Besonderheit des Transportsektors besteht darin, dass er weitgehend
von nur einem fossilen Energieträger, Öl, dominiert wird und Abscheiden
und Einlagern der damit verbundenen CO2-Emissionen mit heutiger
Technik nicht möglich sind.
Das wirtschaftliche (Treibhausgas-)Minderungspotential ist das Potential
an Treibhausgasminderungen, welches unter Einbeziehung der sozialen
Kosten des Klimawandels gegenüber einem Basisszenario erzielbar wäre.
Die sozialen Kosten lassen sich übersetzen in einen Preis für die Emission
einer Tonne CO2-eq. In Abhängigkeit dieses Preises lassen sich dann
unterschiedliche Minderungspotentiale angeben. Bei einem Preis von
20 $/tCO2-eq ergibt sich für das Jahr 2030 ein Minderungspotential von 9-
18 GtCO2-eq/Jahr gegenüber den eigentlich für 2030 angenommenen
Emissionen. Dies liegt in der Größenordnung der Zunahme der jährlichen
Treibhausgasemissionen zwischen 1990 und 2004. Bei 50 $/tCO2-eq sind
es 13-26 GtCO2-eq/Jahr und bei 100 $/tCO2-eq sind es 16-31 GtCO2-
Anhang 201
eq/Jahr. Selbst der maximale Minderungswert von 31 GtCO2-eq/Jahr
führte in einem mittleren Basisszenario für 2030 die Emissionen „nur“
zurück auf das Niveau von 1990. Die Konzentration der CO2-Emissionen
in der Atmosphäre würde auch dabei noch weiter steigen (s.o.).
XV
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Erdgas
Bioerdgas
Sebastian Herold
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tAuf Erdgasqualität aufbereitetes Biogas wurde erstmals im Jahre 2006 in das Netz der allgemeinen Erdgasversorgung eingespeist. Bis zum Jahre 2030, so das Ziel des Gesetzgebers, soll Bioerdgas in der Größenordnung von rund 10 % des heutigen Erdgasverbrauchs zum deutschen Energie-angebot beitragen – dafür müssten Produktion und Vermarktung bis 2030 Jahr für Jahr um mehr als 20 % wachsen.
Dieses Buch bietet aus ökonomischer Perspektive eine systematische Einführung in den Energieträger Bioerdgas und eine fundierte Abwä-gung seiner Zukunftsperspektiven hinsichtlich seiner Konkurrenzfähigkeit gegenüber Erdgas, seiner grundsätzlichen Förderwürdigkeit durch den Staat und der Ausgestaltung seines aktuellen Förderregimes. Dabei führt es mit den Aspekten anthropogener Klimawandel, Sicherheit der Energie-versorgung und Nutzungskonkurrenzen zwischen Anbaufl ächen für Bio-energie und Nahrungsmittel tief hinein in grundlegende gesellschaftliche Auseinandersetzungen unserer Zeit.
Sebastian Herold (Jahrgang 1977) liegen die Themen Energie und Umwelt
seit langem am Herzen – aus theoretischer wie praktischer Perspektive:
1999 bis 2004 VWL-Studium in Münster und Rom; Mitstreiter und später
Vorsitzender der Studenteninitiative Wirtschaft & Umwelt. 2004 Berufsein-
stieg bei einer deutschen Ferngasgesellschaft, seit 2007 Abteilungs leiter
G rundsatzfragen / Portfolio management. 2012 externe Promotion an der
WWU Münster.
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ISBN 978-3-00-037292-6
www.energy-thinker.net
Bioerdgas zwischen Markt und Staat
www.energy-thinker.net
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