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"Beschäftigungswunder"oderNachholprozess?AspektederBeschäftigungsentwicklungimpolitischenBezirkRadkersburgseitdemEndederachtzigerJahre

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28. Jahrgang (2002), Heft 2 Wirtschaft und Gesellschaft

"Beschäftigungswunder" oderNachholprozess

Aspekte der Beschäftigungsentwicklung im politischen BezirkRadkersburg seit dem Ende der achtziger Jahre*

Franz Heschl

1. EinleitungWarnenden, zurückhaltenden oder eher besorgten Debattenbeiträgen in

der öffentlichen Diskussion um die Aussichten der österreichischen Grenz-regionen hinsichtlich der bevorstehenden Erweiterung der EuropäischenUnion wird oft die bisherige Entwicklung dieser Regionen seit der Öffnungdes europäischen Ostens im Jahre 1989 entgegengehalten. "Grenzregio-nen gewannen durch die Ostöffnung"2 oder "Grenzregionen: Die klarenGewinner der Ostöffnung"3lauteten beispielsweise zwei einschlägige Über-schriften in einer österreich ischen Tageszeitung. Nach diesen Schlagzeilenkonnte man dann deren Begründungen in unterschiedlichsten Variationenlesen. In der eher sachlichen Variante lautete diese beispielsweise: "DieRegionen entlang Österreichs Ostgrenzen haben seit dem Fall desEisernen Vorhangs eine beachtliche wirtschaftliche Dynamik entwickelt.Entgegen den Befürchtungen eines schmerzvollen Anpassungsdruckshaben sie von der Ostöffnung eher profitiert. Dies zeigen Arbeitsmarkt-daten aus diesen Regionen: Die Beschäftigung hat in diesen Gebietendeutlich kräftiger zugenommen als im bundesweiten Durchschnitt."4

Die nachfolgende "regionalisierte" bzw. auf die Steiermark bezogeneBegründungsvariante schließt mit einer nahezu sensationellen Feststel-lung: "Die österreichischen Regionen entlang der EU-Außengrenze weisenseit der Ostöffnung eine im nationalen Vergleich weit überdurchschnittlicheBeschäftigungsdynamik auf ... Diese Erfolgsstory wird häufig vergessen,wenn in den Diskussionen um die Osterweiterung immer wieder auf dasBedrohungspotential hingewiesen wird, das auf die Grenzregionen zukom-me. Das Grenzland ist eindeutig ein Profiteur der neuen ökonomischen

* Dieser Aufsatz enthält die wesentlichen Ergebnisse einer umfangreicheren Studie zu die-ser Thematik.1 Detailliertere Ausführungen zu den statistischen Grundlagen und der ver-wendeten empirischen Datenbasis finden sich in der Studie.

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Verhältnisse an den Grenzen ... Auch in der Steiermark liegt die Beschäfti-gungsdynamik in allen Grenzbezirken deutlich über dem Bundesschnitt.Radkersburg ist mit einem Zuwachs von 83% ein einsamer Spitzenreiter."5

Kolportierte 83% "Beschäftigungssteigerung" im Bezirk Radkersburg seitder Ostöffnung verleiten zu provokanten Fragestellungen wie den folgen-den:• Hat das eigentliche "Beschäftigungswunder" der neunziger Jahre - von

einer breiteren Öffentlichkeit offenbar unbemerkt - still und leise imBezirk Radkersburg stattgefunden und nicht in all den anderen Staaten,welchen in den letzten Jahren derartige "Jobwunder" attestiert wurden?

• Wie kommt es, dass viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aberauch politische und wirtschaftliche Entscheidungsträger im Bezirk selbstkaum etwas von diesem Beschäftigungswunder bemerkt haben undihren Heimatbezirk immer wieder viel eher als strukturschwacheagrarische "Krisenregion" definieren?

• Wozu sich wegen eventueller Pendel- oder Migrationsbewegungen nachder Erweiterung der Europäischen Union um die Arbeitsmärkte desGrenzlandes Sorgen machen, wenn schon die Ostöffnung eine derart"segensreiche" Wirkung auf deren Arbeitsmärkten entfaltet hat?Zugegebenermaßen provokante Fragen, zu deren sachlicher Beantwor-

tung hier ein Beitrag geleistet werden soll. Es geht dabei um eine detaillierteAnalyse der Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt im politischen BezirkRadkersburg im letzten Jahrzehnt. Im folgenden Abschnitt wird dabeizunächst ein Überblick über die einschlägige wissenschaftliche Debatte9.egeben, in deren Bezugsrahmen diese Arbeit zu sehen ist. An dieseUberlegungen schließen einige Hinweise zu den empirischen Grundlagenan, dann folgen einige zentrale Ergebnisse. Im Hauptteil dieser Arbeit wirdherausgearbeitet, in welchen Sektoren die größten Beschäftigungs-zuwächse stattfanden, und nach deren Ursachen gefragt.

2. Die wissenschaftliche Debatte zu den Auswirkungen derOstöffnung auf die Arbeitsplatzsituation im (steirischen)

Grenzland

Schon relativ kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs im Jahr 1989erschienen in Österreich erste wissenschaftliche Arbeiten zu den Aus-wirkungen der Ostöffnung auf die österreichischen Grenzregionen.6 DieseArbeiten hatten weniger eine genaue Analyse der empirisch beob-achtbaren Veränderungen seit der Ostöffnung zum Inhalt - dazu war derZeitraum zwischen 1989 und ihrem Erscheinen wohl auch zu kurz - alsvielmehr stark "prognostischen" Charakter. In diesen Prognosen wurdendie Aussichten der Grenzräume generell- und damit auch des steirischenGrenzlandes im Speziellen - eher zurückhaltend eingeschätzt. Ein Bei-spiel: "Die Chancen der peripheren Ost-Grenzgebiete auf eine günstigerewirtschaftliche Entwicklung sind vor dem Hintergrund der doppelten

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Herausforderung aus West und Ost als durchaus problematisch zu be-urteilen."?

Wenige Jahre später erschienen zwei Arbeiten, die sich konkret mit denbis zum damaligen Zeitpunkt feststell baren Auswirkungen der Ostöffnungauf das steirische Grenzland auseinander setzten und in denen auchdezidierte Aussagen für die Ebene der politischen Bezirke im steirischenGrenzland gemacht wurden.8 Wendner (1994) kam dabei nach einerdetaillierten Analyse der industriell-gewerblichen Struktur in der steirischenGrenzregion hinsichtlich ihrer Außenhandelsverflechtung zu einem für denBezirk Radkersburg "wenig aussichtsreichen" Ergebnis, auch GasslerlRammer (1995) entwarfen für den Bezirk Radkersburg keine sehr positivenZukunftsszenarien hinsichtlich der weiteren Entwicklung dieses Bezirkesbei zunehmender Ostkonkurrenz. Fasst man die wesentlichen Ergebnissebeider Untersuchungen zusammen, so ist festzuhalten, dass - nebeneinigen divergierenden Aussagen - hinsichtlich der Einschätzung derEntwicklungsaussichten des Bezirkes Radkersburg vollständige Überein-stimmung vorzufinden ist. Radkersburg wurde in beiden Arbeiten als inmehrfacher Hinsicht schwach positionierter Bezirk eingeschätzt. Die Grün-de dafür liegen in erster Linie in der Dominanz von Niedriglohnbranchenund den daraus resultierenden Abwanderungsgefahren.

Im Zeitraum zwischen dem Fall des Eisernen Vorhanges bis zur Mitte derneunziger Jahre dominierten also in regionalwissenschaftlichen Betrach-tungen Einschätzungen hinsichtlich der Auswirkungen der Ostöffnung aufdie Grenzregionen, in welchen die Entwicklungsmöglichkeiten und Aus-sichten für das österreich ische Grenzland im Allgemeinen - und den BezirkRadkersburg im Besonderen - vorwiegend "pessimistisch" beschriebenwurden.

Um die Mitte der neunziger Jahre wurde diese Sichtweise von einer"optimistischeren" abgelöst. Einen ersten Beitrag dazu lieferte NorbertGeldner.9 Für die Steiermark stellte Geldner fest, dass das steirischeGrenzland zwar nicht in dem Ausmaß wirtschaftliche Impulse aus derOstöffnung erzielt hat wie die Ostregion um Wien, dass aber auch imsteirischen Grenzland die Beschäftigungsentwicklung zwischen 1989 und1994 nicht hinter der des Zentralraumes um Graz zurückgeblieben war unddass die Beschäftigungsentwicklung im Grenzland erheblich über demSteiermarkdurchschnitt gelegen hatte. Damit wurde in der regionalwissen-schaftlichen Betrachtung die "optimistische" Phase hinsichtlich der Ein-schätzung der Entwicklungsaussichten des Grenzlandes nach der Ost-öffnung eingeleitet. Ihren "Höhepunkt" erlebte diese Betrachtungsweise ineiner einschlägigen Arbeit von Cornelia Krajasits und Franz Delapina.1o

Sie untersuchten zunächst die Beschäftigungsentwicklung in Österreichzwischen 1989 und 1995. Dabei stellten sie fest, dass die Beschäftigungösterreichweit in diesem Zeitraum um 6,3 Prozent gewachsen war,während sie in den österreichischen Grenzregionen11 um 12,6 Prozentzugenommen hatte. Besonders ausgeprägt war diese Grenzlanddynamikim Burgenland, in der Steiermark und in Oberösterreich. Die Ausweitung

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der Beschäftigung im Betrachtungszeitraum ist zu einem großen Teil aufdie Ausweitung der Ausländerinnenbeschäftigung zurückzuführen. DieAutorinnen fassten ihre Untersuchungsergebnisse zusammen, indem sieeine eindeutige Verbesserung der ökonomischen Situation in der unmittel-baren Grenzregion seit der Ostöffnung feststellten. Diese Verbesserungführten sie in erster Linie auf Grenzöffnungseffekte und dadurch ausge-löste Dynamiken seit der Ostöffnung zurück. In je einem Absatz wurdedarauf verwiesen, dass neben den Ostöffnungseffekten auch branchen-konjunkturelle Effekte und Suburbanisierungseffekte zum Aufholprozessim Grenzland beigetragen haben.

Die Gegenposition zu dieser Betrachtungsweise wurde von Autoren desösterreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (WIFO) ab 1999 aufge-baut. So kamen Stankovsky/Palme in einer umfangreichen Untersuchungzu den Auswirkungen der Ostöffnung auf die österreichische Wirtschaft12im Jahr 1999 zu der Einschätzung: "Österreichs Grenzregionen gerietendurch die Öffnung der Grenzen und den polit-ökonomischen Reformpro-zess in den Transformationsländern ökonomisch in Bewegung. Ob dadurchpositive oder negative Veränderungen ausgelöst wurden, ist nicht eindeutigzu beantworten. "13 Die Autoren wiesen auf einen Deindustrialisierungspro-zess im Grenzland, Auslagerungen von Produktionsschritten und Stillle-gungen von Unternehmen hin. Das erkennbare Beschäftigungswachstuminsgesamt trägt für sie zur Konservierung wenig aussichtsreicher Struktu-ren bei. Die Phase der "optimistischen" Beurteilung der Ostöffnungseffekteauf die Grenzregionen ging damit zu Ende.

Mayerhofer/Palme (2001) haben sich in einer umfangreichen Arbeit14unter anderem auch mit der hier zu untersuchenden Frage auseinandergesetzt. Sie stellen eine erhöhte Dynamik im Grenzland hinsichtlich desBeschäftigungswachstums fest. "Zwischen 1989 und 2000 war das durch-schnittliche jährliche Wachstum der Beschäftigung in den ländlichenRegionen (+1,5 Prozent) mehr als doppelt so hoch wie in den human-kapitalintensiven Regionen (+0,7 Prozent); kaum stärker war die Dynamikin den sachkapitalintensiven Regionen (+0,8 Prozent pro Jahr). Mitanderen Worten: Die Beschäftigung wuchs in den kapitalextensiven ländli-chen Regionen erheblich rascher als in den kapitalintensiven Regionen."15

In der Folge geben die Autoren Antworten auf die Frage, wer im Rahmendieser überdurchschnittlichen Dynamik Beschäftigung fand und in welchenWirtschaftsbereichen bzw. Wirtschaftsbranchen diese Steigerungen inerster Linie stattfanden. "In den ersten Jahren ging die Zunahme von aus-ländischen Arbeitskräften aus (+1,9 Prozent), während die Beschäftigungder inländischen Arbeitskräfte stagnierte. In den ländlichen Grenzregionenwar der Zustrom von ausländischen Arbeitskräften besonders groß (+10,4Prozent) ... Auf die starke Zuwanderung von Ausländern zu Beginn derneunziger Jahre reagierte die österreichische Politik restriktiv. Dadurch gingin der zweiten Hälfte der neunziger Jahre die Beschäftigung ausländischerArbeitskräfte deutlich zurück (Österreich -2,2 Prozent pro Jahr). Damit warin Österreich eine Dämpfung der Beschäftigungsentwicklung verbunden.

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Diese übertrug sich auch auf die humankapitalintensiven Regionen, jedochnicht auf die ländlichen Grenzregionen. In jenen beschleunigte sich dasWachstum der Beschäftigung durch eine erhebliche Zunahme von inländi-schen Arbeitskräften (+1,9 Prozent). An dieser Ausweitung nach 1995waren mehr Frauen als Männer beteiligt, was mit einer Zunahme derTeilzeitbeschäftigung zusammenhängen dürfte ... Die überwiegende Mehr-heit von Teilzeitarbeitsplätzen wird nämlich von Frauen eingenommen. DieNachfrage nach Arbeitskräften erhöhte sich vor allem bei den Dienst-leistungen und in der Bauwirtschaft, während die Beschäftigung in derSachgüterproduktion in den neunziger Jahren zurückging ... In den ländli-chen Grenzregionen expandierte die Dienstleistungsbeschäftigung stärkerals im Österreichdurchschnitt, und zwar in allen wichtigen Bereichen. Nichtnur bei den produktionsnahen Dienstleistungen, sondern auch bei ,traditio-nellen' Dienstleistungen wie Handel, Verkehr, Gast- und Beherbergungs-wesen kamen neue Arbeitsplätze hinzu."16

An diese Analyse anschließend verweisen die Autoren darauf, dass inder Ostöffnung keinesfalls der ausschlaggebende Grund für diese Entwick-lungsdynamik gesehen werden kann. Die Beschäftigungsdynamik derGrenzregionen des letzten Jahrzehnts ist vielmehr (nahezu) ausschließlichvom Inlandsmarkt her zu erklären. "Nun kann die Dynamik bei denDienstleistungen wenig mit der Ostöffnung zu tun gehabt haben, da dieMärkte regional handelbarer Dienstleistungen, die für die ländlichenGrenzregionen ausschlaggebend sind, noch nicht liberalisiert sind. Und beiden produktionsnahen Dienstleistungen, die größtenteils internationalhandelbar sind, haben sich die neuen Exportmöglichkeiten auf denOstmärkten nicht in einer höheren Beschäftigungsentwicklung der human-kapitalintensiven Regionen niedergeschlagen, wo diese Dienste die größteBedeutung haben. Die Dynamik der ländlichen Grenzregionen kann damitnur vom Inlandsmarkt ausgegangen sein ... Die in ländlichen Regionenansässigen Gewerbeunternehmen (insbesondere des Bauhaupt- und -nebengewerbes) haben ihre Marktgebiete ausgeweitet, indem sie zuneh-mend mehr Aufträge in den Großstädten übernommen haben ... Weitershaben große Handelsketten in den letzten Jahren neue Filialnetze in denländlichen Regionen aufgebaut. An den Ortsrändern kleinerer zentralerOrte sind Filialbetriebe entstanden, die insbesondere Frauen neueTeilzeitjobs boten. Schließlich setzten die ländlichen Regionen vor allem inder zweiten Hälfte der neunziger Jahre zu einem Aufholprozess bei denproduktionsnahen Dienstleistungen (ausgenommen Finanzdienste) an.Darüber hinaus haben einige ländliche Grenzgebiete (insbesondere in derOststeiermark und im Südburgenland) in den Ausbau von Angeboten imGesundheits- und Wellnesstourismus investiert. Diese Entwicklungenlassen sich nicht durch die Nachfrage aus Mittel- und Osteuropa erklären.Die Ostöffnung dürfte damit höchstens einen indirekten Einfluss ausgeübthaben, nämlich über das Angebot am Arbeitsmarkt. Offensichtlich hat dieVerfügbarkeit von ausländischen Arbeitskräften in den ersten Jahren nachder Ostöffnung die Expansion der ländlichen Dienstleistungsunternehmen

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auf dem Inlandsmarkt erleichtert ... Trotz der erheblichen Verluste imBekleidungssektor wurden in den ländlichen Regionen weniger Beschäf-tigte in der Sachgüterproduktion abgebaut als im Österreichdurchschnitt.Diese relativ günstige Entwicklung in der Sachgüterproduktion ist teilweiseauf eine räumliche Ausweitung des ,Suburbanisierungsprozesses' zurück-zuführen ... Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die ländlichenGrenzregionen in den neunziger Jahren eine hohe Beschäftigungsdynamikverzeichnen konnten. Sie ging allerdings auf Einflussfaktoren zurück, diemit der Ostöffnung wenig zu tun hatten."17

Damit lässt sich dieser Abschnitt, in welchem die wissenschaftlicheDebatte zur Auswirkung der Ostöffnung auf das Grenzland in ihren zentra-len Aussagen nachgezeichnet wurde, folgendermaßen zusammenfassen:In den Arbeiten nach 1989 dominierten zunächst eher pessimistische Ein-schätzungen zur zukünftigen Entwicklung der Grenzregionen unter derRahmenbedingung der Ostöffnung. Diese Einschätzungen wurden ab etwa1995 von Arbeiten abgelöst, in welchen die wider Erwarten günstigeEntwicklung der Grenzregionen - vor allem hinsichtlich ihres Beschäfti-gungswachstums - herausgearbeitet und in einen direkten Zusammen-hang mit der Ostöffnung gebracht wurde. In der aktuellsten einschlägigenArbeit (Mayerhofer/Palme, 2001) wird diese positive Beschäftigungs-dynamik der Grenzregionen ebenfalls herausgestrichen, ein direkter Zu-sammenhang mit der Ostöffnung wird allerdings bestritten.

3. Empirische Grundlagen und HauptergebnisseDie empirischen Grundlagen der folgenden Ausführungen zur Be-

schäftigungsentwicklung im Bezirk Radkersburg sind mannigfaltig;grundsätzlich umfassen sie alle in Österreich zur Verfügung stehendenarbeitsmarktbezogenen Daten. Im Speziellen wurden in erster Linie dieBeschäftigungsdaten des Hauptverbandes der österreichischen Sozialver-sicherungsträger verwendet. Diese Daten entstammen einer VolIer-hebung über bestehende Beschäftigungsverhältnisse (= Versicherungs-verhältnisse), welche zweimal jährlich - im Jänner und im Juli - durch-geführt wird. Diese Beschäftigungsdaten sind arbeitsplatzbezogen, dasheißt, die Beschäftigungsverhältnisse werden nach dem "Arbeitsortkon-zept" am Ort der Beschäftigung gezählt. Unter dem Ort der Beschäftigungwird dabei jene Postadresse des Dienstgebers verstanden, unter welcherdas Unternehmen sein Sozialversicherungskonto beim jeweiligen Sozial-versicherungsträger gemeldet hat. Haben Personen mehrere Beschäfti-gungsverhältnisse, so werden sie - am jeweiligen Ort der Beschäftigung -auch mehrmals gezählt.

Diese Beschäftigungsdaten stehen grundsätzlich auch auf der Bezirks-ebene zur Verfügung. Eine Ausnahme bilden allerdings jene Personen,welche bei der Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter oder bei derVersicherungsanstalt der österreichischen Eisenbahnen beschäftigt sind.Sie können nur auf der Ebene der Bundesländer, jedoch nicht auf der

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Bezirksebene zugeordnet werden. Ebenso nicht auf der Bezirksebenezugeordnet werden können Beschäftigte, "deren Dienstgeber (Firma) denHauptsitz in einem anderen Bundesland hat oder Arbeitsstätten inmehreren Bezirken unterhält, seine Beschäftigten aber alle am Firmensitzzur Sozialversicherung angemeldet hat."18

Ebenso wenig enthalten diese Daten des Hauptverbandes die geringfügigBeschäftigten, da diese im Regelfall nur unfallversichert sind und derenBeschäftigungsverhältnis daher mit keinem Versicherungsverhältnis beieinem Krankenversicherungsträger verbunden ist. Weiters können ausdiesen Daten keine Schlüsse auf die zeitliche Dimension der jeweiligenBeschäftigungsverhältnisse gezogen werden. Es ist also nicht erkennbar, obes sich um Voll- oder Teilzeitarbeitsverhältnisse handelt. Darum ist hier fürden Gesamtzusammenhang dieser Arbeit festzuhalten, dass unter dieBegriffe "Beschäftigung" und "Beschäftigungsverhältnisse" immer Voll- undTeilzeitarbeitsverhältnisse, niemals aber geringfügige Beschäftigungsver-hältnisse fallen. Wenn im Folgenden also die erhebliche "Beschäftigungs-dynamik" des Bezirkes Radkersburg Gegenstand zahlreicher Überlegungensein wird, so ist darunter immer der (starke) Anstieg der Anzahl derunselbständig Beschäftigten nach dem Arbeitsortkonzept zu verstehen. Dasimpliziert auch, dass die Begriffe "Beschäftigungsdynamik" und "dynamischeBeschäftigungsentwicklung" immer im positiven Sinne - eben als Anstieg -und niemals im negativen Sinne - als Rückgang - verwendet werden.

Die Anzahl der unselbstständig Beschäftigten im Bezirk Radkersburg istlaut diesen Daten zwischen Juli 1989 und Juli 2001 von 3.254 auf 5.079,also um 56,1 Prozent gestiegen. Dieser Anstieg, welcher über einen Zeit-raum von zwölf Jahren eine durchschnittliche jährliche Beschäftigungs-zunahme von 4,67 Prozent bedeutet, ist österreichweit unübertroffen. Den56,1 Prozent Beschäftigungszunahme stehen 11,4 Prozent im österreich-weiten Durchschnitt gegenüber, auf der Ebene politischer Bezirkeerreichen nur einige wenige Umlandbezirke größerer Zentren - aufgrundzunehmender Suburbanisierungsprozesse - ähnliche Werte.19 Dieseaußergewöhnliche Entwicklung ist insofern erstaunlich, als sie einen starkagrarisch strukturierten, wiederholt als "strukturschwach" eingestuften,relativ kleinen steirischen Bezirk an der Grenze zu Slowenien betrifft.

Zunächst kann man in diesem Zusammenhang danach fragen, wer imUntersuchungszeitraum im Bezirk zusätzlich Beschäftigung gefunden hat.Die Daten zeigen klar, dass dies einerseits "ehemalige" Selbständige(Landwirte) sind und dass andererseits die Anzahl der Bezirksauspend-lerlnnen erkennbar gesunken ist. Zudem wird deutlich, dass der starkeBeschäftigungsanstieg zu Beginn des Untersuchungszeitraums bzw. nachder Ostöffnung mit einem Anstieg der Ausländerinnenbeschäftigung ver-bunden war. In den Jahren zwischen 1992 und 1994 hat sich die Anzahl derbeschäftigten Ausländerinnen im Bezirk Radkersburg nahezu verdoppelt,2oim Jahr 1994 hatte der Bezirk einen der höchsten Werte hinsichtlich desAusländerinnenanteils an allen unselbstständig Beschäftigten in Öster-reich. Der überwiegende Teil dieser ausländischen Arbeitnehmerinnen kam

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(und kommt) aus Slowenien.21 Um die Mitte der neunziger Jahre entfaltetedie nun restriktiver gewordene österreich ische Ausländerinnenpolitik ihreWirkung, die Anzahl bewilligungspflichtig beschäftigter Ausländerinnenging im Österreichdurchschnitt erkennbar zurück, im Bezirk Radkersburgnoch stärker. Ab diesem Zeitpunkt stützte sich die Beschäftigungszunahmevor allem auf Frauen. Während zwischen 1989 und 1995 die Männerbe-schäftigung im Bezirk um 31,1 Prozent stieg, die Frauenbeschäftigungdemgegenüber nur um 14,9 Prozent, drehte sich diese Entwicklung zwi-schen 1995 und 2001 weitgehend um. 26,8 Prozent Steigerung bei derFrauenbeschäftigung stehen nun 24,2 Prozent bei der Männerbe-schäftigung gegenüber. Diese Entwicklung im Bezirk - Rekrutierung deszunehmenden Arbeitskräftebedarfes in der ersten Hälfte der neunzigerJahre aus dem Ausland und in der zweiten Hälfte unter den Frauen -bestätigt auch die in Abschnitt 2 vorgestellte These von Mayerhofer/Palme.

Ein - wenn wohl auch nur sehr geringfügiger - Teil der neuen Be-schäftigung dürfte auch aus dem Arbeitslosenreservoir gekommen sein.Die deutliche Beschäftigungsdynamik im Bezirk hat zu einem Rückgangder Arbeitslosenquote von 7,9 Prozent im Jahr 1989 auf 6,3 Prozent imJahr 2000 geführt. Österreichweit ist die Arbeitslosigkeit demgegenüber indiesem Zeitraum um 0,8 Prozentpunkte gestiegen.

Nun ist zu fragen, wo bzw. in welchen Wirtschaftsbranchen oder Wirt-schaftssektoren dieser zusätzliche Beschäftigungsaufbau stattgefundenhat. Dem Autor dieser Arbeit standen zur Analyse dieser Frage Datensätzefür einen Stichtag im August 1988 und einen Stichtag im April 2001 zurVerfügung. Diese beiden Datensätze erlauben einen guten Überblick überden Verlauf der Entwicklungen seit der Ostöffnung; mit den jeweiligenStichtagen zusammenhängende saisonale Verzerrungen dürften ehergering sein. Hinsichtlich einer wirtschaftsklassen- oder wirtschaftsbran-chenbezogenen Analyse ergibt sich allerdings das Problem, dass dieDaten aus 1988 nach der "Betriebssystematik 1968" gegliedert sind, dieDaten aus 2001 nach der "Systematik der Wirtschaftstätigkeiten - ÖNACE1995". Daraus entsteht aufgrund geringfügig unterschiedlicher Zuordnun-gen in einigen wenigen Wirtschaftsbranchen keine direkte Vergleichbarkeit,die wesentlichen Entwicklungslinien können allerdings sehr wohl rechtdeutlich herausgelesen werden.

Hinsichtlich der für diesen Abschnitt zentralen Fragestellung, wo bzw. inwelchen Branchen dieser Beschäftigungszuwachs stattgefunden hat, erge-ben sich aus dem Vergleich dieser Datensätze erste Erkenntnisse: Die inabsoluten Zahlen ausgedrückten stärksten Veränderungen in der Beschäf-tigungsentwicklung gab es im Handel, im Beherbergungs- und Gaststätten-wesen, bei den unternehmensbezogenen und den öffentlichen und per-sönlichen Dienstleistungen und im Gesundheits- und Sozialwesen. Diemassiven Beschäftigungssteigerungen des Bezirkes haben sich also -nahezu ausschließlich - auf den Dienstleistungsbereich bezogen.

Dieser erste Vergleich enthält nun allerdings einige Verzerrungen, welchesich aus der spezifischen Beschaffenheit der hier verwendeten Rohdaten

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ergeben - mit dieser Problematik sind Daten zu den "unselbstständigBeschäftigten" des Hauptverbandes der österreichischen Sozialversiche-rungsträger grundsätzlich behaftet. Zum einen enthalten diese DatenVersicherungsverhältnisse bei Betrieben des Bezirkes, was keinesfalls mit"Arbeitsplätzen" im Bezirk gleichgesetzt werden kann. So hat beispiels-weise ein Arbeitskräfteüberlassungsunternehmen, welches seinen Firmen-sitz in einer Gemeinde des Bezirkes Radkersburg hat, seinen Beschäftig-tenstand in den letzten fünf Jahren um mehr als 500 Personen ausgeweitet,nur 16 davon arbeiten in der Verwaltung dieses Unternehmens tatsächlicham Firmensitz im Bezirk Radkersburg. Ein Unternehmen aus dem Sozial-bereich hat im Untersuchungszeitraum seinen Firmensitz - kurzfristig - vonder Landeshauptstadt Graz in die Stadt Mureck verlegt; alleine durch dieseorganisatorische Maßnahme ist die "unselbstständige Beschäftigung" imJahr der Verlegung um mehr als 400 Personen gestiegen. Durch dieseProblematik im Zusammenhang mit dem statistischen Konzept der "un-selbstständig Beschäftigten" wird die Beschäftigungsentwicklung im Bezirksyste-matisch überschätzt.

Zum anderen enthalten diese Daten - wie schon erwähnt - keineArbeitnehmerinnen, welche ihren Arbeitsplatz tatsächlich im Bezirk, derenUnternehmen den Firmensitz allerdings nicht im Bezirk haben. Dies ist vorallem im Handel der Fall, wo viele Lebensmittelhandelsketten ihre So-zialversicherungskonten in den Hauptstädten oder am jeweiligen Firmen-sitz haben und die Beschäftigten nicht auf die jeweiligen Filialen in denBezirken zugeordnet werden können. In diesen Fällen wird die tatsächlicheBeschäftigung im Bezirk im Sinne "bestehender Arbeitsplätze" systema-tisch unterschätzt.

In der Folge wurde vom Autor der Versuch unternommen, die Datensätzeso weit wie möglich um diese Verzerrungen zu bereinigen. Die Grundlagedafür waren einerseits Informationen aus den amtlichen Telefonbüchern22

der jeweiligen Zeiträume, andererseits telefonische Auskünfte der Perso-nalabteilungen der relevanten Unternehmen. Durch diese Vorgangsweisewird die Anzahl der tatsächlich im Untersuchungszeitraum im BezirkRadkersburg entstandenen Arbeitsplätze einigermaßen berechenbarer.Demnach haben im August 1988 531 Betriebe 3.531 Menschen be-schäftigt, im April 2001 waren es 704 Betriebe mit 6.130 Beschäftigten, wasinsgesamt einer Zunahme von 2.599 "Beschäftigten" entspricht.

Von "Arbeitsplätzen" kann in diesem Zusammenhang noch immer nichtgesprochen werden. Für einige Wirtschaftsbranchen (z.B. Bauwesen,Nachrichtenübermittlung, Versicherung) war eine Zurechnung von Be-schäftigten in "Filialen" von Unternehmen mit Firmensitzen außerhalb desBezirkes für den Bezirk Radkersburg im Datensatz von 2001 möglich, imDatensatz für 1988 allerdings nicht (mehr). Dies betrifft eine Größen-ordnung von zumindest 250 Beschäftigten. So kann man - unter all dengenannten Einschränkungen - davon ausgehen, dass im Bezirk imUntersuchungszeitraum zumindest 2.200 (neue) "Arbeitsplätze" entstan-den sind.

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Nach Branchen betrachtet ergibt sich folgendes Bild: Wie schon erwähnt,wurde hinsichtlich der Unterscheidung von Wirtschaftsklassen oder Wirt-schaftsbranchen die einschlägige Systematik im Jahre 1995 von der"Betriebssystematik 1968" auf die "ÖNACE 1995" umgestellt. In derWirtschaftsklasse "Beherbergungs- und Gaststättenwesen" sind die Zuord-nungen relativ unverändert geblieben, die den Datensätzen zu entneh-mende Steigerung von 663 zusätzlichen Versicherungsverhältnissen ist"zumindest nahe an der Realität".

Für den Handel ergibt sich aus den Datensätzen eine Steigerung von 531Versicherungsverhältnissen, welche die reale Entwicklung allerdingsinsofern überschätzt, als in der ÖNACE 1995 - Kategorie "Handel" auch die"Instandhaltung und Reparatur von Kraftfahrzeugen und Gebrauchsgütern"enthalten ist. Dies ist in der Betriebssystematik 1968 nicht der Fall. UnterBerücksichtigung der Entwicklung im Bereich "Instandhaltung und Repara-tur von Kraftfahrzeugen und Gebrauchsgütern" kann man annehmen, dassdie "tatsächliche" Beschäftigungszunahme im Handel im Untersuchungs-zeitraum im Bezirk Radkersburg bei etwa 400 gelegen sein kann.

Statistisch noch unübersichtlicher ist die Situation im Gesundheits- undSozialbereich bzw. bei den persönlichen Dienstleistungen. Um hier zumindestansatzweise eine Vergleichbarkeit herzustellen, wurde der "Sozial- undDienstleistungsbereich" in der Betriebssystematik 1968 aus den Wirtschafts-klassen "Körperpflege, Reinigung, Beschaffungswesen", "Kunst, Unterhal-tung, Sport", "Gesundheits- und Fürsorgewesen" und "Unterrichts- undForschungswesen" - in Summe sind dies 720 Versicherungsverhältnisse -gebildet, in der ÖNACE 1995 aus den Wirtschaftsklassen "ÖffentlicheVerwaltung, Landesverteidigung , Sozialversicherung", "Unterrichtswesen" ,"Gesundheits-, Veterinär- und Sozialwesen" und "Erbringung von sonstigenöffentlichen und persönlichen Dienstleistungen". In Summe sind dies 1.165Versicherungsverhältnisse. Das entspricht einer Beschäftigungssteigerung indem solcherart definierten "Sozial- und Dienstleistungsbereich" im Untersu-chungszeitraum von 445 zusätzlichen Versicherungsverhältnissen.

So bleibt nun zum Abschluss dieses Abschnittes als zentrales Ergebnisfestzuhalten, dass der erhebliche quantitative Zugewinn an Arbeitsplätzenim Bezirk Radkersburg zwischen 1988 und 2001 im Wesentlichen in dreiWirtschaftsbereichen stattgefunden hat: im Beherbergungs- und Gaststät-tenwesen (ca. plus 650), in einem "Sozial- und Dienstleistungsbereich" (ca.plus 450) und im Handel (ca. plus 400).

4. Die Entwicklung in den beschäftigungsdynamischstenWirtschaftsklassen

4.1 Beherbergungs- und GaststättenwesenDie nach Wirtschaftsbranchen gesehen stärkste Beschäftigungsdynamik

im Bezirk Radkersburg entstand also im Bereich "Beherbergungs- undGaststättenwesen", verantwortlich dafür war in erster Linie die positive

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Entwicklung um die Therme in Bad Radkersburg. Der Bezirk hat dabei vomaktuell starken Trend in Richtung Wellness- und Gesundheitstourismusprofitiert, welcher in den neunziger Jahren die gesamte oststeirische undauch südburgenländische Thermenlinie beflügelt hat.

Der angesprochene Trend in Richtung Thermentourismus ist mit Verän-derungen im Gesundheitsverhalten der Menschen zu erklären. "In denletzten Jahren hat sich der präventive Gesundheitsurlaub als wichtigerWachstumszweig in der Tourismusbranche herauskristallisiert. Sowohl diesteigende Zahl älterer Menschen, die Zeit und Geld für präventivesGesundheitsverhalten investierenwollen, als auch die jüngere Generation,bei der sich Umwelt-, Körper- und Ernährungsbewusstsein immer deut-licher durchsetzen, tragen zu einem verstärkten Gesundheitstourismus bei... Unterstützt von Medien, der Öffentlichkeit und privaten Organisationen,die sich seit einigen Jahren intensiv mit dem Wertewandel der Menschenund den daraus entstandenen Gesundheits-, Fitness- und Körperbewusst-seinstrends auseinander setzen, konnten neue Marktsegmente geschaffenbzw. bereits vorhandene Gästeschichten für die Idee des gesundenUrlaubs sensibilisiert werden ... Gerade in der Thermenregion gelang es,den klassischen Kurtourismus zu modernisieren und mit Schlagworten wieFitness, Sport, Wellness eine neue Form von Erholungstourismus zuprägen."23

Entwickelt wurde dieses touristische Angebot durch zielgerichteteInvestitionen des Landes Steiermark in die entsprechende Infrastruktur inBad Radkersburg (und anderen steirischen Gemeinden). Die spezifisch"steirische" Variante. der Grenzlandpolitik, der systematische Ausbau derThermeninfrastruktur, wurde durch entsprechende Kooperationen mit denSozialversicherungsträgern "abgesichert". Der klassische, von den Sozial-versicherungsträgern finanzierte "Kurtourismus" sorgte und sorgt für ent-sprechende Basisauslastungen. In dessen Umfeld konnte sich einmoderner Seminar- und Gesundheitstourismus entwickeln. Zu denöffentlichen Basisinvestitionen des Landes kamen private Investitionen zurVerbesserung der touristischen Infrastruktur. In diesem Sinne ist neben denVeränderungen im Gesundheitsbewusstsein wohl auch in der gezielten"Kurpolitik" des Landes eine Ursache für die Beschäftigungsdynamik imTourismusbereich zu sehen.

Der Ausbau der touristischen Infrastruktur begann in Bad Radkersburg1979 mit der Errichtung eines Thermalquellbeckens und einer Liegehalle.In den achtziger Jahren erfolgten massive Zubauten und Verbesserungen(Parktherme, Kurzentrum, Campingplatz), zu Beginn der neunziger Jahrewurden die Anlagen im Rahmen der vierten Ausbaustufe nochmalsgrundlegend modernisiert und erweitert. Ende der neunziger Jahre wurdemit dem "Vitalhotel" ein Hotelkomplex errichtet, der mit 157 Gästezimmern,489 Betten und 165 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern das größte Hotel inder Steiermark darstellt. 24

Diese Entwicklung - Verbesserung der Infrastruktur in Kombination miterheblichen Steigerungen der Nächtigungszahlen - in der Gemeinde Bad

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Radkersburg hatte auch entsprechende Auswirkungen auf einige Umge-bungsgemeinden im Bezirk Radkersburg. Hussain (1996) hat in einerArbeit gezeigt, dass die Nächtigungssteigerungen in Bad Radkersburgauch Nächtigungssteigerungen in einigen Umgebungsgemeinden nachsich gezogen haben. Diese Steigerungen führten in den Umgebungs-gemeinden wiederum zu einer Steigerung der Bettenanzahl bzw. einementsprechenden Ausbau der touristischen Infrastruktur. Die folgendenZahlen dokumentieren diesen massiven Ausbau der touristischen Infra-struktur im Bezirk Radkersburg: Sowohl in der Winter- als auch in derSommersaison sind zwischen 1989 und 2000 steiermarkweit die Anzahlder Tourismusbetriebe (-11,46 Prozent bzw. -13,51 Prozent) und die Anzahlder zur Verfügung stehenden Betten (-2,49 Prozent bzw. -5,45 Prozent)zurückgegangen. Im Bezirk Radkersburg sind hingegen die Anzahl derBetriebe (+21,38 Prozent bzw. +18,18 Prozent) und die der vorhandenenBetten (+131 Prozent bzw. +70,71 Prozent) massiv gestiegen. Eineähnliche Entwicklung zeigt ein Vergleich der Nächtigungszahlen im BezirkRadkersburg mit den gesamtsteirischen Werten. Die Anzahl der Nächti-gungen ist in der Steiermark insgesamt zwischen 1990 und 2000 lediglichum 1,68 Prozent gestiegen, während sie im Bezirk Radkersburg im glei-chen Zeitraum mit einer Steigerung um 163,36 Prozent nahezu explodiertist.

Für den Gesamtzusammenhang dieser Arbeit von Bedeutung ist einkurzer Blick auf die Herkunftsländer der in der Steiermark nächtigendenTouristen. Während steiermarkweit etwa ein Drittel der Nächtigungen aufausländische Gäste entfällt, waren es im Jahr 2000 im Bezirk Radkersburgnur etwa 6 Prozent. Eine weitere Differenzierung zeigt, dass in derSteiermark insgesamt im Jahr 2000 4 Prozent der Nächtigenden aus denStaaten Mittel- und Osteuropas (MOEL) kamen, während es im BezirkRadkersburg nur 0,2 Prozent waren. Dem überwältigenden Anstieg derGesamtnächtigungszahlen im Bezirk Radkersburg steht ein geringfügigerRückgang der Nächtigungszahlen von Touristen aus den MOEL zwischen1990/1991 und 2000 gegenüber.

Diese Zahlen erlauben wohl nur eine eindeutige Schlussfolgerung: Diepositive touristische Entwicklung des Bezirkes Radkersburg und die damitausgelöste Beschäftigungsdynamik können wohl keineswegs auf dieOstöffnung zurückgeführt werden,25 sie hängen in erster Linie mit deneingangs erwähnten Veränderungen im Gesundheitsbewusstsein und derdarauf Bezug nehmenden steirischen "Kurpolitik" zusammen. Die "Ex-plosion" der Nächtigungszahlen und damit der Tourismusboom in einigenGemeinden des Bezirkes beruhen auf einer starken Zunahme vonNächtigungen von inländischen Gästen, während die Nächtigungszahlenvon Gästen aus den MOEL auf niedrigem Niveau stagnierten.

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4.2 Der "Sozial- und Dienstleistungsbereich"

Die ÖNACE-Wirtschaftsklassen "Gesundheits-, Veterinär- und So-zialwesen" und "Erbringung von sonstigen öffentlichen und privatenDienstleistungen" werden im Folgenden - wie schon gegen Ende desvorigen Abschnittes angedeutet - zum "Sozial- und Dienstleistungsbe-reich" zusammengefassU6 Dieser Sozial- und Dienstleistungsbereich hatim Bezirk Radkersburg nach dem Tourismusbereich in den neunzigerJahren ebenfalls eine starke Beschäftigungsdynamik entwickelt; wie dieÜberlegungen vorhin gezeigt haben, sind in diesem Bereich zwischen 1988und 2001 etwa 450 neue Arbeitsplätze entstanden. Besonders beschäfti-gungsintensiv sind dabei die Krankenbetreuung, die Altenbetreuung unddie "sonstigen Interessenvertretungen und Vereine". In letztgenannteKategorie fallen im Bezirk Radkersburg etwa ein sozialökonomischerBetrieb, die Aktivitäten der "Lebenshilfe" in Mureck und in Bad Radkers-burg, die Aktivitäten der "Volkshilfe" im Bezirk, die Aktivitäten von Tou-rismusverbänden und Fremdenverkehrsvereinen, Jugendunterstützungs-vereinen und politischen Parteien und die Aktivitäten des "SteirischenHilfswerks".

Die hohe Beschäftigungsdynamik des Sozial- und Dienstleistungs-bereichs im Bezirk Radkersburg insgesamt ist in erster Linie, so die These,welche hier vertreten werden soll, auf eine grundlegende Veränderung derRollen, Aufgaben und Funktionen von Familien in der Gegenwart zurück-zuführen, mit anderen Worten auf eine Auslagerung von Familienfunktionund Haushaltstätigkeiten aus dem Bereich der Familie in die offizielleÖkonomie, welche im letzten Jahrzehnt - wohl auch im Sinne einesAufholprozesses - im Bezirk Radkersburg massiv stattgefunden hat.

Häußermann hat diesen Prozess in seiner Grundstruktur sehr anschau-lich beschrieben und in seinen unterschiedlichen Ausprägungen in denUSA, Schweden und der BRD dargestellt. Alle drei Länder hatten in denletzten Jahren eine starke Entwicklung in Richtung einer "Dienst-leistungsgesellschaft" - mit der damit verbundenen Auslagerung vonFamilienarbeit in die offizielle Ökonomie und einer damit einhergehendenSteigerung der Frauenerwerbstätigkeit - zu verzeichnen; die konkreteAusgestaltung dieser Entwicklung unterscheidet sich jedoch zwischendiesen drei Staaten.

In den USA wurden diese Dienstleistungen "marktförmig" organisiert."Wenn die Löhne in den Dienstleistungen nur entsprechend ihren Produk-tivitätszuwächsen steigen, bleiben sie hinter denen, die in den ,progres-siven' Bereichen verdient werden können, immer weiter zurück. So kanneine polarisierte Einkommensstruktur entstehen, bei der die kaufkräftigeNachfrage der wohlhabenden Haushalte auf ein Angebot billiger Arbeits-kräfte trifft ... Es entsteht ein Markt für Dienstleistungen. Andre Gorz hatdiesen Typ von Dienstleistungsökonomie als Dienstbotengesellschaftbezeichnet."27 In Schweden wurde in dieser Hinsicht ein anderer Weg ge-wählt, die Organisation dieser Dienstleistungen wurde zur Staatsaufgabe.

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"Dort wurde der Sozialstaat vor allem in Form personalintensiver Dienstleis-tungen ausgebaut, finanziert durch eine vergleichsweise hohe Besteue-rung der Beschäftigung in der Privatwirtschaft. Das schwedische Modellkann eine Gesellschaft des öffentlichen Dienstes genannt werden."28 In derBRD bedingen das Steuersystem, die Tarifpolitik und die Ausgestaltungdes Sozialstaates, dass "große Teile der Bevölkerung aus dem System derErwerbsarbeit ausgegrenzt bleiben. Dies trifft insbesondere die Frauen, diein den privaten Haushalten viele Dienstleistungen in Form unbezahlterArbeit erbringen. Die BRD entspricht am ehesten dem Modell der Selbst-bed ienu ngsgesellschaft. "29

Österreich entsprach in dieser Hinsicht wohl lange Zeit am ehesten dembundesdeutschen Modell. Dieses österreichische Modell hat sich in letzterZeit allerdings stark verändert, Frauen drängen zunehmend von informel-len Tätigkeiten in der Familie zu Tätigkeiten in der offiziellen Ökonomie.Genau dieser Prozess hat in Radkersburg in den letzten eineinhalb Jahr-zehnten gut erkennbar stattgefunden. "Der Weg in die Dienstleistungs-gesellschaft ist der Weg der Frauen in das System beruflich organisierterArbeit. Dabei verdrängen Frauen keineswegs Männer aus der Erwerbs-tätigkeit. Der konservative Ruf ,Frauen zurück an den Herd' würde dieArbeitslosigkeit kaum verringern, denn die Dienstleistungsgesellschaftentsteht nicht in einem Nullsummenspiel, bei dem ein konstantes Arbeits-volumen nur anders auf die Geschlechter verteilt wird ... Mit der Integrationder Frauen in das System der Erwerbsarbeit entsteht eine zusätzlicheNachfrage nach Gütern und Dienstleistungen, zunächst nach Haushaltsin-vestitionsgütern, um die verbliebene Hausarbeit zu rationalisieren, dannaber auch nach haushaltsbezogenen Dienstleistungen (Erziehung, Pflege,Reinigung usw.): ,A professional woman needs a wife.' "30

Mesch kommt zu einem ähnlichen Ergebnis: "Mit zunehmender Erwerbs-beteiligung der Frauen sinkt die für Eigenleistungen im Haushalt zurVerfügung stehende Zeit, während das real verfügbare Einkommen derHaushalte steigt. Vormals selbst erstellte Leistungen werden über denMarkt bezogen. Vor allem die Nachfrage nach Kinder- und Altenbetreuung,Krankenpflege, aber auch nach Reinigung, Raum- und Gartenpflege sowiegastronomischen Leistungen steigt."31 Zilian hat diesen Prozess in Anleh-nung an Offe und Luttwak folgendermaßen beschrieben: "Je mehr Leutearbeiten (nämlich in der beruflichen Position einer voll beschäftigtenÖkonomie), desto mehr Leute arbeiten (nämlich bei der Erledigung haus-haltssubstitutiver Funktionen) ... "32

Für die konkrete Entwicklung in Radkersburg könnte man die inhärenteDynamik dieses Prozesses noch mit der Veränderung der Formulierung "Jemehr Leute arbeiten, desto mehr Leute arbeiten" auf "Je mehr Frauenarbeiten, desto mehr Frauen arbeiten" beschreiben. "Da die ,neuen Män-ner', die die Hausfrauenrolle übernehmen würden, recht rar sind, wird eineberufstätige Frau jemanden einstellen - in der Regel wiederum eine Frau,die nun die Hausarbeit und die Kinderbetreuung als Beruf übernimmt. DieIntegration der Frauen in den Arbeitsmarkt löst also Multiplikatoreffekte

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aus, die wiederum vor allem Frauen zugute kommen ... Frauen könnenüberwiegend Positionen in neuen Arbeitsmärkten besetzen, die noch nichtvon Männern besetzt sind, und das sind die haushalts- und personen-bezogenen, konsumorientierten Dienstleistungen."33

Auf diese Art und Weise bleiben alte geschlechtsspezifische Muster auchbei zunehmendem Vordringen der Frauen in die offizielle Ökonomie unterzunehmender Auslagerung von Familienfunktionen und Haushaltstätigkei-ten relativ stabil: Frauen gehen dadurch einen Schritt in Richtung ökonomi-scher Selbständigkeit, "aber sie finden in Markt und Staat überwiegenddieselben Aufgaben wieder, die sie schon als Hausfrauen hatten: putzen,waschen, Kinder erziehen, Alte und Kranke pflegen ... "34

Prozessen dieser Art unterliegt die österreich ische Gesellschaft schonseit längerem, abzuwarten bleibt in diesem Zusammenhang wohl dieAntwort auf die Frage, ob die Entwicklung in Österreich eher in Richtungmarktförmiges Modell (USA) oder in Richtung staatliche Organisationdieser Dienstleistungen (Schweden) gehen wird. Die politische Steuerbar-keit dieser zukünftigen Entwicklung soll hier noch einmal ausdrücklichfestgehalten werden.

Die Entwicklung in Radkersburg in den letzten eineinhalb Jahrzehntenhat in dieser Hinsicht wohl auch den Charakter eines Nachholprozesses.Durch die starke agrarische Prägung dieses Bezirkes hatte die "traditionel-le" Familie mit ihren "traditionellen" Funktionen sehr lange maßgeblicheBedeutung und hat sie nach wie vor. Die sukzessive Erosion dieserStrukturen hat in Radkersburg wohl später eingesetzt als in anderenösterreich ischen Regionen; in den neunziger Jahren ist sie - wie vermutetim Sinne eines Nachholprozesses - sehr rasch vor sich gegangen. Zu denbestehenden Einrichtungen im Bereich der Kranken- und vor allem derAltenpflege sind neue gekommen. Die Strukturen der Kinderbetreuungwurden massiv ausgebaut. Vor allem auch kleinere Kommunen habenverstärkt Kindergärten errichtet. Auch hier sind neue Arbeitsplätze entstan-den. Die "Volkshilfe" hat ihre Aktivitäten im Bereich der Kinderbetreuung(Tagesmütter) stark ausgebaut und sich daneben in der Heimhilfe enga-giert. In diesen beiden "Geschäftsfeldern" der Volkshilfe sind im BezirkRadkersburg in den letzten zehn Jahren mehr als 50 neue Arbeitsplätzeentstanden.35 Das "Hilfswerk Steiermark" engagiert sich verstärkt im Be-reich der Hauskrankenpflege, dadurch sind im Bezirk in den letzten zehnJahren ca. 20 neue Arbeitsplätze entstanden.36 Die "Lebenshilfe" hat ihreAktivitäten - vorwiegend im Behindertenbereich - in Bad Radkersburg undin Mureck verstärkt, das "Rote Kreuz" engagiert sich neben den Kran-kentransporten nun auch verstärkt im Bereich der Zustellung von Speisen("Essen auf Rädern"). In beiden Aktivitätsfeldern zusammengenommensind dadurch, laut telefonischer Auskunft der Bezirksstelle Bad Radkers-burg, in den letzten zehn Jahren zehn neue Arbeitsplätze entstanden. DieHilfsorganisation "Jugend am Werk" beschäftigt in Mureck 20 Menschen,beim Sozialökonomischen Betrieb "SÖB & SUN" sind ebenfalls in Mureckmehr als 40 neue Arbeitsplätze entstanden. Der Trend zur Auslagerung von

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Familienfunktionen und Haushaltstätigkeiten in die offizielle Ökonomie lässtsich also für den Bezirk Radkersburg anschaulich nachzeichnen.

4.3 Die Entwicklung im Handel

In diesem Abschnitt soll nun argumentiert werden, dass in einemfundamental veränderten Konsumverhalten weiter Bevölkerungsschichtenund dadurch veränderten Wettbewerbsstrukturen die Ursache für diedeutliche Zunahme an unselbständiger Beschäftigung im Handel liegt.Einleitend ist in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass die generelleEntwicklungslinie im Handel im letzten Jahrzehnt in einer enorm hohenKonzentrationsdynamik verbunden mit einem stark steigenden Filialisie-rungsgrad bestand. Die Ursache für diese Konzentrations- und Filialisie-rungsprozesse im Handel liegt zum einen in einem veränderten Kon-sumentenverhalten: "Die höhere Mobilität der Konsumenten, die zuneh-mende Berufstätigkeit von Frauen und ein steigendes verfügbares Ein-kommen haben eine Bevorzugung von One-stop-Shopping zur Folge: DieKonsumenten besuchen die Geschäfte seltener, fahren weiter und gebenmehr Geld pro Einkauf aus als früher. Große Verkaufsstätten in strategi-schen Lagen mit breiten und tiefen Sortimenten verringern Zeit-, Transport-und Suchkosten der Konsumenten. Dadurch entsteht ein Strukturvorteil fürgroße Handelsunternehmen, insbesondere Filialisten, die über die nötigenfinanziellen Kapazitäten und Verteilungssysteme für große Verkaufsflächenverfügen. "37

Zum anderen liegen Gründe für die Zunahme von Konzentration undFilialisierung in institutionellen Markteintrittsbarrieren - Raumplanungs-und Bauordnungsvorschriften bringen etablierten Händlern in günstigenLagen "First-mover-Vorteile"; wenn ein Markteintritt neuer Mitbewerberdadurch erschwert oder verhindert wird, bleiben für Expansionsstrategiennur Fusionen und Übernahmen -, im strategischen Marktverhalten großerHandelsunternehmen - "großen Unternehmen fallen die Marktsegmentie-rung über Preisdifferenzierung und Sonderangebote (Lockangebote) sowiedie Kundenbindung durch Aktionen (kostenlose Zugaben, Treuekarten und-marken, Gewinnspiele) leichter. Ihre finanzielle Ausstattung ermöglichtauch das Setzen von Kampfpreisen, um kleinere Händler aus dem Markt zudrängen" -, in der Bedeutung steigender Skalenerträge für die Kosten-situation - "steigende Skalenerträge ergeben sich aus einer Fixkostende-gression (etwa von Lagerkapazitäten), aber auch aus sinkenden Stück-kosten im Einkauf (monetäre Skalenerträge etwa durch Mengenrabatte).Verbundvorteile entstehen dadurch, dass Fixkosten (Lager, Preisauszeich-nung, Werbung) auf eine große Zahl von Produkten und Produktlinienaufgeteilt werden können. Außerdem hat der großflächige Einzelhandelstrukturbedingte Größenvorteile im Bereich der Beschaffung, der Warenlo-gistik und der Werbung" - und in einer verstärkten Internationalisierung"aufgrund schwacher Expansion der Heimmärkte, ausgereifter Betriebs-konzepte, die immer leichter auf andere Märkte übertragbar sind, der

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Verfügbarkeit der notwendigen Technologien sowie der internationalenAnnäherung der Konsummuster".38

Das Zusammenwirken dieser Faktoren, also sowohl des verändertenKonsumentenverhaltens als auch der veränderten Struktur- und Wettbe-werbsfaktoren innerhalb der Handelsbranche, haben zu verstärkter Filiali-sierung und einem raschen Wachstum von Super- und Hypermärktengeführt. Im Zuge dieser Entwicklung entstanden zunächst Einkaufszentrenrund um die großen städtischen Ballungszentren. Eine zunehmendeMarktsättigung in den Ballungsräumen ließ die Filialisten in den letztenJahren in weiterer Folge in Kleinstädte (regionale Zentren) ausweichen,letztlich dann auch in kleinere Orte vordringen. Parallel zu dieser Entwick-lung der Konzentration und Filialisierung beschleunigte sich der Rückgangder Nahversorgung weiter. Österreichweit gingen die Betriebszahlen imgesamten Einzelhandel und auch im Lebensmitteleinzelhandel in denneunziger Jahren stark zurück, der Rückgang bezog sich nahezu aus-schließlich auf Betriebe mit bis zu neun Beschäftigten.39

Genau diese Entwicklung lässt sich für den Bezirk Radkersburg in denletzten eineinhalb Jahrzehnten sehr anschaulich nachzeichnen. Zu Beginndes Untersuchungszeitraumes im Jahr 1988 hatten, neben den Filialen desLagerhauses, der "traditionellen Handelskette" ländlicher Räume, nur zweigroße Handelsunternehmen eine Filiale im Bezirk. Die entsprechendenVersorgungsleistungen im Handel wurden darüber hinaus also weitgehendvon den klassischen Nahversorgern übernommen; aufgrund der nach wievor starken agrarischen Prägung des Bezirkes ist anzunehmen, dass auchdie Direktversorgung bei Landwirten im Bezirk in dieser Hinsicht einewesentliche Rolle spielte und spielt.

Zehn Jahre später hat sich das Bild fundamental geändert. Viele großeösterreich ische und ausländische Handelsunternehmen haben Filialen imBezirk errichtet; die erkennbare Konzentration dieser Filialen in denregionalen Zentren Bad Radkersburg und Mureck untermauert den vorhinangesprochenen Trend des Übergreifens der Filialisierung auf regionaleKleinstädte. Zudem hat seit dem Beitritt Österreichs zur EuropäischenUnion ein Handelsunternehmen aus der Bundesrepublik Deutschlandseine Aktivitäten in Österreich stark ausgeweitet. Die "Anton SchleckerGmbH" hat mit ihren Filialen, welche, wie vorhin schon angedeutet wurde,auch schon in kleineren Gemeinden errichtet wurden, vielfach die Rolle undFunktion ehemals unternehmensrechtlich selbstständiger, kleinerer Nah-versorgungsbetriebe übernommen. Durch diese Entwicklung ist im Bezirknatürlich in erheblichem Ausmaß zusätzliche Beschäftigung entstanden,exakter formuliert: vor allem zusätzliche unselbstständige Beschäftigung.Die "klassische" Nahversorgungsstruktur dieser agrarischen Region wargekennzeichnet durch kleine Unternehmen und einen sich darausergebenden relativ hohen Anteil an selbstständig Beschäftigten (= Be-triebsinhaberinnen), der "typische" Arbeitnehmer bzw. die "typische"Arbeitnehmerin in der neuen, filialisierten Handelsstruktur des Bezirkes istunselbständig beschäftigt. Die kumulierten Wirkungen dieser hier kurz

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skizzierten Prozesse haben jedenfalls zur Beschäftigungssteigerung imHandel im Bezirk geführt.

Neben der Filialisierung ist für den Handel jedoch auch festzuhalten, dassdie noch verbliebenen selbständigen Nahversorgungsbetriebe versuchthaben, durch zusätzliche Angebote bzw. die Übernahme neuer Funktionenihre Position zu festigen. Diese Entwicklung in Verbindung mit der vorhinskizzierten Filialisierung hat zu einer einigermaßen entwickelten Angebots-und Unternehmensstruktur im Bereich des Handels im Bezirk Radkersburggeführt.

Auch am Ende dieses Abschnittes wird klar, dass ein wesentlicher Teilder positiven Beschäftigungsdynamik des Bezirkes Radkersburg wiederumnicht auf die Ostöffnung zurückgeführt werden kann, sondern mit anderenhier kursorisch skizzierten Entwicklungen im Zusammenhang steht. VonBedeutung bleibt allerdings noch die Frage, inwieweit durch die Ostöffnungzusätzliche - beschäftigungswirksame - Nachfrage im Handel des Bezir-kes Radkersburg entstanden sein könnte.

Differenziertere Überlegungen dazu können im Rahmen dieser Arbeitnicht angestellt werden. Eine eher allgemeine Befragung zur Einschätzungdieser Auswirkungen in der Bezirksstelle der steirischen Wirtschaftskam-mer in Bad Radkersburg und unter einigen Filialen von HandeIsunterneh-men des Bezirkes ergab allerdings übereinstimmend den Befund, dass dieaus der Ostöffnung 1989 im Handelsber~ich des Bezirkes zusätzlichinduzierte Nachfrage nur eine untergeordnete Rolle spielt.

Zwar gibt es durchaus einen - in erster Linie für die Betriebe derGemeinde Bad Radkersburg - relevanten Einkaufstourismus aus demslowenischen und vor allem dem kroatischen Raum um Warasdin/Varazdin; diese aus dem Einkaufstourismus induzierte Nachfrage hat zueinem erheblichen Teil wegen der relativ offenen Grenzen jedoch auchschon vor 1989 bestanden.

Verändert hat sich seit 1989 die Struktur dieser Nachfrage. Während siesich vor 1989 und in den ersten Jahren danach vor allem auf technischeund elektronische Geräte und Waren sowie den Textilbereich bezog,bezieht sie sich gegenwärtig in erster Linie auf den Lebensmittelhandel.Der wesentliche Teil der seit der Ostöffnung entstandenen Nachfrage ausSlowenien und Kroatien geht aber über den Lebensmittelhandel weithinaus und konzentriert sich hauptsächlich auf den Zentralraum Graz mitseiner in diesem Zusammenhang in jeglicher Hinsicht entwickelterenAngebotspalette. Soweit diese Nachfrage daneben noch in der direktenGrenzregion absorbiert werden kann, geht sie - wiederum wegen desentwickelteren Angebotes und der besseren Erreichbarkeit - in denNachbarbezirk Leibnitz. Ostöffnungseffekte spielen für die Beschäftigungs-dynamik des Bezirkes Radkersburg also auch in dieser Hinsicht eine eheruntergeordnete Rolle.

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5. Die Beschäftigungsentwicklung in einigen anderenWirtschaftsbranchen

Von der Beschäftigungsdynamik her gesehen kommt der Bereich desBauwesens den vorhin analysierten Entwicklungen am nächsten. Aufgrundder Datenlage kann man davon ausgehen, dass die Beschäftigungs-dynamik dieser Branche im Untersuchungszeitraum bei etwa 250 bis 300neuen Arbeitsplätzen im Bezirk gelegen ist. Dieses Ergebnis ist insofernüberraschend, als in den letzten zehn Jahren einige Unternehmen desBezirkes aus dem Bauhauptgewerbe (Hoch- und Tiefbau) die Belegschaftdrastisch reduziert bzw. ihre Aktivitäten überhaupt eingestellt haben.4o Eszeigt einen tief greifenden Strukturwandel im Baubereich des Bezirkes. DieBeschäftigung im Bauhauptgewerbe ist zurückgegangen, die Beschäfti-gung im Baunebengewerbe ist allerdings sehr dynamisch gewachsen. Diebeschäftigungsintensivsten Tätigkeitsfelder im Baunebengewerbe desBezirkes bestehen in der Malerei und Anstreicherei und in der Gas-,Wasser-, Heizungs- und Lüftungsinstallation. Diese Dynamik ist vor allemdarauf zurückzuführen, wie Rückfragen in den Bezirksstellen von Wirt-schaftskammerund Österreichischem Gewerkschaftsbund im Bezirk erge-ben haben, dass diese oft sehr kleinen Unternehmen ihren Aktionsradiuswesentlich erweitert haben und nun ihre Dienste verstärkt auch im GrazerZentralraum anbieten, wo sie auf eine entsprechende Nachfrage stoßen.Die verstärkte Bautätigkeit im Tourismusbereich des Bezirkes und imZusammenhang mit der Landesausstellung 1998 in Bad Radkersburg hatsicherlich auch einen Beitrag zur Entwicklung dieser Strukturen imBaunebengewerbe geleistet. Für den Gesamtzusammenhang dieser Arbeitist auch noch festzuhalten, dass diese Unternehmen des Baunebengewer-bes demgegenüber - so die Einschätzungen der Befragten - ihre Aktivi-täten in Richtung MOEL kaum verstärkt haben.

Ebenfalls recht dynamisch war die Entwicklung in den Bereichen "Ver-kehr und Nachrichtenübermittlung" und bei den unternehmensbezogenenbzw. wirtschaftsnahen Dienstleistungen. Die Dynamik im Verkehrsbereichist in erster Linie auf Beschäftigungszuwächse bei einigen Transportunter-nehmen des Bezirkes zurückzuführen, im Bereich der unternehmensbe-zogenen bzw. wirtschaftsnahen Dienstleistungen sind zu den "traditionel-len" Arbeitsplätzen beispielsweise bei Anwälten, Wirtschafts- und Steuer-beratern usw. neue in Beratungsfirmen, bei Arbeitskräfteverleihern, inWerbe- und Reinigungsfirmen u. dgl. gekommen. Weiters sind einige ersteArbeitsplätze im Bereich der neuen Informations- und Kommunikations-technologien und der elektronischen Datenverarbeitung im Bezirk entstan-den.

Somit bleibt zuletzt noch die Entwicklung im produzierenden Bereich desBezirks zu betrachten. Grundsätzlich ist dabei zunächst einmal festzuhal-ten, dass der industrielle Sektor im Bezirk Radkersburg eine im Vergleichzu anderen steirischen Regionen und Bezirken nur sehr untergeordneteRolle spielt, größere industrielle Leitbetriebe fehlen völlig. Die Daten erge-

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ben einen Rückgang von 114 Versicherungsverhältnissen. Für diesenSektor ist allerdings in Betracht zu ziehen, dass der Bereich "Instand-haltung und Reparatur von Kraftfahrzeugen und Gebrauchsgütern" nachder Betriebssystematik 1968 noch zum produzierenden Bereich gezähltwurde, während er nach der ÖNACE 1995 in den Daten für 2001 in den"Handel" fällt. Bei einer Größenordnung dieses Bereichs von heute etwa220 Beschäftigten und unter der Annahme, dass dieser Bereich im Unter-suchungszeitraum relativ dynamisch hinsichtlich der Beschäftigung gewe-sen ist, kann man also davon ausgehen, dass die Beschäftigung improduzierenden Bereich seit 1988 im Bezirk Radkersburg relativ stabilgeblieben ist.

Auch dieses Ergebnis ist einigermaßen überraschend, da die allgemei-nen Strukturprobleme und Schwierigkeiten des industriell-gewerblichenBereichs, welche in der Steiermark ja für die achtziger Jahre kennzeich-nend waren, natürlich auch im Bezirk Radkersburg ihre hinsichtlich derIndustriebeschäftigung negativen Konsequenzen nach sich gezogenhaben. Für Radkersburg war dabei in erster Linie die krisen hafte Ent-wicklung in der Textil- und Bekleidungsindustrie relevant. Allein durchBetriebsstilllegungen in einigen größeren Unternehmen dieses Bereichs41

sind im Bezirk an die 300 Arbeitsplätze verloren gegangen, dazu kamen dieStilllegung einer Stahlbaufirma in der Gemeinde Tieschen, welche eben-falls mit dem Verlust von mehr als 100 industriell-gewerblichen Arbeits-plätzen verbunden war, und die Stilllegung einer Molkerei in der GemeindeMureck. Größere Betriebsansiedlungen waren demgegenüber im Bezirk imindustriell-gewerblichen Bereich während des Untersuchungszeitraumsnicht zu verzeichnen.

Trotz dieser Beschäftigungseinbrüche blieb die industriell-gewerblicheBeschäftigung im Bezirk insgesamt relativ stabil. Dies ist vor allem auf einedynamische Beschäftigungsentwicklung in vielen kleineren Unternehmendes Bezirks zurückzuführen. Deutlich wird auch, dass die Bedeutung desWerkstoffs "Textilien" im Bezirk drastisch abgenommen hat, während dieBedeutung des Werkstoffs "Holz" stark zugenommen hat. Im Bereich der"Holzindustrie" finden mittlerweile an die 430 Personen im Bezirk Beschäfti-gung.

Auch die Unternehmen dieses Bereichs haben ihre Aktionsradien - ähn-lich der Unternehmen im Baunebengewerbe - stark erweitert. Durch unter-schiedlichste neue betriebliche Konzepte und Strategien konnten neueMärkte - wiederum vor allem innerösterreichische - gewonnen werden.Daneben hat in diesem Bereich wohl auch die Ostöffnung einen positivenEffekt getätigt. Gerade im industriell-gewerblichen Wirtschaftssegment desBezirkes Radkersburg gibt es einige Unternehmen, welche bereits ver-stärkt versuchen, vielfältigste und unterschiedlichste Kooperationen mitAkteuren im Nachbarstaat Slowenien aufzubauen bzw. zu erweitern.

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6. Qualitative Aspekte der neuen BeschäftigungsmöglichkeitenBislang standen im Rahmen dieser Arbeit Überlegungen hinsichtlich

quantitativer Aspekte der Arbeitsmarktentwicklung im Bezirk Radkersburgim Vordergrund, nun sollen noch einige wenige qualitative Aspekte erörtertwerden. Zentrale Bedeutung für Arbeitnehmerinnen hat das aus derjeweiligen Arbeit erzielbare Einkommen. Am Beginn des hier interessieren-den Untersuchungszeitraums, im Jahr 1990, lag das Brutto-Medianein-kommen für Männer und Frauen im Bezirk Radkersburg bei S 14.361(€ 1.043,65), der steirische Durchschnittswert bei S 17.620 (€ 1.280,50),der österreich ische bei S 17.886 (€ 1.299,83). Radkersburg lag damit ander letzten Stelle aller steirischen Bezirke, das Einkommensniveau imBezirk Radkersburg betrug 81,5% des gesamtsteirischen Niveaus.

In der ersten Hälfte der neunziger Jahre hat sich diese Situation erkenn-bar zugunsten der Beschäftigten im Bezirk Radkersburg verändert. DasEinkommensniveau im Bezirk stieg zwischen 1990 und 1995 mit 31,8Prozent um einiges stärker als im gesamtsteirischen Durchschnitt(+26,1 %), der Bezirk konnte die "rote Laterne" hinsichtlich des absolutenEinkommensniveaus in der innersteirischen Skala an den Bezirk Feldbachweitergeben. Die im Bezirk erzielten Einkommen erreichten zu diesemZeitpunkt bereits 85,2 Prozent des gesamtsteirischen Niveaus. Ab 1995 hatsich diese Entwicklung wieder deutlich zu Ungunsten der Beschäftigten imBezirk Radkersburg verändert. Zwischen 1995 und 2000 stiegen die Ein-kommen in der Steiermark insgesamt um 10 Prozent, in Radkersburg nurum 4,9 Prozent. Dadurch fielen die Einkommen im Bezirk im Vergleich zurgesamten Steiermark wieder ungefähr auf das Niveau von 1990 zurück(81,2 Prozent), der Bezirk nahm im Jahr 2000 in der innersteirischenEinkommensskala wieder den letzten Rang ein.

Die äußerst dynamische Beschäftigungsentwicklung im Bezirk hat sichalso in erster Linie auf den "Niedriglohnbereich" bezogen. Der Bezirkkonnte seine diesbezügliche Position, welche traditionell im Niedriglohn-sektor verankert ist und war, nicht verbessern. Auch das Qualifikations-niveau der im Bezirk unselbständig Beschäftigten liegt nach wie vordeutlich unter dem gesamtsteirischen Durchschnitt.

7. Zusammenfassung und SchlussfolgerungenAm Schluss dieser Arbeit .gilt es, die wesentlichen Ergebnisse zusam-

menzufassen. Die folgende Ubersicht enthält diese kurze Zusammenfas-sung der Hauptergebnisse: Die Beschäftigungsentwicklung im BezirkRadkersburg war seit dem Wegfall des Eisernen Vorganges - welcherwiederum hinsichtlich seiner Auswirkungen gerade in diesem Bezirk nie soundurchlässig war wie in anderen österreichischen Regionen - und derdamit verbundenen Ostöffnung äußerst dynamisch. Diese Dynamik wurdein der vorliegenden Arbeit eingehend beschrieben. Dabei wurde zunächstfestgehalten, woher das Arbeitskräftereservoir kam, welches die nun neu

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entstandenen Arbeitsplätze einnehmen konnte: Die Anzahl der Bezirksaus-pendlerinnen ist zurückgegangen, Personen aus dem Ausland und bishernicht beschäftigte Frauen fanden ebenso Beschäftigung wie "ehemalige"Landwirte. Zudem ist die Arbeitslosigkeit leicht zurückgegangen.

Beschäftigungsentwicklung im Bezirk Radkersburg - Hauptergeb-nisse

- PendlerrückgangWoher - Ausland

kamen die - LandwirtschaftArbeitskräfte? - Frauen

- Arbeitslose

- Thermentourismus +650Wo - Sozial- und Dienstleistungsbereich +450

entstanden neue - Handel +400Arbeitsplätze? - Bauwesen +250

- Verkehrswesen + 150- Unternehmensbezogene Dienstleistungen + 150- Änderung des Gesundheitsbewusstseins,

"Kurpolitik"Warum - Auslagerung von Familienfunktionen und

entstanden sie? Ijaushaltstätigkeiten- Anderung des Konsumverhaltens und der

Strukturen im HandelOstöffnungseffekte gering!!!

Neue Arbeitsplätze sind vor allem im Bereich des Thermentourismus, imSozial- und Dienstleistungsbereich und im Handel entstanden, in gerin-gerem Ausmaß daneben auch im Bauwesen, im Verkehrswesen und beiden unternehmensbezogenen und wirtschaftsnahen Dienstleistungen. AlsUrsachen für die erheblichen Beschäftigungszuwächse in gerade diesenSektoren wurden Änderungen im Gesundheitsbewusstsein in Verbindungmit einer entsprechenden "Kurpolitik" und im Konsumverhalten sowie um-fangreiche Auslagerungen von Familienfunktionen und Haushaltstätigkei-ten in die offizielle Ökonomie identifiziert. In ihrem Zusammenwirken undihrer gegenseitigen Bedingtheit verstärken diese Ursachen noch ihrebeschäftigungssteigernde Tendenz. Frauen, die Beschäftigung im Touris-musbereich finden, fragen zum Beispiel mehr Leistungen des Sozial- undDienstleistungsbereiches nach, was dort wiederum Beschäftigung indu-ziert. In diesen beiden Sektoren entstehen zusätzliche Einkommen, diewiederum Beschäftigung im Handel induzieren, usw. Direkte Ostöffnungs-effekte haben demgegenüber nur eine äußerst geringe Rolle gespielt, wiein den einzelnen Abschnitten gezeigt werden konnte. Die positive Beschäf-tigungsdynamik konnte allerdings die grundlegenden Strukturprobleme im

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Bezirk hinsichtlich der Einkommenssituation und des Qualifikationsniveausder Beschäftigten nicht entschärfen.

In der Einleitung zu dieser Arbeit wurde die Frage aufgeworfen, wie esdazu kommen kann, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer desBezirkes - wie sehr oft die Einwohner insgesamt - von dieser Beschäfti-gungsdynamik relativ wenig bemerkt haben und ihren Arbeits- undWohnbezirk sehr oft vielmehr subjektiv als strukturschwache agrarische"Krisenregion" einstufen. Im subtilen Charakter dieser Beschäftigungs-dynamik, der hier nachgezeichnet wurde, ist auf diese Frage wohl eineAntwort zu finden. Die Beschäftigungsdynamik hatte ihre Ursachen ebennicht in spektakulären öffentlichkeitswirksamen Ansiedlungen von indus-triellen Großbetrieben oder in medienwirksamen Erfolgen in irgendwelchenzeitgeistigen "Clustern", wie in einigen anderen Regionen der Steiermark.Die in dieser Arbeit beschriebenen Prozesse, welche zur erheblichenAusweitung der unselbständigen Beschäftigung im Bezirk geführt haben,gehen eher langsam und von einer breiteren Öffentlichkeit unbemerkt vorsich. Auch einige qualitative Aspekte der neu entstandenen Arbeitsplätze,wie relativ niedrige Einkommen und eher geringe Qualifikationserfor-dernisse, verleiten kaum zu öffentlicher Jubelstimmung.

Dazu kommt noch, dass der Bezirk in den achtziger Jahren, also nur einJahrzehnt vor den hier analysierten Entwicklungen, tatsächlich eineveritable "Krise" erlebte, nämlich einen starken Beschäftigungsrückgangverbunden mit einer entsprechenden Zunahme der Pendelaktivitäten. Sogehen beispielsweise aus den Ergebnissen der Volkszählungen 1981 und1991 eine Abnahme der Anzahl der im Bezirk zur Verfügung stehendenArbeitsplätze um 9,5 Prozent - dies vor allem im Zusammenhang mit demlandwirtschaftlichen Strukturwandel - und ein Anstieg der Bezirksaus-pendlerinnen um 34 Prozent (!) von 2.308 auf 3.092 hervor. Das Be-wusstsein dieser "Krise" scheint noch stark nachzuwirken.

So bleibt letztlich noch ein Blick auf die Zukunft zu werfen. Die zukünftigewirtschaftliche Entwicklung des Bezirks und damit auch die vorhandenenLebensumstände und Lebensbedingungen werden in erheblichem Maßevon den Folgen und Auswirkungen der Erweiterung der EuropäischenUnion abhängen. Insofern versteht sich diese Arbeit auch als ein Beitrag zueiner zukünftig zu führenden differenzierteren Erweiterungsdebatte:Besorgte und kritische Hinweise auf die zukünftigen Entwicklungsmöglich-keiten und Entwicklungschancen von Grenzregionen nach der Erweiterungder Union werden in öffentlichen und auch wissenschaftlichen Debattenimmer wieder mit einem saloppen Hinweis auf die "hervorragende" Ent-wicklung der Grenzregionen seit der Ostöffnung abgetan. Daran knüpftdann sehr oft die explizite oder implizite Aufforderung, "sich keine Sorgenzu machen", etwa nach dem Motto: "Wenn schon die Ostöffnung in denGrenzregionen so viele Vorteile gebracht hat, kann die Osterweiterung wohlauch kein Problem sein."

Vorliegende Arbeit hat im Sinne einer Fallstudie gezeigt, dass die Dingewohl nicht so einfach liegen. Die Beschäftigungsentwicklung im Bezirk

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Radkersburg war seit der Ostöffnung tatsächlich erstaunlich dynamisch,die Ostöffnung selbst hat dazu allerdings wohl den geringsten Beitraggeleistet. Es war eher ein Geflecht aus gesellschaftlichen Veränderungenund Umbrüchen, welches zur Beschäftigungsausweitung geführt hat. Ineinigen Fällen hatte diese Entwicklung sicherlich auch den Charakter einesAufhol- oder Nachholprozesses: Die Auslagerung von Haushaltstätigkeitenist beispielsweise in eher städtischen Regionen wohl schon viel weiterfortgeschritten als im Bezirk Radkersburg. Insgesamt ist die Entwicklung imBezirk im letzten Jahrzehnt mit dem Schlagwort einer "beschleunigtenTertiärisierung einer Agrarregion" wohl recht treffend zu beschreiben.

Anmerkungen1Vgl. Heschl (2002).2Der Standard (16. Februar 1998).3Der Standard (15. Jänner 2001).4DerStandard (16. Februar 1998).5Der Standard (15. Jänner 2001).6Vgl. dazu beispielsweise Schremmer, Krajasit~ (1992) oder Beirat für Wirtschafts- und So-zialfragen (1992). .

7Schremmer, Krajasits (1992) 105.8Vgl. dazu Wendner (1994) und Gassier, Rammer (1995).9Vgl. Geldner (1994).

10Vgl. Krajasits, Delapina (1997).11Zu den Definitionen und Abgrenzungen vgl. Krajasits, Delapina (1997) 44f.12Vgl. Stankovsky, Palme (1999).13Stankovsky, Palme (1999) 30.14Vgl. Mayerhofer, Palme (2001).15Mayerhofer, Palme (2001) 3.16Ebd.39f.17Ebd. 43ff.18Hawlik (2001) 827.19Länder wie die USA, Neuseeland oder die Niederlande, welchen in wissenschaftlichen

und öffentlichen Debatten immer wieder "Beschäftigungswunder" attestiert wurden, errei-chen in diesem Zeitraum - je nach statistischer Quelle - durchschnittliche jährliche Zu-wachsraten zwischen 1,4 und 3,3 Prozent, vgl. dazu Heschl (2002) 41ff.

20Ab 1994 sind die Daten zur Ausländerinnenbeschäftigung aufgrund rechtlicher Änderun-gen und damit verbundener Statistikumstellungen nur eingeschränkt mit den Daten derJahre 1992 und 1993 vergleichbar.

21Laut einer Auskunft des AMS Steiermark vom 5. April 2001 arbeiteten im Jahr 2001 vonca. 3.200 slowenischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in der Steiermark 878 imBezirk Radkersburg.

22 Amtliche Telefonbücher geben brauchbare Hinweise auf Standorte bzw. Filialen von Unterneh-men im Bezirk Radkersburg, welche ihren Firmensitz an sich außerhalb des Bezirkes haben.

23Hussain (1996) 1.24Vgl. dazu http://druck.kleinezeitung.atlsteiermark/drucken?which=one=713023 (25. Juli

2001 ).25Die Ostöffnung hatte hier allerdings insofern einen Effekt, als dadurch auf ein entsprechen-

des Arbeitskräftepotential für den Tourismusbereich des Bezirkes zurückgegriffen werdenkonnte, wie die Ausführungen hinsichtlich der Ausländerinnenbeschäftigung in dieser Ar-beit gezeigt haben.

26Die Definition des "Sozial- und Dienstleistungsbereiches" im vorigen Abschnitt umfassteauch noch die ÖNACE-Wirtschaftsklassen "Öffentliche Verwaltung, Landesverteidigung,

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Sozialversicherung" und "Unterrichtswesen". Da die Entwicklungen in diesen beidenWirtschaftsklassen für die folgenden Überlegungen wenig Relevanz haben, wird für die-sen Abschnitt diese engere Definition des Sozial- und Dienstleistungsbereiches gewählt.

27Häußermann (1999) 74ff.28Ebd. 76.29Ebd. 76.30Ebd. 78f.31Mesch (1998) 58.32Zilian (2001) 94.33Häußermann (1999) 79.34 Ebd. 79.35 Diese Einschätzung basiert auf einer telefonischen Auskunft der Geschäftsführerin.36Quelle: telefonische Auskunft, 6. August 2001.37Aiginger, Wieser, Wüger (1999) 797.38Ebd.798.39Vgl. dazu Aiginger, Wieser, Wüger (1999) 801.40Ohne Anspruch auf Vollständigkeit handelt es sich dabei beispielsweise um die Firmen

Grolleg in Mettersdorf, Haas in St. Peter und Weber in Mureck sowie die Zweigniederlas-sung der Firma Beyer in Mureck.

41Stillgelegt wurden beispielsweise die Firmen Head in Mettersdorf, Peterka in BadRadkersburg, Paar in Mureck und die "MAEL.KASM-Strick- und Strumpfwarenfabrik KG"in Mureck.

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Zusammenfassung

Der Beitrag analysiert die Arbeitsmarkt- und Beschäftigungsentwicklung im politischen Be-zirk Radkersburg seit dem Ende der achtziger Jahre. Diese Beschäftigungsentwicklung waräußerst dynamisch, die Anzahl der unselbständig Beschäftigten im Bezirk ist stärker gestie-gen als in allen anderen österreichischen Bezirken. Die neu entstandenen Arbeitsplätzewurden von Personen aus dem Ausland, bisher nicht beschäftigten Frauen und ehemaligenLandwirten eingenommen. Zudem sind die Anzahl der Bezirksauspendlerlnnen und die Ar-beitslosigkeit leicht zurückgegangen. Neue Arbeitsplätze sind vor allem im Bereich desThermentourismus, im Sozial- und Dienstleistungsbereich und im Handel entstanden. AlsUrsachen für die erheblichen Beschäftigungszuwächse in gerade diesen Sektoren wurdenÄnderungen im Gesundheitsbewusstsein in Verbindung mit einer entsprechenden steiri-schen "Kurpolitik", ein verändertes Konsumverhalten verbunden mit Veränderungen derWettbewerbsstrukturen im Handel sowie umfangreiche Auslagerungen von Familien-funktionen und Haushaltstätigkeiten in die offizielle Ökonomie identifiziert. Ostöffnungs-effekte haben demgegenüber nur eine unbedeutende Rolle gespielt.

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