al-ghazālī und die transzendentale anthropologie

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Al-Ghazālī und die transzendentale Anthropologie von Raid Al-Daghistani Der Mensch ist offenbar zum Denken geschaffen; darin liegt seine ganze Würde und sein ganzes Verdienst; und seine ganze Pflicht besteht darin, so zu denken, wie es richtig ist. Nun fordert es die Ordnung des Denkens, bei sich selbst zu beginnen, bei seinem Schöpfer und seiner Bestimmung. (Pascal, Die Vernunft des Herzens, § 146) Nicht der Vernunft, sondern das Herz erfährt Gott. Darin besteht der Glaube, dass Gott im Herzen und nicht von der Vernunft erfahren wird. … Wir erkennen die Wahrheit nicht allein mit der Vernunft, sondern auch mit dem Herzen… (Pascal, Die Vernunft des Herzens, § 278 und § 282) I. Wonach fragt eine transzendentale Anthropologie? In seinem Monumentalwerk „Kritik der reinen Vernunft“ stellt Immanuel Kant drei grundlegende Fragen, die den gesamte Rahmen der Philosophie bestimmen sollten, d.h. den Bereich der theoretischen Vernunft, der praktischen Vernunft und der Religionsphilosophie. Diese Fragen, die den Menschen in den Mittelpunkt stellen, lauten (1) Was kann ich wissen? (2) Was soll ich tun? und (3) Was darf ich hoffen? Später fügte Kant diesen drei Fragen noch eine vierte hinzu, nämlich: (4) Was ist der Mensch? Während die ersten drei Fragen die Grundfragen der Philosophie sind, ist die vierte Frage die Grundfrage der Anthropologie. Somit zielt die Anthropologie darauf ab, das Wesen des Menschen zu erfassen. Doch „die Anthropologie wird hierbei nicht als ein Bereich angesehen, der neben den ersten drei Bereichen (Erkenntnistheorie, Ethik, Theologie) existiert, sondern als deren einheitlicher Bezugspunkt.“ 1 Die transzendentale Anthropologie versucht, die Fragestellung nach den Bedingungen der Möglichkeit (von Erkenntnis, Sittlichkeit, Religiosität usw.) mit der anthropologischen Fragestellung, was der Mensch sei, zu verbinden. Somit stellt sie einen Zusammenhang zwischen Transzendentalphilosophie und Anthropologie. 2 Der Titel Anthropologia Transcendetalis findet sich schon beim Kant, der für eine kritische Prüfung, d. i. eine Selbsterkenntnis der Vernunft, plädierte, die die wissenschaftliche Erkenntnis mit der Humanität verbinden soll. 3 Die wichtigste Erkenntnis aller Erkenntnisse – sowohl in der Philosophie als auch in der religiösen Geistigkeit – ist daher die Selbsterkenntnis, die zugleich die schwierigste aller Erkenntnisse ist, da es um die Erkenntnis des eigenen Wesens (der Natur und der Grenzen des eigenen Selbst) geht. Doch woher überhaupt diese Bedarf und wozu letztendlich die Bemühung sich selbst zu erkennen (und sich selbst zu bestimmen)? Nach Wolfhart Pannenberg – einem der bedeutendsten deutschen evangelischen Theologen des 20. Jahrhunderts – leben wir sogar in einem Zeitalter der Anthropologie. 4 Weil sich der Mensch selbst zum Problem geworden ist und setzt immer mehr daran, das Rätsel seiner Person zu entschlüsseln, ist die Anthropologie ein der Hauptziele der geistigen Bestrebungen unserer Gegenwart. Pannenberg geht davon aus, dass der Mensch – im Unterschied zum Tier, das ein geschlossenes Triebzentrum darstellt – Weltoffen ist. 5 Der Unterschied zwischen dem Mensch und dem Tier sei nach Pannenberg – und auch nach anderen 1 http://www.geistundkultur.de/kant_husserl_ant.pdf (25.07.2014) 2 Vgl. ebd. (25.07.2014) 3 Vgl. ebd. (25.072014) 4 Pannenberg, Wolfhart, Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie . 7. Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1985, S. 5. 5 Ebd., S. 5.

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Al-Ghazālī und die transzendentale Anthropologievon Raid Al-Daghistani

Der Mensch ist offenbar zum Denken geschaffen; darin liegt seine ganze Würde und sein ganzes Verdienst; und seine ganze Pflicht besteht darin, so zu denken, wie es richtig ist. Nun fordert es die

Ordnung des Denkens, bei sich selbst zu beginnen, bei seinem Schöpfer und seiner Bestimmung.(Pascal, Die Vernunft des Herzens, § 146)

Nicht der Vernunft, sondern das Herz erfährt Gott. Darin besteht der Glaube, dass Gott im Herzen und nicht von der Vernunft erfahren wird. … Wir erkennen die Wahrheit nicht allein mit der

Vernunft, sondern auch mit dem Herzen…(Pascal, Die Vernunft des Herzens, § 278 und § 282)

I. Wonach fragt eine transzendentale Anthropologie?In seinem Monumentalwerk „Kritik der reinen Vernunft“ stellt Immanuel Kant drei grundlegende Fragen, die den gesamte Rahmen der Philosophie bestimmen sollten, d.h. den Bereich der theoretischen Vernunft, der praktischen Vernunft und der Religionsphilosophie. Diese Fragen, die den Menschen in den Mittelpunkt stellen, lauten (1) Was kann ich wissen? (2) Was soll ich tun? und (3) Was darf ich hoffen? Später fügte Kant diesen drei Fragen noch eine vierte hinzu, nämlich: (4) Was ist der Mensch? Während die ersten drei Fragen die Grundfragen der Philosophie sind, ist die vierte Frage die Grundfrage der Anthropologie. Somit zielt die Anthropologie darauf ab, das Wesen des Menschen zu erfassen. Doch „die Anthropologie wird hierbei nicht als ein Bereich angesehen, der neben den ersten drei Bereichen (Erkenntnistheorie, Ethik, Theologie) existiert, sondern als deren einheitlicher Bezugspunkt.“1 Die transzendentale Anthropologie versucht, die Fragestellung nach den Bedingungen der Möglichkeit (von Erkenntnis, Sittlichkeit, Religiosität usw.) mit der anthropologischen Fragestellung, was der Mensch sei, zu verbinden. Somit stellt sie einen Zusammenhang zwischen Transzendentalphilosophie und Anthropologie.2 Der Titel Anthropologia Transcendetalis findet sich schon beim Kant, der für eine kritische Prüfung, d. i. eine Selbsterkenntnis der Vernunft, plädierte, die die wissenschaftliche Erkenntnis mit der Humanität verbinden soll.3 Die wichtigste Erkenntnis aller Erkenntnisse – sowohl in der Philosophie als auch in der religiösen Geistigkeit – ist daher die Selbsterkenntnis, die zugleich die schwierigste aller Erkenntnisse ist, da es um die Erkenntnis des eigenen Wesens (der Natur und der Grenzen des eigenen Selbst) geht. Doch woher überhaupt diese Bedarf und wozu letztendlich die Bemühung sich selbst zu erkennen (und sich selbst zu bestimmen)?Nach Wolfhart Pannenberg – einem der bedeutendsten deutschen evangelischen Theologen des 20. Jahrhunderts – leben wir sogar in einem Zeitalter der Anthropologie.4 Weil sich der Mensch selbst zum Problem geworden ist und setzt immer mehr daran, das Rätsel seiner Person zu entschlüsseln, ist die Anthropologie ein der Hauptziele der geistigen Bestrebungen unserer Gegenwart. Pannenberg geht davon aus, dass der Mensch – im Unterschied zum Tier, das ein geschlossenes Triebzentrum darstellt – Weltoffen ist.5 Der Unterschied zwischen dem Mensch und dem Tier sei nach Pannenberg – und auch nach anderen 1 http://www.geistundkultur.de/kant_husserl_ant.pdf (25.07.2014)2 Vgl. ebd. (25.07.2014)3 Vgl. ebd. (25.072014)4 Pannenberg, Wolfhart, Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie. 7. Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1985, S. 5.5 Ebd., S. 5.

Anthropologen, wie Max Scheler und Helmut Plessner – nicht graduell (oder quantitativ), sondern ein Wesensunterschied. Wenn das stimmt, dann ist „der Mensch nicht irgendwie offen, sondern ganz und gar ans Offene verwiesen, über jede Grenze und Erfahrung hinaus offen, ja sogar die Welt selbst überschreitend.“6 Aufgrund dieser wesentlichen und absoluten Offenheit, ist der Mensch stets auf etwas angewiesen – und er ist unendlich angewiesen. Der Mensch ist offen für neue Erfahrungen und für gesamte Wirklichkeit. Weil diese Offenheit des Menschen prinzipiell unendlich ist, erschöpft sie sich nicht im Kulturschaffen, sondern schafft eine unendliche Angewiesenheit auf ein Unendliches; sie setzt also eine Gottbezogenheit voraus. Und weil diese Offenheit des Menschen – wenn nicht schon tatsächlich, jedenfalls grundsätzlich – unendlich und zugleich ursprünglich, also der Natur des Menschen wesentlich zugehörig und daher nur aus sich selbst erklärbar ist, kann sie transzendental verstehen werden. Darum schafft sich der Mensch – nicht im ontologischen, sondern metaphysischen Sinne – das unendliche Gegenüber auch nicht einfach durch Sublimation seiner Triebe, wie die Psychoanalyse behauptet, sondern eben aufgrund seines unendlichen Angeweisenseins und seiner grenzlosen Offenheit.7

Doch im Unterschied zu Pannenbergs These, nach welcher die Wirklichkeit als Ganzes dem Menschen verschlossen bleibt, weshalb sie sein Vertrauen fordert, ist sie nach al-Ghazālīs Fassung, wie wir später sehen werden, dem Menschen durch die mystische Erkenntnis zugänglich. Damit drängen wir schon in den Kern der transzendentalen Anthropologie als die Frage nach dem Subjekt des Glaubens und Erkennens ein. Der erste, der den Begriff „anthropozentrische Wende“ in dem Bereich der Theologie und Religion eingebracht hat, war der deutsche Theologe Karl Rahner. Der anthropozentrische Aspekt einer theozentrischen Ausrichtung, wie die der Theologie, ist für Karl Rahner nichts anders als die Kehrseite der Medaille, da „die Frage nach Gott gar nicht ohne die Frage nach dem Menschen, als dem Fragenden selbst und dem Adressaten einer von Gott her ergehenden Offenbarung, gestellt werden kann.“8

Wenn der Mensch in seiner unendlichen Offenheit wesentlich auf den Gott als das Unendliche ausgerichtet ist, dann sind Aussagen über Gott immer schon Aussagen über den Menschen.9 Eine transzendentale Anthropologie, so wie sie Rahner versteht, ist mit der theologischen Anthropologie gleichzusetzen, denn sie fragt nach den Strukturen innerhalb des Subjektes, die vorausgesetzt werden müssen, damit der Mensch überhaupt zum Fragenden, Glaubenden und Erkennenden einer vom Gott herabgesandten Offenbarung werden kann.

„Eine transzendentale Fragestellung fragt in der Weise nach etwas, dass nach notwendigen Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis und Tun im Subjekt selbst gefragt wird. (…) Wenn man also die ganze Dogmatik als transzendentale Anthropologie betreiben will, so bedeutet das, dass man eben bei jedem dogmatischen Gegenstand nach den notwendigen Bedingungen seiner Erkenntnis im theologischen Subjekt mitfragt; nachweist, dass es solche apriorische Bedingungen für die Erkenntnis dieses Gegenstandes gibt; zeigt, dass sie selbst schon über den Gegenstand, die Weise, die Methode und die Grenzen seiner Erkenntnis etwas implizieren und aussagen.“10

6 Noack, Winfried, Anthropologie der Lebensphasen: Grundlagen für Erziehung, soziales Handeln und Lebenspraxis, 1. Auflage. Frank & Timme, 2007, S. 67.7 Ebd., S. 67.8 Barwasser, Carsten, Theologie der Kultur und Hermeneutik der Glaubenserfahrung, Lit Verlag, Berlin 2010, S. 105.9 Ebd., S. 105.

An dieser Stelle ist es wichtig anzumerken, dass die Transzendentalität einer anthropozentrisch ausgerichteten Theologie auf der Tatsache beruht, dass sich der Mensch selbst stets als Fragender, Erkennender oder Glaubender erfährt. Das bedeutet, dass der Mensch nicht nur nach Dinge der Welt und Wirklichkeit fragt, sondern auch nach sich selbst als Mensch.11 Eben diese transzendentale Frage nach dem Menschen als Subjekt des Glaubens, Erkennens und Erfahrens gilt umso mehr, wie ich zu zeigen versuchen werde, für die mystische Theologie al-Ghazālīs.Anhand der Ausführungen einiger der repräsentativsten Denker konnten wir sehen, dass die transzendentale Anthropologie, die Fragestellung der Anthropologie mit der transzendentalen Philosophie oder anthropologischer Theologie verbindet und somit die Frage nach dem Wesen des Menschen mit der Frage nach den notwendigen Bedingungen der Möglichkeit seiner Erkenntnis in einem Zusammenhang stellt. In beiden Fällen haben wir mit dem Unbedingten im Menschen bzw. mit den inneren Strukturen seines Erkennens, Erfahrens oder Glaubens zu tun.

II. Die Sonderstellung des Menschen aus der Sicht der islamischen Überlieferung

Nun, welche sind diese (transzendentale) Strukturen innerhalb des Subjektes? Und was ist nun das Wesen des Menschen? Mit diesen Fragen befassten sich zahlreiche Denker und Philosophen schon lange vor Kant, Scheler, Pannenberg oder Rahner. Einer, der sich dieser Frage ausgiebig widmete, war der islamische Theologe, Philosoph und Mystik aus 11. Jahrhundert, Abū Ḥammad al-Ghazālī, der uns eine komplexe spirituelle Psychologie und mystische Philosophie hinterließ. Und genauso wie Jahrhunderte später für Kant, war auch schon für al-Ghazālī der einheitliche Bezugspunkt aller vier Grundfragen (Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? und Was ist der Mensch?) der Mensch selbst. Doch auch in der islamischen geistigen Tradition ist al-Ghazālī nicht der erste gewesen, der nach dem Wesen des Menschen und nach der Möglichkeit der Selbst- und Gotteserkenntnis gefragt und nachgedacht hat. Die ersten Hinweise, was den Menschen als ein geistiges Wesen ausmache und ihn mit dem Gott verbinde, vermittelt uns schon der Koran. An dieser Stelle sollen als Beispiel nur einige solchen Verse hervorgehoben werden. So heißt es:

„Und wisset, dass Gott zwischen den Mann und sein Herz tritt und dass ihr zu Ihm versammelt werdet“12(Q 8:24); oder „haben sie nicht Herzen, mit denen sie begreifen, und Ohren, mit denen sie hören könnten? Doch siehe, nicht ihre Augen sind blind, blind sind die Herzen, die in ihrer Brust sind“ (Q 22:46); oder „Sie fragen dich nach dem Geist. Sprich: 'Der Geist geht aus auf das Geheiß von meinem Herrn! Doch euch ist nur gegeben ein geringes Maß an Wissen!'“ (Q 17:85); oder „Die aber glauben und in deren Herzen im Gedanken Gottes Ruhe finden – ja, finden nicht die Herzen im Gedanken Gottes Ruhe?“ (Q 13:27); oder „Doch wir versiegeln ihre Herzen, so dass sie nicht hören.“ (Q 7:100); oder „Denn siehe, Gott ist fürwahr mi denen, die Gutes tun.“ (Q 29:69); oder „Gott wird dann die von euch, die glauben und denen das Wissen gegeben wurde, um Stufen erhöhen.“ (Q 58:11); oder „Wir haben die Zeichen bereits erläutert für

10 Rahner, Karl, Theologie und Anthropologie, zitiert nach Barwasser, Carsten, Theologie der Kultur, S. 105–106.11 Barwasser, Theologie der Kultur, S. 106.12 Hier und weiter nach der Übersetzung von Bobzin, Hartmut, Der Koran, C.H. Beck, München 2012.

Menschen, die voll Gewissheit sind.“ (Q 2:118); oder „Er kennt den Trug der Augen und was die Herzen bergen.“ (Q 40:19); oder „Gott weiß, was in euren Herzen ist.“ (Q 33:51); oder „Siehe, Gott kennt das Innere der Herzen.“ (Q 5:7); oder „Ihr Menschen! Fürchtet euren Herrn, der euch aus einem Wesen schuf…“ (Q 4:1); oder „Wir erschufen den Menschen in vollendeter Gestalt…“ (Q 95:4); oder „Doch wehe denen, deren Herz zu hart ist, Gottes zu gedenken. Sie sind in klarem Irrtum.“ (Q 39:22); oder „Sie haben Herzen, mit denen sie nicht verstehen…“ (Q 7:179); oder „Versiegelt ist ihr Herz, sie verstehen nicht.“ (Q 9:169); oder „Er gibt Weisheit, wem er will, und wem Weisheit gegeben wird, dem wird viel Gutes gegeben. Doch nur die Einsichtsvollen lassen sich ermahnen.“ (Q 2:269) oder „Doch nur die Verständigen lassen sich ermahnen.“ (Q 13:19); oder „Als dein Herr zu den Engeln sprach: 'Siehe, ich will aus Lehm einen Menschen schaffen. Wenn ich ihn dann wohlgestaltet und von meinem Geist in ihn geblasen habe – dann fallt vor ihm anbetend nieder!'“ (Q 38:72); oder „Wir schufen einst den Menschen und wissen ganz genau, was seine Seele ihm einzuflüstern sucht: Denn wir sind ihm viel näher als seine Halsschlagader.“ (Q 50:16); oder „Wir erwiesen den Kindern Adams Ehre […] und zeichneten sie besonders aus vor vielen, die wir erschaffen haben.“ (17:70) usw.

Obwohl die grade angeführten – und auch viele anderen – Verse des Korans zweifellos auf eine besondere Stellung des Menschen im Kosmos aufweisen und einen dynamischen Zusammenhang zwischen seiner ontologischen Gebundenheit an Transzendenz einerseits und seinem Erkenntnisvermögen andererseits darstellen, verraten sie uns die nähere und genauere, ja eine anthropologische Bestimmung des Menschen doch nicht. Alles, was wir aus dem Koran tatsächlich und explizit über das Wesen des Menschen erfahren können, ist im Grunde genommen das, dass es (1) etwas Inneres ist und (2) auf Gott bezogenes bzw. vom Gott abhängiges ist. Auch die Begriffe, wie Herz (qalb), Seele (nafs), Verstand (ʿaql) oder Geist (rūh), die im Koran in ihrer unterschiedlichen Variationen auf zahlreichen Stellen auftauchen – und mit denen eine Reihe weiterer Begriffe wie Gottesfurcht, Gewissheit, Wissen, Wahrheit, Glaube u.a. eng verbunden sind –, werden nicht ganz klar ausdifferenziert und häufig auch als Synonyme verwendet. Eine der grundlegendsten Analyse dieser Begriffe wird erstmal im 11. Jahrhundert kein anderer als al-Ghazālī liefern. Doch trotzdem dienten solche wie oben angeführte und ähnliche Koranverse bei vielen Philosophen und Mystiker schon längst vor al Ghazālī, als Hauptquelle der Reflexion über die Frage nach dem Wesen des Menschen, nach seiner metaphysischen Bestimmung, seinem existenziellen Sinn und seiner geistigen Berufung.Das Wort „Geist“ kommt im Koran ungefähr 20 Mal vor. Die Wörter „Verstehen“, „Denken“ und „Begreifen“ kommen 70 Mal vor. Auch das Wort „Seele“ kommt im Koran häufig vor und ist ein mehrdeutiger Begriff, der verschiedene höhere und niedrigere Eigenschaften des Menschen umschließt. Die Menschenseele wurde zu einem wichtigen Gegenstand der spirituellen Psychologie der islamischen Mystiker. Alle Sufis sind sich darin einig, dass es mehrere Arten oder Stufen der Seele (nafs) gibt – eine Überzeugung, die ihre Wurzel wieder im Koran findet.13

Die Sufis entwickelten auch das „Konzept des inneren Kampfes mit dem eigenen Selbst“ (muğāhadat an-nafs), das demjenigen, der sich auf dem geistigen Aufstieg begibt, zur seiner geistigen Vervollkommnung verhelfen sollte. 13 Siehe Koran: 12:53, 75: 1-2, 89:27-30, u.a.

Doch das Wort, das im Koran 130 Mal vorkommt und in der mystischen Anthropologie und spirituellen Psychologie am meistens kommentiert wurde, ist das Wort „Herz“ (qalb / qullūb). In der Sufik-Literatur ist das Herz allgemein als dasjenige Organ bekannt, in welchem die göttlichen Geheimnisse verborgen sind und wo die spirituelle Reise überhaupt beginnt.14 Die Sufis betrachten das Herz als das einzige Organ, das das göttliche Licht empfangen und reflektieren kann, deswegen muss man sich ständig um dessen Läuterung bemühen.15 Das Herz wird auch häufig mit dem Intellekt gleichgesetzt, wobei mit dem Intellekt nicht das rationale Erkenntnisvermögen gemeint ist, sondern den Intellectus im lateinischen Sinne des Wortes, d.h. die menschliche Fähigkeit um das Transzendente wahrzunehmen.16 Im Laufe der islamischen Geistesgeschichte entstanden immer mehr Schriften, in denen sich die Mystiker durch die Entwicklung der mystischen Psychologie (ʿilm al-nafs) bemühten, das Innere des Menschen zu erforschen und das Herz näher zu definieren. Sie versuchten die Eigenschaften und Funktionen des Herzens zu beschreiben und seine Bedeutung für die spirituelle Realisierung des Menschen zu erläutern. Al-Ḥasan al-Baṣrī (d. 728), Rābiʿa al-ʿAdawiyya (d. 801), al-Ḥārith al-Muḥāsibī (d. 857), al-Tustarī (d. 896), al-Nūrī (d. 907), al-Ḥākim al-Tirmidhī (d. 912), Abū Bakr al-Shiblī (d. 945), al-Ḥallāğ (d. 922) und Abū Ṭalīb al-Makkī (d. 996) – um vielleicht nur die bedeutendsten zu nennen – dachten unermüdlich über die geistige Bestimmung des Menschen nach und hinterließen subtile psychospirituellen Analysen, womit sie den Weg für al-Ghazālīs religiöse – ja, transzendentale – Anthropologie bereitet haben.

III. Das subtile HerzNachdem wir uns mit der allgemeinen Frage der transzendentalen Anthropologie vertraut gemacht haben und auch einen kleinen Einblick in die Mensch-bezogene Einsätze der islamischen Überlieferung gewonnen haben, können wir endlich auf die Spuren der Anthropologie al-Ghazālīs kommen und zeigen, worin ihre Transzendentalität bestehe. In seinem Erretter aus dem Irrtum al-Ghazālī berichtet, dass nachdem er sich ungefähr zehn Jahre lang fast ununterbrochen in der Einsamkeit und Zurückgezogenheit aufgehalten hatte, sind ihm notwendigerweise mehrere Dinge klargeworden. Zu diesen Erkenntnissen gehört vor allem das, dass der Mensch aus Körper und Herz (min badn wa qalb) geschaffen ist und dass mit dem Herz „das Wesen seines Geistes“ (ḥaqīqat ar-rūḥ) und „der Sitz der Gotteserkenntnis“ (maḥall maʿrifatu-l-llah) gemeint ist, nicht aber „das Fleisch und Blut, das er [der Mensch] mit dem Toten und dem Vieh gemeinsam hat“.17 Mit diesem Gedanke druckt al-Ghazālī deutlich aus, (1) dass der Mensch über zwei Grunddimensionen verfügt, eine äußerlich-körperliche und eine inner-geistige, (2) dass das Herz das wahre, immaterielle Wesen des menschlichen Geistes und somit das Wesen des Menschen überhaupt ist, und (3) dass das Wesentliche des Herzens darin besteht, den Gott (und dadurch sich selbst) zu erkennen. Ähnliche Überzeugung finden wir auch in einer anderen klassischen Schrift al-Ghazālīs, nämlich im Elixier der Glückseligkeit, wo von der Selbst- und Gotteserkenntnis die Rede ist.

„Willst du dich selbst erkennen, so wisse, dass du aus zwei Dingen geschaffen bist. Das eine ist diese äußere Hülle, die man Leib

14 Sviri, Sara, The Taste of Hidden Things, The Golden Sufi Center, California 2002, S. 1. 15 Yazaki, Saeko, Islamic Mysticism and Abū Ṭālib al-Makkī, London & New York 2013, S. 36.16 Lings, Martin, What is Sufism?, Suhail Academy Lahore, Pakistan 2005, S. 48.17 Al-Ghazālī, Abū Ḥāmid Muḥammad, al-Munqiḏ min aḍ-ḍalāl, zitiert nach Al-Ghazālī, Der Erretter aus dem Irrtum (übersetzt und kommentiert von ʿAbd-Elṣamad ʿAbd-Elḥamīd Elschazlī), Felix Meiner Verlag, Hamburg 1998, S. 55.

nennt und mit dem äußeren Auge sehen kann. Das andere ist jenes Innere, das man bald Seele, bald Geist und bald Herz nennt, und das nur von dem inneren Auge erkannt werden kann. Dies Innere ist dein wahres Wesen, alles andere ist nur sein Gefolge, sein Heer und seine Dienerschaft. Wir wollen es das Herz nennen. Wenn wir also von dem Herzen sprechen, so wisse, dass wir damit das wahre Wesen des Menschen meinen, das man sonst bald Geist, bald Seele nennt, nicht aber jenes Stück Fleisch, das in der linken Seite deiner Brust sitzt. […] Alles aber, was man mit diesem Auge sehen kann, gehört dieser Welt an, der Welt des Augenscheins. Das wahre Menschenherz aber ist nicht von dieser Welt […] Die Erkenntnis Gottes und das Schauen der göttlichen Schönheit ist seine Wesensbestimmung, ihm gelten Pflichtgebote und göttliche Anrede, Lohn und Strafe, seiner ist die Seligkeit und das Elend.“18

Wir können sehen, dass al-Ghazālī auch an dieser Stelle bei seiner „dualistischen“ Sicht des Menschen bleibt und der inneren Dimension eindeutigen den Vorrang gibt. Doch im Unterschied zum ersten oben angeführten Absatz, treten hier die Begriffe „Seele“ und „Geist“ als Synonyme für das Herz, und zwar insofern sie alle auf das Innere des Menschen und auf sein Erkenntnisvermögen hindeuten. Eine wichtige Anmerkung ist dennoch die, dass die Herkunft des wahren Menschenherzens nicht die sichtbare, also diesseitige phänomenale Welt, sondern – sehr wahrscheinlich – die unsichtbare geistige und transzendente Welt ist. Denn die Wesensbestimmung des Herzens ist Gotteserkenntnis und das Schauen seiner majestätischen Schönheit. Doch bevor wir uns der entscheidenden Frage widmen, nämlich der Frage nach der Erkenntnisform des Herzens, müssen wir noch eine weitere Ausführung al-Ghazālīs berücksichtigen, die vielleicht wie keine andere das Verhältnis zwischen dem Herz (qalb), dem Geist (rūḥ), der Seele (nafs) und dem Intellekt (ʿaql) erläutert. Das 21. Kapitel seines Hauptwerkes Die Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften (Iḥyāʾ ʿulūm al-dīn), das er mit Die Wunder des Herzens (Kitāb sharḥ ʿağāʾib al-qalb) betitelte, beginnt mit einer sowohl präzisen als auch interessanten Begriffserklärung, die für unsere These von größer Relevanz ist. In diesem Kapitel bemüht sich al-Ghazālī nämlich darum, die abstrakten Begriffe wie „Herz“, „Geist“, „Seele“ und „Intellekt“, die sonst für die Verwirrung sorgen, zu erörtern und deren gegenseitige Relation zu entschlüsseln. Wir möchten nun seiner Untersuchungen schrittweise folgen und jeweiligen Passus kurz kommentieren. Al-Ghazālī fängt mit der Erklärung des Begriffes „Herz“ an:

„Der Terminus Herz hat zwei Bedeutungen. Eine Bedeutung ist das kegelförmige Stück Fleisch, das in dem linken Bereich der Brust liegt. […] Die zweite Bedeutung ist die subtile geistige Substanz (laṭīfatun rabbāniyyatun rūḥāniyyatun), die mit dem physischen Herz verbunden ist. Diese subtile geistige Substanz ist das Wesen des Menschen (ḥaqīqatu-l-insān). Das Herz ist diejenige Sphäre des Menschen, die für die Wahrnehmung, Erkenntnis und Erfahrung zuständig ist.“19

Al-Ghazālī unterscheidet also zwei Bedeutungen des Herzens: das physische Herz, das wir gemeinsam mit den Tieren und Toten haben, und das subtile geistige Herz, das unser wahres Wesen darstellt und über unser Wahrnehmung-, Erkenntnis-, und Erfahrungsvermögen verfügt. Obwohl die beiden Dimensionen 18 Al-Ghazālī, Abū Ḥāmid Muḥammad, Das Elixier der Glückseligkeit (übertragen von Hellmut Ritter), AbKreuzling/München 2008, S. 37.19 Al-Ghazālī, Abū Ḥāmid Muḥammad, Iḥyāʾ ʿulūm al-dīn, Vol. 2, Beirut 1998, S. 6.

miteinander verbunden sind, ist das subtile geistige Herz das eigentliche Zentrum unserer Individualität und unserer kognitiven Fähigkeiten. Die Verbindung zwischen dem physischen und geistigen Herz bleibt dennoch unerörtert. – Nun geht al-Ghazālī zum zweiten Begriff über:

„Der zweite Terminus ist der 'Geist', der für unseren Zweck auch in zweierlei Bedeutungen verwendet wird. Die erste Bedeutung ist der subtile Körper (ğismun laṭīfun), dessen Quelle ist das physische Herz und der die anderen Körperteile mittels pulsierenden Arterien erreicht. […] Die zweite Bedeutung ist die subtile geistige erkennende und wahrnehmende Substanz (al-laṭīfa al-ʿālima al-mudraka) des Menschen, die wir schon durch eine von beiden Bedeutungen des Herzens erklärt haben.“20

Auch hier unterscheidet er zwischen zwei Bedeutungen. Die erste Bedeutung des Geistes erinnert an aristotelische entelechie (im Sinne einer dem Organismus innewohnenden Kraft), oder an sein Konzept von pneumas (einer Art Atemseele, die den ganzen Körper durchdringt und ihn belebt), oder gar an einen Vitalismus des elan vital esprit (einer Selbstentwicklung des Organismus) von Henri Bergson. Der Geist in seiner ersten Bedeutung ermöglicht die physischen Aktivitäten und stellt das Reservoir der Emotionen dar. Die zweite, die tiefere Bedeutung des Geistes ist dagegen mit der zweiten Bedeutung des Herzens gleichgesetzt. Er ist nämlich die subtile geistige wahrnehmende und erkennende Substanz: das Herz. – Setzten wir mit dem dritten Terminus fort.

„Der dritte Terminus ist die 'Seele', die auch mehrere Bedeutungen trägt, von denen zwei für unseren Zweck relevant sind. Die erste Bedeutung bezieht sich auf die Fähigkeit des Ärgers (al-ghaḍab) und der Begierde (al-shahwa) im Menschen. Diese Anwendung des Begriffes dominiert bei den Sufis (ahl at-taṣawwuf), die die Seele als das Prinzip aller tadelnswerten Eigenschaften (al-ṣifāt al-maḏmūma) des Menschen betrachten. So sagen sie: 'Die Seele muss bekämpft und überwunden werden!' Doch die zweite Bedeutung ist die subtile geistige Substanz (al-laṭīfa), die den Menschen in seiner wahren Natur darstellt (al-insān bi-l-ḥaqīqa). Sie ist die wahre Seele des Menschen und sein Wesen (ḏātihi) […]das den Gott und andere Dinge erkennt.“21

Nach dem gleichen Unterscheidungsprinzip kommt al-Ghazālī auch bei dem Begriff „Seele“ zur Differenz zweier Ebenen. Laut der ersten Bedeutung definiert er die Seele als die Sphäre der menschlichen Triebe, wie die der Wut und der Leidenschaft. Dadurch wird die Seele zu niedrigen Eigenschaften des Menschen, die auf dem Weg des geistigen Aufstiegs kultiviert und diszipliniert werden müssen. Die zweite Bedeutung der Seele ist aber die gleiche subtile Substanz, die er davor schon dem Herzen und dem Geist zugeschrieben hat, und die das eigentliche Wesen des Menschen darstellen soll. – Es bleibt noch der letzte Begriff zu erklären:

„Der vierte Terminus ist der 'Intellekt' (al-ʿaql), der ebenso viele verschiedene Bedeutungen hat, die wir im Buch des Wissens22

erwähnt haben und von denen für unseren Zweck zwei wichtig sind. Die erste Bedeutung ist die Kraft des Wissens über die wahre Natur der Dinge (al-ʿilm bi-ḥaqāʿiq al-umūr), d.h. der Ausdruck für die Eigenschaft des Wissens, dessen Sitz das Herz ist. Die zweite Bedeutung ist das Vermögen für die Erkenntnisse (al-mudrak li-l-

20 Al-Ghazālī, Iḥyāʾ, Vol. 2, 1998, S. 7.21 Ebd., S. 7–8. 22 Kitāb al-ʿilm ist das erste Kapitel des gleichen Opus Iḥyāʾ ʿulūm al-dīn.

ʿulūm) bzw. das Herz als subtile geistige Substanz. Und wir wissen, dass in jedem Wissenden ein aus-sich-selbst-bestehendes Prinzip (aṣlun qāʾimun binafsihi) gibt, und dass das Wissen eine Eigenschaft seines Zustandes ist […] Also der Intellekt kann als Eigenschaft des Wissenden (ṣifatu-l-ʿālim) verwendet werden, oder als Sitz des Erkenntnisvermögens (maḥal al-idrāk). “23

Es mag nicht mehr überraschen, dass al-Ghazālī auch für den Begriff „Intellekt“ zwei Bedeutungen schildert, wobei sich eine auf das Wissens über die Wirklichkeit der Dinge als Eigenschaft des Wissenden bezieht, die zweite aber auf die Erkenntnisfähigkeit für solches Wissen, im Sinne eines apriorischen Prinzips, das wieder mit dem subtilen geistigen Herz identisch ist. Aufgrund dieser vergleichenden Darstellung können wir den folgenden Schluss ziehen und ihn in sechs Punkten zusammenfassen: (1) Jede dieser vier Entitäten (Herz, Geist, Seele und Intellekt) verfügt laut al-Ghazālī (wenigstens) über zwei Bedeutungen. (2) Während die erste Bedeutung immer die partikulare Ebene bzw. die jeweilige Funktion betrifft, betrifft die zweite Bedeutung ihre transzendentale Ebene. (3) Die zweite Bedeutung läuft bei allen vier Entitäten immer auf das Gleiche hinaus, nämlich auf die subtile geistige Substanz. (4) Aus dieser doppelten Begriffserklärung wurde auch deutlich, dass die Seele, Geist und Intellekt in ihrer feinsten, wesentlichsten und erhabensten Form absolute Synonyme für das subtile Herz sind. (5) Das Herz im Sinne einer subtilen geistigen Substanz, stellt das wahre Wesen des Menschen dar, das sich wegen seiner Transzendentalität nicht weiter bestimmen lässt. (6) Das wahre Wesen des Menschen ist somit die subtile geistige erkennende und transzendentale Substanz, deren Sitz das physische Herz ist. Dies soll in der folgenden Tabelle veranschaulicht werden (siehe Tabelle 1).

Tabelle 1Entität 1. 1. Bedeutung

(die partikulare Ebene)2. 2. Bedeutung

(die transzendentale Ebene)Herz das kegelförmige Stück Fleisch die subtile geistige Substanz,

das Herz (erkennendes, wissendes, erfahrendes)

Geist der subtile Körper, entelechia, pneuma

die subtile geistige Substanz, das Herz(erkennendes, wahrnehmendes)

Seele die Sphäre aller tadelnswerten Eigenschaften

die subtile geistige Substanz, das Herz(Gott und andere Dinge erkennendes)

Intellekt die Eigenschaft des Wissen über die wahre Natur der Dinge

die subtile geistige Substanz, das Herz(das apriorische Erkenntnisprinzip)

In diesem Passus versuchte al-Ghazālī die essenzielle Frage zu lösen, nämlich die Frage der Bedeutung von Begriffen wie „Herz“, „Geist“, „Seele“ und „Intellekt“. Obwohl jede dieser vier Entitäten zwei (oder sogar mehrere Bedeutungen) haben kann, ist deren grundlegende, wesentliche Bedeutung, eine und dieselbe. Durch diese Differenzierung zwischen einer empirisch-partikularer und einer transzendentaler Ebene ist al-Ghazālī gelungen das Wesen des Menschen herauszukristallisieren. Wir konnten sehen, dass alle vier Entitäten auf ihrer transzendentalen Ebene mit der subtilen, geistigen Substanz gleichgesetzt sind, die al-Ghazālī einfach auch das subtile Herz nennt, und die das Innere, ja, das

23 Ebd., Al-Ghazālī, Iḥyāʾ, Vol. 2, 1998, S. 8.

Wesen des Menschen, das-aus-sich-selbst bestehendes, wahrnehmendes und erkennendes Prinzip darstellt. Doch mit dieser Bestimmung öffnen sich weitere Fragen, ohne deren Antwort die transzendentale Anthropologie al-Ghazālīs nicht wirklich, d.h. kohärent und vollständig, begründet werden kann. (1) Nach welchem Kriterium überhaupt ist laut al-Ghazālī ausgerechnet das Erkenntnisvermögen das Wesen des Menschen? (2) Wenn das Wesen des Menschen in seinem Erkenntnisvermögen besteht, um welche Erkenntnisform und, noch wichtiger, um welches Wissen handelt es sich dabei? (3) Was ist das Ziel solcher Erkenntnis und welche – wenn überhaupt – existenziellen und metaphysischen Folgen hat sie für das Leben des Menschen? Dies sind einige Fragen, die beantwortet werden müssen.

IV. Das ErkenntnisvermögenIm schon erwähnten Elixier der Glückseligkeit finden wir einen wichtigen Hinweis, wonach das Wesen jedes Dinges bestimmt werden soll. Al-Gḥazālī schreibt:

„Jedes Ding […], für das es eine ideale Vollkommenheit gibt, die die höchste Stufe darstellt, die es erreichen kann, ist für diese Stufe der Vollkommenheit geschaffen. So ist das Pferd etwas Edleres als der Esel, denn der Esel ist geschaffen zum Lastentragen, das Pferd aber dazu, in Kampf und Streit unter dem Reiter, so wie es sich gebührt, zu laufen und zu traben. […] So besitzt der Mensch alles, was den Raubtieren und dem Vieh gegeben ist; aber darüber hinaus ist ihm noch ein Vorzug gegeben: die Vernunft, mit der er Gott erkennen und Gottes wunderbares Wirken wahrnehmen kann. […] Das wahre Wesen des Menschen ist also das, worin seine Vollkommenheit und sein Adel besteht.“24

Al-Ghazālī geht davon aus, dass jedes Ding und jedes Lebewesen eine Stufe der Vollkommenheit hat, wofür es eigentlich geschaffen ist. Wenn diese Stufe erreicht wird, dann ist seine Vollkommenheit verwirklicht. Der Menschen ist also nicht nur dazu beschaffen, wozu die anderen Lebewesen beschaffen sind, die auf einer niedrigen Seinsstufe stehen, wie etwa zum Essen, Schlafen und Begatten. Doch die Vollkommenheit des Menschen kann nach diesem Prinzip auch nicht in diejenigen Tätigkeiten bestehen, die nicht seine höchste Stufe darstellen, wie z. B. Kampf und Unterwerfung, oder Spiel und Vergnügung, denn:

„der Mensch ist nicht zum Scherz und für nichts erschaffen, sondern hoch ist sein Wert und groß seine Würde. Wohl ist er nicht von Ewigkeit her aber für die Ewigkeit ist er bestimmt; wohl ist sein Leib irdisch und von der niederen Welt, doch sein Geist ist aus der oberen Welt und göttlich…“25

Im ersten Abschnitt verwendet al-Ghazālī den Begriff „Vernunft“ und im zweitem den Begriff „Geist“ – noch ein Hinweis dafür, dass diese Abstrakten Begriffe immer dann als Synonyme auftreten, wenn sie auf das eine und dasselbe, innere subtile – und transzendentale – Wesen des Menschen hindeuten. Auch hier werden nämlich die Vernunft, mit der man Gott erkennen kann, und der Geist, dessen Herkunft die transzendente Welt ist, mit dem Herz (in seiner wahren Bedeutung) gleichgesetzt. Kurzum: Laut diesem Argument liegt das Wesen des Menschen darin, worin seine Vollkommenheit liegt. Und die Vollkommenheit wird erreicht, wenn die höchste Stufe erreicht wird. Mit anderen Worten: Das Wesen des Menschen liegt in seiner einzigartigen und nur ihm eigenen Fähigkeit, die zugleich seine Würde und metaphysische Bestimmung darstellt. Ist diese Fähigkeit auf ihrer höchsten Stufe 24 Al-Ghazālī, Das Elixier, 2008, S. 48–49.25 Ebd., S. 28.

verwirklicht, dann hat der Mensch seine Vollkommenheit erreicht. Die eigentliche, d. i. die im edelsten und umfassendsten Sinne menschliche Fähigkeit beweist das, was sie anstrebt, ähnlich „wie die Flügel eines Vogels die Möglichkeit zu fliegen und damit auch den Raum, in dem der Vogel fliegt, beweisen.“26 Somit beruht dieses Argument auf dem teleologischen Prinzip, nach welchem esencia humana durch causa finalis begründet wird. Und die Zweckursache des Menschen liegt laut al-Ghazālī eben in der Fähigkeit das Absolute zu erkennen. Dies wird auch durch die folgende Stelle bestätigt:

„Die edelste Erkenntnis ist die Erkenntnis Gottes. In ihr liegt die Vollkommenheit des Menschen und in seiner Vollkommenheit liegt seine Glückseligkeit, und sein Wert ist in der Nähe der Majestät und Vollkommenheit Gottes. So ist die Erkenntnis des Menschen sein Endziel und seine besondere Bestimmung für welche er erschaffen wurde.“27

V. Die Erkenntnisstufen Nun was bedeutet eigentlich Gotteserkenntnis? Welches Wissen erwirbt man dadurch und in welchem Zusammenhang steht die Gotteserkenntnis mit der Selbsterkenntnis? Auf welche Art und Weise kann man das Absolute und das Transzendente erkennen? Gibt es eine Hierarchie der Erkenntnisse, bzw. eine Erkenntnisstufe? Fangen wir von hinten an. Al-Ghazālī spricht tatsächlich von verschiedenen Erkenntnisstufen, die er unterschiedlich bezeichnet. Obwohl seine Anordnung nicht überall einheitlich ist, können wir dennoch eine klare Genese der Erkenntnis beobachten, die in einem Fortgang von der Sinneswahrnehmung, Einbildungskraft, Rationalität, Reflexion und Kontemplation bis zur ganzheitlichen Wirklichkeitserfahrung besteht. Die erste Stufe stellen nämlich die Sinnesorganen (rūḥ ḥassā, pl. ḥawās, oder auch ʿālam al-ḥiss) dar, mit denen man die Außenwelt wahrnimmt. Sie sind bereits beim Säugling vorhanden. Jede dieser Sinneswahrnehmungen ist dazu geschaffen, dem Menschen die existierenden Dinge und die Erfahrung der Welt zu vermitteln.28 Die zweite Stufe ist die Vorstellungskraft (rūḥ ḫayālī oder taṣawwur), die sich der Erfahrungen aus der Wahrnehmung der Sinne vergewissert und sie aufbewahrt, um sie nach Bedarf dem Verstand vorzulegen.29

Diese Erkenntnisstufe ist auch mit dem Unterscheidungsvermögen (qūwat at-tamyyīz), das im Alter von beinahe sieben Jahren erscheint, verbunden.30 Die dritte Stufe stellt die Ratio (ʿaql) dar, wodurch die rein rationalen Kategorien wie Notwendigkeit, Möglichkeit und Unmöglichkeit, die in früheren Stadien der Erkenntnisstufen nicht existieren, wahrnehmbar werden.31 Ratio ist für die notwendigen, rationalen und primären Erkenntnisse (aḍ-ḍarūrīyāt, al-ʿaqlīyāt oder al-awwalīyāt) zuständig, daher kann sie auch als eine Art mentaler Perzeption (istibṣār) bezeichnet werden. Die weitere Stufe ist die Denkfähigkeit (rūḥ fikrī oder tafakkur), die wir als eine Überfunktion des Verstandes betrachten können, denn sie greift rationale Erkenntnisse auf und stellt zwischen ihnen Zusammenhänge und Parallelen her.32 Sie zeigt eine erweiterte Funktion der Vorstellungskraft und der Ratio. Ihre Aufgabe besteht aus synthetischen Urteilen, 26 Schuon, Frithjof, Esoterik als Grundsatz und als Weg, Hamburg 2012, S. 323.27 Al-Ghazālī, Iḥyāʾ, Vol. 2, 1998, S. 14.28Al-Ghazālī, al-Munqiḏ, zitiert nach Der Erretter, 1988, S. 49. Vgl. auch: Al-Ghazālī, Miškāt al-anwār, zitiert nach Al-Ghazālī, Die Nische der Lichter, 1987, S. 45-46. 29 Al-Ghazālī, Miškāt, zitiert nach Al-Ġazālī, Die Nische, S. 46.30 Al-Ghazālī, al-Munqiḏ, zitiert nach Al-Ġazālī, Der Erretter, S. 49.31 Ebd., S. 49.32 Al-Ghazālī, Miškāt, zitiert nach Al-Ġazālī, Die Nische, S. 46.

Aussonderungen und Schlussfolgerungen. Dieser Stufe können wir auch Reflexion (iʿtibār) und Spekulation (naẓar) zuschreiben. Die Trennung zwischen der Ration und dem Denken ist dennoch auffällig, denn das Denken steht demnach höher als die Ratio, woraus folgt, dass die rationale Seele zugleich noch nicht denkende Seele ist.33 Die Ratio entspricht daher der logischen, syllogistischen bzw. kategorialen Fähigkeit, während das Denkvermögen viel komplexere synthetische, kognitive und intellektuelle Operation darstellt.Doch laut al-Ghazālī gibt es jenseits der Ratio bzw. Vernunft noch eine andere Erkenntnisstufe, die über eine ganz andere Erkenntnisform verfügt und mit welcher man Dimensionen der Wirklichkeit wahrnimmt, die man mit den vorherigen Erkenntnisstufen nicht erreichen kann. Denn die Denkfähigkeit ist „jedoch nur das Organ des Aufnahme und der Formulierung und des vernünftigen Herangehens, nicht aber der Geistesschau; deren Sitz ist das subtile Zentrum, dessen lebendige Kundgebung das Herz ist“, wie Frithjof Schuon feststellt.34 Auf dieser Erkenntnisstufe weist al-Ghazālī in seiner mystischen Schrift Die Nische der Lichter mit folgenden Worten hin:

„Es ist doch nicht unmöglich, dass es hinter der Sphäre der Vernunft noch eine andere Sphäre gibt, in der sich das offenbart, was nicht in der Sphäre der Vernunft erscheint […] Solche Wirkung findet man nur bei demjenigen, der die Fähigkeit des Geschmacks besitzt. […] Das Wissen steht höher als der Glaube, Schmecken aber höher als das Wissen.“35

Sehr ähnliche Beschreibung finden wir auch in seiner philosophischen Autobiographie:

„Jenseits der Vernunft gibt es ein anderes Stadium, in dem sich ein anderes Auge öffnet, mit dem er [der Mensch] das Verborgene und was in der Zukunft geschehen wird und andere Dinge erblickt, von denen die Vernunft ebenso ausgeschlossen ist wie das Unterscheidungsvermögen von der Wahrnehmung der rationalen Dinge (Intelligibilia) und das Sinnesvermögen von den Wahrnehmung der Unterscheidungskraft.“36

Es gibt bestimmte Wirklichkeitsebene und Wahrheitsdimensionen, die weder durch die Sinnesorgane noch durch den Verstand erreicht werden können. Dieses andere Stadium entdeckte al-Ghazālī in einem metarationalen Erkenntnisvermögen, das es manchmal als mystisches Schmecken (ḏauq), manchmal als mystische Enthüllung (kašf) und manchmal als mystische Inspiration (ilhām) bezeichnet wird. Der Sitz solcher ganzheitlichen und metarationalen Erkenntnisfähigkeit kann kein andrer als das subtile geistige Herz,37 bzw. Herz-Intellekt38 sein. Diese Herz-Intellekt-Ebene, die die rationale Vernunft übersteigt, ist einerseits die eigentliche Quelle aller Erkenntnisse, andererseits aber dasjenige Organ, das der höchsten Erkenntnisse, wie Selbst- und Gotteserkenntnis fähig ist. Obwohl al-Ghazālīs gesamte Anordnung aller Erkenntnisstufen noch viel ausdifferenzierte ist, da er an manchen Stellen noch weitere Aspekte und Unterfunktionen anführt (z.B. Instinkt, Phantasie, Gedächtnis usw.), lässt sich dennoch eine eindeutige Topologie der Erkenntnisebenen aufzeigen, deren die höchste Stufe die vollkommene Selbst- und Gotteserkenntnis ist. Darum sollen letztendlich alle Erkenntnisfähigkeiten im Dienste der höchsten Erkenntnis sein. Diese Stellung bekräftigt al-Ghazālī auch in 33 Elschazlī, Einleitung in: al-Ghazālī, Die Nische der Lichter, S. XXVI.34 Schuon, Esoterik, S. 132.35 Al-Ghazālī, Miškāt, zitiert nach Al-Ġazālī, Die Nische, S. 48.36 Al-Ghazālī, al-Munqiḏ, zitiert nach Al-Ġazālī, Der Erretter, S. 50.37 Al-Ghazālī, Iḥyāʾ, Vol. 2, 1998, S. 19.38 Der Begriff wurde von Frithjof Schuon entnommen. Siehe: Schuon, Esoterik, S. 58.

seinem Elixier der Glückseligkeit, wo er wiederholt, dass es verschiedene Erkenntnisfähigkeiten gibt,

„von denen die einen wieder äußere sind, nämlich die fünf Sinnen: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten, und die anderen innere, welche gleichfalls fünf an der Zahl sind […]: Es sind die Kräfte der Vorstellung, des Denkens, des Gedächtnisses, der Erinnerung und der Einbildung. Jede dieser Kräfte hat ihre besondere Aufgabe […] Alle diese Streitkräfte, die äußere wie die inneren, sind dem Herz untertan…“39

Eine ungefähre Aufgliederung der Erkenntnisstufen mit ihren jeweiligen Erkenntnisformen und Erkenntnisinhalten kann in folgender tabellarischer Übersicht dargestellt werden (siehe Tabelle 2):

Tabelle 2 Erkenntnisstufe Erkenntnisform Erkenntnisinhalt

Sinnesorganen(ḥawās, ʿālam al-ḥiss)

Sinneswahrnehmung(idrāk al-ḥiss)

Dinge der Außenwelt

Vorstellende Seele(rūḥ ḫayālī, taṣawwur)

Vorstellungskraft, Imagination

(ḫayāl, ḫayāliyya muṣawwira)

Sinnlich-instinktiv bedingte Bilder und Begriffe

Unterscheidende Seele(qūwat at-tamyyīz)

Unterscheidungskraft(idrāk at-tamyyīz)

Einzelne Gegenstände und Begriffe

Ratio / Verstand(ʿaql, rūḥ al-ʿaqlī, fahm)

Mentale Perzeption(idrāk al-ʿaqli)

Notwendige, a priori rationale Erkenntnisse

Denkfähigkeit, Vernunft(rūḥ fikrī, ʿaql)

Reflexion, Spekulation(iʿtibār, naẓar, tafakkur)

Abstraktionen, komplexe Erkenntnisse,

metaphysische WahrheitenMetarationale Ebene / „das andere Auge“ / Das Herz

(ṭawr warāʾ al-ʿaql, al-ʿayn al-aḫirā, qalb)

Mystisches Schmecken (ḏawq), Mystische Enthüllung (kašf), Inspiration (ilhām)

Ultimative Wirklichkeit, Gotteserkenntnis, Geheimnisse der

verborgenen Welt, Dinge der Zukunft

Es versteht sich von allein, dass diese vereinfachte Tabelle die Komplexität und Verzweigung der Erkenntnisfähigkeiten, die al-Ghazālī an zahlreichen Stellen in seinen verschiedenen Schriften immer wieder in unterschiedlicher Varianten zu schildern versucht, nicht ausschöpfen kann. Sie soll nur dazu dienen, den graduellen Weg des menschlichen Erkenntnisvermögens zu zeigen und damit auf das höchste Ziel der Erkenntnis aufzuweisen. Wie schon erwähnt, um das Wesen des Menschen bestimmen zu können, geht al-Ghazālī aus dem Prinzip der Zweckursache aus und stellt dabei fest, dass das Vermögen, nach dem sich der Mensch von allen anderen Lebewesen unterscheidet, eben das Erkenntnisvermögen ist. Doch dies ist nicht nur sein wesentliches Unterscheidungsmerkmal, sondern auch das, worin sein Adel besteht, d.h. seine höchste Stufe und somit seine Vollkommenheit.

VI. Herzenserkenntnis: Selbst- und GotteserkenntnisAnhand der Erkenntnisstufen konnten wir sehen, dass der graduelle Erkenntnisweg in einem Fortgang von der sinnlichen Wahrnehmung bis hin zur ultimativen Wirklichkeitserfahrung besteht. Um genau solche Anordnung vollzuziehen, stützt sich al-Ghazālī wieder auf ein Kriterium, das die 39 Al-Ghazālī, Das Elixier, S. 41.

Herzenserkenntnis als die höchste Erkenntnis rechtfertigen sollte. Dieses Kriterium ist nämlich die Gewissheit (al-yaqin). Am Anfang seiner philosophischen Autobiographie hebt er dieses Kriterium explizit hervor. Die Erkenntnisgewissheit soll seine Suche nach dem absoluten Wissen leiten und ihn letztendlich auch zur Mystik führen:

„Mein Bestreben ist, Erkenntnis über die Wahrheit der Dinge zu erlangen. Deshalb muss danach gefragt werden, wie das Wesen der Erkenntnis ist. Alsdann schien es mir, dass die sichere Erkenntnis diejenige ist, in der sich das Erkannte in der Weise enthüllt, dass es keinen Zweifel mehr zulässt, noch darf diese Erkenntnis von der Möglichkeit des Irrtums oder der des Argwohns begleitet werden. Darüber hinaus darf das Herz diese Möglichkeit nicht einmal dulden.“40

Solche Gewissheit fand al-Ghazālī nirgendwo anders als in der unmittelbaren geistigen Wirklichkeitserfahrung, die er einmal das mystische Schmecken (ḏauq) und andersmal die mystische Enthüllung (kašf) nennt. Wichtig dabei zu merken ist, dass ein solches vollständiges Erkenntnisvermögen, eine ganzheitliche Erfahrung und zugleich ein geistiges Erleben darstellt, und daher nicht eine Angelegenheit der Vernunft, sondern die des Herzens ist. Nur die mystische Erkenntnis hat die Kraft der absoluten Gewissheit, denn sie verfügt nicht nur über eine epistemologische, sondern auch über eine allumfassende existenzielle Dimension, d.h. nicht nur über die Erkenntnis, sondern auch über das Sein. Anderes gesagt: Der Gegenstand solcher Erkenntnis wird nicht nur erkannt, sondern auch existenziell erfahren und erlebt. „Das [mystische] Schmecken“, schreibt al-Ghazālī, „ist wie (eigentliches) Schauen und in die Hand-Nehmen, das sich nirgendwo anders als auf dem Wege der Mystik findet“.41 Die vom Herzen erfassten Wirklichkeiten sind vom Subjekt nicht getrennt – sie sind nämlich in die Geistesschau hinein verlängert.42 Doch das Mystische wird bei al-Ghazālī nicht nur auf die Ebene der psychologisch-subjektiven Erfahrung reduziert, sondern es enthüllt auch die unsichtbare und transzendente Welt, welche der Koran vermittelt. Die mystische Erkenntnis ist somit die authentische religiöse und transzendentale Erkenntnis, die mit den Wahrheiten der Offenbarung übereinstimmt und ihnen eigentlich den existenziellen Sinn verleiht. Denn die Wahrheit kommt zu uns entweder von außen, mittelbar und formgebunden, oder von innen, unmittelbar und wesentlich: im ersten Fall erfahren wir etwas über die Wirklichkeit der göttlichen Dinge durch die Offenbarung, während wir im zweiten Fall einen Zugang zur Gewissheit dieser Dinge durch geistige Schau (bzw. mystisches Schmecken) finden.43 Dadurch wird uns das Wesen der göttlichen Dinge enthüllt, das jenseits der üblichen Formulierungen liegt. So kann al-Ghazālī zu Recht behaupten, dass derjenige, der die metaphysische und religiöse Wirklichkeit nicht durch das eigene mystische Schmecken erfährt, wird von der Wirklichkeit der Prophetie und von der Wahrheit der Offenbarung nichts anderes als bloß den Name erfahren.44 Erst durch die mystische Enthüllung wird den sogenannten „dritten Abschnitt des religiösen Lebens“, von welchem Muhammad Iqbal spricht, erreicht:

„Hier geschieht es, dass die Religion von einer persönlichen Angleichung von Leben und Macht wird, und das Individuum erringt eine freie Persönlichkeit, nicht indem es sich von den Fesseln des Gesetztes löst, sondern dadurch, dass es die höchste

40 Al-Ghazālī, al-Munqiḏ, zitiert nach Al-Ġazālī, Der Erretter, S. 5.41 Ebd., S. 54.42 Schuon, Esoterik, S. 14.43 Vgl. Frithjof, Esoterik, S. 5.44 Al-Ghazālī, al-Munqiḏ, zitiert nach Al-Ġazālī, Der Erretter, S. 47.

Quelle des Gesetztes in den Tiefen des eigenen Bewusstseins entdeckt.“45

Nur durch den Zustand solcher unmittelbarer, metarationeller und intuitiver Erkenntnis wird das Erkannte auch innerlich erlebt. Und eben die Vollständigkeit solcher Erkenntnis zeugt über ihre Objektivität – und nicht bloß psychologische Subjektivität –, denn „wer Objektivität sagt, sagt Vollständigkeit und dies auf allen Ebenen.“46 Außer der schon erwähnten Gewissheit und Ganzheit, ist die Objektivität das dritte Wesensmerkmal der Herzenserkenntnis. Anders gesagt: das, was Herzenserkenntnis ausmacht, ist eben die unerschütterliche Synthese von allen drei Eigenschaften. Dies bestätigt auch einer der größten Religionsphilosophen des 20. Jahrhunderts, Frithjof Schuon:

„Wenn man sagt, das Vorrecht des Menschlichen Zustandes liege in der Fähigkeit zur Objektivität, erkennt man damit an, dass der wesentliche Inhalt und der letzte Sinn dieser Fähigkeit das Unbedingte ist: Denn das Erkenntnisvermögen ist insofern objektiv, als es nicht nur das aufnimmt, was ist, sondern überdies alles, was ist; ein Erkenntnisvermögen, das sich dem Unbedingten verweigert, berücksichtigt nicht die vollständige Wirklichkeit, der es in gewisser Weise entspricht. […] Ganz offensichtlich ist die Objektivität nichts anderes als die Wahrheit, in der das Subjekt und das Objekt so weit wie möglich miteinander übereinstimmen.“47

Weil das geistige Wesen des Menschen, dem Wesen Gottes ähnlich ist, da der Gott den Menschen – laut islamischer Überlieferung – nach seinem Bilde geschaffen hat, können aufgrund dieser metaphysischen Beziehung (zwischen Gott und Mensch) alle Menschen – und nicht nur die Propheten – die Verwirklichung der Erkenntnis Gottes und der Welt erlangen.48 Doch obwohl die authentische geistige Erkenntnis die absolute Erkenntnis bzw. die Erkenntnis des Absoluten ist, variiert sie in ihrer Intensivität und Stufenmäßigkeit und weist damit auf einen gnostischen Aufstieg auf, der als solcher grenzenlos ist. Bei al-Ghazālī lesen wir:

„Die Stufe des [mystischen] Aufstiegs sind unbegrenzt und unzählbar. Die höchste Stufe ist die des Propheten, dem sich alle oder die Mehrheit der Wahrheiten ohne Selbstaneignung und Anstrengung, sondern durch göttliche Offenbarung sofort enthüllen. Das ist die Glückseligkeit, die dem Menschen zuteilt wird und ihn in die Nähe des erhabenen Gottes rückt – eine Nähe, die weder in Bezug auf den Ort noch auf die Distanz, sondern im geistigen und wahrhaftigen Sinne gemeint ist. […] Kurz gesagt: Die Etappen sind für diejenigen, die den Weg des erhabenen Gottes beschreiten, zahllos. Nur derjenige, der diesen Weg geht, erkennt in seinem eigenen Verhalten die Etappen, die er erreicht hat – und so auch jene, die er hinter sich gelassen hat.“49

Einen solchen Aufstieg intuitiver und ganzheitlicher Erkenntnis musste Jahrhunderte später der französische Lebensphilosoph Henri Bergson in

45 Iqbal, Muhammad, Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, Hans Schiler, Berlin 2003, S. 209.46 Schuon, Esoterik, S. 12.47 Ebd., S. 128–129.48 Ebd., S. 320.49 Al-Ghazālī, Abū Ḥāmid Muḥammad, Mizān al-ʿamal, zitiert nach Al-Ghazālī, Das Kriterium des Handelns (übersetzt und kommentiert von ʿAbd-Elṣamad ʿAbd-Elḥamīd Elschazlī), Darmstadt 2006 S. 102.

Gedanken habe, wenn er über intuitive Erkenntnis schrieb, deren Ende nach oben genauso offen bleibt:

„Bis wohin geht die Intuition? Sie allein wird sie sagen können. Sie greift einen Faden wieder auf: es ist ihre Aufgabe zu sehen, ob dieser Faden bis zum Himmel steigt oder in einiger Entfernung von der Erde aufhört. Im ersten Fall vereinigt sich die metaphysische Erfahrung mit der großen Mystiker: wir glauben unsererseits festzustellen, dass hier die Wahrheit liegt.“50

Die Herzenserkenntnis ist in der Tat vielmehr eine Art Enthüllung der tieferen Seinsebene, die zugleich Ebene unseres eigenen Seins sind. Deswegen kann al-Ghazālī nie wirklich über den Inhalt solcher Erkenntnis sprechen, denn der Inhalt ist die Wahrheit selbst, insofern sie die reine Objektivität, d.h. Angleichung vom Subjekt und Objekt, Bewusstsein und Sein, darstellt. Wenn das verstandesmäßige Bewusstsein Erscheinungen wahrnimmt, nimmt das Herzensbewusstsein das Wesen wahr.51 Dabei erlangtes Wissen ist somit kein partikulares Wissen von einem konkreten Gegenstand, sondern eben das Wissen des Herzens (ʿilm al-qalb), das auch als das innere Wissen (ʿilm al-baṭīn) bezeichnet wird. Nur in dem Sinne ist die wahre Selbsterkenntnis auch Gotteserkenntnis: einerseits erkennt man seine eigene Relativität und Bedingtheit, und Gottes Absolutheit und Unbedingtheit andererseits. „Wisse“, schreibt al-Ghazālī, dass „der Schlüssel zur Erkenntnis Gottes ist die Selbsterkenntnis“ – Achten wir auf die Reihenfolge! – Die Erkenntnis des Wesens des Menschen führt zur Gotteserkenntnis. Al-Ghazālī ist an dieser Stelle sehr klar:

„Es gibt nichts, was dir näher wäre als du selbst. Wenn du dich aber selbst nicht kennst, wie willst du dann andere kennen? Sagst du: 'Ich kenne mich doch!' so irrst du dich, denn solche Erkenntnis taugt nicht zum Schlüssel für die Erkenntnis Gottes. Auch die Tiere kennen so viel von sich selbst wie du von dir. […] Darum sollst du nach Erkenntnis deines wahren Wesens streben.“52

Doch wir haben gesehen, dass das wahre Wesen des Menschen eben sein subtiles Herz ist, der Sitz des Erkenntnisvermögens schlechthin. Deswegen ist die Erkenntnis des menschlichen Herzens und seiner Eigenschaften der Schlüssel zur Gotteserkenntnis.53 Und wie erkennt man also das eigene Herz? Al-Ghazālī liefert hierfür einen klaren Hinweis auf eine spirituelle Psychologie:

„Wisse, um das Wesen des Herzens zu erkennen, musst du zuerst von seinem Dasein wissen; dann musst du wissen, was sein wahres Wesen ist; dann, welches seine Streitkräfte sind und welches seine Beziehung zu diesen Streitkräften ist; endlich, wie ihm die Erkenntnis Gottes zuteilt wird und wie es zur Glückseligkeit gelangt.“54

Doch andererseits weist al-Ghazālī auf die Reflexion und Kontemplation über die Welt und Kosmos auf; denn den Gott erkennen heißt, das Göttliche sowohl in sich als auch in seinen Kundgaben zu sehen – also es überall zu sehen:55

„Das Herz ist geschaffen für die jenseitige Welt, und seine Aufgabe ist das Suchen einer Glückseligkeit. Seine Glückseligkeit

50 Bergson, zitiert in: Margreiter, Reinhard, Erfahrung und Mystik. Grenzen der Symbolisierung, Akademie Verlag, Berlin 1997, S. 357.51 Vgl. Schuon, Esoterik, S. 40.52 Al-Ghazālī, Das Elixier, S. 35.53 Ebd., S. 37.54 Ebd., S. 38.55 Schuon, Esoterik, S. 136.

aber besteht in der Erkenntnis Gottes. Die Erkenntnis Gottes erlangt das Herz durch die Erkenntnis der Werke Gottes.“56

Hier müssen wir zwischen zwei grundlegenden Dingen unterscheiden, nämlich zwischen der Erkenntnisweise des Herzens einerseits und der Möglichkeit das Wesen des Herzens zu erkennen andererseits. Da das Wesen des Herzens transzendentes (wegen seiner Herkunft) und zugleich transzendentales (wegen seiner Unbedingtheit) ist, lässt sich als solches nicht näher bestimmen. Das bedeutet, dass die Selbsterkenntnis als „Erkenntnis des Herzens“ nur auf induktivem Wege zu erlangen ist, d. i. durch die klare Erkenntnis seiner Kräfte, Eigenschaften und Fähigkeiten,57 was wir bei al-Ghazālī als Versuch einer komplexer Psychospirituollogie betrachten können. Hier erkennt nicht (unbedingt) das Herz, sondern das Herz wird erkannt, und zwar nur indirekt, sei es durch Introspektion, von „innen“ her, oder durch Betrachtung des Kosmos, von „außen“ her.Die Herzenserkenntnis ist dagegen die unmittelbare, intuitive und ganzheitliche Erkenntnisfähigkeit, die ihre Gewissheit aus der Angleichung der Wahrheit und des Seins schöpft. Sie übersteigt das Denken, dessen Struktur die dualistische, verhältnismäßige Herangehensweise ist. Doch die Herzenserkenntnis als das mystische Schmecken und geistige Intuition ist nicht vernunftwidrig, sondern übervernünftig;58 die Vernunft ist nämlich die Dienerin des Herzens, das allein zum Schauen Gottes geschaffen ist.59

Halten wir fest: Sowohl die Herzenserkenntnis als auch die Erkenntnis, was das Herz ist, führen in ihrer höchsten Verwirklichung ausschließlich zur Gotteserkenntnis. Auf dem ersten Weg erlangt man Gotteserkenntnis unmittelbar, auf dem zweiten Weg induktiv und indirekt. Das Ziel der Erkenntnis schlechthin ist die Erkenntnis Gottes, d. h. das Unbedingte anzuerkennen und sich bewusst zu werden, dass nur der Gott das allein wirkliche Sein ist. Nur dann wird der geistige Mensch vollkommen „Knecht“ (ʿabd), bis hin zum „Entwerden“ (fanāʾ), das eigentlich eine tiefere Teilnahme auf dem unsichtbaren Sein ist. Die Frage nach der Selbsterkenntnis hat Sinn nur unter Berücksichtigung der Frage nach der Gotteserkenntnis. Oder wie Frithjof Schuon sagt: „Wenn 'sich selbst erkennen' heißt, 'seinen Herrn erkennen', dann deshalb, weil das reine 'Sein' der Erscheinungen diese auf ihre kosmischen Wurzeln zurückführt.“60 Die Einzigartigkeit der Herzenserkenntnis liegt darin, dass sie das Bewusstsein für das Ganze und für das Wesen erweckt, und dadurch die Wirklichkeitserfahrung auf einer völlig anderen Ebene erschließt. Beim mystischen Schmecken dringt die Erkenntnis das Bewusstsein derart durch, dass das, was man erkennt, auf einer subtilen Weise auch ist, und zwar nicht ontologisch, sondern existenziell, d.h. wollend. Das, was auf der vertikalen Ebene die Erkenntnis ist, ist auf der horizontalen Ebene der Wille. Denn man bejaht, was man erkennt, und die Bejahung äußert sich durch die Verwirklichung der Erkenntnis, nämlich des tawḥīds oder die Einzigkeit und Wahrhaftigkeit des Absoluten. Die Einzigkeit Gottes verlangt die Ganzheit des Menschen, die zwei Ausdehnungsweisen, eine vertikale und eine horizontale, umfasst.61 Das erwachte und verinnerlichte Bewusstsein für das Unbedingte, d. i. die Erkenntnis der alleinigen Wahrheit, dass „es keinen Gott außer dem einen Gott“ gibt, mündet notwendigerweise in den Tugend und damit in die Handlung. In dem Sinne kann 56 Al-Ghazālī, Das Elixier, S. 40.57 Obermann, Julian, Der Philosophische und Religiöse Subjektivismus Ghazālīs. Ein Beitrag zum Problem der Religion, Wien (u.a.) 1921, S. 113.58 Schuon, Esoterik, S. 3.59 Al-Ghazālī, Das Elixier, S. 43.60 Schuon, Esoterik, S. 204.61 Vgl. ebd., S. 328.

al-Ghazālī behaupten, dass das Wissen ohne Handeln unsinnig und das Handeln ohne Wissen nichtig ist.62 Auch Frithjof Schuon ist der Überzeugung, dass die Einzigkeit der Wahrheit die Vollständigkeit des Glaubens erfordert; „nun verpflichtet diese Vollständigkeit alles, was wir sind und damit das Herz, das uns zusammenfasst“.63 Die Erkenntnis der Einzigkeit Gottes verlangt die Ganzheit des Menschen. So besteht auch für al-Ghazālī die besondere Eigenschaft des Menschenherzens eben darin, dass es fähig ist, dem Gott nahe zu kommen. Und diese Fähigkeit ruht auf dem Erkenntnisvermögen und dem Willen.64

VII. Al-Ghazālīs transzendentale Anthropologie: Stolperstein oder Versöhnung zwischen Mystikern und Theologen?

Fassen wir zusammen: Die Hauptfrage der Anthropologie ist die Frage nach dem Wesen des Menschen, d.h. nach dem, was ihn von allen anderen Seienden nicht nur graduell, sondern qualitativ unterscheidet. Die transzendentale Anthropologie geht einen Schritt weiter und fragt selbst nach den Bedingungen der Möglichkeit dessen, was den Menschen ausmache. Sie sucht nach einem transzendentalen Charakter des Menschen. So lässt sich Al-Ghazālīs Anthropologie als transzendental bezeichnen, insofern sie versucht, das Wesen des Menschen primär in seiner Erkenntnisfähigkeit als vollkommene Selbst- und Gotteserkenntnis zu begründen. Somit impliziert sie sowohl das existenzielle menschliche Bemühen um die Erkenntnis des Absoluten als auch die vollkommene Selbsterkenntnis. Daher schließt jede Erkenntnis über Gott notwendigerweise die Erkenntnis über uns selbst. Dies setzt also voraus, dass es etwas in dem Menschen sein muss, womit er die Transzendenz und somit die grundlegende, existenzielle und vor allem metaphysische Wahrheit über sich selbst, sein eigenes Wesen erfahren kann. Die Transzendentalität al-Ghazālīs Anthropologie besteht daher in dem Versuch, ein transzendentales Wesen des Menschen zu bestimmen. Dies ist die subtile geistige Substanz, welche al-Ghazālī mit dem Herz gleichsetzt. Die Herzenserkenntnis ist eine ganzheitliche Erkenntnis, insofern sie die Erkenntnis des Ganzen ist. Das bedeutet, dass der Mensch wesentlich durch sein Erkenntnisvermögen bestimmt wird, das letztendlich und grundsätzlich für die Transzendenz gemacht ist, sonst wäre es eine bloße Vervielfältigung der Intelligenz der Tiere.65 Das Absolute zu erkennen heißt aber eine ganzheitliche Wirklichkeitserfahrung zu haben, die nur durch das mystische Schmecken bzw. durch die mystische Enthüllung möglich ist. Ferner, die ultimative metaphysische Erkenntnis, die Erkenntnis der Einzigkeit Gottes, fordert einen Willen, die religiöse Wahrheit zu bejahen und dem Gott näher zu kommen. Es liegt in der Natur der Erkenntnis des Ganzen, dass sie über unser Denken hinaus auch unser ganzes Sein verlangt.66 Al-Ghazālīs transzendentale Anthropologie setzt somit eine dynamische Mystik voraus, die aus drei konstitutiven Elementen besteht: „mystisches Schmecken“ (ḏawq), „seelisches Erleben“ (ḥal) und „Verwandlung der Eigenschaften“ (tabaddul aṣ-ṣifāt),67 was auf „epistemologische“, „psychologische“ und „spirituell-existenzielle“ Komponente ausgreift.68

62 Vgl. Al-Ghālī, Muḥammad, O Son! In: „Classical foundation of Islamic Education Thought“ (Hgg.) Cook, J. Brandley, Utah 2010, S. 94.63 Ebd., S. 322.64 Al-Ghazālī, Iḥyāʾ, Vol. 2, S. 12.65 Vgl. Schuon, Frithjof, Logik und Transzendenz, Hamburg 2009 S. 160.66 Vgl. Al-Daghistani, Raid, Epistemologija Srca. Kontemplacija – okušanje – raz-sebljanje („Die Epistemologie des Herzens: Kontemplation – Schmecken - Entwerden“) in: Mistika in Misel, Bd. 71/72, (Hgg). Vörös, Sebastjan, Koper 2013, S. 119–155.67 Al-Ghazālī, Munqiḏ, zitiert nach Al-Ghazālī, Der Erretter, S. 41.

Das Herz als allumfassende Erkenntnisvermögen und subtiles Organ für die Wahrnehmung der Transzendenz ist auf zwei Ebenen zu verstehen.69 Zum ersten ist das Herz als eine Potenz gedacht, die als das Innere des Menschen und seine geistige Veranlagung allen Menschen gleichermaßen zugrunde liegt. Das subtile Herz ist daher vor allem die Kapazität der Erkenntnisfähigkeit, Geistigkeit und Offenheit zur Transzendenz, die zwar ein wesentlicher Bestandteil der menschlichen innerlichen Konstellation ist, doch erst durch die Kultivierung und Entwicklung in actu gesetzt werden muss. Das bedeutet, dass sowohl das Erkenntnisvermögen des Herzens als auch seine religiöse Sensibilität und geistige Empfänglichkeit gestärkt oder geschwächt werden kann, und zwar entweder durch intellektuelle Bemühung (d.i. durch Lernen, Nachdenken und Kontemplieren) oder durch spirituelle Bemühung (d.i. durch Disziplinierung der Seele, Verwandlung der Eigenschaften und Läuterung des Herzens). Zum zweiten ist aber das Herz als intuitive, ganzheitliche und unmittelbare Erkenntnis zu verstehen, die entweder durch das mystische Schmecken oder durch die mystische Enthüllung zustande kommt. Kurzum: Das subtile Herz ist (1) das menschliche Erkenntnis- und Glaubensvermögen schlechthin, und (2) eine besondere, metarationale Erkenntnisweise, mit der man das Absolute und das Transzendente wahrnehmen und erkennen kann. Da das Ziel des menschlichen Erkenntnisvermögens die Erkenntnis der höchsten metaphysischen und religiösen Wahrheit ist, handelt es sich um eine Ebene, auf der die Erkenntnis zum Sein wird, d.h. das Wissen zum verinnerlichten Bewusstsein, das ihre endgültige Verwirklichung nur in der Tätigkeit findet kann.Al-Ghazālī unterscheidet zwischen drei Stufen des Bewusstseins für die metaphysische Wahrheiten und somit des Glaubens an Gott, die mit den drei Klassen der Menschen korrespondieren:

„Die Erleuchtung (al-tağallā) und der Glaube (al-īmān) haben tatsächlich drei Stufen: Die erste ist der Glaube der gewöhnlichen Menschen (al-ʿawām), der die blinde Nachahmung (taqlīd) darstellt. Die zweite ist der Glaube der Theologen (mutakallimīn), der mit der logischen Argumentationsweise vermischt ist und der der Stufe der gewöhnlichen Menschen näher steht. Die dritte ist aber der Glaube der Gnostiker (al-ʿārifīn), der aus der Geistesschau durch das Licht der Gewissheit (al-mušāhada bi-nūri al-yaqīn) entsteht.“70

Diese Darstellung zeigt im Prinzip nichts anders als die Stufen der Realisierung des menschlichen Herzens im Rahmen der Erkenntnis und des Glaubens. Wenn sich die Menschenmasse damit zufrieden stellt, dass sie sich im Bereich der religiösen Angelegenheiten darauf beschränkt, den Autoritäten zu folgen und die vermittelten Wahrheiten unreflektiert zu übernehmen, sind die Theologen und Gelehrten diejenigen, die sich um die Erklärung des Glaubens bemühen und seinen Inhalt rational zu begründen versuchen. Doch während die Theologen nach einer logischen Argumentation der Offenbarungswahrheit und der Gotteserkenntnis streben, besteht die Sonderstelle der Mystiker darin, dass sie diese offenbarte Wahrheiten und Erkenntnisse innerlich erleben, ja – geistig schmecken und unmittelbar erfahren. Wohl geht es beiden Gruppen, so Theologen wie Mystikern, letztendlich um die Erkenntnis Gottes. Doch Ihre Herangehensweise und ihr Weg sind unterschiedlich. Die Sufis neigen dazu, die metaphysischen Erkenntnisse durch unmittelbare geistige Erfahrung und Inspiration zu gewinnen. Da der 68 Für mehr siehe: Al-Daghistani, Raid, Muḥammad Al-Ġazālī. Erkenntnislehre und Lebensweg, Freiburg 201469 Vgl. Al-Daghistani, Muḥammad Al-Ġhazālī, S. 60–61.70 Al-Ghazālī, Iḥyāʾ, Vol. 2, S. 23.

„Gegenstand“ solcher Erkenntnis das Absolute, das Unendliche ist, sind auch die Stufen der mystischen Enthüllung grenzenlos. Aus der transzendentalanthropologischen Sicht ist es wichtig zu merken, dass dementsprechend auch die inneren Dimensionen des Menschen in seiner Erkenntnis- und Wahrnehmungsfähigkeit, die an die Transzendenz ausgerichtet sind, unendlich sein müssen. Al-Ghazālī hebt hervor, dass die spekulativen Theologen (an-nuẓẓār) die Möglichkeit solcher Erkenntnisse nicht verneinen. Doch sie halten diesen Erkenntnisweg für sehr schwierig, da die Erfüllung aller seinen Bedingungen nur selten realisierbar ist.71 Denn zu den Bedingungen solcher Erkenntnis gehören auch praktische geistige Bemühungen, wie Selbstüberwindung, Verwandlung der Charaktereigenschaften und Läuterung des Herzens, während der Weg der Gelehrten vor allem aus Studium, Lernen und Reflektieren besteht. Obwohl al-Ghazālī den Weg der Gelehrten (also Theologen und Philosophen) schätzt, gibt er dem Weg der Mystiker einen deutlichen Vorrang.72 Dieser bestehe darin, dass die Sufis in den metaphysischen Dingen und religiösem Wissen zur Vollkommenheit ohne Erlenen gelangen, d.h. unmittelbar durch metarationale Wirklichkeitserfahrung. Doch al-Ghazālī verweist auch darauf, dass wenn einer von den Mystikern das gelehrte Wissen und die Theologen schmäht, beweist er damit nichts anders als seine eigene Unglaubwürdigkeit und Nichtigkeit.73

Der Hauptunterschied zwischen den Gelehrten und den Mystikern liegt demnach darin, dass während die ersten nur über eine epistemologische Dimension verfügen, verfügen die letzten auch über existenziell-spirituelle Dimension der Erkenntnis. Der zweite Unterschied liegt auch darin, dass die Theologen mit ihrer spekulativen Dialektik und logischen Argumentationsweisen primär und notwendigerweise sprachgebunden sind, während die Mystiker in ihrer reinen innerlichen Erfahrungen durch die vollkommene Gewissheit und ganzheitliche Erkenntnis eine Sphäre betreten, die jenseits jeglicher Dualität und damit auch jenseits der Sprache liegt. Doch wenn sich die Theologen in erster Linie mit dem Logos beschäftigen, also auf den Verstand und die Logik unterstützen, heißt es noch nicht, dass sie in bloßen Rationalismus verfallen, da die Theologie als solche sich auf die Offenbarung bezieht. Dennoch weisen ihre Gedankengänge sowohl hinsichtlich des Subjektes als auch hinsichtlich des Objektes Begrenzungen auf: „hinsichtlich des Subjektes, weil der Theologe sich in diesem Fall nur auf eine gewisse Logik und nicht auf die reine Geistesschau stützt, und hinsichtlich des Objektes, weil sich die Informationen nur auf feststehende und ausschließende begriffliche Formen beschränken, nämlich auf die Dogmen oder deren Wurzeln in der Heiligen Schrift.“74 Ein der Gründe, dass sich die Theologen jedenfalls überwiegend rationalistisch verhalten, ist vielleicht eben die Furcht vor mystischer Erkenntnis, die sich aus der metadogmatischen und grundsätzlich allumfassenden Wesensart der Gnosis erklären lässt.75 Nachdem al-Ghazālī das Studium der islamischen Scholastik (ʿilm al-kalām) aufgenommen und sie begriffen hat, stellte er fest, dass es sich um eine Wissenschaft handelt, die zwar für ihre eigenen Ziele ausreichend ist, nicht aber für seine eigenen; „denn das Ziel dieser Wissenschaft“, wie er sagt, „ist die Bewahrung des sunnitischen Glaubensgrundsatzes und sein Schutz vor der Verwirrung der ketzerischen Erneuerer“.76 Und obwohl al-Ghazālī den Beitrag und 71 Vgl. ebd., S. 29.72 Vgl. Al-Ghazālī, Das Elixier, S. 54.73 Vgl. ebd., S. 64.74 Schuon, Logik und Transzendenz, S. 61.75 Ebd., S. 61.76 Al-Ghazālī, Munqiḏ, zitiert nach Al-Ghazālī, Der Erretter, S. 13.

die Nützlichkeit der Theologie weder unterschätz noch abstreitet, erklärt er ihre Unzulänglichkeit bezüglich des sicheren Wissens und metaphysische Gewissheit, die er selber nur in der Mystik fand. Denn unter anderem warf al-Ghazālī den Theologen vor, dass sie letztendlich nicht in der Lage sind, die religiöse Wahrheit mit intellektuellen und rationalen Mitteln zu beweisen. Wogegen das mystische Gottesbeweis „immer bis zu einem gewissen Grad eine Teilhabe am tiefen Wesen der Dinge“ ist.77 Dennoch müssen dabei wir zwei Sachen berücksichtigen: (1) Die islamische Theologie von heute, also die akademische Wissenschaft und theoretische Reflexion über Gott, Glaube und damit auch über den Menschen, über sein Wesen, seine Erkenntnisfähigkeit und seine Beziehung zur Transzendenz, ist nicht ganz mit al-Ghazālīs Definition der Theologie als islamische Scholastik gleichzusetzten, deren Ziel (nur) die Bewahrung des sunnitischen Glaubensgrundsatzes sei. (2) Auch eben in der Frage der Mystik kann und soll die Theologie eine enorme Rolle haben, denn ihre Aufgabe bestehe nicht nur darin, Gottesattribute einerseits und Glaubenslehre andererseits zu beschreiben und zu vermitteln, sondern auch die tiefsten Gotteserfahrungen durch Sprache zugänglich zu machen, und wenn möglich sie auch kritisch-systematisch zu analysieren. Und hierfür ist, meiner Meinung nach, die Berücksichtigung al-Ghazālīs transzendentale Anthropologie fast unvermeidbar.

FazitAl-Ghazālīs Verständnis des Menschen weist eindeutig auf die transzendentalanthropologischen Ansätze, insofern er das Wesen des Menschen explizit im seinem Erkenntnisvermögen sieht, dessen Sitz das subtile geistige und – wie wir gesehen haben nicht nur transzendente, sondern auch - transzendentale Herz ist. Das menschliche Erkenntnisvermögen, so wie es al-Ghazālī versteht, ist grundsätzlich ein Vermögen des Offenseins für die Transzendenz, die metarationalen Erkenntnisse und ganzheitliche Wirklichkeitserfahrungen. Somit gesteht al-Ghazālī dem Menschen, nicht nur die Fähigkeit die Dinge der Welt adäquat zu erkennen, sondern auch sich selbst, sein eigenes Wesen, seine Stellung in der Welt und seine metaphysische Bestimmung. Die Vollkommene – geistige und wesentliche – Selbsterkenntnis führt notwendigerweise zur Gotteserkenntnis, indem man einerseits seine eigene ontologische Bedingtheit und andererseits seine eigene epistemologische Absolutheit begreift. Die erste besteht nämlich darin, dass nur der Gott das notwendige und allein wirkliche Sein ist, die zweite aber darin, dass das subtile Menschenherz eben dieses notwendige Sein wirklich erkennen kann. Da der Mensch damit letztendlich einen privilegierten Zugang zur absoluten Gewissheit, höchsten Wahrheit und ultimativen Wirklichkeit gewinnt, verleiht al-Ghazālī dem Menschen eine transzendentale Stellung, einen unschätzbaren Wert und eine unersetzliche Würde, die auch – und vor allem – in der heutigen akademischen Theologie mehr Aufmerksamkeit verdient.

Raid Al-Daghistani

geb. 1983 in Ljubljana, Slowenien; 2004-2011 Studium der Philosophie (Ljubljana); 2007/2008 Studienaufenthalt in Freiburg; 2009/2010 Studienaufenthalt in Sarajevo; 2012 (September-Oktober) Sprachaufenthalt in Marokko; 2011-2013 Studium der Arabistik und Islamwissenschaft (Universität Münster); Publikationen: mehrere Artikel in verschiedenen Sprachen u.a.: „Islam and Modern 77 Schuon, Logik und Transzendenz, S. 85.

Science“ [„Der Islam und die moderne Wissenschaft“] (2011); „Islam kot kultura večpomenskosti“ [„Islam als Kultur der Mehrdeutigkeit“] (2013); „Epistemologija srca: kontemplacija – okušanje – razsebljanje“ [„Die Epistemologie des Herzens: Kontemplation – geistiges Schmecken – Entwerden“] (2014); Monographien: „Odsevi in Sledi“ [„Reflexionen und Spuren“] (2009); „Abū Ḥammid al-Ghazālī. Erkenntnislehre und Lebensweg“ (2014); Übersetzungen: Deutsch- Slowenisch, „Kultur der Ambiguität: Eine andere Geschichte des Islams“ (2014); Arabisch-Slowenisch, „al-Munqiḏ min aḍ-ḍalāl“ [„Der Erretter aus dem Irrtum“] (2014); zurzeit promoviert er über „Epistemologie des Herzens: Erkenntnisaspekte der islamischen Mystik“ (Universität Münster); seit 2013 ist er Stipendiat der Maturidi-Studienförderung (ADSAM), und seit September 2014 Wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Islamische Theologie.