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Gerry SouterGerry Souter
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Autor: Gerry Souter
Übersetzer: Dr. Martin Goch
Redaktion der deutschen Veröffentlichung: Klaus H. Carl
Layout:
Baseline Co. Ltd.
33 Ter - 33 Bis Mac Dinh Chi St.,
Star Building; 6th Floor
District 1, Ho Chi Minh City
Vietnam
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© Banco de México Diego Rivera & Frida Kahlo Museums Trust. Av. Cinco de Mayo n°2,
Col. Centro, Del. Cuauhtémoc 06059, México, D.F.
© David Alfaro Siqueiros, Artists Rights Society (ARS), New York, USA/ SOMAAP, México
Weltweit alle Rechte vorbehalten. Soweit nicht anders vermerkt, gehört das Copyright der Arbeiten
den jeweiligen Fotografen. Trotz intensiver Nachforschungen war es aber nicht in jedem Fall möglich,
die Eigentumsrechte festzustellen. Gegebenenfalls bitten wir um Benachrichtigung.
ISBN: 978-1-78042-525-2
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Diego RiveraKunst und Leidenschaft
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Einleitung 7
Von der Lehre zum Meister der Kunst 11
Sein neues Exil in Europa oder seine künstlerische Suche 63
Zwischen Malerei und Politik 99
Ein Kommunist bei den Amerikanern 169
Die letzten Jahre oder die Rückkehr ins Heimatland 223
Index 254
Inhalt
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Ich kannte den mexikanischen Wandmaler Diego Rivera schon lange, bevor ich den vielen
anderen „Diego Riveras“ der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts begegnete. Als Fotojournalist
und Absolvent des Chicago Art Institute nutzte ich auswärtige Aufträge, um mir bedeutende
Kunstwerke anzusehen, wo immer es möglich war. In Paris gibt es die Schätze des Louvre und des
Centre Pompidou. In Mexiko gibt es Diego Rivera, und zwar überall. Und zu Hause genieße ich den
Vorteil, nur fünf Autostunden vom Detroit Institute of Arts und Riveras unglaublichen
Wandgemälden für diese amerikanische Industriestadt entfernt zu wohnen.
Während seine Staffeleigemälde und Zeichnungen einen großen Teil seines Früh- und
Spätwerks einnehmen, explodieren seine einzigartigen Wandgemälde in einer virtuosen
Vorführung verblüffender Organisation geradezu von der Wand. Auf diesen Wänden gehen der
Mann, seine Legende und sein Mythos, sein technisches Talent, sein narrativer Fokus und seine
tiefen ideologischen Überzeugungen eine untrennbare Verbindung ein.
Bei der Recherche für mein Buch Frida Kahlo: Hinter dem Spiegel fand ich viele Fotografien
Diegos, zuerst als lächelnder, erfolgreicher Künstler mit seiner kleinen Braut und am Ende als
müder alter Mann hinter Fridas Sarg auf dem Weg zum Krematorium. Obwohl ihre Verbindung
sehr eng war, konnte ich ihren Vollzug, sowohl körperlich als auch intellektuell, nicht akzeptieren,
noch konnte ich verstehen, welche Anziehungskraft auf schöne Frauen und mächtige Männer eine
solche watschelnde Karikatur ausüben konnte. Im Angesicht seiner von der Wand leuchtenden
Bilder trat sein Reiz als überlebensgroße Person und Schöpfer jedoch rasch an die Stelle des ersten
Eindrucks eines weichen Mannes.
Große, feuchte, weiche Froschaugen über einem einen Hang zum Genuss ausdrückenden
Mund blicken erwartungsvoll unter schweren Lidern hervor und erinnern an ein Mondgesicht auf
einem fleischigen, tränenförmigen Körper. Aber dieser große Mann, der Türen ausfüllte und
Stühle unter sich ächzen ließ, hatte kleine, an Kinder erinnernde Hände. Er wirkte sanft und träge,
arbeitete häufig aber 18 Stunden auf einem Gerüst an seinen Wandgemälden. Sein Privatleben war
ein einziges Chaos aus Politik, Affären, Partys, Reisen, Ehen und der Arbeit an seinem eigenen
Mythos. Aber an der Wand choreographierte er erfolgreich seine schöpferische Arbeit mit den
zeitkritischen Erfordernissen der Wandmalerei.
Seinen Memoiren zufolge lobte der sich mühende junge Künstler Rivera Picasso dafür in den
Himmel, dass er die Maler aus der Umklammerung der Stagnation befreit hatte. Seinen Freunden
gegenüber allerdings machte er Picasso den Vorwurf, Elemente seiner kubistischen Technik von
ihm gestohlen zu haben, und Rivera kochte geradezu, als Picasso Erfolge feierte und er selbst sich
1. Diego Rivera,
Das Erstellen eines Freskos, 1931.
Fresko, 568 x 991 cm.
San Francisco Art Institute, San Francisco.
2. Diego Rivera,
Selbstporträt, 1916.
Öl auf Leinwand, 82 x 61 cm.
Museo Dolores Olmedo, Mexiko-Stadt.
Einleitung
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in Paris immer noch ohne einen eigenen Stil abmühte. Rivera war zeitlebens ein Anhänger der
Ideen des Kommunismus und stritt seine gnadenlose Realität zumeist ab. Wie konnte jemand die
strenge Ideologie des Kommunismus propagieren und gleichzeitig für reiche Kapitalisten
arbeiten? Während der unruhigen 1920er, 1930er und 1940er Jahre bewegten sich Riveras
politische Einsichten auf dem Niveau, mit dem ihn die meisten seiner Zeitgenossen identifizierten
– dem eines großen Kindes. Er schloss überall, in Mexiko, Spanien, Frankreich, Italien,
Deutschland, Russland und den Vereinigten Staaten, Freundschaften, während die Eifersucht auf
seinen Erfolg und kontroverse politische Andeutungen in seiner Kunst ihm gleichzeitig erbitterte
Feinde einbrachten. Rivera trug viele Jahre lang einen großkalibrigen Colt bei sich, angeblich, um
Anschläge auf sein Leben abzuwehren.
Diego Rivera spielte viele Rollen, einige besser als andere, aber tief in seinem Herzen trug
er – auch wenn er dies erst nach etwa einem Drittel seines Lebens erkannte – Mexiko in sich,
die Sprache seiner Gedanken, das Blut in seinen Adern, den azurblauen Himmel über seinem
Zufluchtsort. Nachdem sich der Sturm und Drang eines quasi im Galopp gelebten Lebens
gelegt hatten, er seine meisterliche Technik entwickelt hatte und sich endlich seinen
schöpferischen Zielen widmete, war da Mexiko, seine Geschichte und seine Geschichten. Diese
Geschichten und das Leben Diego Riveras vermischen sich so miteinander, wie ein Fluss die
Erde in sich aufnimmt.
Gerry Souter
Arlington Heights, Illinois
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3. Frida Kahlo,
Xochítl, Blume des Lebens, 1938.
Öl auf Metall, 18 x 9,5 cm.
Privatsammlung.
4. Frida Kahlo,
Selbstporträt, ca. 1938.
Öl auf Metall, 12 x 7 cm.
Privatsammlung, Paris.
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E I N L E I T U N G
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Seine ersten Schritte
R ivera gestaltete bewusst sein Leben so, dass selbst sein Geburtsdatum von Mythen
umrankt ist. Seine Mutter María, seine Tante Cesárea und die standesamtlichen
Dokumente nennen den 8. Dezember 1886 um 19.30 Uhr als sein Geburtsdatum, d.h.
den Tag der Feier der Unbefleckten Empfängnis. In den Kirchendokumenten von Guanajuato ist
den Unterlagen über seine Taufe allerdings zu entnehmen, dass der kleine Diego María
Concepción Juan Nepomuceno Estanislao de la Rivera y Barrientos Acosta y Rodríguez tatsächlich
am 13. Dezember das Licht der Welt erblickte.
Riveras eigene, Jahrzehnte später abgegebene Schilderung seiner Geburt beschreibt ein
grandioses Melodram. Seine Mutter hatte bereits drei Totgeburten hinter sich. Nun erwartete sie
Zwillinge. Nachdem sie Diego auf die Welt gebracht hatte, erlitt sie Blutungen. Diego war dürr und
lethargisch und man gab ihm kaum Überlebenschancen. Doktor Arizmendi, ein Freund der
Familie, warf ihn deshalb in einen in der Nähe stehenden Dungeimer und wandte sich dem
zweiten Kind zu. Diegos Zwillingsbruder kam auf die Welt und schien der zerbrechlichen María,
die nun ins Koma fiel, die letzte Kraft geraubt zu haben.
Verzweifelt weinte Don Diego Rivera über seiner leblosen Frau. Es mussten Vorbereitungen für
ihre Aufbahrung getroffen werden. Die alte Matha, die Doña María stets geholfen hatte, wollte ihre
kalte Stirn küssen. Plötzlich trat die alte Frau zurück. Marías „Leiche“ atmete! Der Arzt
entzündete sofort ein Streichholz und hielt es unter Marías Ferse. Es bildete sich eine Brandblase.
Doña María lebte tatsächlich noch. Und aus dem Dungeimer kamen Krächzer, die zeigten, dass der
kleine Diego ebenfalls noch lebte, woraufhin man ihn aus dem Eimer holte.
Doña María erholte sich, beschäftigte sich später mit der Geburtsheilkunde und wurde
schließlich eine professionelle Hebamme. Diegos Zwillingsbruder Carlos starb eineinhalb
Jahre später, während der unter Rachitis und schlechter Gesundheit leidende Diego unter die
Obhut seiner in den Bergen der Sierra lebenden indianischen Kinderfrau Antonia gestellt
wurde. Diego zufolge verabreichte sie ihm dort Kräutermedizin und praktizierte heilige
Rituale, während er Ziegenmilch frisch aus dem Euter trank und mit allen möglichen Tieren
wild in den Wäldern lebte.
Aber was immer auch die Wahrheit über seine Geburt und frühe Kindheit sein mag, die
mexikanischen, spanischen, indianischen, afrikanischen, italienischen, jüdischen, russischen und
portugiesischen Wurzeln Diegos statteten ihn mit einem klaren analytischen Intellekt aus. Sein
Vater, Don Diego, brachte ihm das Lesen „…nach der Froebel-Methode bei“.1
Friedrich Froebel (1782 bis 1856) gilt als der „Vater des modernen Kindergartens“. Dieser
deutsche Pädagoge schuf im Jahr 1839 überhaupt erst diesen Begriff. Froebel wandte sich gegen die
Idee, Kinder als kleine Erwachsene zu behandeln und trat für ihr Recht ein, die Kindheit zu genießen,
5. Diego Rivera,
Landschaft, 1896-1897.
Öl auf Leinwand, 70 x 55 cm.
Sammlung Guadalupe Rivera de Irtube.
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spielen zu können und sich mit Kunst, Musik und dem Schreiben zu beschäftigen. Die Erklärung
der Moral einer Geschichte ermöglichte es Froebel zufolge den Kindern z.B. nicht, ihre eigenen
Schlüsse aus dem Gelesenen zu ziehen. Es ist auffällig, dass spätere nicht gegenständlich und
unabhängig denkende europäische Künstler wie Georges Braque (1882 bis 1963), Wassilij
Kandinsky (1866 bis 1944), Paul Klee (1879 bis 1940) und Piet Mondrian (1872 bis 1944) häufig
ebenfalls nach Froebels Konzepten arbeitende Kindergärten besucht hatten.2
Diego Rivera wurde in eine durch eine auf Abstammung und politische Verbindungen
gegründete Klassengesellschaft hineingeboren. Die Epoche wurde nach der Regierung des
autokratischen Präsidenten Don Porfirio Díaz (1830 bis 1915) Porfiriato genannt. Diegos Vater
war ein gebildeter Mann, ein Lehrer und politischer Liberaler, der bei der herrschenden
politischen Partei als Unruhestifter galt. Er war darüber hinaus ein criollo, ein mexikanischer
Bürger von privilegierter, „reiner“ europäischer Abstammung. Sein Dienst in der mexikanischen
Armee, die die französische Herrschaft unter Maximilian beendet hatte, verschaffte ihm ebenfalls
eine quasi kugelsichere Position innerhalb von Díaz’ „loyaler“ Opposition.
Der allgemein verehrte Präsident Benito Juárez (1806 bis 1872) hatte Mexiko mit Díaz an
seiner Seite von der französischen Herrschaft befreit. Nach Juárez’ Tod entriss Díaz dem unfähigen
gewählten Führer Sebastián Lerdo (1823 bis 1889) im Jahr 1876 die Herrschaft. Juárez’ die Bauern
begünstigende Landreformen wurden im Verlauf der Zeit einkassiert und Díaz ging ein Bündnis
mit reichen ausländischen Investoren und konservativen, wohlhabenden mexikanischen
Familien ein. Er modernisierte Mexiko mit Hilfe der Elektrizität, der Eisenbahn und durch
Handelsabkommen und glich den mexikanischen Haushalt unter internationalem Beifall aus. Die
obere Schicht der mexikanischen Gesellschaft nahm französische Sitten, die französische Küche,
Unterhaltung und Sprache an. Die mexikanischen Landarbeiter am unteren Ende der Pyramide
wurden sich selbst und ihrem kargen Dasein überlassen.
Um seine finanzielle Lage zu verbessern, investierte Diegos Vater in die Erzförderung aus den
eigentlich längst erschöpften Silberminen in der Umgebung von Guanajuato. Diese einst blühende
Industrie konnte aufgrund versiegender Vorkommen jedoch nicht wiederbelebt werden, und die
Familie Rivera häufte nur Schulden an.
Diegos Mutter María verkaufte daraufhin das Mobiliar der Familie, die nun in eine ärmliche
Wohnung in Mexiko-Stadt ziehen und von neuem beginnen musste. María war eine kleine und
zerbrechliche Mestizin mit europäischem und indianischem Blut. Sie verfügte aber über eine gute
Ausbildung, die es ihr ermöglichte, ihre medizinischen Studien zu betreiben und eine
professionelle Hebamme zu werden.
Durch all diese Schwierigkeiten hindurch wurde der junge Diego jedoch verhätschelt. Er
konnte schon mit vier Jahren lesen und hatte damit begonnen, Wände zu bemalen. Der Umzug
nach Mexiko-Stadt eröffnete ihm eine völlig neue Welt. Die Stadt erhob sich auf einem
Hochplateau oberhalb eines alten Seebettes am Fuße zweier schneebedeckter Vulkane, des
Iztacchuatl und des Popocatépetl. Nach den staubigen Landstraßen und den Häusern von
Guanajuato mit ihren flachen Dächern die gepflasterten Straßen der Hauptstadt mit ihrer
eleganten französischen Architektur und der mit den schönsten Boulevards Europas
konkurrierende Paseo de Reforma – Diego war überwältigt.
Diego hatte mittlerweile eine jüngere Schwester, María del Pilar, aber sein in Mexiko-Stadt
geborener Bruder Alfonso war schon eine Woche nach der Geburt gestorben. Das Leben in den
ärmeren Stadtvierteln war hart, und etwa die Hälfte der Neugeborenen starb innerhalb der ersten
Woche nach der Geburt. Aufgrund der schlechten hygienischen Verhältnisse, des Fehlens
fließenden Wassers und der Überbevölkerung waren Typhus, Pocken und Diphterie weit verbreitet.
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6. Diego Rivera,
Beginisches Kloster in Brügge oder
Sonnenuntergang in Brügge, 1909.
Kohle auf Papier, 27,8 x 46 cm.
Sammlung INBA, Museo Casa Diego Rivera,
Guanajuato.
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7. Camille Pissarro,
Weidelandschaft, Pontoise, 1868.
Öl auf Leinwand, 81 x 100 cm.
Privatsammlung, New York.
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8. Diego Rivera,
Landschaft mit einem See, ca. 1900.
Öl auf Leinwand, 53 x 73 cm.
Sammlung Daniel Yankelewitz B., San José.
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Diego litt ebenfalls unter Typhus, Scharlach und Diphterie, aber seine hartnäckige Konstitution und
Marías medizinische Ausbildung sorgten dafür, dass er überlebte.
Diegos Vater schluckte, um für seine Familie sorgen zu können, seine moralische Entrüstung
über die Korruption der Regierung herunter und nahm einen Posten als Büroangestellter im
Gesundheitsministerium an. Er hatte eine für jede sich den Anliegen der unteren
Gesellschaftsschichten widmende revolutionäre Bewegung bittere Wahrheit erkannt: die
Veröffentlichung von Artikeln, die den Armen helfen sollten, wurde durch den weit verbreiteten
Analphabetismus behindert – sie konnten schlicht nicht lesen.
María fand auch immer mehr Arbeit als Hebamme, und sie konnten bald aus ihrem Armenviertel
in eine bessere Unterkunft wechseln. Sie landeten schließlich in einer Wohnung im zweiten
Stockwerk an der Calle de la Merced („Marktstraße“). Dieses Viertel gruppierte sich um zwei große
Märkte. Ihre Farbenpracht, das vielfältige Warenangebot, der Trubel und die Menschenmenge aus
Indios, Landarbeitern und Kunden aus allen Gesellschaftsschichten boten ein reiches Bild, das Diego
bis ins hohe Alter begleitete. Für den Jungen bedeutete dieser gesellschaftliche Aufstieg, dass er nun
ohne Unterbrechungen zur Schule gehen konnte. Er trat mit acht Jahren in das Colegio del Padre
Antonio ein. „Diese kirchliche Schule war die Wahl meiner Mutter, die unter den Einfluss ihrer
frommen Schwester und Tante geraten war.“3 Er blieb drei Monate lang, versuchte es dann im Colegio
Católico Carpentier – wo er heruntergestuft wurde, weil er nicht häufig genug badete – ein leider sein
gesamtes Leben hindurch anhaltendes hygienisches Problem – und ging schließlich auf das Liceo
Católico Hispano-Mexicano. „Hier bekam ich sowohl Essen als auch freien Unterricht, Bücher,
verschiedene Werkzeuge und andere Dinge. Ich wurde in die dritte Klasse gesteckt, aber da ich durch
meinen Vater gut vorbereitet worden war, wurde ich bald in die sechste Klasse versetzt.“4
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9. Gustave Courbet,
Eine Hütte in den Bergen, 1874-1876.
Öl auf Leinwand, 33 x 49 cm.
Puschkin-Museum, Moskau.
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Die Schulform Lyceum war, wie von Präsident Díaz gewünscht, direkt französischen Modellen
entlehnt. Nachdem er die Franzosen 1867 aus Frankreich vertrieben hatte, verbrachte Díaz die
folgenden sechs Jahre seiner Regierung damit, die von Benito Juárez etablierte Demokratie
aufzulösen und die französische und internationale Kultur wieder als Modell für Fortschritt und
Zivilisation zu propagieren. Die Kehrseite dieser Politik bestand in der Verunglimpfung der
einheimischen Gesellschaft, Kunst, Sprache und politischen Kultur. Er überließ die Armen ihrem
Schicksal, während die Reichen hofiert wurden, weil sie über Geld verfügten und es schätzten,
wenn sie es behalten konnten. Der Wille der herrschenden Klasse wurde den Armen mit Hilfe von
nützlichen „wissenschaftlichen“ Prinzipien aufoktroyiert, die von einem los Científicos genannten
Kreis aus Pseudo-Sozialwissenschaftlern entwickelt worden waren. Es handelte sich um
lupenreinen Sozialdarwinismus.
In demselben Jahr, in dem Díaz und Juárez die Franzosen aus Mexiko vertrieben, erschien der
erste Band von Karl Marx’ Das Kapital: Kritik der Politischen Ökonomie. Dieses Ergebnis eines
lebenslangen wissenschaftlichen Studiums der politischen Ökonomie der Arbeiterklasse ersetzte
die üblichen, die grundlegenden Prinzipien des Sozialismus begründenden populistischen Aufrufe
an die unterdrückten Arbeiter durch klare Schlussfolgerungen. Wenn es jemals eine autokratische
Regierung gegeben hat, die für einen starken, von intellektuellen Säulen der sozialistischen
Ideologie gestützten Untergrund reif war, so handelte es sich um Mexiko. Die kulturelle und
ökonomische Philosophie der Regierung Díaz fokussierte sich auf das Konzept, zunächst
Reichtum zu schaffen, bevor man sich den Interessen der Armen widmete, die zum Leidwesen der
die Politik bestimmenden mexikanischen Cientificos im Vergleich zu ihrer Geburtenrate nicht
rasch genug starben.
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10. Diego Rivera,
Landschaft mit einer Mühle,
Landschaft von Damme, 1909.
Öl auf Leinwand, 50 x 60,5 cm.
Sammlung Juan Pablo Gómez Rivera,
Mexiko-Stadt.
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Mitten hinein in diese die Landarbeiter und campesinos (Kleinbauern) unterdrückende
Verschwörung zugunsten der die Taschen der Reichen füllenden internationalen Investoren im
Gegenzug für Handelsprivilegien und mit der Bereitstellung sehr billiger Arbeitskräfte und der
durch die Gleichgültigkeit der katholischen Kirche gestützten mexikanischen Regierung trat der
junge Diego Rivera. Sein Vater nutzte unterdessen auf Kosten seiner persönlichen politischen
Überzeugungen seine gute Bildung, um in der Verwaltung eine bessere Position als
Gesundheitsinspektor zu bekommen. Das Wachstum der Stadtbevölkerung hatte es María del
Pilar gleichzeitig ermöglicht, ihre Praxis als Hebamme auszuweiten und sogar eine gynäkologische
Klinik zu eröffnen. Zum ersten Mal nach dem Debakel mit der Silbermine in Guanajuato hatten
die Riveras wieder Alternativen.
Im Alter von zehn Jahren hatte Diego die Auswirkungen der mexikanischen Autokratie bereits
am eigenen Leib erfahren, aber er sollte sich diesem Thema erst später zuwenden. Seinen Eltern
war nun vor allem daran gelegen, das Beste aus seinem Zeichentalent zu machen. Sie suchten nach
praktischen Anwendungen für seine Hobbys. Diego malte gerne Soldaten, weshalb sein Vater an
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11. William Turner,
Wolverhampton, Staffordshire, 1796.
Aquarell auf weißem Papier,
31,8 x 41,9 cm.
Wolverhampton Arts and Museums Service,
Wolverhampton.
12. Diego Rivera,
Notre-Dame, Paris, 1909.
Öl auf Leinwand, 144 x 113 cm.
Privatsammlung, Mexiko-Stadt.
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eine Karriere beim Militär dachte, aber der Junge verbrachte auch viel Zeit am Bahnhof mit dem
Malen von Zügen – wie wäre es also mit einem Job als Lokomotivführer? Diegos Mutter stellte sich
aber dem Wunsch seines Vaters, dass Diego in das Colegio Militar eintreten möge, in den Weg und
schickte ihn stattdessen in Abendkurse der Academia San Carlos.
Diese Kunstschule lag nur einen Häuserblock vom Zócalo entfernt, dem großen zentralen Platz
von Mexiko-Stadt, und Diego ging auf seinem Weg zur Schule häufig über seine Oberfläche aus
festgetretener Erde und Spuren von Eselskarren und wich daherrumpelnden Pferdewagen voller
Waren aus. Das Klappern einer Druckerpresse in einer der unmittelbar angrenzenden Straßen
muss eine weitere Ablenkung dargestellt haben. Die Druckerei in der Hausnummer 5 der Straße
Santa Inés gehörte José Guadalupe Posada, einem Lithographen und Graveur, dessen narrative
Drucke die Karikaturen und Fotografien seiner Zeit waren.
Posada erzählte mit Hilfe von schwarz-weißen Linienzeichnungen und ehrgeiziger Farbgebung
alltägliche Geschichten, außergewöhnliche Ereignisse, bizarre, satirische und tragische
Geschehnisse, die in den von ihren Lesern hoias volantes („fliegende Blätter“) genannten
Zeitungen von Antonio Vanegas Arroyo abgedruckt wurden, dessen Laden neben der San Carlos-
Kunstschule lag. Die Druckerpresse arbeitete den ganzen Tag und häufig auch die ganze Nacht
hindurch, während sie die Folklore und das tägliche Leben in Mexiko-Stadt in einem lebhaften
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13. Diego Rivera,
Landschaft bei Mittag, 1918.
Öl auf Leinwand, 79,5 x 63,2 cm.
Museo Dolores Olmedo, Mexiko-Stadt.
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Stil wiedergab, dessen Einfluss Rivera, Orozco, Siqueiros und die anderen mexikanischen
Wandmaler ausdrücklich anerkannten.
Diego mühte sich ein ganzes Jahr lang damit ab, morgens die normale Schule und abends die
Kunstakademie zu besuchen, bis er im Alter von elf Jahren ein Stipendium erhielt, um sich voll
und ganz der Kunstschule widmen zu können. Während San Carlos als die beste Mexikos galt, war
ihr Curriculum tatsächlich von den staubigen europäischen künstlerischen Dogmen geprägt, die
in den Machenschaften der der Regierung dienenden und in allen Lebensbereichen den Sieg des
Stärkeren propagierenden Científicos begründet waren. Die Kunstschule verlangte, dass neben
Kursen in Perspektive und Figurenzeichnung auch Physik, Mathematik, Chemie und
Naturgeschichte gelernt wurden.
Die Professoren waren Spanier, die die Praktiken der französischen akademischen Maler
lehrten und nichts von der Avantgarde des Impressionismus und Post-Impressionismus wissen
wollten. Diego, der jüngste Schüler, erinnerte sich am besten an Professor Don Félix Parra, der
eine ungewöhnliche Liebe für die präkolumbianische indianische Kunst empfand, dessen Werke
selbst jedoch höchst konventionell waren, sowie an José M. Velasco, den berühmten
Landschaftsmaler, der Perspektive lehrte. Santiago Rebull war der Schulleiter und unterrichtete
Proportionen und Komposition. Rebull hatte selbst in Paris unter dem als einer der größten
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14. Paul Cézanne,
Aquädukt, 1885-1887.
Öl auf Leinwand, 91 x 72 cm.
Puschkin-Museum, Moskau.
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15. Diego Rivera,
Ansicht von Arcueil.
Öl auf Leinwand, 64 x 80 cm.
Staatliche Sammlung von Veracruz,
Veracruz.
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Künstler aller Zeiten geltenden Jean Auguste Dominique Ingres studiert. Er zeigte Ingres’
Zeichnungen seinen Studenten denn auch als Modelle der Perfektion. Das um dieses Vorbild
angelegte Curriculum war eine einzige Schufterei, die aus zwei Jahren des Kopierens von
Reproduktionen von Studien von Ingres bestand, die von zwei Jahren des Malens nach
Gipsabgüssen gefolgt wurden, bevor es an das Malen lebender Modelle ging.
Rebull wählte Diego als besonders talentiert aus und gab ihm Unterricht im so genannten
Goldenen Schnitt, einem in der griechischen Antike entwickelten mathematischen System der
Komposition, das ein harmonisches Verhältnis zwischen zwei ungleichen Teilen etablieren sollte.
Diese Prinzipien fanden großen Niederschlag in Luca Paciolis 1509 veröffentlichtem dreibändigem
Werk Divina Proportione. In seinen Elementen hatte Euklid von Alexandria (ca. 300 v. Chr.) aus einer
Unterteilung einer Strecke eine ideale, harmonische Proportion definiert. Die Definition lautet:
Eine Strecke ist im Verhältnis des Goldenen Schnitts geteilt, wenn sich die größere Strecke so
zur kleineren Strecke verhält, wie sich die Gesamtstrecke zur größeren verhält.
In einem Diagramm teilt der Punkt C die Strecke A-B also derart, dass das Verhältnis von A-C
zu C-B identisch ist mit dem Verhältnis von A-B zu A-C. Algebraische Grundkenntnisse zeigen,
dass in diesem Beispiel das Verhältnis von A-C zu B-C die irrationale Zahl 1,618 aufweist
(exakt die Hälfte der Summe aus 1 und der Wurzel aus 5).
Diese auf die Kunst angewandte mathematische Formel übte großen Reiz auf den Ingenieur in
Diego Rivera aus, der große Freude an mechanischen Gegenständen wie Zügen und Maschinen
hatte und häufig sein Spielzeug auseinander genommen hatte, um seine Funktionsweise zu
untersuchen. Die Anwendung des Goldenen Schnitts leistete ihm später, als er seine großen
Wandgemälde auf Wände von ganz unterschiedlichen Maßen aufbrachte, gute Dienste. Seine
akademische Ausbildung umfasste ferner die Anwendung der Farboptik mit Hilfe von
„hervortretenden“ (warmen) und „zurücktretenden“ (kalten) Farben und den Einsatz von Linien,
um auf einer zweidimensionalen Oberfläche Tiefe zu erzeugen. Sie sollte Diego für seine späteren
großformatigen Bildern wichtige Werkzeuge in die Hand geben.
Diego Rivera trat 1905 im Alter von 18 Jahren in seine letzten beiden Jahre in der Academia San
Carlos ein. Er hatte sich seit seinen Anfängen als elfjähriger, folgsamer, schäbiger, dicker Junge mit
kurzen Hosen und rosafarbenen Strümpfen, der damals, 1898, hin und wieder geschwänzt hatte,
um in den übel riechenden Kanälen zu angeln, stark verändert. Während er früher in schlampiger
Anonymität herumlief, kleidete er sich nun wie ein junger Gentleman in Jackett und Hemd mit
Eckenkragen und Krawatte. Sein Haar war nicht länger ein Vogelnest, sondern mit Pomade
zurückgekämmt. Auf seiner Oberlippe spross ein spärlicher Schnurrbart, um den jüngsten
Studenten im Kurs erwachsener wirken zu lassen. Er hatte in einem Zeichenwettbewerb des
Erziehungsministeriums eine Medaille und ein Stipendium von 20 Pesos pro Monat gewonnen
und erreichte damit seine Unabhängigkeit.
Im Jahr 1906 hatte Rivera acht Jahre des Studiums in San Carlos hinter sich gebracht und mit
Auszeichnung abgeschlossen. Er war in seiner letzten Ausstellung von Studenten der Kunstschule
mit 26 Arbeiten vertreten gewesen. Seine Mühen hatten ihm bei den Regierungsvertretern, die er
beeindrucken musste, um weiterhin Stipendien zu bekommen, einen ausgezeichneten Ruf
eingebracht. Das Geld für Studien in Europa ließ jedoch sechs Monate auf sich warten, was es dem
jungen Diego ermöglichte, inmitten seiner Schulfreunde das Leben eines unkonventionellen
Künstlers zu führen.
Diese Gruppe aus Künstlern, Architekten und Intellektuellen – El Grupo Bohemio –, die sich für
ihren Abschluss hatte anstrengen müssen, arbeitete nun hart an einem zügellosen Lebenswandel.
Der Charakter dieser unkonventionellen Existenz kommt gut in Riveras fantasievoller Geschichte
V O N D E R L E H R E Z U M M E I S T E R D E R K U N S T
16. Diego Rivera,
Umgebung von Paris, 1918.
Öl auf Leinwand, 63,5 x 79,5 cm.
Privatsammlung.
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D I E G O R I V E R A – K U N S T U N D L E I D E N S C H A F T
17. Paul Cézanne,
Das Schwarze Schloss, 1900-1904.
Öl auf Leinwand, 73,7 x 96,6 cm.
National Gallery of Art, Washington, D.C.
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