die musik an den höfen der karolinger

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Die Musik an den Höfen der Karolinger Author(s): Manfred Schuler Source: Archiv für Musikwissenschaft, 27. Jahrg., H. 1. (1970), pp. 23-40 Published by: Franz Steiner Verlag Stable URL: http://www.jstor.org/stable/930180 . Accessed: 10/06/2014 06:55 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp . JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. . Franz Steiner Verlag is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Archiv für Musikwissenschaft. http://www.jstor.org This content downloaded from 188.72.127.114 on Tue, 10 Jun 2014 06:55:18 AM All use subject to JSTOR Terms and Conditions

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Page 1: Die Musik an den Höfen der Karolinger

Die Musik an den Höfen der KarolingerAuthor(s): Manfred SchulerSource: Archiv für Musikwissenschaft, 27. Jahrg., H. 1. (1970), pp. 23-40Published by: Franz Steiner VerlagStable URL: http://www.jstor.org/stable/930180 .

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Page 2: Die Musik an den Höfen der Karolinger

Die Musik an den Hofen der Karolinger von

MANFRED SCHULER

Die musikwissenschaftliche Forschung befaBte sich bislang mit der Musik im Karolingerreich fast ausschlieBlich unter dem Blickwinkel des romischen Kir- chengesangs, der Musiktheorie sowie der Orgelgeschichte, scheint die Quellen- lage doch andere Problemstellungen gar nicht zu erlauben. Tatsachlich aber lassen die Quellen auch einige Ruckschlusse auf die Musikausubung an den Hofen der Karolinger zu. In der folgenden Studie soll versucht werden, anhand der Quellen, die zugegebenermaBen nur sparliche Nachrichten liefern, ein Bild von der Musikkultur und deren Trager an den karolinCischen Eofen zu gewin- nen.

Der sakrale Charakter des karolingischen Konigtums schlug sich auch in der Hofhaltung nieder und verlieh ihr eine kultische Aufgabe: die Feier des herr- scherlichen Gottesdienstes. Diese Kulthandlung manifestierte sichtbar einer- seits die Huldigung des Herrschers vor dem Allerhochsten, andererseits das auf Gott gegrundete Konigtum. Als kultisches Vorbild diente die romische Liturgie, wobei besonders hinsichtlich des Zeremoniells auch spatromische und byzantinische Einflusse wirksam wurden. Die Erfullung der hofischen kulti- schen Aufgabe ubertrugen die Karolinger der Hofkapelle, einer hofisch-kirch- lichen Institution karolingischen Ursprungs.

In diesem Zusammenhang muB kurz auf die Begriffsgeschichte des Wortes , ,capella" eingegangen werden 1. Offensichtlich abgeleitet von , ,capa" oder ,,capella", dem Kriegsmantel des heiligen Martin in Tours, eignete diesemWort ursprunglich eine dingliche Bedeutung, insofern als man damit die liturgischen Gerate fur den koniglichen, spater auch furstlichen und bischoflichen Gottes- dienst bezeichnete. Seit etwa der zweiten Halfte des 8. Jahrhunderts kam dem

1 AzTgL hierzu H.-W. KLEWITZ, Konigtum, Hofkapelle und Domkapitel im 10. und 11. Jh., Archiv fur Urkundenforschung XVI, 1939, Nachdruck Darmstadt 1960, S. 119, Anm. 1; J.F. NIERMEYER, Mediae latinitatis lencicon minus, Fasc. II, Leiden 1955, S. 130f.; J. FLECKENSTEIN, Die Hofkapelle der deutschen Konige, Teil I: Grund - legung. Die Karolinyische Hofkapelle, Schriften der Monumenta Germaniae historica (im folgenden zitiert MGH) XVI/I, Stuttgart 1959, S. llff.; J. VAN DEN BOSCH, Capa, Basilica, Monasterium et le culte de saint Martin de Tours, Latinitas Christia- norum Primaeva, Fasc. XIII, Nijmegen 1959, S. 7ff.

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24 Manfred Schuler

Wort auch raumliche Bedeutung zu, wurden doch nun der Ort des herrscher- lichen Gottesdienstes, der Reliquien und der Urkunden in der Konigspfalz, ferner die Eigenkirchen ,,capella" genannt. SchlieBlich erhielt dieses Wort um 800 einen personalen Bedeutungsinhalt, namlich als Bezeichnung fur die Ge- samtheit der dem karolingischen Hof dienenden Geistlichen2.

Ihre Entstehung und Organisation, die im 9. Jahrhundert voll ausgepragt war, verdankte die Institution der Hofkapelle den Karolingern. Leider slnd wir uber die Aufgaben der karolingischen Hofkapelle nur durftig unterrichtet, da die zeitgenossischen Quellen im allgemeinen daruber schweigen. Die wenigen Angaben lassen jedoch erkennen, daB die Mitglieder der Hofkapelle, die capel- lani, neben dem geistlichen Hofdienst die verschiedensten Verwaltungstatig- keiten und Amtshandlungen wie auch wissenschaftliche und kunstlerische Aufgaben zu erfullen hatten. So umfaBte die Hofkapelle Verwaltungs- und Kanzleibeamte, Diplomaten, Theologen, Gelehrte, BibliothekareX Buchmaler, Architekten und Sanger3.

Unter sich wiesen die capellani, die verschiedene Weihegrade und nur teil- weise die Priesterweihe besaBen, betrachtliche Rangunterschiede auf. Ihrer Herkunft nach waren sie Adlige oder zumindest Freie und kamen aus allen Teilen des Reiches. Gelegentlich findet man ullter ihnen auch Iren, Angelsach- sen, Langobarden und Spanier4. Innerhalb des Klerus nahmen die Mitglieder der Hofkapelle eine bevorrechtigte Stellung ein, +vas zur Zeit Kaiser Ludgs des Frommen zu tIiBstanden fuhrte. Ihres ungeordneten Lebens wegen rugte sie denn auch im Jahr 828 AbtWala von Corbie5.

An der Spitze der Hofkapelle stand seit Konig Pippin ein oberster capellanus, der Ende des 8. und Anfang des 9. Jahrhunderts den Titel primicerius sanctae capellae oder aulae und spater (erstmals 825) auch die Bezeichnung sacri pa- latii archicapellanus fuhrte6. Neben der Leitung der Hofkapelle oblagen ihm offensichtlich seelsorgerliche und gottesdienstliche Pflichten. Zugleich war er kirchliches Oberhaupt der capellani. Seiner ehrenvol]en und machtigen Stellung entsprach es, wenn er in der Regel vornehmen Fatnilien des Reiches entstammte und dem hohen Klerus angehorte7. Nach dem Zerfall des karolingischen GroB- reiches scheint der archicapellanus zuIYlindest im sudlichen Teilreich und im

2 Wohl eher von dem personalen denn von dem raumlichen Kapellbegriff (erlt- gegen FLECKENSTEIN, a.a.O. S. 22) leitete sich im spaten Mittelalter die Bezeich- nung ,,capella" fur den mit der Abhaltung der Hofgottesdienste betrauten Rlerus und Sangerchor her. Im Verlauf des 16./17. Jhs. wurde der Begriff liapelle mancher- orts auch auf die Hofinstrumentisten ausgedehnt (vgl. M. RUHNKE, Art. Kapelle, MGG VII, 1958, Sp. 660 ff. ).

3 Vgl. FI,ECKENSTEIN, a. a. O. S. 60 f., 66, 78 f., 86, 92 f., 233 und 235 f. 4 FLECKENSTEIN, a. a. O. S. 89 und 91. 5 Vgl. E. DUMMLER, Geschichte des Ostfrankischen Betches, Bd. I: Ludwig der

Deutsche, Jahrbucher des Deutschen Reiches VII, Berlin 1862, S. 48; \\r. LUDERS, Capella, Archiv fur Urkundenforschung II, 1909, S. 60ff.

6 FLECKENSTEIN, a. a. O. S. 45 ff. 7 Vgl. I<LECKENSTEIN, a. a. O. S. 48f., 87, 90 und 139.

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Die Musik an den Hofen der :Earolinger 25

Reich Konig Lothars II. seine Stellung als Leiter der Hofkapelle eingebuBt zu haben 8.

Bis in die Regierungszeit Karls des GroBen waren die Mitglieder der Hof- kape]le uber alle Pfalzen des Reiches verstreut, wo sie beim Besuch des Konigs in der Pfalzkapelle den herrscherlichen Gottesdienst zu feiern hatten. Karl der GroBe bestimmte schlieB]ich die Marienkapelle der Pfalz in Aachen, seitM5eih- nachten 794 seine feste Residenz, zum raumlichen Mitte]punkt der Hofkapelle 9. Seine Nachfolger errichteten nach diesem Vorbild in ihren Teilreichen einige weitere groBe Residenzkapellen, so u.a. in Diedenhofen, Regensburg, Frank- furt am Main und Compiegne. Durch diese Zentralisierung wurde einmal die Leistungsfahigkeit der Hofkapelle erhoht, zum anderen stand dem Konig bei seinen haufigen Zugen durch das Reich nun eine groBere Zahl ausgewahlter Kapellane als Begleitung zur Verfugung, so daB die herrscherlichen Gottes- dienste in den zahlreichen gewohnlichen Pfalzen feierlicher als bisher gehalten werden konnten. Zur Zeit Karls des GroBen erreichte die karolingische Hofka- pelle ihren Hohepunkt. So+rohl in liturgischer wie in gesanglicher Hinsicht war sie damals wohl beispielgebend fur viele Sangerschulen des Reichesl°.

Die gesangliche Ausbildung der Mitglieder der Hofkapelle erfolgte an den scholae cantorum der Domkirchen und liloster sowie an Klosterschulen. Wah- rend der Regierungszeit Karls des GroBen wird die Hofkape]le ihren Nach- wuchs vermutlich in erster Linie von der Aachener Hofschule (scola palatina) geholt haben. Bezeugt ist jedenfalls, daB an der Pfalz zu Aachen Knaben im liturgischen Lesen und Singen ausgebildet wurden. In einem kurz vor 800 zum Lobe Karls des GroBen entstandenen Gedicht hebt Alcuin mit folgenden Versen darauf ab:

,,Vox tibi forte sonat Christi taurina per aulam, Ut decet es alto populis pia verba legenti. Candida Sulpicius post te trahit agmina, lector, Hos regat et doceat, certis ne accentibus errent. Instituit pueros Idithun modulamine sacro, Utque sonos dulces decantent voce sonora. Quot pedibus, numeris, rithmo stat musica discant." 11

Aus diesen Versen folgerte die musikwissenschaftliche Forschung, an der Aachener Hofscllule habe ein Lehrer namens Sulpicius die linaben iln Gesang

8 FLECKENSTEIN, a.a.O. S. 140f. 9 Vgl. A. SCHMIDT, Westwerke und Doppelchore, VVEestfalische Zeitschrift CVI,

1956, S. 352f.; FLECKENSTEIN, a.a.O. S. 41, lOOf. und 151. 10 Vgl. den Brief Erzbischof LEIDRADS von Lyon an KARL D. GR. aus dem Jahr

813/14 (MGH, Epp., IV, S. 543).Wie ubrigens diesem Brief zu entnehmen ist, durften Liturgie und Gesang an der Aachener Pfalz stark von der Metzer Sangerschule be- einfluBt gewesen sein, erbat sich doch Erzhischof LEIDRAD von KARL D. GR. ,,unum de Metensi ecclesia clericum", der den ,,ordo psallendi" an der Kirche von Lyon ,,se- cundum ritum sacri palatii" reformieren sollte.

11 MGH, Poetae latini aevi Carolini I, S. 246ff., Vers 34ff.; fener M. GERBERT, De cantu et musica sacra I, St. Blasien 1774, S. 277.

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unterwiesenl2 bzw. Sulpicius sei der Leiter der schola cantorum an der Aache- ner Pfalzschule gewesenl3.Wie sich bei genauerer Untersuchung dieses Gedichts indessen herausstellt, kommt Sulpicius nur als lector in Betracht, der Gesangs- lehrer hingegen heiSt Idithun. Beide Namen sind allerdings Pseudonymel4, so daB nicht auszumachen ist, wer sich hinter diesen Namen verbirgt.

Die :23:auptaufgabe der Hofkapelle bestand, wie schon oben dargelegt, in der Feier des herrscherlichen Gottesdienstes. Daruber hinaus waren die Kapellane in ihrer Rechtsstellung als geistliche Vasallen dem Konig auch zu anderen Dienstleistungen verpflichtet. Grundvoraussetzung fur die Aufnahme in die Hofkapelle durfte die Kenntnis des sakralen Lesens und Singens gewesen sein. Den liturgischen Sangerchor bildeten jedoch sicherlich nur die gesanglich und musikalisch besonders begabten Kapellane, und nur sie wurden als cantores bezeichnetl5. Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, daB dieser Sangerchor identisch ist mit der von Notker Balbulus erwahnten scolal6.

Namentlich zu fassen sind nur einige wenige cantores. Aus der Regierungs- zeit Karls des GroBen ist lediglich der Name des Kantors Anstrannus uber- liefert, der um 800 Bischof von 57erdun wurde 17. Konig Lothar II., Sohn Kaiser

12 Vgl. A. SCHUBIGER, Die Sangerschule St. Gallens vom 8. bis X2. Jh., Einsiedeln und New York 1858, S. 3; W. BAUMKER, Zur GeschicAte der Tonkunst in Deutschland von den ersten Anfangen bis zur Reformation, Freiburg i.Br. 1881, S. 18; P.WAGNER, Einfuhrung in die gregorianischen Melodien, Teil I: Ursprung und Entwicklung der liturgischen Gesangsformen bis zum Ausgange des Mittelalters, Leipzig 31911, S. 235; G. SCHONEMANN, Geschichte der deutschen Schulmusik, Leipzig 21931, S. 14f. - Nach BAUMKER (a.a.O. S. 18), der freilich hierfur keinen Quellenhinweis gibt, soll KARL D. GR. diesem Unterricht ofter beigewohnt und die Schuler im Gesang gepruft haben (ahnlich SCHIJBIGER, a.a.O. S. 3).

13 Vgl. H.J. MOSEF{, Geschichte der deutschen SIusik von den Anfangen bis zum Beginn des Drei/3igjahrtgen Krieges, Bd. I, Stuttgart und Berlin 41926, S. 75.

14 Dieses Gedicht, das noch eine Anzahl weiterer Pseudonyme aufweist, spiegelt den am Hofe KARLS D. GR. beliebten Brauch wider, die Mitglieder des Hofes mit fingierten Namen zu benennen. Das Pseudonym SIJLPICIIJS leitete sich vermutlich von dem durch seine Schriften weitbekannten gallischen Monch SIJLPICIIJS SEVERUS (um 360 bis 410/20) her, wahrend der Name IDITHUN auf den alttestamentarischen Leviten zuruckgeht, der im Tempel zu Jerusalem einen der drei von Konig DAVID errichteten Musikohore leitete.

15 Vgl. Notkerb Gesta Karoli, I, 7, in: Quellen zur karolingbschen Reichsgeschichte, Teil III, bearb. von R. RAU, Darmstadt 1966, S. 332: ,,NU11US alienus, nullus etiam notus, nise legere sciens et canere, chorum eius [scil. Caroli Magni] ausus est intrare." Vgl. dazu auch NOTKERS Erzahlung in I, 5 (a.a.O. S. 330), die ,,veterem illum famulum sed novum cantorem" anfuhrt.

16 NOTKER, I, 5 (a.a.O. S. 328). NOTKER zufolge stand der Aachener scola ein magister scolae vor, zu dessen Aufgaben es gehorte, den Sangern jeweils amVortag anzugeben, welches Responsorium sie im nachtlichen Stundengebet zu singen hat- ten. - Im Gegensatz zu PLECKENSTEIN (a. a. O. S. 92, Anm. 327, und S. 233) vermag ich ubrigens dem Brief Erzbischof LEIDRADS von Lyon (MGH, Epp. IV, S. 543) nicht zu entnehmen, ,,daB es am Hofe eine scola cantorum gab".

17 MGH, Script. IV, S. 44, c. 15; S. ABEL, fortgesetzt von B. SIMSON, Jahrbucher des Frankischen Reiches unter Kara d. Gr., Bd. II, Jahrbucher der Deutschen Ge- schichte V, Leipzig 1883, S. 556.

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Lothars I. und Herrscher des Mittelreichs, hatte einen Kantor namens Johannes in seiner Hofkapelle; dieser Kapellan erlangte im Jahr 866 durch kanonische Wahl das Bistum Cambrai und galt als sittenstrenger und heiligmaBig lebender Mannl8. In der Hofkapelle Karls des Kahlen ist schlieBlich noch der Diakon und ,,cantor sacri palatii" Fulbert bezeugt 19.

Leiter des Sangerchores war der praecentor. Wahrend der Regierung Kaiser Ludwigs des Frommen oblag dieses Amt zeitweilig Huebert (oder Humbert), dem der Kaiser auf dem Reichstag zu Frankfurt im Jahr 823 das Bistum Meaux ubertrug20. Drei Jahre spater laBt sich am Hof Ludwigs des Frommen ein gewisser Theuto als Leiter des Sangerchores nachweisen2l.

Notker Balbulus, der freilich mehr poetische denn historische Biograph Karls des GroBen, erwahnt in seinen Gesta Karolz Maynz imperatorzs einen ,,paraphonista", der offensichtlich den Sangerchor Karls leitete22. Dazu be- nutzte er- wohl als Zeichen seines Amtes - einen kleinen Stock (peniculus)23. Besondere Beachtung verdient in diesem Zusammenhang die Bezeichnung ,,paraphonista". Einer auf spatantiker und byzantinischer Musiktheorie basie- renden Hypothese PeterWagners zufolge hatte man es hier namlich mit einem Sanger zu tun, der in ,,paraphonen" Intervallen, also in der Quarte oder Quinte, parallel zum Cantus singt24. Soweit bekannt, ist dasWort ,,paraphonista" im

18 DAMMLER, a.a.O. S. 586; FLECKENSTEIN, a.a.O. S. 138. 19 FLECKENSTEIN, a.a.O. S. 147. 20 B. SIMSON, Jahrbucher des Frankischen Reichs ?l,nter ludwig dem Frommen,

Bd. I, Jahrbucher der Deutschen Geschichte VI, Leipzig 1874, S. 197, Anm. 5. 21 ERMOLDUS NIGELLUS, Carmina in honorem Hludowici, in: MGE, Poetae lat.

II, S. 69f.,Vers 40Xi und 43Xif.; ERS{OLD LE NOIR, Poeme sur louis le Pieux et epi- tres au rox Pepin, hg. und ubersetzt von E. FARAL (Les elassiques de l'histoire de France au moyen age, vol. XIV), Paris 1932, S. 174, Vers 2286, S. 176 und 178, Vers 2316f.; vgl. SIMSON, a.a.O. S. 197, Anm. 5. Moglicherweise ist er identiseh mit dem von 832 bis 834 als Kanzler nachweisbaren THEOTO (TEUTO), der im Jahr 834 auf dem Schlachtfeld den Tod fand. Vgl. TH. SICKEL, Die Urkunden der Karolinger, Teil I: Lehre von den Urkunden der ersten Karolinger (751-840),Wien 1867, S. 95.

22 NOTKER, I, 8 (a.a.O. S. 332). 23 Vermutlich ha,ndelt es sich bei diesem kleinen Stock um den Vorlaufer des

spateren Kantorenstabs. Vgl. dazu Du CANGE, Glossarium mediae et infimae latini- tatis, I, 1883, S. 516; II, 1883, S. 106; A. KIENLE, Notizen uber das Dirigiren mittel- alterlicher Gesangschore, VfMw I, 1885, S. 163ff.; WAGNER, Einfuhrung in die grego- rianischen Alelodien, Teil I, S. 224; G. SCHUNEMANN, GeschicAte des Dirqgierens, Leipzig 1913, S. 18 und 41f.

24 Vgl. Uber die Anfange des mehrstimmigen Gesanges, ZfMw IX, 1926/27, S. 2ff.; ders., La paraphonie, RM1 IX, 1928, S. 15ff.; ders., A propos de la para.phonie, RM1 X, 1929, S. 4. PETER WAGENERS Etypothese fand ubrigens neben Zustimmung (vgl. C.-A. MOBERGE, Eine vergessene Pseudo-longinus-Stelle uber die Musik, ZfMW XII, 1929/30, S. 220 ff.; CL. V. PALISCA, Art. Kontrapunkt, MGG VII, 1958, Sp. 1525) a,uch Ablehnung (wenig uberzeugend A. GASTOUE, Paraphonie et paraphonistes, RM1 IX, 1928, S. 62ff.; ferner J. HANDSCHIN, ZfMw IX, 1926/27, S. 316ff.; ders., inPhilologusLXXXVI, 1931,S. 55f.,Anm.1;ders., MusikgeschichteimCberblick, Luzern und Stuttgart 21964, S. 129 ff. ). Angefuhrt sei schlieBlich noch der Deutungs- versueh vonW. KRUGER (Die authenttsche Klangform des primittren Organum, Kas-

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karolingischen Raum nur durch einige Sequenztexte westfrankischer Prove nienz des 10./11. Jahrhllnderts zu belegen25. Die zwischen 884 und 888 ent- standenen Gesta Karoli SIagni des Notker Balbulus durfen demnach als vor- derhand alteste karolingische Quelle fur die Verwendung dieses MTortes ange- sehen werden. Zur Erhellung des fruhmitte]alterlichen Bedeutungsinhalts von ,,paraphonista" vermag Notkers Text nun insofern beizutragen, als diesesWort hier ganz eindeutig den Leiter des Chores, im Sinne der karolingischen Termi- nologie den praecentor bezeichnet26. Damit ist freilich keineswegs ausgeschlos- sen, daB der ,,paraphonista" besondere gesangliche Aufgaben wie den Vortrag der Parallelstitntne in der Paraphonie oder den Sologesang selbst ubernahm27. Hingegen widerspricht diese Stelle dem Deutungsversuch Handschins, der in dem ,,paraphonista" einen ,,unter-" oder ,,nebengeordneten" Chorsanger sehen mochte28. Die Verwendung dieses Wortes im lzarolingischen Norden be- zeugt jedenfalls einmal mehr die grazisierende Konlponente der vieldiskutier- ten ,,karolingischen Renaissance". Dabei muS allerdings zu bedenken gegeben werden, ob im einzelnen die Rezeption spatantiker und byzantinischer Termini nicht mehr oder weniger eine auBerliche war, wobei der ursprungliche Bedeu- tungsinhalt verloren ging oder verfalscht wurde. Gerade bei Notker Balbulus ist eine unreflektierte tZbernahme derartiger BegriSe nicht eben unwahrschein- lich, waren seine griechischen Sprachkenntnisse doch allem Anschein nach nur oberflachlich 29.

sel 1958, S. 58f.), der mit dem Begriff paraphonista ,,eine zum Teil instrumentale Ausfuhrung" verbindet. 25 Siehe Riemann Musi7c Lewikon, 12. Aufl., Sachteil, 1967, Art. Paraphonia, S. 702. 26 p. WAGNER (Uber die Anfange des mehrstimmigen Gesanges, S. 5f.), der die vor- liegende Quelle kennt, deutet das Auftreten des Wortes ,,paraphonista" hier ent- sprechend seiner Hypothese als l3eweis dafur, ,,daB das Quinten- und Quartensingen im Frankenreich bereits um 800 bekannt war". Offensichtlich jedoch selbst nicht ganz von dieser SchluLfolgerung uberzeugt, fugt er einschrankend hinzu: ,,Da hier aber nur ein einziger Paraphonista und nicht ein Archiparaphonista als Chorleiter genannt xvird, so scheint diese Ubung im Norden nicht im selben AusmaBe gepflegt worden zu sein wie in Rom."

27 Eine spatere, italienische Quelle aus dem ausgehenden 10. oder beginnenden 11. Jh., die Consuetudines Farfenses, weist ubrigens dem paraphonista das Amt des Vorsangers zu (vgl. Consuetudines monasticae, hg. von B. ALBERS, Bd. I, Stuttgart und Wien 1900, S. 45, 58, 68, 74, 100 und 111). Vgl. dazu auch eine aus der Zeit um 1200 stammende italienische Quelle, die den Begriff ,,paraphonista" wie folgt defi- niert: ,,Antiphonos, qui est sonus: unde Paraphonista, dicitur praecantator, quasi parans sonos" (Du CANGE, a. a. O., VI, 1886, S. 161). 28 Vgl. ZfMw IN, 1926/27, S. 316ff.; ferner Musikgeschichte im Uberblic7c, S. 130ff. 29 Vgl. E. DUMMLER, St. Gallische Denkmale aus der Karolingischen Zeit, Mitthei- lungen der antiquarischen Gesellschaft in Zurich XII, 1859, S. 258f.; F.A. SPECHT, Geschtchte des Unterrichtswesens in Deutschland von den altesten Zeiten bis zur Mitte des 13. Jhs., Stuttgart 1885, S. 109f.; W. VON DEN STEINEN, Notker der Dichter, Darstellungsband, Bern 1948, S. 35; ferner auch B. BIBSCHOFF, Das griechische Ele- ment in der abendland ischen ]3ildung des Mittelalters, Byzantinische Zeitschrift XLIV, 1951, S. 48.

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Die Musik an den Eofen der Karolinger 29

tlber die liturgische Musizierpraxis an den karolingischen Hofen geben die Quellen kaum Aufschlusse, es sei denn, sie vermerken Abweichungen von der romischen Gesangsweise30. Einen Hinweis auf die Gesange bei der Synode zu Ponthion im Jahr 876 findet man in den Annales Berttnzanz31. Danach stimm- ten die Sanger zu Beginn der Synode nach dem Erscheinen Kaiser Karls des Kahlen, der von papstlichen Legaten begleitet war, die Antiphon ,,Exaudi nos domine" an und sangen sodann das Gloria und da.s Kyrie eleison. Am Ende der Synode erklangen in Gegenwart des Kaisers, der Kaiserin und der aposto- lischen Legaten dieselben Gesange sowie daran anschlieBend Laudes zu Ehren des Papstes, des Kaisers, der Kaiserin und noch einige ,,iuxta morem". Der Vortrag der Laudes regiae und von Litaneien gehorte sicherlich zu den haufigen Aufgaben der Hofkapelle32. Im Verlauf des Besuchs einer byzantinischen Ge- sandtschaft im Jahr 812 waren in der Aachener Pfalzkapelle auch griechische Laudes zu horen, mit denen die Byzantiner Karl den GroBen als Kaiser aner- kannten und ehrten33. Griechische Laudes scheinen ubrigens an karolingischen Hofen zumindest in der zweiten Halfte des 9. Jahrhunderts Eingang gefunden zu haben. Jedenfalls enthalt ein Metzer Tonar griechische Laudes auf Konig Ludwig III34.

Als sicher darf gelten, daB seit Karl dem GroBen das organale Singen an den karolingischen Hofen gepflegt wurde35. Wie Adhemar von Chaban-

30 Vgl. S. 31 und 39. 31 In: Quellen zur karolingischen Retchsgeschichte, Teil II, bearb. von R. RAU,

Darmstadt 1966, S. 238 und 244. 32 Vgl. dazu E. H. KANTOROWICZ, Laudes Regiae, University of California, Publi-

cations in History, vol. XXXIII, 1946; B. OPFERMANN, Die liturgischen Herrscher- akklamatzonen im Sacrum Impertum des Mittelalters, Weimar 1953, S. 22.

33 Einhardz Annales, in: MGH, Script. I, S. 199, ferner in: Quellen zur karolingz- schen Reichsgeschichte, Teil I, bearb. von R. RAU, Darmstadt 1966, S. 100; inhaltlich gleichlautend: Reginonis abbatis Prumiensts Chronicon, hg. von F. KURZE, in: MGH, Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum L, S. 71. Diese Textstelle darf wohl in Beziehung gesetzt werden zu NOTKERS Gesta Karoli Magni, II, 7 (a.a.O. S. 384). Danach ist NOTKERS Bericht, vergleicht man die Datierung in EINHARDS Annales und REGINO VON PRUMS Chronicon, entgegen der Annahme J. HANDSCHINS (Sur quelques tropaires grecs traduits en latin, AnnMl II, 1954, S. 28) und J. LEMA- RIES (Les antiennes oVeterem hominemv< du jour octave de l'Ep.phanie et les antiennes d'origine grecque de l'Epiphanie, Ephemerides Liturgicae LXXII, 1958, S. 4 und 16) mit 812 zu datieren. DaB das vorausgehende Kapitel dadurch in einen zeitlichen Widerspruch gerat (vgl. HANDSCHIN, &.a.0. S. 28, Anm. 4), besagt wenig, da NOT- KER in seinen Gesta chronologisch recht frei verfahrt. Nach F. DOLGER ( Corpus der griechischen Urkunden des Mittelalters und der neueren Zeit, Reihe A: Regesten, Teil I, Munchen und Berlin 1924, S. 44 und 47 ) kame fur die Datierung von NOTKERS Bericht allerdings weder das Jahr 812 noch 802 in Betracht.

34 Vgl. KANTOROWICZ, a.a. O. S. 27; W. LIPPHARDT, Der karolingische Tonar von Metz, Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen XLIII, 1965, S. 8.

35 Eine Anspielung auf die Organalpraxis findet sich in einem Gedicht vonWALAH- FRID STRABO, der langere Zeit am Hofe Kaiser LUDWIGS DES FROMMEN in Aachen weilte und Lehrer KARLS DES KAHIEN war. Die entsprechendenVerse lauten (MGH, Poetae lat. II, S. 397, Vers 7ff.): (Fortsetzung auf der nachsten Seite)

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30 Manfred Schuler

nes uberliefert, unterwiesen romische Sanger die lfranken in der ,,ars orga- nandi" 36

Mit der Organalpraxis eng verbunden war die Verwendung von Instrumen- ten 37. DaB im hofischen Gottesdienst ein Instrument, die tuba, auch solistisch gebraucht worden sei, glauben verschiedene Historiker und Musikforscher dem Lobgedicht auf Kaiser Ludwig den Frommen von Ermoldus Nigellus ent- nehmen zu durfen38, schreibt der Dichter doch uber den Beginn der feierlichen Messe, die anlaBlich der Taufe des DaIlenkonigs Heriold im Jahr 826 in der St. Albanskirche zu Mainz stattfand39:

,,Caesar, ut ecclesiam gressu pervenit honesto, Exposcit votis more suo Dominum.

Mox tuba Theutonis clare dat rite boatum, Quam sequitur clerus protinus atque chori."

Danach hatte Theuto, nachdem Ludwig der Fromme die Kirche betreten und ein Gebet verrichtet hatte, die Messe mit der tuba eingeleitet, worauf die Sanger der Hofkapelle zu singen begannen. OSensichtlich steht jedoch in diesem Ge- dicht ,,tuba" synonym fur ,,vox". Der Text will also wohl besagen: der prae- centor Theuto40 intoniert die Antiphon zum Introitus. Eine text]iche Analogie

Fortsetzung von FuBnote 35. ,,Te cum symphoniis modulentur lymmata ternis,

Armoniaeque decus consonet omne tibi. Thessara cum modulis conflentur in organa trinis,

Nunc tibi dyplasium, nunc diapente sonet." Vgl. dazu auch J. HANDSCHIN, AUS der alten Musiktheorie, AM1 XIV, 1942, S. 27.

-DaB ubrigens KARL D. GR. fur seinen Gottesdienst das Halteton-Organum ver- langt habe, wie E. JAMMERS (Musik in Byzanz, im papstlichen Rom und im Franken- reich, Abhandlungen der Heidelberger Akad. derWissenschaften, Phil.-hist. Klasse, Jg. 1962, Heidelberg 1962, S. 323) behauptet, ist durchaus moglich, jedoch-soweit ich sehe - quellenmaBig nicht zu belegen.

36 Chronicon, II, 8, hg. von J. CHAVANON, Collection de textes pour servir a l'etude a l'enseignement de l'histoire, Paris 1897, S. 82. J. }IANDSCHIN (vgl. ZfXw IX, 1926/27, S.317) bezweifelt ubrigens die Glaubwurdigkeit dieser Mitteilung. ADHEMAR, der zlvar dem 11. Jh. angehort, stutzt sich indessen nachweislich auf altere Quellen (vgl. CHAVANON, &.a.O. Vorwort, S. XIff.; M.MANITIUS, Geschtchte der lateinischen Literatur des Alittelalters, Teil II, Munchen 1923, S. 285f.), so daB der Quellenwert nicht von vornherein unter dem Gesichtspunkt spater Uberlieferung in Prage gestellt zu werden braucht. Allerdings wissen wir leider nicht, welcher Quelle ADHEMAR die oben erwahnte Mitteilung entnahm. Vgl. dazu auch Anm. 42.

37 Vgl. E.L. WAELTNER, Das Organum bis zur Mitte des 11. Jhs., Phil. Diss. }Iei- delberg 1955 (maschr.), S. 257f.; KRUGER, &.a.O. S. 47ff.

38 Vgl. SIMSON, .a.O. S. 261; E. BUHLE, Die musikalischen Instrumente tn den Miniaturen des fruhen Slittelalters, Leipzig 1903, S. 1d, Anm. 5; PARAL, in: ER- MOLD LE NOIR, &. &. O. S. 177 und 179; vgl. auch die Ubersetzung von TH. G. PFUND, in: Die Geschichtschreiber der deutschen Vorzeit, 2. Gesamtausgabe, 9. Jahrhundert, Bd. III, S. 87.

39 MGH, Poetae lat. II, S. 70,Vers 433ff.; ERMOLD LE NOIR, &.a.0. S. 176 und 178, Wrers 2314ff. Vgl. dAzu DUMMLER, &.a.0. S. 259; SIMSON, &.a.0. S. 261; J.F. BOHMER, Regesta imperii I, Die Regesten des Kaiserreichs unter den Karolingern, Bd. I, neu bearb. von E. MUHLBACHER, Innsbruck 1889, S. 294.

40 Vgl. uber ihn S. 27.

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Die Musik an den Hofen der Karolinger 31

findet man in dem Liber de ordine antiphonarfi des Amalarius von Metz: ,,Postea dat tuba cantoris signum per antiphonam invitatoriam" 41.

Die sakrale wie profane Musikpflege an den lIofen der Karolinger wurde mehr oder weniger stark beeinfluBt von der Person des jeweiligen Herrschers. So setzten sich Konig Pippin und sein Sohn Karl der GroBe nachdrucklich fur die Einfuhrung des romischen Kirchengesangs an ihrer lIofkapelle42 und im ganzen Frankenreich ein43. Besonders Karl der GroBe, dem die Quellen uber- durchschnittliches Musikverstandnis bescheinigen44, lieB sich die Pflege der Musik an seinem lIof sehr angelegen sein. Er duldete daher im Sangerchor seiner lIofkapelle keinen, der nicht das liturgische Lesen und Singen beherrsch- te45. GroBe Sorgfalt wandte er auf die Verbesserung des sakralen Lesens und

41 J.M. EANSSENS, Amalaris episcops opera liturgica omnia, t. III (Studi e test CXL), Citta delVaticano 1950, S. 19. In Sequenzen wird dasWort ,,tuba" ubrigens nicht selten metonymisch fur den liturgischen Gesang verwendet (vgl. VON DEN STEINEN, a.a.O., Darstellungsband, S. 592f., Editionsband, S. 127).

42 ADHEMAR VON CHABANNES zufolge ist die Ubernahme des romischen Kirchen- gesangs durch die Hofkapelle KARLS D. GR. in das Jahr 787 zu datieren, als KARL uber Ostern in Rom weilte und seine Sanger anwies, ,,ad fontem sancti Gregorii" zuruckzukehren (Chronicon, II, 8, a.a.O. S. 81). Nach NOTKER (I, 10, a.a.O. S. 336) habe KARL D. GR. wahrend des Pontifikats LEOS III. (795-816) auSerdem zwei Geist- liche im romischen Kirchengesang an der papstlichen schola cantorum ausbilden lassen und nach ihrer Ruckkehr den einen am Hofe behalten, den anderen nach Metz geschickt. Vgl. dazu auch JOH4NNES DIACONUS, S. Gregorii Magni vita, II, 9, in: MIGNE PL LXXV, Sp. 91 (danach soll KARL D. GR. die beiden Kleriker zur Zeit des Pontifikats HADRIANS I. [772-795] nach Rom geschickt haben); ferner Sigeberti Chronica, A. 774, in: MGH, Script. VI, S. 334. -VV:as die Glaubwurdigkeit des Be- richts ADHEMARS betriSt, dessenWahrheitsgehalt ABEL und SIMSON (a.a.O. S. 567, Anm. 3, und S. 618), BOHMER und MUHLBACHER (a. &. O. S. 105) sowie R. VAN DOREN (:letude sur l'influence musicale de l'abbaye de Saint-Gall, Louvain 1925, S. 515.) be- zweifeln, so gilt auch hier das oben in Anm. 36 Gesagte. Einige Ungereimtheiten und oSensichtliche Geschichtsklitterungen, die auf das Konto mittelalterlicher Traditionssucht zu setzen sind, gemahnen freilich zur Vorsicht. Indessen findet dieser Bericht in der zwischen 873 und 875 entstandenen S. Gregorii Magni vita des Jo- HANNES DIACONUS (II, 9, a.a.O. Sp. 91) eine im wesentlichen sinngemaBe :Entspre- chung, ohne daB jedoch eine direkte Abhangigkeit der beiden Autoren nachzuweisen ware (ABELS und SIMONS sowie VAN DORENS gegenteilige Annahme a. a. O. entbehrt einer uberzeugenden Begrundung).

43 Vgl. dazu bes. WAGNER, Einfuhrung tn die greyorianischen Melodien, Teil I, S. 2335.; VAN DOREN, a.a.O. S. 34ff.; K.G. FELLERER, Deutsche Gregorianik im Frankenreich, Kolner Beitrage zur Musikforschung, Bd. V, Regensburg 1941, S. 375.; H. HUCKE, Die Einfuhrung des Gregorianischen Gesanges tm Frankenreich, Romische Quartalschrift fur christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte IL, 1954, S. 172ff.

44 Wie EINHARD in seiner Vita Karoli Magni, 26 (in: Quellen zur karolingischen Retchegeschtchte, Teil I, S. 198) mitteilt, war KARL im liturgischen Lesen und Singen ziemlich bewandert, wiewohl er hochstens leise im Gottesdienst die Chorgesange mitsang. Auch muB er ein sehr aufmerksamer Musikhorer gewesen sein, vermochte er doch Abweichungen in Gesangsweisen festzustellen, die er im zeitlichen Abstand eines Jahres gehort hatte (NOTKER, I, 10, a.a.O. S. 336).

45 NOTKER, I, 7, dazu auch I, 8 (a.a.O. S. 332).

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32 Manfred Schuler

Singens46.Wie Notker Balbulus in einer Erzahlung uns uberliefert, scheute sich Karl nicht, bei Unstimmigkeiten im Chor den Sangern wahrend des Gottes- dienstes Anweisungen zu erteilen47. Mogen die Erzahlungen in Notkers Gesta Karoli haufig auch marchenhafte Zuge tragen48, so durften die darin enthal- tenen Hinweise auf die Musikliebe des Kaisers doch einen wahren Kern ent- halten. Es klingt durchaus glaubhaft, wenn Notker berichtet, Karl der GroBe habe am 13. Januar wahrscheinlich des Jahres 812 wahrend des Besuches einer byzantinischen Gesandtschaft in Aachen die Byzantiner bei ihren gottesdienst- lichen Gesangen belauscht und sich an der SuBe dieser Gesange erfreut. An- schlieBend habe er einem oder mehreren seiner der griechischen Sprache kundi- gen Kapellanen befohlen, diese antiphonalen Gesange unter Beibehaltung des me]odischen Verlaufs ins Lateinische zu ubertragen; die lateinische Nachbil- dung - so erfahren wir aus einer interpolierten Textfassung der Gesta Karoli - sei die Antiphonenreihe ,,Veterem hominem", was neuere Forschungen tatsach- lich bestatigen49. Karl der GroBe wird sicher]ich auch versucht haben, die her- vorragendsten Komponisten und Sanger jener Zeit an seinen Hof zu ziehen. Dies deutet Notker in einer Erzahlung an, die von einem ,,in a]]em unvergleich- lichen" Kleriker am kaiserlichen Hof handelt. Danach habe dieser Geistliche, ein sehr enger Vertrauter Karls, ,,in weltlicher und gottlicherWissenschaft, im kirchlichen und heiteren Gesang, in der Erfindung und Vertonung neuer Lieder,

46 EINHARD, Vtta, 26 (a.a.O. S. 196); vgl. auch Sigeberti Chronica, A. 790 (a.a.O. S. 335). 47 Vgl. NOTKER, II, 5 (a.a.O. S. 328).

48 Vgl. WATTENBACH-LEVISON, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter, Heft II, Weimar 1953, S. 278f. L. HALPHEN (ttudes critiques sur l'histoire de Charle- magne, Paris 1921, S. 104ff. ) und VAN DOREN (a. a. O. S. 50f. ) gehen jedoch entschie-

den zu weit, wenn sie NOTKER jegliche historische Glaubwurdigkeit absprechen.

Vgl. dazu . F. HAEFELE, in: MGH, Scriptores rerum Germanicarum in usum scho-

larum, Nova series XII, S. XVII; ferner TH. SIEGRIST, Herrscherbild und Weltsicht bei Notker Balbulus (Geist undWerk der Zeiten, Heft VIII, Zurich (1963).

49 NOTKER, II, 7 (a.a.0. S. 384ff.). Die interpolierte Textfassung bieten PH. JAFFE (Bibliotheca rerum Germanicarum IV: SIonumenta Carolina, Berlin 1867, S. 673) sowie G. MEYER VON KONAU (Mitteilungen zur vaterlandischen Geschichte XXXVI, 1920, S. 38). Im Gegensatz zur alteren }forschung (vgl. K. ZEUMER, Der Monch von Sankt Gallen, in: Historische Aufsatze dem Andenken an GeorgWaitz gewidmet, Hannover 1886, S. 117f). wird neuerdings diese Textfassung als eine nachtragliche Uberarbeitung bewertet (vgl. HAEFELE, &.a.O. S. 58, Anm. 2; ders., Stud ien zu Notkers Gesta Karoli, Deutsches Archiv fur Erforschung des Mittelalters XV, 1959, S. 363ff.). Zur Datierung dieser Textstelle vgl. Anm. 33.WahrendWAG- NER (Einfuhrung in die gregorianischen Melodien, Teil I, S. 238) und O. URSPRUNG (Alte griechische Einflusse und neuer grazistischer Einschlag in der mittelalterlichen Musik, ZfMw XII, 1930,S.208) denMlahrheitsgehalt dieser Erzahlungbezweifelten, vermochte HANDSCHIN (Sur quelques tropaires grecs traduits en latin, a. a. O. S. 27 ff. ) den Nachweis zu erbringen, daB NOTKERS Schilderung oSensichtlich im wesentlichen den historischen Tatsachen entspricht. Eine Bestatigung erfahrt HANDSCHIN durch LEMARIE, &.a.O. S. 3ff. und O. STRUNK, The latin Antiphons for the Octave of the Epiphany, Melanges Ostrogorsky II, 1964, S. 417ff. Vgl. dazu auch E.WELLESZ, A history of Byzantine music and hymnography, Oxford 21961, S. 21f., sovvie M. HUG- LO, Relations entre Byzance et l'Occtdent, Proceedings of the XIIIth International Congress of Byzantine Studies, Oxford 1966, London 1967, S. 272.

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Die Musik an den Hofen der Karolinger 33

dazu noch in der suBesten Fulle und unschatzbaren Anmut seiner Stimme" alle Sterblichen ubertroSen50. Innerhalb dieses Musikerkreises an der Aachener Pfalz hat man moglicherweise auch den Komponisten des den Tod Karls des GroBen beklagenden Planctus ,,A solis ortu usque ad accidua" zu suchen5l. lLlbrigens soll sich in der Verwandtschaft Karls ein junger Kleriker (vermutlich ein Mitglied der Hofkapelle) befunden hs.ben, der sehr gut sang. Als er einmal an einem Festtag das Alleluja besonders schon vorgetragen hatte, konnte der Kaiser nicht umhin sich einem Bischof gegenuber lobend uber diesen Gesang zu auBern52. Ganz zum Bild dieses musikliebenden Herrschers paBt die Mit- teilung seines Biographen Einhard, der Kaiser habe wahrend der Tafel einen Musikanten oder einenVorleser gehort53. Offensichtlich war Karl der weltlichen Musik sehr zugetan.Wie anders hatte er sonst die uralten germanischen Lieder, in denen die Taten und Kampfe der Konige besungen wurden, aufschreiben und der Nachwelt uberliefern lassen54. Noch im Chronicon Novaliczense, das in der ersten Halfte des 11. Jahrhunderts entstaild und das Geschichte und Sage vermengt, lebt Karl als ein Freund der Spielleute weiter. Laut dieser Chro- nik soll ein ]angobardischer Spielmann im Verlauf des Feldzuges gegen die Langobarden im Jahr 773 Karl detn GroBen ein selbstverfaBtes, auf die Kriegs- ereignisse anspielendes Liedchen vorgetragen haben, worauf der Konig ihn nach errungenem Sieg gebuhrend fur die in dem Liedchen angetragenen Dienste zu belohnen versprach55. In diesem Zusammenhang sei noch erwahnt, daB Karl der GroBe (wie vermutlich alle karolingischen Herrscher) fur militarische Aufgaben offensichtlich tuba-Blaser in seinem Gefolge hatte56.

Am E[ofe Karls des GroBen beschaftigte luan sich auch mit der Musiktheorie, zumal im Rahmen der septem artes liberales. Dem Kaiser selbst wird - sicherlich ubertreibend - unubertroSene Meisterschaft in den sieben freien Kunsten nach- geruhmt57. Als unbestrittene Autoritat auf musiktheoretischem Gebiet muB Alcuin, der Leiter der schola palatina, gegolten haben, der alter t)berlieferung

60 NOTRER, I, 33 (a.a.O. S. 372).

61 Vgl. E. DE COUSSEMAKER, Histoire de l'harmonie au moyen &s7e, Paris 1852, S. 90, sowie IIIe partie, planche II, Nr. 1. 52 NOTKER, I, 19 (a.a. O. S. 348).

53 EINHARD, Vtta, 24 (a.a.O. S. 196). Der ubrigens von BAUMKER (a.a.O. S. 18) und MOSER (a.a. O. S. 68) angefuhrte Bericht NOTKERS (I, 18), demzufolge :@ARL D. GR. nach aufgehobener Tafel die besten Kapellmitglieder singen und Instrumente spielen zu lassen pflegte, bezieht sich nicht auf :@ARL D. GR., sondern auf ein Ereig- nis am Hofe eines Bischofs.

54 EINHARD, Vita, 29 (a.a.O. S. 200); ferner Sigeberti Chronica, A. 794 (a.a.O. S. 335).

65 Chronicon Novaliciense, III, 10, in: MGH, Scrtpt. VII, S. 100; dazu H. HOFF- MANN, Karl der Gro,Se zm Btlde der Geschichtschreibung des fruhen Mittelalters (800 bts 1250), Historische Studien CXXXVII, Berlin 1919, S. 26ff.

56 Vgl. Karolus Mayeus et Leo Papa, hg. und ubersetzt von :F. BRUNHOLZL, Stu- dien und Quellen zur westfalischen Geschichte VIII, 1966, S. 92, Vers 474f.

57 Vgl. Karolus Magnus et Leo Papa, a.a.O. S. 64, Vers 67ff. KARL D. GR., der auch seine Kinder in den artes liberales unterrichten lieB, war im Quadrivium von ALCEIN unterwiesen worden (vgl. EINHARD, Vita, 1 9 und 25, a. a. O. S. 1 90 und 1 96 ).

Archiv fur MusikwissenschaM 1970 1 3

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34 Manfred Schuler

zufolge aufWunsch Karls des GroBen einen Musiktraktat schrieb58 und dem (allerdings wohl zu Unrecht) in einer Trierer Handschrift des fruhen 11. Jahr- hunderts eine Karl dem GroBen gewidmete Sequenz zugewiesen wird59. Aus- gangspunkt des musiktheoretischen Denkens in der Karolingerzeit bildete die spatantike lLlberlieferung. Den Musikgelehrten an den karolingischen Hofen war jedoch auch die byzantinische Musiktheorie nicht fremd60. Schenkt man Aurelianus Reoznensis Glauben, so regte Karl der GroBe an, die Tonarten um vier auf zwolf zu vermehren, da einige Antiphonen in das bisherige Tonarten- system nicht mehr einzuordnen waren und im ubrigen die Griechen sich der Erfindung von acht Kirchentonarten ruhmten6l.

58 Ediert von M. GERBERT, in: Scriptores ecclesiastici de musica sacra potissimum I, St. Blasien 1784, S. 26f.; dazu MGH, Script. XV, 1, S. 194, c. 21. Neuerdings wurde von M. HUGLO (le tonaire de Saint-Benigne de Dijon, AnnMl IV, 1956, S. 7, Anm. 2), H. SCHMID (Byzantinisches in der Karolinyischen Musik, in: Berichte zum XI. Internat. Byzantinisten :@ongreB Munchen 1958, S. 16, Anm. 1) und E. L. WAELTNER (Die ,,Musica disciplina" des Aurelianus Reomensis, in: Bericht uber den VII. Internat. Musikwiss. KongreB Koln 1958, Kassel 1959, S.293; Die Methode terminoloyischer Untersuchunyen fruhmittelalterlicher Musiktraktatedargestelltan einem Beispiel des Aurelianus Reomensis, in: Medium aevum vivum, :Festschrift furWalther Bulst, Heidelberg 1960, S. 49, Anm. 4) die Zuweisung dieses Traktats an ALCUIN erneut in Frage gestellt, ,,da der unter dem Namen Alcuins bekannte Musiktraktat ein Excerpt aus Aurelians Traktat ist und Alcuin falsch zugeschrieben wurde" (WAELTNER, a.a.O.). Gegen diese Annahme spricht indessen, daB bereits die wah- rend der Regierungszeit LUDWIGS DES FROMMEN entstandene Vita Alcuini einen ,,liber de musica" von ALCEIN kennt (MGH, Script. XV, 1, S. 194, c. 21), daS ferner in einem Bibliothekskatalog des Benediktinerklosters Fulda aus dem 9. Jh. ALCUIN als NTerfasser eines Traktats ,,De Musica" aufgefuhrt wird (vgl. A. RULAND, Die Bibliothe7c des alten Benedi7ctiner-Stifts zu Fulda, Serapeum XX, 1859, S. 275ff.; G. BECKER, Cataloyi bibliothecarum antiqui, Bonn 1885, S. 31). Das Argument des iFuldaer Bibliothekskatalogs wiegt um so schwerer, als ALCUIN dem Kloster Fulda eng verbunden war. Der Traditionszusammenhang erscheint daruber hinaus ge- sichert durch mehrere Handschriften des 10.-13. Jhs. (siehe M. MATTER, Lettres et pieces rares ou inedites, Paris 1846, S. 7, Nr. 32; RISM, The Theory of Music, vol. I, S. 40f., 88 und 90; vgl. dazu auch LIPPHARDT, a.a.O. S. 216). Es ware im ubrigen denkbar, daB der uns unter dem Namen ALCUINS uberlieferte Traktat lediglich ein iEfragment des in der Vita Alcuini genannten ,,liber de musica" darstellt.

69 Vgl. R. EITNER, Biographisch-Bibliographisches Quellen-Lewikon, Bd. I, Leip- Zig 1900, S. 99; H. SPANEE, Aus der Voryeschichte und Fruhgeschichte der Sequenzen, Zeitschrift fur deutsches Altertum und deutsche Literatur LXXI, 1934, S. 35; G. PIETZSCH, Art. Alcuin, MGG I, 1949-1951, SP. 325. VON DEN STEINEN (a. a. O., Darstellungsband, S. 3.38 ff. ) bezweifelt mit guten Grunden die Autorschaft ALCUINS und vermutet, daB diese Sequenz erst Ende des 9. oder in der ersten Halfte des 10. Jhs. entstanden ist. - ALCUIN soll ferner einige Offizien, unter ihnen eines zum Fest des hl. Stephanus (vgl. GERBERT, De cantu, II, S. 33), sowie Antiphonen, Responsorien und Hymnen zu Ehren des hl. Richarius geschaffen haben (vgl. HARIULF, Chronique de l'abbaye de Saint-Riquier, hg. von F. LOT, Paris 1894, S. 72f.); uber seinen musikalischen Anteil an diesen Gesangen laBt sich freilich nichts Be- stimmtes aussagen.

60 Vgl. J. SMITS VAN WAESBERGHE, La place exceptionnelle de l'Ars Musica dans le developpement des sctences au siecle des Carolingiens, Revue Gregorienne XXXI, 1952, S. 87.

61 GERBERT, Scriptores, I, S. 41f.; vgl. dazu auch GERBERT, De cantu, I, S. 268.

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Die Musik an den Hofen der Earolinger 35

Diese Bezugnahme auf die Griechen - genauer gesagt auf die Byzantiner - geht unterschwellig von politischen Motiven aus. Nach der Kaiserkronung Karls des GroBen versuchten die Karolinger namlich durch die tYbernahme byzantinischer Hofsitten und t[errschaftssymbolik ihr Kaisertum in der Tra- dition zu verankern und gegenuber dem ostromischen Kaisertum zu legitimie- ren. Demgegenuber betonten und verteidigten die Byzantiner ihren Legitimi- tats- und Prioritatsanspruch. Nur auf diesem politischen Hintergrund werden die beiderseitigen Beziehungen verstandlich. Wenn daher Kaiser Ludwig der Fromme sich von einem venetianischen Priester namens Georgius (oder Gre- gorius) im Jahr 826 eine Orgel nach byzantinischer Art (,,organum, quod Graece hydraulica vocatur"62, ,,organum more ... Graecorum"63) fur seine Pfalz in Aachen bauen lieB, dann bewog ihn dazu in erster Linie das politische Motiv, ein ofFensichtlich symbolhaftes Attribut des byzantinischen Hofes zu ubernehmen und dadurch das frankische Kaisertum aufzuwerten. Ermoldus Nigellus spricht dies in seinem Lobgedicht auf Ludwig den Frommen deutlich genug aus:

,,Arma patrum nullo quae non valuere duello, Sponte sua, capere, te modo regna petunt;

Quod nec Roma potens tenuit nec Francia jura, Tu retines Christi nomine cuncta, pater.

Organa quin etiam, quae numquam Francia crevit, Unde Pelasga tument regna superba nimis,

Et quis te solis, Caesar, superasse putabat Constantinopolis, nunc Aquis aula tenet.

Fors erit indicium, quod Francis colla remittant, Cunl sibi praecipuum tollitur inde decus.

iF'rancia plaude, decet; Hludowico fer, pia, grates, Cujus virtute munera tanta capis." 64

DaB bereits siebzig Jahre fruher, namlich 757, eine Orgel, deren Kenntnis und Verwendung im Abendland wahrend der Volkerwanderung offensichtlich

62 Translatio et miracula sanctorum B/larcellini et Petri auctore Einhardo, IV, 11, in: MGH, Script. XV, 1, S. 260; ferner J. PERROT, l'orgue de ses origines hellenisti- ques a la Jin du XIIIe siecle, Paris 1965, S. 277 und 396.

63 Anonymi vita Hludowici imperatoris, in: Quellen zur karoltngischen Reichsge- schichte, Teil I, S. 324; ferner PERROT, a.a.O. S. 277 und 396. - DaB ubrigens der venetianische Priester GEORGIUS die Kunst des Orgelbaus kannte, erklart sich aus den engen kulturellen Beziehungen zwischen Byzanz und Venedig, das zu jener Zeit unter byzantinischer Oberherrschaft stand.

64 MGH, Poetae lat. II, S. 76, Vers 635ff.; ERMOLD LE NOIR, a.a.O. S. 190 und 192, Vers 2515ff. -Auch WALAHFRID STRABO spielt in seinen Versus in Aquisgrani palatio editi anno Hludowici imperatoris XVI auf die politische Bedeutung der Orgel an:

,,en quis praecipue iactabat Graecia sese, organa rex magnus non inter maxima ponit."

Siehe MGH, Poetae lat. II, S. 374, \ers 137f.; A. DANTL, Walahfrid Strabos Wid- mungsgedicht an die Kaiserin Judith und die Theoderichstatue vor der Kaiserpfalz zu Aachen, Zeitschrift des Aacllener Geschichtsvereins LII, Jg. 1930, 1931, S. 14. Vgl. auch PERROT, a. a. O. S. 279 und 396 f.

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36 Manfred Schuler

verlorengegangen waren, von Byzanz ins Frankenreich gelatigte, hat nicht minder politische Grunde. Der Basileus Konstantinos V. Kopronymos suchte damals die Freundschaft und die Unterstutzung des machtigen Frankenkonigs Pippin im Bilderstreit zu gewinnen. Er schickte deshalb zum Reichstag in Compiegne eine Gesandtschaft, die dem Konig zahlreiche Geschenke, darunter eine Orgel, uberbrachte65. Man geht wohl kaum fehl anzunehmen, daB dieses Geschenk sinnbildhaft die Anerkennung Pippins als Konig zum Ausdruck bringen sollte66. (Bekanntlich hatte Pippin im Jahr 751 das frankische Konigs- geschlecht der Merovinger mit Zustimmung des Papstes der Konigswurde ent- setzt und sich selbst zum Konig erheben lassen.) Wie sehr der politische Cha- rakter dieses Geschenkes gesehen und erkannt wurde und welchen Eindruck diese Orgel im Frankenreich hinterlieB, zeigen die zahlreichen Jahrbucher und Chroniken, die zwischen den knappen Aufzeichnungen der wichtigsten politi- schen und militarischen Ereignisse das GEeschenk dieser Orgel erwahnen67. Notker Balbulus zufolge soll auch wahrend der Regierungszeit Karls des Gro- Berl (wahrscheinlich im Jahr 812) eine byzantinische GEesandtschaft eine Orgel ins Frankenreich, und zwar nach Aachen gebracht haben, wo sie dann von den VtJerkleuten des Kaisers nachgebaut worden sei68; doch scheint diese Etteilung weniger der historischen GEegebenheit zu entsprechen, a]s vielmehr auf einer Verwechslung zu beruhen oder aber eine Erfindung zutn Ruhtne Karls des GroBen zu sein69. Zusammenfassend ist festzuhalten, daB die Orgel am karo- lingischen Hof ein nichtkirchliches Instrument war und daB die Annahme, dieses Instrument habe in der Aachener Pfalzkape]le gestanden 70, durch keiner-

65 Vgl. L. OELSNER, Jahrbucher des frankischen Reiches unter Zonw Pippin, Jahrbucher der Deutschen Geschichte IV, Leipzig 1871, S. 294.

66 Eine ahnliche Auffassung vertrat schon P. EARDOUIN (De l'oryue de Pepin d l'orgue medieval, RM1 LII, 1966, S. 23); vgl. auch PERROT, a.a.O. S. 271ff.

67 Eine umfassende Zusammenstellung dieser Quellen gibt PERROT, a. a. O. S. 394f. 68 NOTKER, II, 7 (a.a.O. S. 386). 69 Diese Vermutung auBerten bereits H. DEGERING (Die Orgel, ihre Erfindung und

thre Geschichte bis zur Karolingerzeit, Munster 1905, S. 61), F. VON BEZOLD (Kaiserin Judith und ihr Dichter Walahfrid Strabo, Historische Zeitschrift axxx, 1924, S. 407ff., Anm. 2); vgl. ferner PERROT, a.a.O. S. 274f., sowie EARDOUIN, a.a.O. S. 41ff. - Historisch wenig glaubwurdig ist ubrigens auch die Mitteilung A. Gor- RONS (Art. Mainz, MGG VIII, 1960, Sp. 1525), ein byzantinischer Gesandter habe EARL d. G. eine Orgel uberbracht, die in Ingelheim aufgestellt worden sei.

70 Diese teils auf Vermutung, teils auf irriger Deutung einiger Verse von WALAH_ EXID STRABO (S. O.) basierende Annahme halt sich hartnackig bis in die neueste Literatur. Vgl. u.a. GERBERT, De cantu, II, S. 142; A. SCHIJBIGER, Musikalische Spicilegien uber das liturgische Drama, Orgelbau und Orgelspiel, das au,Berliturgische lied und die Instrumentalmusik des Mittelalters, Berlin 1876, S. 79; G. RIETSCHEL, Die Aufgabe der Orgel im Gottesdienste bis in das 18. Jh., Leipzig 1893, S. 6; H. RIEMANN, Orgelbau im fruhen Mittelalter, in: Praludien und Studien, Bd. II, Leip- zig (1900), S. 195; Paulys Real-Encyclopadie der classischen Altertumswissenschaft, Halbbd. XVII, 1914, Art. Hydraulis, Sp. 77; MOSER, a.a.O. S. 79; H.R. BITTER-

ANN, Haru-n Ar-Rashtd's gift of an organ to Charlemagne, Speculuin IV, 1929, S. 216f.; H. HICE:MANN und H.RLoTz,Art. Orgel, MGG X, 1962, Sp.262f. und 266;

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Die Musik an den Hofen der Karolinger 37

lei Quellenaussagen belegt wird. Den einzigen Hinweis auf die damalige Ver- wendung der Orgel liefert uns ein stellenweise allerdings schwer verstandliches Gedicht (Versuos in Aquisgrani pcFlatio editi anno Hludowici imperatoris I VI) Wa]ahfrid Strabos. Danach wurde die Orgel offensichtlich beim Erscheinen Kaiser Ludwigs des Frommen und seines Gefolges vor der Aachener Pfalz ge- spielt7l, diente also derVerherrlichung des Kaisers, was byzantinischer Hofsitte entsprach72. lDbrigens erklang anscheinend gleichzeitig mit der Orgel ein Glok- kenspiel (tintinnus)73.

EinVers eben dieser Dichtung gab zu der Meinung AnlaB, Kaiserin Judith, die zweite Gemah]in Ludwigs des Frommen, sei des Orgelspiels kundig gewesen74. Walahfrid Strabo schreibt namlich, die Kaiserin panegyrisch mit Maria, der Schwester Moses und Aarons, vergleichend:

,,tympana raucisona pulsavit pelle Maria, organa dulcisono percurrit pectine Judith." 75

Mit ,,organa" kann hier indessen nicht die Orgel gemeint sein, aus dem Zu- sammenhang ergibt sich vielmehr, daB an Saiteninstrumente gedacht ist7fi. Kaiserin Judith hatte demnach Saiteninstrumente gespielt. Dies ist durchaus g]aubhaft, scheint doch auch eine Tochter Karls des GroBen sich dem Saiten- spiel gewidmet zu haben. Jedenfalls weist Bischof Theodulf von OrlEans, einer der bedeutendsten Teilnehmer an der sogenannten Akademie Karls des GroBen, ihr in einem Gedicht ein Saiteninstrllment (chorda) zu, wobei allerdings nicht mit Sicherheit zu entscheiden ist, ob das angefuhrte Instrument von der Kai- sertochter wirklich gespielt wurde oder ob es nur poetischen Symbolcharakter besitzt 77.

W. GURLIIT, Kirchenmusik und Kirchenraum, Beihefte zum AfMw II, 1966, S. 51; ders., Die Kirchenorgel in Geschichte und Gegenwart, ebd. S. 35.

71 MGH, Poetae lat. II, S. 374, Vers 128ff.; DANTL, a.a.O. S. 12 und 14. Vgl. auch VON BEZOLD, a.a. O. S. 40Sf. und 40Sf., Anm. 1; ferner PERROT, a.a. O. S. 280 und 397.

72 tber dieVerwendung der Orgel am byzantinischen iEIof vgl. WELLESZ, a.a.O. S. 105ff.

73 An diese Praxis scheint WALAHFRID STRABO auch in den folgenden Versen zu denken, die er zum Besuch des Kaisersohnes EARL DER 1(ART14: im Kloster Rei- chenau schrieb (MGH, Poetae lat. II, S. 406, Strophe 6):

,,Ferte nabla tibiasque, organum cum cymbalis".

Vgl. dazu auch J. SMITS VAN WAESBERG, Cymbala, Publications of the Alneri- can Institute of Musicology, Studies and Documents I, Rome 1951, S. 10.

74 Vgl. SIMSON, a.a.O. S. 147 und 266; ders., in: Allgemeine Deutsche Btographie, Bd. XIV, 1881, S. 655.

75 MGH, Poetae lat. II, S. 376,Vers 197f.; DANTL, a.a.O. S. 18. 76 Darauf es bereits VON BEZOLD (a.a.O. S. 412f.) hin. 77 MGH, Poetae lat. I, S. 491, Vers 31; vgl. dazu VON BEZOLD, a. a. O. S. 416. - Fiir

die Behauptung von BAUMEER (a.a.O. S. 18) und MOSER (a.a.O. S. 81), EARL D. GR. habe seinen Tochtern taglich drei Stunden Unterricht in Musik erteilen lassen, vermag ich keine Bestatigung in den Quellen zu finden.

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38 Manfred Schuler

Den literarischen Quellen nach zu urteilen, muB die Instrumentalmusik am Hofe Karls des GroBen und Ludwigs des Frommen einen festen Platz einge- nozntnen haben78. Ihre Ausubung oblag in erster Linie gewerbsmaBigen Spiel- leuten. Man darf vermuten, daB in dieser Musik altes Volksgut und spielmanni- sche Musizierpraxis weiter]ebten, wenn gleich eine Beeinflussung und Umfor- tnung durch die kirchliche Musik nicht ausgeschlossen ist79.

Notker Balbulus zufolge verfugte Karl der GroBe an seinem Hof auch uber Instrumentenbauer. Als wahrscheinlich im Jahr 812 eine byzantinische Ge- sandtschaft, alle moglichen Musikinstrumente tnit sich fuhrend, an der Pfalz zu Aachen weilte, sollen die Werkleute Karls die Instrumente der Byzantiner insgeheim angeschaut urld aufs genaueste nachgebaut haben80. Auf dieseWeise sei Karl in den Besitz einer Orgel gelangt, was allerdings nicht den historischen Tatsachen entsprechen durfte8l.

Kaiser Ludwig der Fromme scheint den Spielleuten nicht eben sehr gewogen gewesen zu sein82. Sein Biograph Thegan berichtet, der Kaiser habe keine Miene verzogen, wenn an den hochsten Besten zur Freude des Volkes Schau- spieler, Possenreif3er und Mimen mit Flotenblasern und Citharaspielern bei Tisch vor ihm auftraten und das Volk in seiner Gegenwart tnaBvoll lachte83. Seinem strengen religiosen Wesen entsprach mehr die Beschaftigung mit dem Psalmengesang, mit Hymnen und geistlichen Liedern84. Daher konnte er im Gegensatz zu seinetn Vater den ,,poetica carmina gentilia", den alten germani-

78 Vgl. bes. WALAEFRID STRABOS De imayine Tetrici (MGH, Poetae lat. II, S. 374, Vers 128ff.; DANTL, a.a. O. S. 12 und 14; dazu VON BEZOLD, a.a. O. S. 401 ff.); ferner Theyani uitae Hludowici imperatoris, 19 (in: Quellen zur karolinyischen Reichsge- schichte, TeilI, S. 228); vgl. auch die wohl allegorischen Anspielungen THEODULFS in seinem Gedicht ,,Ad Gislam" (MGH, Poetae lat. I, S. 541).

79 JAMRS (a.a.O. S. 12) vertritt die sicher zu einseitige Auffassung, die welt- liche Musik an den karolingischen Hofen sei der kirchlichen Musik nachgeformt und weitgehend mit ihr verbunden und verwandt gewesen. Der Hinweis EINHARDS, KARL D. GR. habe ,,barbara et antiquissima carmina" aufschreiben und der Nach- welt uberliefern lassen (vgl. oben, S. 33), zeigt, daB zumindest am Hofe KARLS eine weltliche, im Volkstum wurzelnde Kunst Pflege fand. Gegen das Auftreten der Mimen und Spielleute richtete sich denn auch immer wieder die Kritik von kirch- licher Seite (vgl. E. REICH, Der Mimus, Bd. I, Teil II, Berlin 1903, S. 793f.). Es ist somit nicht einzusehen, warum die weltliche Musik am Eofe weitgehend der kirchlichen Musik angeglichen worden sein soll. Erst LUDAVIG DER FROMME drangte unter dem EinfluB geistlicher Berater an seinem Hof Tendenzen zuruck, die einer strengen christlichen Hofhaltung zuwiderliefen.

80 NOTKER, II, 7 (a.a.O. S. 386). 81 Vgl. dazu S. 36. 82 Vielleicht durfen einige Xrerse in WALAHFRID STRABOS De imayine Tetrici

(AIGE, Poetae lat. II, S. 376, Vers 138ff.; DANTL, a.a. O. S. 14) als eine Anspielung au-f die verschlechterte Lage der Spielleute am Hofe LUDWIGES DES FROM1MEN ge- deutet werden. Vgl. VON BEZOLD, a. a. O. S. 418.

83 THEGEAN, 19 (a.a.O. S. 228). 84 Vgl. THEGAN, 20 (a.a.O. S. 228); Anonymi vita Hludowici, 62 (a.a.O. S. 374);

vgl. ferner den Brief Erzbischof AGOBARDS von Lyon an LUDWIGE DEN FROMMEN aus dem Jahr 833 (in: MGH, Epp. V, S. 225, c. 6).

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Die Musik an den Hofen der Karolinger 39

schen Gesangen kein Verstandnis entgegenbringen85. Um so mehr setzte er sich fur die Pflege des romischen Kirchengesangs ein86.

Mit dem Zusammenbruch der karolingischen Reichseinheit verlor die hofi- sche Musikpflege innerhalb der karolingischen Musikkultur ihre zentra]e Stel- lung, die sie durch Karl den GroBen erreicht hatte. Doch waren auch die Herr- scher der nun auseinanderstrebenden Reichsteile schon aus reprasentativen Grunden bestrebt, an ihren Hofen die Musikpflege zu institutionalisieren und zu fordern. So wird von Konig Ludwig dem Deutschen berichtet, er habe an seinem Hofe keinen Geistlichen geduldet, der nicht das liturgische Lesen und Singen beherrschte87. Besonderes Interesse wandte er offensichtlich dem Kir- chengesang zu. Von Hrabanus Maurus, einem der beruhmtesten Gelehrten seiner Zeit, erbat er sich eine allegorische Erklarung der Matutingesange88. Bur den Kirchengesang aufgeschlossen mag auch Kaiser Karl III. (der Dicke) gewesen sein, lieB er sich doch wahrend seines Besuchs im Kloster St. Gallen Anfang Dezember 883 von Tuotilo zwei Tropen vortragen89. Im westfranki- schen Reich erlangte der Hof Karls des Kahlen noch eintnal hohen kulturellen Rang. DaB auch die Musik daran teilhatte, darf angenoznmen n7erden. Sicher nicht ohne EinfluB der dortigen hofischen Musikpflege entwickelte Johannes Scotus (genannt Eriugena), der wahrscheinlich von Kar] dem Kahlen um 847 an die schola palatina in Paris berufen wurde und hier als Lehrer der Theologie und Philosophie wirkte, seine musikphilosophischen Gedanken90. Was den romischen Kirchengesang betriSt, scheinen die Sanger der Hofkapelle Karls des Kahlen sich gewisse Freiheiten herausgenommen zu haben: Aurelianus Reomensis zufolge sangen sie die Antiphon ,,0 sapientia" im ersten statt im zweiten Iiirchenton ,,ob excelsiorem vocis modulationem"9l.

85 Vgl. TGAN, 19 (a.a.O. S. 226). Einer Briefstelle ALCUINS nach zu schlieBen, wurden diese ,,carmina gentilium" von einem citharista vorgetragen (siehe MGE, Epp. IV, S. 183).

86 Vgl. SIMSON, a.a.O. S. 294f.; ferner auch Anonymi vita Hludowici, 19 (a.a.O. S. 284) und GERBERT, De cantu, I, S. 278ff. - DaB ubrigens um 820 das Responso- riale am karolingischen Eof (wie auch anderswo im Frankenreich) nicht unwesent- lich vom romischen Ritus abwich, erhellt ein Brief des Abts HELISACHAR, des Kanzlers und Vertrauten LUDWIGS DES FROMM:EN. Durch dieses Schreiben wird an einem konkreten Beispiel deutlich, in welcherWeise die gallikanische Liturgiepraxis sowie frankische Liturgiker den romischen Kirchengesang veranderten. Vgl. E. BISHOP, Ein Schreiben des Abts Hel3sachar, Neues Archiv der Gesellschaft fur altere deutsche Geschichtskunde XI, 1886, S. 564ff.; MGH, Epp. III, S. 307ff.

87 NOTRER, II, 11 (a. a. O. S. 398 ). 88 DUMMLER, a.a.O. S. 855f.; siehe MIGNE PL CXII, Sp. 1089ff. 89 Vgl. EKEEHARDUS IV., Casus S. Galli, in: MGH, Script. II, S. 101. 9° Vgl. H. HUSCH:EN, Art. Eriuyena, MGG III, 1954, Sp. 1492ff. 91 GERBERT, Scrtptores, I, S. 45. WAGNER (Einf?iArung tn dte greyorianischen Melo-

dien, Teil I, S. 23(s) bezieht diese Textstelle anscheinend auf die Pfalzschule in Aachen. Aus dem Zusammenhang geht jedoch hervor, daB AURELIANUS die Ver- haltnisse am westfrankischen Hof zur Zeit KARLS DES KAHLEN im Auge hat.

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40 Manfred Schuler, Die Musik an den Hofen der Earolinger

Bald nach dem Tod Karls des Kahlen buBte auch der karolingische Hof im Westreich - wie schon vorher die Hofe in den anderen karolingischen Tei]rei- chen - seine Stellung als Mittelpunkt wissenschaftlichen und kunstlerischen Lebens ein. Wissenschaft und Ikunst erfuhren nun in erster Linie an groBen Klostern und an bedeutenden Bischofssitzen Forderung. Hier bi]deten sich auch auf der Grundlage der karolingischen Musikkultur musikalische Zentren, die in der Folgezeit die Entwicklung der abendlandischen Musik pragten und bestimmten.

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