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Adolf ~'raenkel Kiel, z. Zt. Jerusalem Die heutigen 6egens tze in der 6rundlegung der Mathematik Nur mit erheblichen Bedenken ergreife ich das Wort zu dem Thema, das uns in dieser Stunde besehiiftigen soll. War doch dieser zusammenfassende und vergleichende Uberbliek fiber die ver- schiedenen Anschauungen, die heute hinsichtlich der Begrfindung bzw. Neubegrfindung der Mathematik vertreten werden, ursprfing- lich geplant und fibernommen in Form einer allgemeinen Ein- leitung zu mehreren Spezialreferaten, die die einzelnen Anschau- ungen von ihrem eigenen Blickpunkt aus sehildem sollten. Durch den aus iiufleren Griinden erfolgten WegfaU dieser Einzelreferate ffir dieses Jahr ist mein Referat zu einer Einleitung geworden, der der Hauptteil fehlt. Ich will versuchen, diesen Mangel dadurch etwas auszugleichen, daft ich die einzelnen Auffassungen m6glichst mit der ihnen eigenen Argumentation vorffihre und begrfinde; daft ieh aber bei der im Vergleich zu so ungeheurem Stoff be- schrfinkten Zeit nur zu einer verh~ltnism~flig oberfl~chlichen Be- handlung kommen kann, ist mir klar. Um Nachsicht hierffir muff ich yon Anfang an mit aller Deutlichkeit bitten. So wird mein Vortrag gem~ifl der Bemerkung, die Herr Kneser gestern in seiner Begrfiflungsrede in tadelndem Sinn machte, ein wenig in Richtung des ,,Vergntigungsprogramms" der Tagung verlagert sein. Sie wissen, wie bald nach der Mitte des vorigen Jahrhunderts, vor aUem dank den Bemtihungen yon Bolzano, Cauchy und Weierstra]3, die Frage der Begrfindung der Analysis zu einer Kl~rung gelangt war, und zwar in dem Sinn, daft das Unendlich- kleine ebenso wie das Unendlichgrot3e ausgeschaltet blieb und der Aufbau sieh im Sinne der bekannten ~.uflerung von Gaufl nur end- licher Gr6flen bedienen soUte. Ein radikaler Umsturz dieser Auf-

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Page 1: Die heutigen Gegensätze in der Grundlegung der Mathematik

A d o l f ~'raenkel Kiel, z. Zt. Jerusalem

Die heutigen 6egens tze in der 6rundlegung der Mathematik

Nur mit erheblichen Bedenken ergreife ich das Wort zu dem Thema, das uns in dieser Stunde besehiiftigen soll. War doch dieser zusammenfassende und vergleichende Uberbliek fiber die ver- schiedenen Anschauungen, die heute hinsichtlich der Begrfindung bzw. Neubegrfindung der Mathematik vertreten werden, ursprfing- lich geplant und fibernommen in Form einer allgemeinen Ein- leitung zu mehreren Spezialreferaten, die die einzelnen Anschau- ungen von ihrem eigenen Blickpunkt aus sehildem sollten. Durch den aus iiufleren Griinden erfolgten WegfaU dieser Einzelreferate ffir dieses Jahr ist mein Referat zu einer Einleitung geworden, der der Hauptteil fehlt. Ich will versuchen, diesen Mangel dadurch etwas auszugleichen, daft ich die einzelnen Auffassungen m6glichst mit der ihnen eigenen Argumentation vorffihre und begrfinde; daft ieh aber bei der im Vergleich zu so ungeheurem Stoff be- schrfinkten Zeit nur zu einer verh~ltnism~flig oberfl~chlichen Be- handlung kommen kann, ist mir klar. Um Nachsicht hierffir muff ich yon Anfang an mit aller Deutlichkeit bitten. So wird mein Vortrag gem~ifl der Bemerkung, die Herr Kneser gestern in seiner Begrfiflungsrede in tadelndem Sinn machte, ein wenig in Richtung des ,,Vergntigungsprogramms" der Tagung verlagert sein.

Sie wissen, wie bald nach der Mitte des vorigen Jahrhunderts, vor aUem dank den Bemtihungen yon Bolzano, Cauchy und Weierstra]3, die Frage der Begrfindung der Analysis zu einer Kl~rung gelangt war, und zwar in dem Sinn, daft das Unendlich- kleine ebenso wie das Unendlichgrot3e ausgeschaltet blieb und der Aufbau sieh im Sinne der bekannten ~.uflerung von Gaufl nur end- licher Gr6flen bedienen soUte. Ein radikaler Umsturz dieser Auf-

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fassung erfolgte unter dem Einflufl der Mengenlehre Georg Cantors, die sich, zwei Jahrzehnte lang yon den maBgebenden Kreisen erfotgreich bek~impft und unterdrtickt, gegen Ende des Jahrhunderts siegreich durchsetzte. Da erfolgte um die Jahrhundertwende die dramatische und jlihe Wendung: das Aufkommen der Antinomien der Mengenlehre , unter denen die (Cantor selbst schon vorher be- kannte) Burali-Fortische die erste war (I896), schien alle Erfolge in Frage zu stellen und machte auf Geister wie Dedekind und Frege (iibrigens nicht auf Cantor selbst) einen niederschmetternden Ein- druck. Es wird gentigen, wenn ich Ihnen diejenige Antinomie vorfiihre, die den verwendeten Begriffen nach die einfachste ist, nfimlich die Russell-Zermelosche. Das disjunktive Urteil ,,eine Menge M enthfilt entweder sich selbst als Element oder sie ent- h~ilt sich nicht als Element" gilt ganz unabhfingig davon, ob jede der beiden M6glichkeiten realisierbar ist. Ob man also etwa die Menge aller Begriffe als Beispiel einer sich selbst enthaltenden Menge, die Menge aller hier anwesenden Personen als Beispiel einer sich nicht enthaltenden Menge annehmen will oder nicht (well man etwa gegen das erste Beispiel Einwendungen hfitte), rut nicht das mindeste zur Sache. Wir nennen der Ktirze halber eine Menge, die sich selbst nicht als Element enthfilt, eine A-Menge und betrachten die MengeM, deren Elemente a l le A-Mengen sind. Enth~ilt M sich selbst als Element oder nicht? Der erste Fall geht nicht an, denn M enthielte dann gegen die Voraussetzung als Element eine Menge (n~mlich M), die keine A-Menge ist; aber auch der zweite Fall ist unmSglich, well M dann nach der Definition der A-Mengen selbst eine A-Menge w~ire und demgemfiB nach der Definition von M ein Element yon M sein mtiBte. Die Menge M aller sich selbst nicht enthaltenden Mengen ist also mit einem logischen Widerspruch behaftet.

Die Versuche diesen und fihnliche Widerspriiche aufzukl~iren und zu beseitigen, sind Legion; dab dabei irgendeine einfache durchschlagende L6sung herausgekommen w~ire, wird auch der Optimist nicht behau~ten k6nnen. Das gilt meines Erachtens auch yon den beiden L6sungsversuchen, die in den letzten Monaten von hochgesch~itzten llachgenossen ver6ffentlicht worden sind. Die yon Study 1} mit dem Schlachtruf ,,Zurtick zu Schoenflies! ~' verbundene Meinung, die Erkenntnis yon der Ungereimtheit der

1) Berliner Akademieberichte x929.

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sich selbst enthaltenden Mengen 16se alle Schwierigkeiten ohne weiteres, fibersieht doch wohl, dab das Zustandekommen der Antinomien ganz unabh~ngig ist von der Hypothese der Existenz derartiger Mengen. DaB die antinomischen Mengen selber dann das Unglfick haben k6nnen, sich selbst zu enthalten, bedeutet keine Aufkl~irung der Schwierigkeiten; sonst konnte man ja einfach erkl~iren: wir lassen nut Mengen zu, die widerspruchsfrei sind. In Wirklichkeit kommt alles darauf an, Methoden ~ anzugeben, die auch denjenigen, der sie mechanisch anwendet, davor schtitzen, jemals einer widerspruchsvollen Menge habhaft zu werdenl); das kann wohl nur durch irgendwelche Beschr~nkungen hinsichtlich der Konstruktion yon Mengen erfolgen.

Ebenso scheint mir freilich, so bestrickend sie im ersten Moment aussieht, auch Mengers ~) ,,Unmengen"-Theorie nieht zum gewfinschten Ziele zu ffihren. Die Saehlage bei der Gegenfiber- stellung ,,Menge: Unmenge" ist doch eine wesentlich andere als z .B. bei der Gegenfiberstellung ,,endliche Menge:unendliche Menge". Im letzteren Falle haben wir einen uns als bekannt geltenden Oberbegriff, n~imlieh den der Menge, aus dem wit dutch Angabe einer differentia specifiea die einzelne Art aussondern. Wenn abet den Mengen die Unmengen gegenfibergestellt werden, so fehlt der gemeinsame Oberbegriff, es sei denn, man erg~inze ihn als ,,Gesamtheit" oder ,,Klasse", womit man ffir den letzteren Begriff die alten Sehwierigkeiten hat. Vor allem aber fehlt aueh hier ein allgemeines Kriterium daftir, bei welchen Operationen man sicher ist, nur Mengen zu erhalten, und welche m6glicherweise auf Unmengen ffihren.

Wenn wit bedenken, dab in eine Antinomie wie die Russellsehe keinerlei eigentliehe mathematische Begriffsbildungen eingehen, sondern daft dabei nut der Allgemeinbegriff der Menge und einige logisehe Gesetze (z. B. das Tertium non datur) verwendet sintt, so stehen wir vor der aufregenden Tatsache, dab aus solchem Material allein Widerspriiche entstehen. Es erhebt sich also das Problem: Wenn man die Gesetze der traditionellen Logik wahllos anwendet auf unendliche Mengen, auf die die Mathematik als die Wissenschaft vom Unendlichen keinesfalls verzichten kann, so folgen ernste Sehwierigkeiten; es gilt dies zu beseitigen. Die L6sung

1) Eben dies meint der yon Study angegriffene Satz Hessenbergs. ~) Jahresbericht der Deutsche ~ blathematiker-Vereinig. 87 (x928), S. 298ff.

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kann auf zwei Arten erfolgen. Entweder e v o l u t i o n l i r : man sucht den logischen Begriff der ,,Klasse" oder ,,Menge" tunlichst beizubehalten und auch die klassische Logik nach M6glichkeit zu konservieren, indem man sie n6tigenfalls so weit modifiziert und fortentwickelt, als es der Stand der Wissenschaft erheischt. Oder zweitens r evo lu t ion~ i r : man sieht im Allgemeinbegriff der Menge und in der Anwendung der Aristotelischen Logik auf unendliche Mengen unzul~ssige und nur durch eine gewisse Denkfaulheit er- kliirbare Angewohnheiten und verlangt einen radikal neuartigen Aufbau der Mathematik lind der Logik.

Ich will reich damit begniigen, die heute wichtigsten Wege zur L6sung dieser mathematischen ,,Grundlagenkrise" zu skizzieren, mit denen sowohl die evolution~ire wie die revolution~re Einstellung zu ihrem Rechte kommt. Eine solehe Beschrfinkung soll aber nicht bedeuten, dab mir andere Wege als ungangbar oder als a priori weniger wichtig erseheinen; z. B. k6nnte eine konstruktivere Fassung des Mengenbegriffs, wie sie dem jfingeren Cantor offenbar vor- schwebte (und die dabei keineswegs intuitionistisch gef~irbt zu sein braucht), zum Ziele fiihren, wie auch andererseits aus den nament- lich in Polen (z. B. yon Chwistek oder Lesniewski-Tarski) erfolgten Reformversuchen der Logik sich ein glficklicher Ausweg ergeben k6nnte.

Die uns hier interessierenden Auswege aus den Schwierig- keiten sind unabh~ingig voneinander, aber fast gleichzeitig zuerst um das Jahr 19o7 beschfitten worden. 1) Es verhfilt sich dabei keineswegs so, daft der Grund oder auch nur der Anlat] fiir das Einschlagen der neuen Wege allein in den Antinomien gelegen Nitte. Jedergalls aber haben diese, und zwar zu allererst, wenn man yon Kronecker absieht, die Gewissen gesch/~rft; bei dem er- neuten Sichbesinnen auf die Grundlegung der Mathematik sind dann ffir manche Richtung die Antinomien in den Hintergrund getreten und andere, tiefere Umst/inde mat]gebend geworden.

Ffir die revolution~re Wendung hinsichtlich der Grundlegung der Mathematik und der Logik ist in erster Linie der sog. I n t u i - t i o n i s m u s zu nennen. Unter diesem Namen werden Forscher und Richtungen zusammengefaflt, deren Tendenzen im einzelnen

1) Fiir Literaturangaben hierzu und zu allem Folgenden sei auf die ausftihr- liche Zusammenstellung in meiner ,,Einleitung in die Mengenlehre", 3. Auflage (Berlin I928 ) verwiesen.

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nicht unwesentlich voneinander abweichen; im vorliegenden Rahmen muB ieh mieh darauf besehr~inken, die groBen ihnen gemeinsamen Grundztige zu skizzieren und darfiber hinaus den heute besonders wiehtig gewordenen eigenartigen ,,Neointuitionismus" hervorzu- heben. Intuitionistisehe Gedankeng~nge sind der ~tlteren Gesehiehte der Mathematik nieht fremd; sie sind dann besonders seharf yon Kronecker betont worden gegeniiber der Weierstraflsehen Grund- legung tier Analysis. Gr6Bere Bedeutung haben-sie indes erst gewonnen seit dem Auftreten von Poincar~ einerseits, yon Brouwer andererseits (Inauguraldissertation 19o7).

Die den Intuitionisten gemeinsame wesentliehe Grundforderung ist die der K o n s t r u k t i v i t ~ t ftir alle mathematisehen Verfahren; fibrigens wird selbst diese Grundforderung nieht immer konsequent aufreeht erhalten, wie z. B. die Anerkennung des Auswahlprinzips dureh Poincar~ zeigt. Die Forderung der Konstruktivit~t hat eine negative und eine positive Seite. Negativ bedeutet sie die Aussehal- tung aller rein existentiellen und nieht konstruktiv zu wendenden Beweise; insbesondere also im allgemeinen der indirekten Beweise, der reinen Existentialbeweise (wie z. B. des ersten Hilbertsehen Beweises ftir die Existenz eines endliehen Invariantensystems, der Beweise des Wohlordnungssatzes usw.) und der sog. impr~dikativen Verfahren, yon denen sp~ter noeh die Rede sein wird. Der hierin liegenden Kritik an vielen in der Mathematik tibliehen Beweisverfahren mut3 naturgem~iB ein positives Prinzip zur Seite treten, das die Konstruktionen erm6glieht. Als solehes tritt im wesentlichen der Allgemeinbegriff der natiirliehen Zahl auf oder, wie Poincar~ es ausdrtiekt, das (yon ihm als synthetisehes Urteil a priori angesproehene) Verfahren der vollst~ndigen Induktion. Es ist im Grunde gleiehgtiltig, ob man sieh diese intuitionistisehe ,,Urintuition" gegrtindet denkt auf die M6gliehkeit, an jeder be- liebigen Stelle der Zahlenreihe den Obergang zum ,,Naehfolger" der zuletzt betraehteten Zahl auszuftihren, oder ob man, wie Brouwer es vielfaeh rut und wie es starker an philosophisehe Vor- stellungen der Antike erinnert, das Verfahren der Zweiteilung der Eins in den Mittelpunkt stellt; aueh hier ist das Wesentliehe nieht die Zweiteilung iiberhaupt, sondern die unbegrenzte, jedesmal erneut wiederholbare M6gliehkeit der Zweiteilung, und gerade dieses sehrankenlose Fortschreitenk6nnen macht das fruehtbare konstruktive Element aus. Der Ausbau dieses positiven Prinzips, yon dessen vorgeblieher Ansehauliehkeit die Intuitionisten ihretl

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Namen herleitenl), zu einer prfizisen Charakterisierung dessen, was als konstruktives Verfahren in der Mathematik zul~issig ist, liegt nicht einheitlich vor und ist, wie Menger mit Recht hervor- gehoben hat, ohne Willktir auch wohl gar nieht endg~iltig m6glich; in diesem dogmatischen Grundzug, aus dem sich psychologisch die H~irte mancher Polemik yon intuitionistischer Seite erkl~iren mag, liegt zweifellos fiir den Aut3enstehenden eine Schw~che des Systems.

Von Brouwer wird seit einem Jahrzehnt mit gr6t3erem Nach- druck eine besondere Nuance vertreten und mehr und mehr auch gegen die ribrigen Intuitionisten -- unter denen heute die fran- z6sischen Funkfionentheoretiker Borel, Lebesgue u.a . sowie Lusin hervorzuheben sind -- abgegrenzt : der ,,Neointuitionismus". Hier treten dem Prinzip der Konstruktivit~it zwei weitere, mit ihm nut lose verbundene Momente zur Seite. Das eine ist die U n t e r - o r d n u n g der L o g i k u n t e r die M a t h e m a t i k und, damit zusammenh~ingend, die A b l e h n u n g der k l a s s i s c h e n L o g i k h i n s i c h t l i c h der A n w e n d u n g auf u n e n d l i c h e Mengen. Obgleich der neuerdings in den Mittelpunkt der Diskussion ge- rrickte Satz vom ausgeschlossenen Dritten (Tertium non datur) eine solche Vorzugsrolle im Rahmen der intuitionistischen Auf- fassung keineswegs verdienen diirfte, wird er hier besonders be- quem sein, um zu veranschaulichen, was Brouwer meint mit seinem paradoxen Satz: Die Logik beruht auf der Mathematik und nicht umgekehrt. Haben wir vor uns einen Haufen yon Kreidestficken, so ist nach Brouwer ebenso wie nach der Aristotelischen Logik das disjunktive Urteil m6glich und zutreffend: unter diesen Kreide- stricken befindet sich entweder ke in weii3es oder m i n d e s t e n s ein weil3es. Nach Brouwer gilt aber dieses Urteil nicht etwa auf Grund eines analytischen oder apriorischen Tertium non datur- Prinzips; vielmehr dem Wesen nach auf Grund der M6glichkeit, ein Kreidestrick nach dem andern vorzunehmen und auf seine Farbe zu untersuehen, worauf sich naeh Absehlufi des Verfahrens ganz yon selbst das obige disjunktive Urteil ergeben hat; ,,min- destens ein Kreidestfick ist welt3" hat also den Charakter einer logischen Summe: dieses Ereidestrick ist weifl oder jenes Kreide- stfick ist welt3 oder . . . Grunds~itzlich h~ilt Brouwer dieselbe Uber- legung auch noch zulfissig bei Betrachtung einer Menge wie etwa

1) Polncar~ spricht noch yon ,,Pragmatismus", ein Terminus, der in erkenntnis- theoretischer Beziehung woM schon allzu Sehr vorbelastet ist.

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der (endlichen) Menge alle Atome unseres Sonnensystems in bezug auf eine Eigenschaft, die ftir die Elemente der Menge sinnvoll is t; mag auch die effektive Durehmusterung der Elemente ganz un- tunlich sein, so sei sie doch in Gedanken m6glich. Als Endresultat einer derartigen, bei endlichen Mengen stets als m6glich behaupteten Durchprfifung und nicht etwa auf Grund eines abstrakten logisehen Prinzips sei das Tertium non datur berechtigt; es verdankt seine Gfiltigkeit also einem konstruktivem Prozefl. Eine verh~ingnisvolle Gedankenlosigkeit der Wissenschaftler sei es indes gewesen, mecha- nisch ein ,,Gesetz" wie das Tertium non datur auch fiir unend- liche Gesamtheiten zuzulassen und zu Nutzanwendungen zu ge- brauchen, ffir Gesamtheiten also~ bei denen die Durchmusterung s~imtlicher Elemente auch nicht einmal in Gedanken m6glich sei. Betrachten wit etwa, um Brouwers bertihmtes Beispiel heran- zuziehen, die Dezimalbruchentwicklung der Kreiszahl ~r= 3, I4159-.- und legen wir uns die Frage vor, ob in ihr irgend einmal die Ziffern- sequenz o 1 2 3 . . . 9 vorkommt, so trifft nach der bisher fiblichen Auffassung auch hier das disjunktive Urteil zu: eine solche Sequenz trit t entweder niemals oder mindestens einmal auf. Nach Brouwer

ist indes eine existentielle Aussage der Form ,,eine solche Folge tri t t mindestens einmal auf" sinnlos, solange man eine solche Folge nicht gefunden, d .h . konstruiert hat; mit anderen Worten: das Urteil ,,eine solche Sequenz trit t nirgends in der Dezimalbruch- entwicklung yon ~r auf" ist k e i n e r N e g a t i o n f~ihig. Die jeden- falls neben dem eben angeffihrten Urteil noch denkbare M6glichkeit ,,eine solche Sequenz tr i t t an der reehnerisch aufgefundenen n-ten Stelle der Entwicklung wirklich auf" ist natfirlich dem vorerw~ihnten Urteil nicht etwa kontradiktorisch entgegengesetzt; es versteht sich yon selbst, dai3 man nicht alternativ behaupten kann, entweder das eine oder das andere Urteil sei gfiltig. So ist es im Grunde ein Mit3brauch der Bezeichnung, wenn man die letztere Feststellung dahin deutet, Brouwer lehne das Tertium non datur ab.

Daf3 dennoch dieser Standpunkt Brouwers - - den man treffen- der vielleieht als das V e r b o t , a l l g e m e i n e (generelle) U r t e i l e zu neg i e r en , bezeichnen mag -- eine wirkliche Bedeutung hat, mag folgende Illustration erweisen. Ein mathematischer Satz S mOge bewiesen sein r unter der Voraussetzung, dab in der Dezimalbruehentwicklung yon rc die Sequenz o i 2 . . . 9 niemals auftrete, zweitens rotter t3enutzung der natfirlichen Zahl n. yon der feststehen m6ge~ daft an der n-ten Stelle wirklich und zwar

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zum erstenmal eine derartige Sequenz beginne. Dann ist naeh 13rouwer der Satz S keineswegs bewiesen. Denn es ist sehr wohl denkbar und trifft z .B . beim heutigen Stand der Wissenschaft zu, dab weder ein Beweis bekannt ist, wonach eine Sequenz der erw~ihnten Art niemals auftreten kann, noch eine solche Sequenz wirklich aufgefunden ist, so dab die Zahl n bekannt w~ire. Der ,,gew6hnliche" Mathematiker dagegen wird schliet3en: Entweder existiert keine solche Sequenz; dann ist der Satz S richtig. Anderen- falls muB mindestens eine solche Sequenz auf Grund des Tertium non datur existieren; also wird man, wenn man die numerische Rechnung yon z~ weit genug fortsetzt, nach endlich vielen (wenn auch nicht von vornherein beschrlinkt vielen) Schritten eine Zahl n der gewiinschten Art auffinden; verwendet man diese, so ist S be- wiesen. S ist demnach in jedem Fall richtig.

Diese spezielle Illustration der These yon der Unterordnung der Logik unter die Mathematik ist hoffentlich geeignet, den Sinn dieser These fiberhaupt anzudeuten. Die Mathematik besteht nach Brouwer in gedanklichen konstruktiven Prozessen. Nur die Schw/iche des menschlichen Ged~ichtnisses und Intellekts macht es n6tig, diese Prozesse in sprachschriftlicher Form wiederzugeben; was wir in einem Lehrbuch niederschreiben oder in Vorlesungen mitteilen, ist nicht Mathematik, sondern eine Reproduktion mathematischer Kon- struktionen. Aus solchen Wiedergaben mathematischer Konstruk- tionen wie fiberhaupt gedanklicher Konstruktionen werden a poste- riori gewisse Regeln der Kombination abgeleitet, die die Gesetze de r Logik heit3en. Diesen kommt also keinerlei ursprtingliche Geltung zu, und insbesondere sind die logischen Gesetze ftir un- endliche Gesamtheiten andere als ftir endliche.

W~hrend Brouwer mit dieser Enttlaronung der Logik weit in negativer Richtung fiber die ~ilteren Intuitionisten hinausgeht, entwickelt er positiv ein Prinzip, das ihm im Gegensatz etwa zu den franz6sisehen Intuitionisten erm6glicht, im Unendlichen fiber das Abz~ihlbare aufzusteigen und fiberabz~ihlbare Mengen, wie z .B. das Kontinuum, zu ,,konstruieren". Diese konstruktive Mengendefinition Brouwers ist, wie Menger jiingst treffend hervor- gehoben hat1), bei Anwendung des Tertiurn non datur gquivalent mit der Definition der sog. analytischen Mengen (Souslinsehen Mengen). Im Sinne dieser Mengendefinition, auf die ich bier nicht

1) Jahresbericht derDeutschen Mathematiker-Vereinigung, 37 (x928), S. 219ff.

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n~iher eingehen kann, sind z. B. beliebige (bei den Franzosen nut gesetzm~ii3ig festgelegte) Folgen nattirlicher Zahlen als Elemente einer Menge zugelassen. Das Kontinuum wird im Gegensatz zu Cantor, der es als eine fiberabziihlbare Menge fertiger Elemente auf- faint, aber aueh zu Weft, der es ffir den mathematischen Gebrauch zu einer Gesamtheit yon abz~ihlbar unendlichvielen konstruier- baren, atomhaften Elementen degradiert, zu einem ,,Medium freien Werdens" ; seiri Wesen liegt nicht sowohl darin, Elemente, als vielmehr, Teile zu haben und fortgesetzt teilbar zu sein. In der Zulassung intuitiv gegebener tiberabz~ihlbarer Mengen liegt der wesentliehe Punkt, in dem Brouwer hinsichtlich des gegebenen Materials fiber die ba ld zu er6rternde Anschauungsgrundlage Hilberts hinausgeht.

Wie mir scheint, hat Brouwer den gr6t3ten Erfolg for seine Anschauung~n dadurch erzielt, dab er als Anh~nger seiner Aus- gangsposition -- Hilbert gewonnen hat l Nut die Sch~rfe der Polemik zwischen beiden Forschern und ihren Schtilern auf der einen Seite, die v611ige Entgegengesetztheit der Schlut3folgerungen auf der anderen Seite konnte es, glaube ich, verschleiern, dab Hilbert tats~iehlich die FordeFung der Konstruktivit~it und die Ablehnung eines einsiehtigen Grundes ffir die Anwendung der Aristotelischen Logik auf unendliche Gesamtheiten fibernommen hat. Die Konsequenz freilich, die Hilbert aus dieser Erkenntnis zieht, ist eine v611ig andere als bei Brouwer, wenn auch kaum weniger revolution~ir.

Bei der konsequenten DureMfihrung der Prinzipien Brouwers bleibt n~mlieh yon der klassischen Mathematik nut ein beklagens- wert dfirftiger Torso iibrig, dessen Aufbau und Begrfindung fiber- dies mit ffirchterlichen Sehwierigkeiten verknfipft ist. Eine solche Zerst6rung, so sagt der mathematische Instinkt Hilberts, k6nnen und wollen wir uns nicht bieten lassen; kein Mensch, und wenn er mit Engelszungen redete, wird uns daran hindern, generelle Aussagen zu negieren und das Tertium non datur auf unendliche Mengen anzuwenden. Wie aber, wenn unsere Einsieht diese bisher tibliehen Verfahren nicht legitimieren kann ? Dann schaffen wit uns eben zun~ichst ein Reich yon Schatten, innerhalb dessen wit -- ohne Legitimation -- dennoeh entspreehend verfahren. Ffir die Schaffung eines solchen Schattenreiches gab es einen zwie- fachen glfieklichen Umstand ~ihnlicher Art, wie er ffir Keplers Ge- setze im Vorliegen der antiken Kegelschnittslchre, ffir die Relativi-

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t~tstheorie im Dasein der Riemannschen Geometrie bestanden hatte. Ankntipfend an Frege und an die englischen und italie- nischen Logistiker batten n~mlieh Russell und Whitehead die Be- griffsschrift der symbolischen Logik auf eine Stufe gebracht, yon der aus sie Hilbert ffir seine Zwecke nur noch ein wenig zu modifi- zieren brauchte. Und auf ganz anderem Gebiete war die axio- matische Methode, die Hilbert selbst im AnschluB an Pasch vorher weitgehend entwickelt und fruchtbar gemacht hatte, I9O7]O8 yon Zermelo insbesondere auf die Mengenlehre angewandt worden, die als grundlegende mathematische Disziplin ftir Hilberts Aufbau im Vordergrunde stehen muflte. Die uns hier interessierende Bedeutung der axiomatischen Methode liegt darin, dab sie davon absehen kann, die Grundbegriffe einer Disziplin zu d e f i n i e r e n , dab sie diese Grundbegriffe vielmehr verm6ge einer Verkntipfung mit- einander durch ,,Axiome" hinreichend festlegt. Ausgehend yon symbolisch ausgedrtiekten Axiomen, die die Objekte und Relationen des Sehattenreiches miteinander verknfipfen, und in Verbindung mit bestimmten Regeln (Modus ponens usw.), die yon gewissen Axiomen oder anderen symbolischen S~itzen aus den {~ergang zu neuen S~itzen gestatten, errichten wir ein Reich yon Begriffen, Beweisen und S~itzen, das dem Reiehe der Mathematik naehgebildet ist und in dem insbesondere die verp6nten Regeln der Logik erlaubt sein sollen. Das Ganze ist zun~ichst eine Art Spiel; yon einer ein- siehtigen Begriindung, wie sie die Legitimation aller bisherigen Mathematik gewesen ist, kann naturgem~iB keine Rede sein.

Wie abet nun dieses S c h a t t e n r e i e h in den Bezirk der W i s s e n s c h a f t fiberffihren? Hier wird der Begriff der E x i s t e n z in der Mathematik yon entseheidender Bedeutung. Ffir Hilbert wie fiir die groBe Mehrzahl der Mathematiker der Vergangenheit und Gegenwart (aueh z .B. ffir Poincard) existiert ein mathe- matischer Begriff, wenn er widerspruchsfrei, d .h . vertr~glich ist mit den fibrigen Begriffen und ihren Konsequenzen. Das Schatten- reich wird in diesem Simle als eine wissensehaftliehe Disziplin, der den Namen ,,Mathematik" zuzuteilen uns niemand hindern kann, legitimiert sein, wenn es gelingt zu beweisen, dab in ihm bei Ver- wendung der zugelassenen Verfahren niemals ein Widersprueh erzielt werden kann. Ein soleher Beweis wird erhebliche Sehwierig- keiten zu fiberwinden haben; denn weder den Begriffen noch den Schluflregeln im Sehattenreieh kommt ja irgendwelche inhaltliche Bedeutung zu, so daft die Widerspruchsfreiheit, weit enffernt davon

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einsichtig zu sein, vielmehr als ein unwahrscheinlicher GlticksfaU erscheinen muB.

Ein solcher Widerspruchsfreiheitsbeweis, bei dem die Begriffe und Prozesse der (durch das Schattenreich verkOrperten) formali- sierten Mathematik nut das Material darstellen, mit dem hantiert wird, muff in einsichtiger Weise vor sich gehen und zu diesem Zweck sich auf einen gewissen anschaulichen Ausgangspunkt sttitzen k6nnen. Das Gebiet, in dem der Widerspruchsfreiheitsbeweis sich vollzieht, saint dem Ausgangspunkt des Beweises wird yon Hilbert M e t a m a t h e m a t i k genannt; es ist grunds~tzlich dem ,,anschau- lichen" Ausgangspunkt d e r Intuitionisten zur Seite zu stellen. Diese wie auch Hilberts ,,formalistische" Schule begegnen sich in diesem prinzipiell wichtigen Punkte mit Kant, der -- im Gegensatz etwa zu Leibniz ~ die Mathematik und die exakte Naturwissen- sehaft wesentlich auf auBerlogische, anschauliche Gegebenheiten grtindet. W~hrend es im Anfang schien, als brauche sieh die An- schauungsgrundlage der Formalisten u. a. nut einiger Spezialfiille der vollst~indigen Induktion zu bedienen, diirfte heute kein Zweifel mehr darfiber bestehen, dab der Allgemeinbegriff der natfirlichen Zahl in beiden Schulen zum gegebenen Ausgangsmaterial geh6rt. Der Beweis der Widerspruchsfreiheit ist dank den Bemtihungen, die Hilbert im Verein mit Bernays sowie van Neumann und Acker- mann angestellt haben, ftir ein Gebiet der formalisierten Mathe- matik gelungen, das dem sog. Weylsehen Kontinuum entspricht. Dieses stellt allerdings nur einen abz~ihlbaren Bereich dar; hier- durch wird der Weft des Beweises, so scharfsinnig dieser ist, sehr beeintr~chtigt, da die Sehwierigkeiten des Transfiniten in der Regel gerade da anheben, wo das Abziihlbar-Unendliehe iiber- schritten wird. In der Tat ist ftir das (iiberabz~ihlbare) klassische Kontinuum der Widerspruchsfreiheitsbeweis bisher nieht gelungen, geschweige denn ftir die Cantorsehe Mengenlehre, ftir die sieh Schwierigkeiten auBerordentlicher Art in den Weg stelten. Abet auch ftir das klassisehe Kontinuum erscheincn die zu tiberwindenden Hindernisse, die vor allem auf kombinatorischem Gebiete liegen, so groB, dab ich pers6nlich beinahe einen Zweifel hegen m6ehte, ob der mensehliche Verstand zu ihrer Bew~Itigung tiberhaupt fiihig ist.

Die Bedeutung der A n r e g u n g e n und Ansiitze, die der Intuitio- nismus und speziell auch der Neointuitionismus ftir die Begrtindung der Mathematik und der Logik gegeben hat, steht aut3er allem

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Zweifel. Dagegen glaube ich nicht, daft die K o n s e q u e n z e n des Intuitionismus Aussicht haben, sich eine zunehrnende Anh~nger- schaft zu erobern; vielmehr scheint es, als ob der H6hepunkt der Zugkraft bereits tiberschritten sei. Unter den Gegenargurnenten, die neben dern fast ausschlaggebenden der katastrophalen Folgen des Intuitionismus stehen, seien hier wenigstens zwei hervorgehoben. Die mathematischen Sachverhalte sind durchwegs absolute; ein yon uns bewiesenes Theorem muB, falls auf einem anderen Planeten denkende und Mathematik treibende Wesen existieren, auch for diese riehtig sein. In der intuitionistischen Mathematik spielen aber gerade nicht-objektive Sachverhalte eine bedeutsame, n~mlich wesentlich eine hindernde Rolle. Eine Feststellung wie die (vgl. das oben zur Entwicklung yon ~ Gesagte), dab zu dern Ausschlut3 einer gewissen Eigenschaft und der Auffindung der Eigenschaft durch eine konstruktive Methode ein Drittes rn6glich ist und etwa gerade vorliegt, ist jeweils abh~ingig vom Stande unseres Wissens; ffir hinreichend gescheite Wesen braucht diese dritte M6glichkeit nicht aufzutreten. Schaltet man solche nicht-objektive Alternativen aus, so wird der Intuitionismus an einer h6chst empfindlichen Stelle getroffen. Ferner sei noch ein Argurnentum ad horninern erw~hnt: w~re die klassische Analysis wirklich falsch, wie es ffir groBe Teile yon ihr die Intuitionisten behaupten, so w~re es h6chst merkwtirdig, dab die auf diesen Gebieten arbeitenden Forscher imrner zu fibereinstimmenden Resultaten gelangt sind und nicht aneinander vorbei oder einander entgegen argumentieren, wie es beispielsweise in der Philosophie oder in der Philologie so gang und g~be ist. Der Intuitionist selbst freilich wird dieses Argument nicht allzu tragisch nehmen; er sagt, das sei ein Beweis ffir die Widerspruchsfreiheit, nicht aber ftir die Richtigkeit der klassisehen Analysis, so wenig wie ein Freispruch mangels Beweise eine Ehren- rettung des Angeklagten bedeutet.

Hinsichtlich der Beurteilung des Formalisrnus Hilbertscher Art ist einmal zu wiederholen, daft die entscheidenden Beweise bisher nicht gelungen sind. Andererseits liegt eine grot3e, abet doch wohl nicht uniiberwindliche Sehwierigkeit darin, dab zun~ichst nicht abzusehen ist, wie die rein forrnalen S~itze der Hilbertschen Mathematik einer Anwendung auf inhaltliche Probleme f~hig sein sollen -- nicht etwa blofl auf die Probleme der theoretischen Natur- wissenschaft, sondern z. Bo auch nur auf die Aufgaben des Rechnens, wie sie sich im t~glichen Leben darbieten. Ohne auf diese mehr

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erkenntnistheoretische Frage n~iher einzugehen, sei doch hervor- gehoben, dab ganz unabh~ingig hiervon den bereits vorliegenden und vor allem, den noch zu erbringenden Beweisen der Meta- mathematik ein absoluter Erkenntniswert zukommt, der nament- lich auch ganz davon unabhlingig ist, ob man den formalistischen Weg als den gegebenen zur Grundlegung der Mathematik anerkennt oder nicht.

Bevor wit diese revolution~iren Wege zum Aufbau der Mathe- matik verlassen, die, als gegenwiirtig so viel diskutiert, im Mittel- punkt dieses "gortrages stehen sollten, seien noch gewisse dazu ge- h6rige Ubergangsstufen wenigstens erw~ihnt. Die sog. Sko/emsche Paradoxie, die innerhalb der axiomatischen Betrachtung den Miichtigkeitsbegriff relativiert (n~imlich jede unendliehe Menge der axiomatisierten Mengenlehre als im absoluten Sinne abz~hlbar erscheinen l~t3t), stellt in Verbindung mit anderen Gedanken S/w/eras eine Art Bindeglied zwischen axiomatischer und intuitio- nistischer Betrachtung her. Die yon ~7. yon Neumann neuerdings gegebene axiomatische Begriindung der Mengenlehre 1) hat bei gewissen technischen Naehteilen den sehr bedeutsamen Vorzug gegeniiber der bisherigen (engeren) Axiomat!k, da/3 sie die Be- schr~nkung des Mengenbegriffes auf eine naturgemlit3 zu nennende Art vollzieht, ohne daft dadurch dem Widerspruchsfreiheitsbeweis grOt3ere Sehwierigkeiten erwachsen al's in der Axiomatik Zermelos. Sie ist insofern in hervorr;~gendem Mat3e nicht nur flit die forma- listische, sondern auch ftir die jetzt zu er6rternde logizistische Auffassung sowie ftir einen konstruktiven Aufbau im Sinne Cantors yon Bedeutung.

Ein e v o l u t i o n l i r e r Weg zur Beseitigung der in der Mathe- matik sieh ergebenden Sehwierigkeiten ist yon Russell, sp~terhin im Verein namentlich mit Whitehead beschritten worden. Hier lassen sieh zwei Ausgangspunkte voneinander scheiden. Zunlichst ergab sich flit Russell bei der Analysis der bekannten und von ihm systematisch vermehrten Antinomien der Mathematik und der Logik (im Ansehlut3 an eine aufschlut3reiehe Polemik mit Poincar~), dab als ein gemeinsamer Grundzug allen Antir, omien die Verwendung des sog. impr~idikaten Verfahrens zugrunde liege; d. h. eines Verfahrens, bei dem ein einer Gesamtheit G angeh6riges Individuum (Element einer Menge G) determiniert oder ,,kon-

1) Vgl. auch Journal fiir Mathematik, 160 (I929), S. 227ff~

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struiert" wird in einer Art, die eben jene Gesamtheit G in wesent- lieher Weise benutzt. Zur Beseitigung solcher, allgemeinhin zirkel- haft erscheinender Begriffsbildungen stellt Russell ffir die Logik die Verbotsregel auf: keine Gesamtheit kann Glieder enthalten, die nut mittels jener Gesamtheit definierbar sind.

Ist mindestens der Weg zur Gewinnung dieser Verbotsregel, in erheblichem MaBe wohl auch diese selbst willkiirlich, so zeigt sieh, dab die n~mlichen Konsequenzen -- insbesondere die Be- seitigung der bekannten Antinomien --, wie sie aus jener Verbots- regel sieh ergeben, auch auf einem naturgem~iBeren Weg zu gewinnen sind: auf dem ~Veg einer Bereicherung der klassischen Logik dutch I-Iinzuffigung der sog. T y p e n t h e o r i e . Wenn wir yon einem uns vorliegenden Kreidesttick aussagen, es sei rot, so kann das eine riehtige oder aueh eine falsche Behauptung sein; in jedem Fall abet ist es eine sinnvolle Aussage. Behaupten wir aber yon einer Gesamtheit yon Kreidestticken: diese Gesamtheit selbst, dieser Inbegriff sei rot -- oder auch: er sei nicht rot, so liegen Be- hauptungen vor, die nicht sowohl richtig oder falsch als vielmehr sinnlos sind. Allgemeiner ausgedrfickt und deutlicher auf das logische Geleise verschoben: eine Menge entspricht einer Eigen- schaft, d .h . in der modernen logischen Spraehe: einer Aussage- funktion; z. B. die Menge aller roten Dinge der Aussagefunktion ,,x ist rot". Eine Eigensehatt kann aber jedenfalls nicht sinnvoll yon sieh selbst ausgesagt (oder auch negiert) werden, mit anderen Worten: eine Aussagefunktion kann niemals sieh selbst als Argu- mentwert annehmen (d. h. ist f ( x ) eine Aussagefunktion, der die Mengem entsprieht, so ist f (m) sinnlos); die Menge aller roten Dinge (oder auch: die Eigenschaft rot) ist weder rot noch nicht rot. So zeffallen, wenn wit wieder zu den Mengen zuriickgehen, die mathematischen (und logischen) Objekte in verschiedene Typen: den Typus der ,,Individuen", d. h. derjenigen Objekte, die bei der jeweiligen Betrachtung nicht ihrerseits als Mengen anderer Objekte aufgefaBt werden, dann den Typus der Mengen yon Individuen, weiter den Typus der Mengen, deren Elemente ihrerseits Mengen yon Individuen sind, usw. Nut gleichartige Dinge, d .h . Objekte desselben Typus dtirfen als Elemente einer und der n~imlichen Menge aufgefaBt werden, und diese Menge ist yon einem Typus, der um eins gr6t3er als der gemeinsame Typus ihrer Elemente. Ftihrt man diese gewiB plausible, hier nicht n~her zu er6rternde neue Erkenntnis in die Logik ein, so verschwinden yon selbst viele

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und zwar gerade die anst613igstea Antinomien. Z.B. stellt die RusseUsche Antinomie yon der Menge aller sich nicht selbst ent- haltenden Mengen kein Problem mehr dar, well es diese Menge gem~t3 der Typentheorie nicht gibt und weil tiberdies sowohl die Behauptung, eine Menge enthalte sich selbst als Element, wie die entgegengesetzte sinnlos werden; mit der (zul~issigen) Menge aller Individuen aber z. B. ist keine Antinomie verbunden.

Sicherlich w~ire diese Theorie lfingst zum vollkommenen Siege gelangt, bei den Mathematikern zun~ichst und dann auch bei den Logikern, wenn dutch sie bereits alle Schwierigkeiten beseitigt w~iren. Das ist indes nicht der Fall. Die sog. Richardsche Anti- nomie v o n d e r Menge aller endlieh definierbaren Dezimalbrtiche, mit der auch die antike Antinomie von dem Kreter, der sagt ,,alle Kreter ltigen", verwandt ist, sind mit der Typentheorie noch nicht beiseite geschafft. Zur Erledigung dieser restlichen Klasse yon Antinomien, bei deren Zustandekommen das sprachliche Moment wesentlich ist, hatte Russell eine verfeinerte Typentheorie oder ,,Stufentheorie" ersonnen, bei der jeder einzelne der vorerw~hnten Typen noch einmal untergeteilt wird zu einer ganzen Hierarchie yon Stufen; nur Objekte desselben Typus und derselben Stufe werden dann als gleichartig betrachtet. Wir brauchen uns mit dieser Stufentheorie bier nicht n~her zu befassen, well man sie wohl als bereits fiberwunden bezeichnen daft. Sie bietet n~imlich den ~belstand, dab bei folgerichtiger Durchftihrung die Mathematik in ~hnlicher Weise eingeengt wird wie ira Intuitionismus. Um eine s01che auch ihm unertr~glich scheinende Verstiimmelung der Mathematik zu vermeiden, wandte Russell ein geradezu ver- zweifeltes Hilfsmittel an: er stellte ein Axiom, das sog. Reduzi-

bilit/itsaxiom, auf, durch das die mathematischen Nachteile der Stufentheorie zwar allerdings wettgemaeht werden, das aber in keiner Weise als einsiehtig zu bezeichnen ist. Den fibrigen logischen Axiomen, die sich einsichtig als notwendig und allgemeingtiltig erweisen sollen, tritt damit ein Axiom zur Seite, alas neuerdings sogar dutch eine Unabh~ngigkeitsuntersuchung als keinesfalls in sich notwendig erwiesen worden ist und an das zu glauben keinem Menschen zugemutet werden kann. Der Sch6nheitsfehler dieses Axioms ist einer Verbreitung der Russellschen Theorie auf dem europfiischen Kontinent (und in Amerika) hindeflich gewesen.

Wenn auch Endgiiltiges hinsiehtlich der Begrfindung der Mathematik nachRusse l I ohne Reduzibilit~itsaxiom nicht vor.

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liegt, so ist doch zu sagen, dab erfolgreiche Bemfihungen nach dieser Richtung angestellt werden und einen giinstigen Aus- gang als nicht unwahrscheinlich erscheinen lassen. Solche Hoff- nungen dfirften namentlich auf Grund des bedeutsamen Werkes yon Wittgenstein sowie der einschl~igigen Arbeiten Ramseys und der unter Fiihrung yon Schlick und Hahn stehenden Wiener Philosophenschule berechtigt sein. Speziell spielt bier die sog. Extensionalit~itsthese eine Rolle, nach der jede Aussage fiber eine Aussagefunktion extensional ist, so daft sie, wenn sie ffir die Aussagefunktion f (x) zutrifft, auch ffir jede mit f (x) umfangs- gleiche Aussagefunktion wahr ist. Ist dem so, so fallen die Antinomien der zweiten A r t iiberhaupt aus dem Bereiche der Logik fort; die Kritik der M~ngel der Sprache, welche zu diesen Antinomien ffihren, liegt auf einem ganz anderen Niveau. Dann ist es aber m6glich, mit der oben geschilderten, durchaus ein- sichtigen Typentheorie und ohne die verfeinerte Stufentheorie auszukommen, womit das Reduzibilit~itsaxiom sich als fiberflfissig erweist. Es ist sehr plausibel, dat3 auf dieser Basis in Ver- bindung mit den Axiomen der Russellschen Logik sich der Aufbau nicht nur der Zahlenreihe, sondern auch der Theorie der reellen Zahlen, d .h . des Kontinuums, erm6glichen l~it3t. Freilich muff betont werden, dab diese Aufgabe noch nicht durchgeffihrt ist; zum allermindesten mat:hematisch-technische Schwierigkeiten er- heblicher Art sind dabei noch zu fiberwinden.

In den ,,Principia Mathematica" yon Whitehead und Russell werden die angedeuteten entscheidenden Gesichtspunkte ein- gebettet in ein umfassendes System, das letzten Endes auf einer sozusagen weltanschaulichen Grundlage beruht, n~imlich auf der Auffassung, dab die Mathematik ein Tell der Logik ist und sich nut mit Willkfir innerhalb dieser scharf abgrenzen l~it3t. Eine solche Auffassung ist lebhaft namentlich yon Leibniz vertreten worden; die wichtigsten unmittelbaren Vorganger hierin besafl Russell in Dedekind und Frege. Zu den ,,tautologischen" (etwa: analytischen Charakter besitzenden) Axiomen der Logik treten bei diesem Aufbau noch zwei Axiome in dem heute mathematisch iiblichen Sinn, n~imlich das Multiplikationsaxiom (Auswahlprinzip) und das Axiom des Unendlichen. Beide sind sozusagen Hypo- thesen, yon deren Zulassung gewisse, genau bezeichnete Teile des logisch-mathematischen Geb~iudes abhlingig sind; das Axiom des Unendlichen abzulehnen wfirde meines Erachtens allerdings die

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Verneinung aller wesentliehen Teile der Mathematik bedeuten (und somit praktiseh ausseheiden).

Ein Wort zum SehluB noeh tiber die impr~idikativen Begriffs- bildungen. Durch die Hinzunahme der Typentheorie fallen diese bei Russell yon selbst heraus. Im Intuitionismus haben sie als nieht-konstruktive Verfahren ohnehin keinen Raum. Wenn sie aber im formalistiseh-axiomatisehen Geb/~ude allerdings ansehei- nend nieht entbehrt werden k6nnen, so bedeutet dies kein Argu- ment gegen diese Riehtung; hier kommt es ja gar nieht auf Kon- s t r u k t i o n an, eine eindeutige D e t e r m i n a t i o n der fragliehen Begriffe abet, m6gen sie aueh gegenseitig miteinander verfloehten sein, ist dabei sehr wohl denkbar, vorausgesetzt dab der Aus- sehluB yon Widersprtiehen getingt.

Wenn aueh im gegenw~irtigen Moment von einem Siege dieser ,,logizistisehen" Riehtung noeh nieht gesproehen werden kann, so sind doeh die hier noeh offenen Sehwierigkeiten ganz gewit3 nieht gr~3Ber, wahrseheinlieh abet sogar kleiner als beim Formalismus. Clberdies besteht der Vorteil, elaB der Mengenbegriff naeh Russell nieht (wie bei der axiomatisehen Methode) mehr oder weniger dogmatiseh, sondern im Hinbliek auf einsiehtige Griinde (Gesetze der Logik) gegentiber der naiven uferlosen Fassung eingesehr~inkt wird. Ieh pers6nlieh m6ehte in der Tat an ein sehliet31iehes Dureh- dringen der logizistisehen Auffassung glauben, wobei abet vom Formalismus -- ganz abgesehen yon der im engeren Sinn mathe- matisehen Bedeutung seiner Beweise -- sieherlieh wertvolle Ele- mente mit herangezogen werden. So ist es gewit3 voreilig (oder auch sehon zu split), yon einer wirkliehen Krise in der Grundlegung der Mathematik zu spreehen; aueh die pessimistisehe Auffassung be- deutender franz0siseher Forseher, als sei die Verst~indigung zwisehen so versehieden eingestellten Wissensehaftlern unm6glieh oder erst �9 con einer evolution~iren Angleiehung ihrer Gehirnwindungen ab- h~ingig, kann ieh gliieklieherweise nieht teilen. Wie bei so vielen Beispielen in der Gesehiehte der Wissensehaft wird man aueh bier sicherlieh erkennen, dab keine der Auffassungen ganz und gar unbereehtigt ist, dab sie vielmehr an ein und dasselbe Problem yon gar zu versehiedenen Bliekpunkten herangehen. In einer Tieferlegung der Fundamente der Mathematik wird demnach hoffentlieh das allm~ihlieh heranreifende Ergebnis der heute so lebhaften mathematisehen Grundlagenforsehung bestehen.