die fahrdynamik des neuen porsche 911 turbo: antrieb, fahrwerk, regelsysteme

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106 ATZ Automobiltechnische Zeitschrift 103 (2001) 2 Titelthema Fahrdynamik des Porsche 911 Turbo 1 Ziele der Sportwagen- entwicklung bei Porsche Die Definition klarer Ziele ist allgemein als Schlüssel zum Erfolg zu sehen. In Tabelle 1 sind die bei Beginn der Entwicklung für den neuen 911 Turbo festgelegten Ziele zusam- mengefasst. Als kundenrelevante Ziele werden hier Merkmale bezeichnet, die der Der neue Porsche 911 Turbo wurde im Frühjahr 2000 eingeführt und inzwischen von allen wichtigen Fachzeitschriften und den Kunden sehr positiv beurteilt. Als eine der überragenden Eigenschaften wird dabei seine hohe fahrdynamische Leistungsfähigkeit bewertet. Dieser Artikel beschreibt, welchen Beitrag Auswahl und Auslegung von Allradantrieb- strang, Fahrwerk und Fahrwerkregelsystemen dazu leisten. Die Fahrdynamik des neuen Porsche 911 Turbo: Antrieb, Fahrwerk, Regelsysteme Teil 1 Kunde – im Gegensatz zu den technischen – unmittelbar „erfahren“ kann. Für jedes Merkmal ist der Einfluss der in diesem Arti- kel behandelten Baugruppen auf die Zieler- reichung bewertet. Die folgenden Ausführungen beschreiben und begründen die Ziele und zeigen Ziel- konflikte auf. 1.1 Kundenrelevante Ziele Fahrleistungen: Dies wird von einem Sportwagen zu aller- erst gefordert. Fahrzeugbeherrschbarkeit: Der Kunde erwartet heute wie selbstver- ständlich, dass sein Fahrzeug ihn in keiner Fahrsituation vor Probleme stellt. Der Sportwagenentwickler muss zusätzlich ei- nen hohen Grenzbereich realisieren, sowie unterschiedliche Kundenanforderungen „unter einen Hut“ bringen. So bevorzugt der eine Fahrer gutmütiges Untersteuern im Grenzbereich, während der andere auf ein bewusst provozierbares, aber auch Dipl.-Ing. Gerd Seifert arbeitet in der Fahrwerks- entwicklung des Porsche Entwicklungszentrums und war verantwortlicher Projekt- leiter für die Fahrwerksent- wicklung des 911 Turbo. Dipl.-Ing. Gerd Bofinger arbeitet in der Getriebe- entwicklung des Porsche Entwicklungszentrums und war verantwortlicher Team- leiter für die Allradentwick- lung des 911 Turbo. Dipl.-Ing. Martin Thierer arbeitet in der Fahrwerksentwicklung des Porsche Entwicklungszen- trums und war verantwort- lich für die Schlupfregelsys- tementwicklung des 911 Turbo. Die Verfasser Tabelle 1: Fahrzeugziele und Einflussgrößen Table 1: Overall engineering targets and influencing factors

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106 ATZ Automobiltechnische Zeitschrift 103 (2001) 2

Titelthema Fahrdynamik des Porsche 911 Turbo

1 Ziele der Sportwagen-entwicklung bei Porsche

Die Definition klarer Ziele ist allgemein alsSchlüssel zum Erfolg zu sehen. In Tabelle 1sind die bei Beginn der Entwicklung für denneuen 911 Turbo festgelegten Ziele zusam-mengefasst. Als kundenrelevante Zielewerden hier Merkmale bezeichnet, die der

Der neue Porsche 911 Turbo wurde im Frühjahr 2000 eingeführt undinzwischen von allen wichtigen Fachzeitschriften und den Kunden sehrpositiv beurteilt. Als eine der überragenden Eigenschaften wird dabeiseine hohe fahrdynamische Leistungsfähigkeit bewertet. Dieser Artikelbeschreibt, welchen Beitrag Auswahl und Auslegung von Allradantrieb-strang, Fahrwerk und Fahrwerkregelsystemen dazu leisten.

Die Fahrdynamik des neuen Porsche 911 Turbo:

Antrieb, Fahrwerk, Regelsysteme Teil 1

Kunde – im Gegensatz zu den technischen –unmittelbar „erfahren“ kann. Für jedesMerkmal ist der Einfluss der in diesem Arti-kel behandelten Baugruppen auf die Zieler-reichung bewertet.

Die folgenden Ausführungen beschreibenund begründen die Ziele und zeigen Ziel-konflikte auf.

1.1 Kundenrelevante Ziele

Fahrleistungen:Dies wird von einem Sportwagen zu aller-erst gefordert.

Fahrzeugbeherrschbarkeit:Der Kunde erwartet heute wie selbstver-ständlich, dass sein Fahrzeug ihn in keinerFahrsituation vor Probleme stellt. DerSportwagenentwickler muss zusätzlich ei-nen hohen Grenzbereich realisieren, sowieunterschiedliche Kundenanforderungen„unter einen Hut“ bringen. So bevorzugtder eine Fahrer gutmütiges Untersteuernim Grenzbereich, während der andere aufein bewusst provozierbares, aber auch

Dipl.-Ing. Gerd Seifertarbeitet in der Fahrwerks-entwicklung des PorscheEntwicklungszentrums undwar verantwortlicher Projekt-leiter für die Fahrwerksent-wicklung des 911 Turbo.

Dipl.-Ing. Gerd Bofingerarbeitet in der Getriebe-entwicklung des PorscheEntwicklungszentrums undwar verantwortlicher Team-leiter für die Allradentwick-lung des 911 Turbo.

Dipl.-Ing. MartinThierer arbeitet in derFahrwerksentwicklung desPorsche Entwicklungszen-trums und war verantwort-lich für die Schlupfregelsys-tementwicklung des 911Turbo.

Die Verfasser

Tabelle 1: Fahrzeugziele und Einflussgrößen

Table 1: Overall engineering targets and influencing factors

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leicht beherrschbares „Power-Steer“ nichtverzichten möchte.

Agilität, Spontaneität, Fahrspaß:Der Fahrspaß, den ein Fahrer mit einemPorsche zum Beispiel auf kurvigen Land-straßen oder Bergstrecken haben kann, istfür viele Kunden ein wichtiger Grund, war-um sie sich gerade für dieses Fahrzeug ent-scheiden. Die hier zum Tragen kommendenspontanen und direkten Fahrzeugreaktio-nen müssen mit der ebenso ernst zu neh-menden Forderung nach untadeliger Fahr-stabilität bis zur Höchstgeschwindigkeit inEinklang gebracht werden.

Eindeutigkeit, Reproduzierbarkeit:Der Fahrer soll sich auf das Verhalten sei-nes Fahrzeugs verlassen können. Dazugehört, dass es jederzeit plausibel und im-mer gleichartig reagiert. Deshalb dürfenkleine, für den Fahrer unauffällige Unter-schiede in der Fahrsituation oder im Fahr-bahnzustand nicht zu wahrnehmbarenUnterschieden in der Fahrzeugreaktionführen.

Fahrkomfort:Ein Porsche wird sicher nicht in erster Liniewegen seines Fahrkomforts gekauft. Des-halb liegt die Priorität im Zielkonflikt vonKomfort und Fahrdynamik eindeutig aufFahrleistungen, Beherrschbarkeit und Fahr-spaß. Wo bezüglich dieser Punkte keineoder nur untergeordnete Zugeständnissenötig sind, wird aber auch bei Porsche„kompromisslos“ auf Fahrkomfort abge-stimmt.

Belastbarkeit, Dauerhaltbarkeit:Zuverlässigkeit ist für Porsche traditionellein äußerst wichtiges Thema. Schließlichhat das Unternehmen seine größten sport-lichen Erfolge bei Langstreckenrennen er-zielt.

Alltagstauglichkeit:Ein Porsche muss seinem Fahrer unter allenUmgebungsbedingungen zur Verfügungstehen. Im Winter und auf regennasserStraße muss er auch bei zügiger Fahrweiseleicht beherrschbar bleiben. Keine Abstri-che sind für die Fahrbarkeit im Alltagsver-kehr zu machen.

Preiswürdigkeit:Für ein Topmodell von Porsche können dieKosten kein Grund sein, eine für den Kun-den bessere Technik zu verwerfen. Den-noch ist es auch für unsere Ingenieure einewichtige Aufgabe, die beste Lösung mit an-gemessenem finanziellem Aufwand darzu-stellen.

TitelthemaFahrdynamik des Porsche 911 Turbo

Umweltverträglichkeit:Hochleistung ist heute nur noch im Ver-bund mit hoher Umweltverträglichkeit zuverantworten. Im Bereich der in diesem Ar-tikel beschriebenen Baugruppen bedeutetdas vor allem Leichtbau, Minimierung vonReibungsverlusten, sowie Verwendungleicht recyclierbarer Materialien.

Passive Sicherheit:Im Verbund mit der Karosserie haben dieAchsbauteile und der Antriebstrang in ho-hem Maß Einfluss auf das Crash-Verhalten.Für die Optimierung des Gesamtfahrzeugsist dies eine wichtige Voraussetzung, umbei geringst möglichem Gewicht einHöchstmaß an passiver Sicherheit zu errei-chen.

1.2 Technische Ziele

Geringe Bauteilgewichte:Geringes Gewicht an sich wird wohl nurvom technisch interessierten Kunden ho-noriert. Seine Bedeutung als Entwicklungs-ziel erhält das Gewicht durch die Beeinflus-sung der Primärziele Fahrleistung, Agilitätund Umweltverträglichkeit.

Kompakte Bauteilabmessungen:Ein Sportwagen mit guter Ausstattung lässtsich nur dann in kompakten Abmessungenrealisieren, wenn auch die Größe der ein-zelnen Komponenten minimiert wird.

Einfacher Aufbau:Die Zuverlässigkeit des Gesamtsystems istunmittelbar ein Produkt der Zuverlässig-keit seiner Teile. Daraus folgt, dass siedurch einfache, aber wirkungsvolle Syste-me entscheidend erhöht wird.

Hoher Wirkungsgrad, geringe Verluste:Diese Eigenschaften sind wichtig für dieRealisierung überlegener Fahrleistungenund zur Ressourcenschonung. Im Hinblickauf die beschriebenen Baugruppen kanndarauf generell durch Leichtbau, außerdemdurch Optimierung in den Bereichen desAllradantriebs, der Gelenkwellen und La-ger, der Servounterstützungen und durchdie Reifen Einfluss genommen werden.

2 Systementscheidungen

Mit der Festlegung der Grundparameterund der Auswahl der einzelnen Baugrup-pen und Systeme wird der entscheidendeGrundstein für die Fahrzeugeigenschaftengelegt. Ein stimmiges Gesamtkonzept hilftspäter bei der praktischen Auslegung.

2.1 Aerodynamik

Für ein Fahrzeug, dessen Höchstgeschwin-digkeit bei über 300 km/h liegt, hat die Ae-rodynamik entsprechend hohen Einflussauf die Fahreigenschaften. Als wichtigsteForderung der Fahrdynamik an die Aerody-namik wurden die folgenden Auftriebsbei-werte ins Lastenheft aufgenommen:

cAV = 0,02 cAH = -0,01

Damit wird ein insgesamt sehr geringer Auf-trieb mit leichter aerodynamischer Unter-steuertendenz über der Fahrgeschwindig-keit beschrieben. Für die Verwirklichung derfahrdynamischen Ziele im Konflikt vor al-lem mit Luftwiderstand, Aggregatekühlungund Alltagstauglichkeit (Böschungswinkel,Bodenfreiheit) waren umfangreiche Opti-mierungen notwendig. Dass diese Vorgabenumgesetzt werden konnten, hat großen Ein-fluss auf die hervorragende Stabilität imHochgeschwindigkeitsbereich.

2.2 Antrieb

2.2.1 Entscheidung für Allradantrieb

Schon der Carrera 2 hat aufgrund seinesHeckmotorkonzepts eine hervorragendeTraktion. In Fahrzeugen mit hoher An-triebsleistung wirkt sich der Allradantriebdennoch traktionssteigernd aus. Nochwichtiger ist der Fahrsicherheitsgewinndurch die verbesserte Stabilität unter Lastim Kurvengrenzbereich – vor allem auf re-gennasser oder schneebedeckter Straße –sowie der bessere Geradeauslauf und dieallgemein höhere Gierstabilität auch beihohen Fahrgeschwindigkeiten.

Über 30 Prozent aller 911-Käufer entschei-den sich für den Carrera 4. Im Vergleich zuden Allradvarianten von Fahrzeugen ande-rer Hersteller handelt es sich damit bei Por-sche um einen außergewöhnlich hohenWert. Dies zeigt deutlich, dass die aufge-zählten Pluspunkte von unseren Kundennachvollzogen und anerkannt werden.

2.2.2 Systemauswahl

Mit den vorgegebenen Randbedingungendes 911 Konzeptes (Heckmotor, hoher Hin-terachslastanteil, deutliche dynamischeAchslastverlagerung durch hohes Be-schleunigungspotential) wurden aufbau-end auf den reichen Erfahrungen mit All-radkonzepten im Haus Porsche verschiede-ne Varianten bewertet. AllradspezifischeNachteile wie Gewichtserhöhung und Wir-kungsgradverlust sollten wie schon beimVorgängerfahrzeug minimal bleiben. Die

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beim 911 Carrera 4 Modelljahr 1989-93 ein-gesetzte Lösung mit Mittendifferential undgesteuerten Sperren zeichnet sich vor allemdurch gute Traktion aus, erreicht aber –durch die feste Momentenverteilung zwi-schen den Achsen, bei gleichzeitig starkschwankender dynamischer Radlastvertei-lung nicht immer ideale Fahreigenschaf-ten. Weitere Nachteile sind das vergleichs-weise hohe Gewicht und der nötige techni-sche Aufwand.

Hang-on-Lösungen, bei denen die Sekun-därachse über ein Element zur schlupfab-hängigen Momentenübertragung an dievom Motor angetriebene Achse „an-gehängt“ wird, haben die prinzipielle Ei-genschaft, dass die direkt angetriebeneAchse stets mit größerem Antriebsschlupfläuft und so der Charakter des Basisfahr-zeugs erhalten bleibt, [1]. Bei Übertragungs-elementen mit einer geeigneten Kennliniesind prinzipiell keine weiteren Zusatzein-richtungen wie zum Beispiel Sperren not-wendig. Dies ermöglicht einen einfachenSystemaufbau.

Die Viscokupplung mit ihrer differenzdreh-zahlabhängigen Kennlinie und als im Feldbewährtes Bauteil eignet sich bei der gege-benen Aufgabenstellung besonders gut alsElement für die Momentenübertragung andie Vorderachse. Aufgrund der in 3.1.1. be-schriebenen schlupfabhängigen Drehmo-mentübertragung der Viscokupplung läuftdie direkt angetriebene Achse im Beschleu-nigungsfall immer mit, gegenüber der überdie Viscokupplung angehängten Achse,höherem Radschlupf. Dies führt je nach Rei-fencharakteristik zu Einbußen in der Trak-tion.

Gesteuerte Lamellenkupplungen sinddurch Anpassung der Kennlinie in der Lage,diesen Zielkonflikt zwischen Traktion undFahrdynamik aufzulösen. Ein weiterer Vor-teil ist es, dass die Kupplung fahrsituations-abhängig getrennt werden kann. Anderer-seits erfordern gesteuerte Kupplungendeutlich mehr Aufwand, Gewicht und Bau-raum.

Bei der Wahl zwischen diesen Konzeptenwurde die Priorität bewusst auf eindeuti-ges Eigenlenkverhalten und optimalesHandling gelegt.

Neben dem einfacheren Aufbau hat die Vis-co-Kupplung gegenüber den gesteuertenLamellenkupplungen den Vorteil einesdeutlich weicheren Eingriffverhaltens. Diesliegt am hydrodynamischen Prinzip und ander kontinuierlichen Momentenübertra-

gung, die keine harte Reaktion auf eine er-kannte Regelabweichung erfordert. Da auf-grund des Antriebskonzepts und der da-durch bedingten geringeren Vorderachslastnur verhältnismässig kleine Momente andie Vorderräder übertragen werden müs-sen, kann die Visco-Kennlinie sehr weichausgelegt werden. Somit ist das bei gesteu-erten Lamellenkupplungen mögliche Tren-nen des Kraftschlusses – um die Verträg-lichkeit mit Fahrwerkregelsystemen sicher-zustellen – für die Auswahl ohne Bedeu-tung.

Schon der aktuelle Carrera 4 war aufgrundder beschriebenen Vorteile von Beginn anmit dem System Visco Hang-On Allrad aus-gerüstet worden. Nach den guten Erfahrun-gen wurde auch für den neuen Turbo dieÜbernahme des Allradantriebs vom Car-rera 4 beschlossen.

2.3 Fahrwerk

Mit dem Ziel, später möglichst viele Gleich-teile einsetzen zu können, war der Turboschon bei der Entwicklung des Carrera 2und 4 sowohl bezüglich der Betriebsfestig-keit als auch kinematisch berücksichtigtworden. Änderungen waren deshalb nuraufgrund des geänderten Package, für diehydraulische Kupplungsunterstützung, so-wie zur Optimierung der Fahrdynamik ge-plant.

2.3.1 Package

Das neue, auf dem Porsche GT1 basierendeAntriebsaggregat, das neue Automatgetrie-be, sowie die aus Packagegründen andereAggregatlage machten Änderungen anFahrwerksbauteilen notwendig. Hinzukam der Aufwand für die schon beim Vor-gänger eingesetzte hydraulische Kupp-lungsverstärkung, die auch bei den hohenzu übertragenden Motormomenten ange-nehm niedrige Pedalkräfte sicherstellt.

Folgende Umfänge waren deshalb zu über-arbeiten (vergl. [4], [5]):

Achsbauteile und Aggregatlagerung:– Neuer Hinterachsquerträger mit ausrei-

chendem Freigang zum neuen Antriebs-aggregat

– 4-Punkt- statt 3-Punkt-Lagerung des An-triebsaggregates mit vollkommen neu-er Getriebelagerung und modifizierterMotorlagerung.

Hydraulik:– Komplett neue Verlegung aller Len-

kungs- und Kupplungsleitungen imHinterwagen, bedingt durch die andere

Lage des Antriebsaggregats und der Ne-benaggregate

– Tandem- statt Flügelzellenpumpe undein neuer Ölbehälter mit integrierterSpeicherladeeinheit für die hydrauli-sche Kupplungsverstärkung.

2.3.2 Optimierung der Fahrdynamik

Zur Verwirklichung der anspruchsvollenfahrdynamischen Ziele waren folgende Än-derungen erforderlich:

Kinematik/Elastokinematik:– Optimierung der Hinterachse – im Rah-

men des Gleichteilkonzeptes mit Car-rera und Carrera 4 – in Verbindung miteiner deutlichen Spurweitenerhöhung –nur geringfügige Erhöhung der VA-Spurweite gegenüber dem Carrera, umden guten Geradeauslauf und die Un-empfindlichkeit gegenüber Lenkungs-störungen beizubehalten.

Federn/Dämpfer/Stabilisatoren:– Neuabstimmung der Federn, Dämpfer,

Stabilisatoren und Zusatzfedern unterBeibehaltung der konstruktiven Haupt-maße

– Auslegung auf gleiche Fahrzeughöhenan Vorder- und Hinterachse wie beimCarrera mit Sportfahrwerk.

Räder:– Breitere Hinterachs-Bereifung zur Er-

höhung der Fahrstabilität – 18"- statt 17"- Winterräder.

Da die fahrdynamisch maßgebliche An-triebsmomentenverteilung durch den Vis-co Hang-on-Allrad nicht nur von der Visco-Kennlinie und vom Schlupf, sondern auchvon den Abrollumfangsdifferenzen zwi-schen Vorder- und Hinterrädern abhängt,müssen die dynamischen Abrollumfängeder Reifen im Betrieb eng toleriert werden.

Bremsen:– Anpassung der Dimensionierung der

Bremsscheiben und der – erstmals imBoxster und Carrera ab 1996 aus derRenntechnik in Serie übernommenen –Aluminium-Monobloc-Festsattelbrem-sen an die höheren Fahrleistungen

– Optimierung der Bremsenbelüftungdurch aerodynamische Maßnahmenam Vorderachsradträger und am Brem-senschutzblech.

2.4 Fahrwerkregelsysteme

Das Porsche Stability Management (PSM)kann nur Aufsatz auf ein einwandfreiesGrundfahrverhalten sein. Bei gelungener

Titelthema Fahrdynamik des Porsche 911 Turbo

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Titelthema Fahrdynamik des Porsche 911 Turbo

Auslegung soll das PSM-System nach unse-rer Philosophie wie eine „Fangleine“ funk-tionieren, die der Fahrer im Normalfallnicht bemerkt, die ihn aber bei Überschrei-ten des Grenzbereichs sicher auffängt. Da-mit dieser Schutz so funktioniert, darf dasRegelsystem bei sauberer, sportlicher Fahr-weise nicht eingreifen. Sonst wird der Fah-rer versucht sein, das System bei forcierterFahrt passiv zu schalten und so – um beidem Bild der „Fangleine“ zu bleiben – diesebewusst zu kappen.

Um allen Fahrerwünschen gerecht zu wer-den, ist es möglich, das System über einenTaster in der Mittelkonsole passiv zu schal-ten. Dem ambitionierten Fahrer wird damitdie Möglichkeit gegeben, in Ausnahmefäl-len selbst die Verantwortung für die Stabi-lität seines Porsche zu übernehmen. Umauch in diesem Zustand eine Unterstüt-zung zu bieten, wird das System beimBremsen wieder aktiv geschaltet. Dem liegtdie Überlegung zugrunde, dass die natürli-che Reaktion den Fahrer in einer kritischenFahrsituation auf die Bremse treten lässt.Abgesehen davon wird die Passivschaltungmit Ausschalten der Zündung gelöscht, dasheißt, PSM ist beim nächsten Starten auto-matisch wieder aktiv.

Zusammenfassend ergeben sich für einFahrwerkregelsystem bei Porsche folgendeAnforderungen:– Basis muss ein auf alle Fahrsituationen

perfekt abgestimmtes Fahrwerk sein. – Bei Überschreiten des dadurch definier-

ten hohen Grenzbereichs soll das PSMdem Fahrer durch präzise Korrekturenhelfen.

Die Unterstützung soll den Anforderungendes Fahrers entsprechen. Unter optimalenBedingungen auf trockener Straße wird eingeübter, verantwortungsvoller Fahrer imöffentlichen Straßenverkehr den sehr hochliegenden Grenzbereich nur selten ohneVorsatz überschreiten. Anders sieht es mitden oft unvorhersehbaren Gefahren aufnasser oder eis- bzw. schneeglatter Fahr-bahn aus. Um den Fahrer in solchen Situa-tionen wirkungsvoll zu unterstützen, solldas Regelsystem in diesen Fällen generellempfindlicher eingreifen.

3 Entwicklungsschwerpunkteund -ergebnisse

3.1 Allradantrieb

Das Vorderachsgetriebe, wie in Bild 1 dar-gestellt, wurde vom Carrera 4 übernom-

men und besteht aus Ausgleichsdifferenti-al, Achsübersetzung, Viscokupplung undAntriebswelle.

3.1.1 Viscokupplung [2]

Kennlinie:Die Charakteristik der gewählten Visco-kupplung wird durch das in Bild 2 gezeigtedreidimensionale Kennfeld beschrieben.Zur Ermittlung dieses Kennfeldes auf demPrüfstand wurde die umgebende Getrie-beöltemperatur bei 20 °C konstant gehal-ten. Neben dem degressiven Verlauf überder Differenzdrehzahl erkennt man deut-lich den versteifenden Einfluss der Absolut-drehzahl, die proportional zur Fahrge-schwindigkeit verläuft. Rechts ist dasKennfeld bei einer Öltemperatur von 100 °Cdargestellt. Es zeigt insgesamt eine Ver-schiebung zu niedrigeren Viscomomentenbei prinzipiell gleichem Verlauf.

Auslegung und Einflüsse:Die Übertragung von Antriebsmomentenführt entsprechend der Reifenlängskraft-charakteristik zu Schlupf zwischen Reifenund Straße.

Schlupfunterschiede zwischen Vorder- undHinterachse wirken sich als Differenzdreh-zahl an der Viscokupplung aus. Die Visco-kupplung überträgt infolge dieser Diffe-renzdrehzahl entsprechend ihrer Kennungdas Moment von der schneller zur langsa-mer drehenden Seite – wegen der direkt an-getriebenen Hinterachse also zur Vorder-achse.

Die Beeinflussung des Momentenanteils ander Vorderachse und damit der Traktionund der Fahreigenschaften erfolgt über dieWahl der Viscocharakteristik. Der Moment-anteil an der Vorderachse ist keine festeGröße, sondern ist abhängig

– von der Gesamtzugkraft, Bild 3:Im Bereich niedriger Antriebskräfteführt bereits das sehr geringe Grund-reibmoment der Viscokupplung (etwa4 Nm) zu einem hohen Momentanteil ander Vorderachse. Die mit der Diffe-renzdrehzahl degressiv ansteigende Vis-cokennlinie, Bild 2, bewirkt einen abfal-lenden Verlauf, da das Hinterachsmo-ment entsprechend der Reifencharakte-ristik bis zum Durchdrehen der Räder

Bild 1: Vorderachsgetriebe

Figure 1: Front wheel drive

Bild 2: Kennfeld der Viscokupplung

Figure 2: Viscous clutch mapping

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annähernd linear anwächst. Bei hohen Antriebskräften mit durchdrehendenHinterrädern fällt das übertragbare Mo-ment an der Hinterachse ab, währenddie Differenzdrehzahl an der Viscokupp-lung anwächst. Somit steigt das Vorder-achsmoment – und damit der Anteil derVorderachse – bis zum Umfangskraft-maximum der Vorderräder weiter an.Diese Steigerung ist in Bild 3 nur bei derKurve für verschneite Straße zu sehen,da beim 911 die Traktion der Hinterachseauf höheren Reibwerten so gut ist, dassdie Hinterräder im 2. Gang nicht mehrdurchdrehen.

– vom Reibwert der Fahrbahn:Der Momentenanteil der Vorderachsesteigt mit fallendem μ, weil das an derHinterachse übertragbare Moment abfälltund das Vorderachsmoment durch denhöheren Hinterachsschlupf anwächst.

– von der Änderung der Getriebeöltempe-ratur: Die Viscofluidviskosität sinkt mit stei-gender Temperatur, dadurch reduziertsich der Vorderachsanteil.

– von der Fahrzeuggeschwindigkeit:Durch die Zentrifugalbeschleunigungerhöht sich der innere Druck in der Vis-cokupplung und versteift dadurch dieKennlinie. Dies führt zum Anstieg desübertragbaren Moments.

– von der Abrollumfangdifferenz zwi-schen Vorder- und Hinterrädern:

Wie oben erwähnt, überträgt die Visco-kupplung das Moment von der schnellerzur langsamer drehenden Seite. Somitführen auch Unterschiede in den dyna-mischen Abrollumfängen an Vorder-und Hinterachse zu einer Momenten-übertragung. Dies wurde bei der Reifen-entwicklung durch stark eingeschränktezulässige Toleranzen berücksicht. Diedynamischen Abrollumfänge ändernsich durch Verschleiß nur geringfügig.

Vereinfacht lässt sich der Arbeitsbereichder Viscokupplung als Momentenanteil ander Vorderachse über der Fahrzeugge-

schwindigkeit darstellen, Bild 4. Es wird beiKonstantfahrt auf trockener oder nasserFahrbahn schnell ein hoher Vorderachsan-teil erreicht, der bei Ausnutzung der Be-schleunigungsreserven im unteren Ge-schwindigkeitsbereich stark zurückgeht.Dadurch wird die gewünschte Agilität er-reicht.

Mit zunehmender Geschwindigkeit steigtauch bei Vollastbeschleunigung der Vor-derachsanteil an. Ursache hierfür ist der beifallender Gesamtzugkraft anwachsendeVorderachsanteil sowie die erwähnte Ver-steifung der Viscokupplung über der stei-genden Absolutdrehzahl.

Beim Fahren auf Schnee und Eis liegt we-gen des dabei auftretenden höherenSchlupfs an der Hinterachse der Momen-tenanteil der Vorderachse für die Konstant-fahrt grundsätzlich über dem für die trocke-ne Straße. Beim Beschleunigen mit höhererLast neigen die Hinterräder zum Durchdre-hen. Dies führt zum Anstieg des Momentsan der Vorderachse.

Die in 2.2.2 angesprochene Verträglichkeitmit den Fahrwerksregelsystemen und demABS ist mit der gewählten Viscokupp-lungscharakteristik uneingeschräkt gege-ben.

3.1.2 Humpauslegung [3]

Mit „Hump“ wird der Anstieg der Visco-kennlinie bezeichnet, wenn bei hohen Vis-cofluidtemperaturen die Luftanteile imFluid gebunden sind und nicht mehr alskompressibles Medium zur Verfügung ste-hen.

Bild 3: Momentenanteil der Vorderachse bei 50 km/h

Figure 3: Front axle torque rate at 50 km/h

Bild 4: Momentenanteil der Vorderachse über der Fahrgeschwindigkeit

Figure 4: Front axle torque rate versus driving speed

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Titelthema Fahrdynamik des Porsche 911 Turbo

Bild 5 zeigt einerseits die bei Fahrversuchenaufgetretenen Beanspruchungen und an-dererseits die am Prüfstand ermittelten Zei-ten, bis der Hump eintritt.

Der Abstand der Belastungskurve zurHumpgrenze zeigt, dass im praktischenFahrbetrieb kein Hump auftritt.

Die Humpcharakteristik wird lediglich alsEigenschutz der Viscokupplung im Miss-brauchsfall genutzt.

3.1.3 Wirkungsgrad

Um einen günstigen Gesamtwirkungsgradund damit optimale Fahrleistungen undgünstigen Kraftstoffverbrauch zu errei-chen, müssen die Zusatzverluste durch denAllradantrieb möglichst gering ausfallen.

Der Einsatz der Visco-Hang-on-Technikkommt dem sehr entgegen, da das Vorder-achsgetriebe nur um die Viscokupplung er-gänzt wird, die durch ihre glatte, rotations-symmetrische Oberfläche wenig Steige-rung der Pantscharbeit und keine zusätzli-chen lastabhängigen Verluste erzeugt.

Darüber hinaus wurde das Differential desVorderachsgetriebes in Rillenkugellagerngelagert, um die hohen Schleppverlusteherkömmlicher Kegelrollenlager zu ver-meiden. Ebenso trägt das geringe Ölvolu-men von 1,5 Litern im Vorderachsgetriebezum verlustarmen Lauf bei. Die Schlepplei-stungskurve des Allradantriebsstrangs istin Bild 6 im Vergleich zum Heckantriebsge-triebe und zu einer Variante mit Mittendif-ferential und Lamellensperre dargestellt.

Die Verluste, die in der Viscokupplungselbst auftreten, können nur schwer quan-tifiziert werden, weil sie je nach Fahrbedin-gung und Straßenverhältnissen oder Rei-fenzustand stark variieren.

Zur Beurteilung der Größenordnungen un-ter winterlichen Straßenbedingungen ist inBild 7 die Auswertung einer etwa 50 kmlangen Messfahrt dargestellt. Aufgetragenist das gemessene Viscomoment über derDifferenzdrehzahl. Da die Viscoverlustesich aus Moment und Drehzahl errechnenlassen, ist ein guter Überblick möglich. Dermaximale Verlust betrug 4,3 kW, der durch-schnittliche 0,65 kW. Addiert man diesenWert zu den Schleppverlusten, so ergibtsich ein äußerst geringer Gesamtverlust.

Der Mehrverbrauch durch die Allradkompo-nenten (Wirkungsgrad und Gewicht) fälltmit 0,2 bis 0,3 L / 100 km im NEFZ (neuer eu-ropäischer Fahrzyklus) sehr gering aus.

Bild 5: HumpkennfeldFigure 5 Hump mapping

Bild 6: Schleppleistungsvergleich

Figure 6: Comparison of drag power levels

Bild 7: Belastung der Visco-Kupplung im Fahrbetrieb

Figure 7: Driving loads on the viscous clutch

TitelthemaFahrdynamik des Porsche 911 Turbo

3.1.4 Gewicht

Das geringe Gesamtgewicht wird durcheine Vielzahl von Maßnahmen erreicht:– Das Hinterachsgetriebe wird lediglich

durch einen zusätzlichen vorderen An-triebsflansch ergänzt.

– Die nahezu stoßfreie Momentübertra-gung durch die Viscokupplung ermög-licht eine dünnwandige Kardanwelle,ein kleines und kompaktes Vorderachs-getriebe mit einem Tellerraddurchmes-ser von 140 mm sowie dünne Gelenk-wellen zu den Vorderrädern.

– Die Vorderachskonstruktion mit Lang-halsrohr erlaubt eine einteilige Kardan-welle ohne Zwischenlagerung.

– Auf hydraulische oder sonstige Zusatz-einrichtungen konnte verzichtet wer-den.

In Summe wurde das Allradsystem auf-grund des Leichtbaukonzepts mit nur 55 kgZusatzgewicht realisiert, Bild 8.

Literaturhinweise

[1] H. Leinfellner, H. Lanzer, D. Sommer: Allradsys-teme im Vergleich, Aachener Kolloquium„Fahrzeug- und Motortechnik“ – Oktober 1987

[2] G. Herrmann, H. Taureg: Konzeption und Aus-legung der Viscokupplung, Fa.Viscodrive

[3] Taureg, J. Horst: Induzierte Drehmomentver-stärkung in Visco-Kupplungen, Fa. Viscodrive

[4] P. Hentschel, G. Wahl,: Das Fahrwerk des Por-sche Boxster. In: Sonderausgabe ATZ/MTZ, Por-sche Boxster S 34 – 50

[5] G. Wahl, H. Rohardt, O. Gütelhöfer: Die aktiveSicherheit des neuen 911 Carrera. In: Sonder-ausgabe ATZ/MTZ, Porsche Carrera, S 32 – 43

[6] Bosch Research Info, Ausgabe 1/1998 „Wernicht schleudern will, braucht diesen Sensor“

Bild 8: Mehrgewichtdurch Allradantrieb

Figure 8: Weight increasethrough AWD system

Der neue 911 Turbo wurde im Teamentwickelt. Die Autoren danken hiermitallen am Projekt beteiligten Kollegen fürdie gute Zusammenarbeit.