die entdeckung der unmöglichkeit einer kritischen theorie gesellschaftlicher naturverhältnisse...

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NATURVERHÄLTNIS DISKURS KRITIK SOZIALE KONSTITUTION ÖKOLOGIE SOZIALE ÖKOLOGIE NATURALISMUS KULTURALISMUS SYSTEM MODELL ANTHROPOLOGIE PHILOSOPHIE PROJEKT EMPIRIE THEORIE TRANSDISZIPLINARITÄT INTERDISZIPLINARITÄT GESELLSCHAFT NATUR KAPITALISMUS AKTEUR PROBLEM Institut für sozial-ökologische Forschung ISOE-Materialien Soziale Ökologie 45 Bernhard Helmut Schmincke, Egon Becker Die Entdeckung der Unmöglichkeit einer kritischen Theorie gesellschaftlicher Naturverhältnisse durch Thomas Gehrig

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Schmincke, Bernhard Helmut/Egon Becker (2015): Die Entdeckung der Unmöglichkeit einer kritischen Theorie gesellschaftlicher Naturverhältnisse durch Thomas Gehrig. ISOE-Materialien Soziale Ökologie, Nr. 45. Frankfurt am MainIn dem vorliegenden Text wird die „Kritik des ökologischen Diskurses“ analysiert, die von Thomas Gehrig in einem monumentalen zweibändigen Werk vorgetragen wird. Darin kritisiert er fundamental die wissenschaftliche Bearbeitung des Themas in der Sozialen Ökologie. In seiner Studie zieht er 107 Texte von Autorinnen und Autoren aus dem ISOE heran, die in einem Zeitraum von 35 Jahren entstanden sind. Anhand dieser Texte versucht er seine zentralen Thesen zu beweisen: Der ökologische Diskurs lenke von der notwendigen radikalen Kapitalismuskritik ab und treibe die Modernisierung des kapitalistischen Systems voran; eine kritische Theorie der gesellschaftlichen Naturverhältnisse lasse sich philosophisch nicht begründen und sie sei wissenschaftlich unmöglich. Den Maßstab seiner Kritik entnimmt Gehrig der frühen Kritischen Theorie sowie einem von der marxistischen Interpretationsgeschichte gereinigten Marx. In der vorliegenden Analyse wird die aus einer soziologischen Dissertation hervorgegangene Studie als Dokumentation eines politischen Prozesses und eines pseudowissenschaftlichen Tribunals über die Soziale Ökologie detailliert rekonstruiert und dabei gezeigt, wie das von dem Autor beanspruchte Verfahren einer radikalen Kritik funktioniert. Diskutiert wird auch, was aus dem Gehrig’schen Werk dennoch für die Weiterarbeit am theoretischen Programm der Sozialen Ökologie zu lernen ist.

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  • NATURVERHLTNIS

    DISK

    URS

    KRITIKSOZIALE KONSTITUTION

    KOLOGIE

    SOZIALE KOLOGIENATURALISMUS

    KULTURALISMUS

    SYST

    EM

    MOD

    ELL

    ANTHROPOLOGIE

    PHILOSOPHIE

    PROJEKT

    EMPI

    RIE

    THEO

    RIE

    TRANSDISZIPLINARITT

    INTERDISZIPLINARITTGESELLSCHAFT

    NATUR

    KAPITALISMUS

    AKTEUR PROBLEM

    Institut frsozial-kologische

    Forschung

    I S O E - M a t e r i a l i e n S o z i a l e k o l o g i e 45

    Bernhard Helmut Schmincke, Egon Becker

    Die Entdeckung der Unmglichkeit einer kritischen Theorie gesellschaftlicher Naturverhltnisse durch Thomas Gehrig

  • ISOE-Materialien Soziale kologie, Nr. 45 ISSN 1614-8193 Die Reihe ISOE-Materialien Soziale kologie setzt die Reihe Materialien Soziale kologie (MS) (ISSN: 1617-3120) fort.

    Bernhard Helmut Schmincke, Egon Becker

    Die Entdeckung der Unmglichkeit einer kritischen Theorie gesellschaftlicher Naturverhltnisse durch Thomas Gehrig

    Titelbild: ISOE Herausgeber: Institut fr sozial-kologische Forschung (ISOE) GmbH Hamburger Allee 45 60486 Frankfurt am Main

    Frankfurt am Main, 2015

  • Zu diesem Text

    In dem vorliegenden Text wird die Kritik des kologischen Diskurses analysiert, die von Thomas Gehrig in einem monumentalen zweibndigen Werk vorgetragen wird. Darin kritisiert er fundamental die wissenschaftliche Bearbeitung des Themas in der Sozialen kologie. In seiner Studie zieht er 107 Texte von Autorinnen und Autoren aus dem ISOE heran, die in einem Zeitraum von 35 Jahren entstanden sind. Anhand dieser Texte versucht er seine zentralen Thesen zu beweisen: Der kologische Diskurs lenke von der notwendigen radikalen Kapitalismuskritik ab und treibe die Moderni-sierung des kapitalistischen Systems voran; eine kritische Theorie der gesellschaftli-chen Naturverhltnisse lasse sich philosophisch nicht begrnden und sie sei wissen-schaftlich unmglich.

    Den Mastab seiner Kritik entnimmt Gehrig der frhen Kritischen Theorie sowie ei-nem von der marxistischen Interpretationsgeschichte gereinigten Marx. In der vorlie-genden Analyse wird die aus einer soziologischen Dissertation hervorgegangene Stu-die als Dokumentation eines politischen Prozesses und eines pseudowissenschaftli-chen Tribunals ber die Soziale kologie detailliert rekonstruiert und dabei gezeigt, wie das von dem Autor beanspruchte Verfahren einer radikalen Kritik funktioniert. Diskutiert wird auch, was aus dem Gehrigschen Werk dennoch fr die Weiterarbeit am theoretischen Programm der Sozialen kologie zu lernen ist.

    About this text

    Recently, the sociologist Thomas Gehrig has published his monumental two-volume opus critique of the ecological discourse. In a fundamental manner he criticized how the issue is treated within Social Ecology. This opus is analyzed in the text presented here. In his study Gehrig refers to 107 articles and books published by authors from ISOE in a period of 35 years. By means of these texts he tries to substantiate his central thesis: the ecological discourse distracts from the necessary radical critique of capitalism and promotes the modernization and green-washing of the destructive capitalist system; philosophically it would be impossible to justify a critical theory of societal relations to nature and therefore for him such a theory turns out to be im-possible.

    Gehrig borrowed the criterion for his criticism from the early critical theory as well as from a Marx purified from the history of Marxist interpretations. In the analysis at hand the opus of Gehrig, emanating from a sociological dissertation, is reconstructed in detail as the documentation of a political trial and a pseudoscientific tribunal against Social Ecology. The functioning of the procedure of a radical Marxist critique claimed by the author is pointed out. Nevertheless, the analysis is discussing what can be learned from Gehrigs opus for further research within the theoretical program of Social Ecology.

  • Inhalt

    Vorbemerkungen ................................................................................................................................... 5

    1 Eine politisch-wissenschaftliche Kritik des kologischen Diskurses ............................ 8

    1.1 Kritik als Anklage ....................................................................................................................... 9

    1.2 Politischer Prozess und wissenschaftliches Tribunal ..................................................... 12

    1.3 Politische Ignoranz und theoretischer Dogmatismus ...................................................... 16

    2 Der politische Prozess gegen die Frankfurter Soziale kologie .................................... 18

    2.1 Die Hauptanklage .................................................................................................................... 20

    2.2 Der politische Urteilsspruch ................................................................................................. 22

    3 Ein fiktiver Schauprozess als akademisches Theater ..................................................... 28

    4 Das paradoxe Tribunal ber die Wissenschaftlichkeit der Sozialen kologie ........... 35

    4.1 Die Strategie der Prozessfhrung........................................................................................ 36

    4.2 Das Diskursverstndnis in der Anklageschrift .................................................................. 37

    4.3 Transzendente und immanente Kritik ................................................................................. 42

    4.4 Exkurs: Kant im Zeugenstand oder was ist der kritische Weg? ............................. 43

    5 Die Konstruktion eines Textes, eines kollektiven Autors und einer Geschichte ........ 47

    5.1 Eine Funote zu 3673 Funoten ............................................................................................ 48

    5.2 Die Vorbereitung der Anklage durch drei Konstruktionen.............................................. 49

    5.3 Die Kritikpunkte als ideologisch verzerrte Hinweise auf Defizite der Sozialen kologie .................................................................................................................... 59

    6 Beweisaufnahme: die Wissenschaftlichkeit der Sozialen kologie ............................ 60

    6.1 Theorie und Praxis: Pragmatismus und politischer Dezisionismus? ............................ 61

    6.2 Erkenntniskritik und Wahrheitsfrage: Flucht vor theoretischer Reflexion?................. 65

    6.3 Gesellschaftstheorie: Sozial-kologische Begrndungsschwchen? ......................... 69

    6.4 Naturalismus: Die Naturwissenschaften als falsches Vorbild? .................................... 71

    6.5 Systemdenken: Siegeszug einer hegemonialen wissenschaftlichen Praxis? ............ 76

    6.6. Kritische Theorie: Missverstndnisse und imagebildendes Etikett? ............................ 85

    6.7 Philosophische Anthropologie: Versteckter Rassismus? ............................................... 94

    7 Schlussbetrachtungen ........................................................................................................... 96

    Literatur ................................................................................................................................................. 98

  • Abkrzungen

    IfS: Institut fr Sozialforschung

    ISOE: Institut fr sozial-kologische Forschung

    PS: Projekt Soziale kologie

    ZfS: Zeitschrift fr Sozialforschung

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    Es ist aber eben nicht so was Unerhrtes, dass nach lan-ger Bearbeitung einer Wissenschaft, wenn man wunder denkt, wie weit man schon darin gekommen sei, endlich sich jemand die Frage einfallen lsst: ob und wie ber-haupt eine solche Wissenschaft mglich sei.

    Immanuel Kant (1783/1977: 114)

    Vorbemerkungen1

    Der Frankfurter Soziologe Thomas Gehrig hat in jahrelanger Arbeit ein gewaltiges Werk2 vollbracht: 962 Textseiten, verteilt auf zwei Bnde, darin 3673 Funoten, ein Literaturverzeichnis von 53 Seiten, in dem schtzungsweise 1500 vorwiegend deutsch-sprachige Bcher und Aufstze aufgelistet sind. Der Titel Zur Kritik des kologischen Diskurses erinnert an berhmte Vorbilder, spricht groe Themen an und weckt starke Erwartungen. Der Untertitel verspricht eine interessante theoretische Kontroverse ber gesellschaftliche Naturverhltnisse. Auf den ersten Blick gewinnt man den Eindruck, eine thematisch umfassende, gut strukturierte, exzellent recherchierte und auch im Detail solide belegte Arbeit vor sich zu haben, aus der wir Anregungen fr die eigene wissenschaftliche Arbeit und die sie begleitende Selbstkritik gewinnen knnen.

    Bei den beiden vorliegenden Bnden handelt es sich um die berarbeitete und erwei-terte Fassung einer Dissertation, die 2011 vom Fachbereich Gesellschaftswissenschaf-ten der Frankfurter Goethe-Universitt angenommen wurde (Gehrig 2010). Der Autor beschftigte sich mit dem Thema seit ber zwanzig Jahren, allerdings uerte er sich in dieser Zeit dazu ffentlich kaum.3 Bereits 1992 hatte er am gleichen Fachbereich unter dem Titel kologischer Marxismus? eine soziologische Diplomarbeit eingereicht (Gehrig 1992). Durch neuere, vorwiegend deutschsprachige Literatur (I, 31, FN 39) recht sparsam ergnzt, bildet diese Arbeit weitgehend den Inhalt des 1. Bandes des vorliegenden Werkes, in dem der Autor ankndigt, die kologisierung des sozialwis-senschaftlichen Diskurses zu verhandeln.

    1 Zitate aus fremden Texten werden als Text gekennzeichnet; Zitate in Zitaten als Text; Hervorhe-

    bungen von Gehrig in Zitaten: Text, eigene Hervorhebungen: Text; eigene Einfgungen in Zitaten: [Text].

    2 Gehrig, Thomas (2013): Zur Kritik des kologischen Diskurses. Eine Auseinandersetzung mit Theo-rien gesellschaftlicher Naturverhltnisse (2 Bnde). Mnster: MV-Wissenschaft Verlag. Wir zitieren den 1. Band des Werkes als I, Seitenzahl; den 2. Band als II, Seitenzahl; FN = Funotennummer auf der angegebenen Seite.

    3 Vor Abschluss des Promotionsverfahrens verffentlichte er zwei Aufstze zu Themen seiner Disserta-tion: Gehrig, Thomas (2009): Entzauberung der Entzauberung der Natur. Neueres kologisches in linken Zeitschriften. links-netz, 117; Gehrig, Thomas (2011): Der entropische Marx. Eine Bitte an den Marxismus, die Entropie-Kirche im thermodynamischen Dorf zu lassen. Prokla. 41. Jg., Nr. 4. Heft 165, 619644

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    Tatschlich verhandelt wird im 1. Band aber nur die kologisierung der konomie (u.a. an Hand der Schriften von Hans Immler, Elmar Altvater, William Kapp und Nicholas Georgescu-Roegen). Prsentiert wird hier ein Ausschnitt des Diskussions-standes in der deutschsprachigen Umweltkonomie, wie er bereits Mitte der 1990er Jahre erreicht war. Die kologischen Umorientierungen in Soziologie, Sozialgeogra-phie und Psychologie werden nur am Rande erwhnt. Themen sind: Ressourcenko-nomie, thermodynamische Gebrauchswerttheorie, Stoffstromanalysen, konomische Nachhaltigkeitsvorstellungen und Anstze eines kologischen Marxismus. ber den heutigen Stand der wissenschaftlichen Diskussion in diesen Themenbereichen erfhrt man allerdings fast nichts.4

    Sicherlich, kein Literaturberblick kann und muss vollstndig sein. Der Autor hlt das auch nicht fr ntig, denn mittels einer allgemeinen Kritik des kologischen Diskurses soll anhand ausgewhlter Beispiele die im 2. Band ausgefhrte fundamen-tale Kritik der in Frankfurt entwickelten Sozialen kologie und deren Vorstellungen von gesellschaftlichen Naturverhltnissen vorbereitet werden. Diesen Diskurs defi-niert er lapidar als Ansammlung konomischer und gesellschaftstheoretischer Err-terungen, in denen angesichts der aktuellen kologischen Krise versucht wird, die theoretischen Grundlagen der Sozialwissenschaften um das Naturproblem zu erwei-tern. (I, 22)

    Aber ist die Ansammlung von uerungen zu einem Thema bereits ein Diskurs mit bestimmten Formationsregeln, die vorzeichnen, was von wem gesagt und was nicht gesagt werden kann und soll? Und wie geht aus der heterogenen Mannigfaltigkeit themenbezogener uerungen ein kologischer Diskurs hervor? In den beiden Bn-den findet sich dazu leider nichts Substanzielles. Wir werden diesen Punkt in Teil 4 noch genauer behandeln.

    Im 2. Band werden die Soziale Naturwissenschaft (Kap. III.1), die Soziale kologie (Kap. III.2) sowie die kritische Theorie gesellschaftlicher Naturverhltnisse (Kap. IV und V) ausgiebig referiert, kommentiert und kritisiert. Wir konzentrieren uns auf diesen Band, weil der Autor hier selbst den wichtigsten Teil seiner berlegungen lo-kalisiert. Dabei richtet sich sein kritischer Blick fast ausschlielich auf Texte, die in einem Zeitraum von etwa dreiig Jahren entweder im Frankfurter Institut fr sozial-kologische Forschung (ISOE) oder in dessen Umfeld entstanden sind. Diese Ein-schrnkung begrndet er damit, dass

    dort der Anspruch erhoben wird, nicht lediglich die kologieproblematik zu einem Thema der Soziologie zu machen, sondern mit Konzepten, die das Ver-hltnis von Gesellschaft und Natur in den Mittelpunkt stellen, systematisch ber die zu dieser Zeit vorliegenden sozialwissenschaftlichen Anstze hinaus-zugehen. (I, 14f., FN 7)

    4 Die Literaturliste enthlt keinen einzigen Titel, der nach 2009 erschienen ist und auch aus den sieben

    Jahren zwischen 2003 und 2009 finden sich lediglich 50 Titel im Literaturverzeichnis, das sind unge-fhr drei Prozent (2003: 18; 2004: 8; 2005: 12; 2006: 8; 2007: 4; 2008: 1; 2009: 4).

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    Der Autor hat fleiig Texte gesammelt, ausgewertet und beurteilt.5 Keinerlei Berck-sichtigung finden die auf konkrete sozial-kologische Probleme gerichteten empiri-schen Studien des ISOE. Das ist kein Zufall und auch kein Versehen, denn zu diesen und hnlichen Projekten hat er eine dezidierte Meinung: Er glaubt, sie seien fr seine Fragestellungen irrelevant.

    Warum und wie soll man einen solchen Text lesen und interpretieren? Das ISOE muss ihn auf jeden Fall ernst nehmen, denn darin findet sich die quantitativ umfang-reichste Auseinandersetzung mit der Sozialen kologie und mit den Verffentlichun-gen einzelner Autoren.6 Vom Autor wird sein Werk als eine wissenschaftliche Arbeit prsentiert, als Darstellung der Ergebnisse seiner jahrelangen Forschungen. Das ist der Text sicherlich auch. Bei genauerem Lesen drngt sich der Eindruck auf, dass es sich um eine ausufernde Sammlung von Kommentaren, Rezensionen und Exkursen zu einem groen Thema handelt, zwischen denen kaum ein argumentativer Zusam-menhang erkennbar ist. Problemlos lassen sich Textstcke hinzufgen oder auch weglassen, der Themenvorrat ist unbegrenzt und disparat.

    Der Zusammenhang der disparaten Textstcke wurde uns erst dann deutlich, als wir herausfanden, dass das Werk zwar als wissenschaftliche Abhandlung erscheint, aber in einem politisch-juristischen Stil und mit einem forensischen Vokabular geschrie-ben ist, das dazu nicht so recht passt. Da auch durchgngig wie in einer Gerichtsver-handlung argumentiert wird, haben wir die Gehrigsche Abhandlung als juristischen Text gelesen verfasst in Form einer politisch motivierten Anklageschrift, einer Do-kumentation der Beweisaufnahme und einer durch wissenschaftliche Gutachten ge-sttzten Urteilsbegrndung in einem groen Prozess gegen die Soziale kologie. Al-lerdings handelt es sich hierbei um ein fiktives Gerichtsverfahren, in dem der Autor G. abwechselnd die Rolle des Ermittlers, des Anklgers und des Richters einnimmt. Wir versuchen dieser Fiktionalitt dadurch gerecht zu werden, dass wir das Werk als Bhnenstck eines Gerichtsverfahrens rekonstruieren. Vielleicht verkennen wir da-durch die Motive und Absichten des Autors, der darber und auch ber sich selbst kaum etwas sagt und deshalb wollen und knnen auch wir ber die Person des Autors G. und darber, was ihn zwei Jahrzehnte lang motiviert hat dieses Werk zu verfassen, nicht viel sagen.

    Um den Aussagegehalt in dem opus magnum entschlsseln, auswerten und einordnen zu knnen, haben wir seinen Text zwei verschiedenen fiktiven Gerichtsverfahren zugeordnet: einmal der Aktensammlung eines politischen Prozesses und dann auch noch der Dokumentation eines wissenschaftlichen Tribunals. Viele Aussagen in dem Gehrigschen Werk werden in der Form rigider Urteile und Feststellungen getroffen,

    5 Das Buch Soziale kologie (Becker/Jahn 2006) ist ihm dabei offensichtlich etwas in die Quere ge-

    kommen. Fr ihn ist es lediglich ein Kompendium, das keine neuen berlegungen enthlt. Auf die-ses Buch greift er hauptschlich zu dem Zweck zurck, auch darin noch einige verfngliche Zitate aufzuspren.

    6 Vgl. dazu auch die im Literaturverzeichnis separat aufgefhrten 107 Texte von ISOE-Autorinnen und Autoren, die in dem Gehrigschen Werk behandelt werden.

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    die eine kritische Sichtweise kaum mehr zulassen; in einem wissenschaftlichen Dis-kurs erzeugt aber die Kritik einer Position eine Art Gegenkritik, wodurch gleichsam eine Kette unterschiedlicher Kritiken entsteht. In einem politischen Prozess ist das anders: Hier kann die Anklage eine hermetisch geschlossene Positionen einnehmen und dadurch ein derartiges Kritikverfahren grundstzlich ausschlieen. Bei Gehrig entsteht die Hermetik schon allein dadurch, dass bei Autorenschaften nicht mehr zwischen Personen unterschieden wird, sondern an deren Stelle ein abstrakter Kol-lektivautor konstruiert wird (das ISOE oder die Soziale kologie) und unterschiedliche Formen von Theorien einer Schule auf eine Theorie (z.B. die Kritische Theorie) hin vereinheitlicht werden. Alle diese Arten von Vereinheitlichung werden gebraucht, um hermetische Gebilde fr den politischen Prozess zu erzeugen. Es bedarf allerdings einiger Mhen, die Strukturen der Hermetik freizulegen und diese als fiktionales Zweckgebilde zu dechiffrieren. Damit dies berhaupt mglich wird, haben wir ver-sucht, das Werk auch als Dokumentation eines wissenschaftlichen Tribunals zu lesen, das nach anderen Regeln und Kriterien verluft als ein politischer Prozess. Konfron-tiert man die Beweisaufnahme und die Urteilssprche beider Gerichtsverfahren, dann kann systematisch zwischen behaupteter Evidenz und stabilisiertem Vorurteil unter-schieden werden und mit der Analyse wird zugleich Aufklrungsarbeit geleistet.

    1 Eine politisch-wissenschaftliche Kritik des kologischen Diskurses

    Soziologen aber sehen der grimmigen Scherzfrage sich gegenber: Wo ist das Proletariat?

    Theodor W. Adorno (1951/1998: 221)

    Der Autor sagt, dass er sowohl im 1. als auch im 2. Band herausarbeiten mchte, welches Gesellschaftsverstndnis, welcher Naturbegriff und welche politischen Vor-stellungen die verschiedenen sozialwissenschaftlichen Thematisierungen der kologi-schen Krise leiten und ob sie diese Krise konsistent erfassen. Die entscheidende Frage ist dabei fr ihn, wie in den einzelnen Anstzen das Verhltnis von Natur und Gesellschaft konzeptualisiert wird. So spricht ein kritischer Wissenschaftler ber sich, seine Motive und seinen Fragehorizont und das weckt Erwartungen.

    hnliche Fragen wurden in den letzten Jahren aus unterschiedlichen fachlichen Per-spektiven auch innerhalb des kologischen Diskurses immer wieder gestellt und be-arbeitet7, beispielsweise drehte sich im Oktober 2006 der Soziologentag um das Ge-neralthema Die Natur der Gesellschaft (Rehberg 2008). Darauf geht der Soziologe Gehrig mit keinem Wort ein. Mit seinem Thema ist er auf jeden Fall nicht allein. W-re es ihm nur um solche Fragen gegangen, mit denen sich auch andere Wissenschaft-

    7 Hier sei nur beispielhaft verwiesen auf Brand 2014, Gro 2006, Kropp 2002, Lemke 2013.

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    lerinnen und Wissenschaftler beschftigen, dann htte er eine wissenschaftliche Stu-die verfassen mssen, deren Ansatz und Ergebnisse sich mit anderen Untersuchungen zum gleichen Thema vergleichen lassen.

    Doch es geht ihm ja um mehr: Im Zentrum seiner Untersuchung steht die politische Frage, warum das kologische Denken fr die Linken in den vergangenen Jahr-zehnten eine so groe Anziehungskraft gewonnen hat, dass sie sich sowohl von der marxistischen Theorie als auch von den traditionellen Organisationen der Arbeiter-bewegung mehr oder weniger stark distanzierten:

    Gerade fr die kapitalismuskritische Linke stellt sich die kologisierung ge-sellschaftstheoretischer Diskurse als entscheidender Einschnitt dar. Die gesell-schaftskritischen Debatten haben sich im Zusammenhang mit der Thematisie-rung der kologischen Krise verndert. Die Linke wendet sich in weiten Tei-len enttuscht von der ArbeiterInnenbewegung und damit zugleich von deren Theorietraditionen ab und der kologischen Bewegung zu. (I, 15)

    Um die Ursachen fr diese Entwicklung herauszufinden, will er in gesellschaftlicher und politischer Hinsicht die Lsungs-Vorstellungen einzelner Anstze genauer prfen, seine Befunde verallgemeinern, um so auch eine Kontrastfolie fr die Ana-lyse und Kritik der Sozialen kologie und der kritischen Theorie gesellschaftlicher Naturverhltnisse zu entwickeln. (I, 34)

    Gehrigs Kontrastfolie besteht aus einem Geflecht eng miteinander zusammenhn-gender politischer und theoretischer Absichten. Er muss sich also in seinem Werk auf jeden Fall zu dem Zusammenhang von Politik und Wissenschaft uern. Und das tut er auch: Nach seinem artikulierten Selbstverstndnis stiftet Kritik diesen Zusam-menhang. Doch was versteht er unter Kritik? Dazu finden sich zwar verstreute ue-rungen, Referenzen auf groe Vorbilder (Kant, Marx, Adorno, Horkheimer), aber wir haben bei G. keine systematische Darlegung seines eigenen Kritikverstndnisses ge-funden. Es bleibt uns daher wohl nichts anderes brig, als dieses Verstndnis aus der Textmasse herauszufiltern: wir spiegeln gewissermaen die Textmasse an dem juristi-schen Subtext als unserer Kontrastfolie.

    1.1 Kritik als Anklage

    Entsprechend seinen beiden eng verbundenen Absichten verwendet der Autor u.E. zwei verschiedene Kritikverfahren, zwischen denen er nicht unterscheidet und die in seinem Text zusammenfallen:

    a) In einer transzendenten Kritik will er beurteilen, ob in den diskutierten Anst-zen die Systemfrage (II, 580) gestellt wird, d.h. ob und wie sie mit ihren theoreti-schen und politischen Vorstellungen mehr oder weniger direkt eine berwindung des kapitalistischen Gesellschaftssystems und der brgerlichen Wissenschaft in-tendieren.

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    b) In einer immanenten Kritik der vorgestellten Anstze geht es ihm um ein Ver-stndnis der grundlegenden Begriffe sowie um die Stimmigkeit der Integration konomischer, soziologischer, biologischer und physikalischer Perspektiven. Lei-tende Fragestellung ist hier, ob und wie die soziale Konstituiertheit der Natur bercksichtigt wird und ob es gelingt, eine naturalistische Argumentation zu ver-meiden.

    Zu a: Das Verfahren transzendenter Kritik wird von einer starken These geleitet, die es dem Autor ermglicht, Kritik als politische Anklage zu formulieren. Er ist davon berzeugt, dass durch die kologie-Thematik ein (willkommenes) Ausstiegsszenario aus einer Orientierung an kritischen Theorien in der Tradition der ArbeiterInnenbe-wegung, vor allem der Marxschen Theorie (I, 11) entstanden sei. Wo innerhalb der Linken behauptet wird, die kologische Frage transzendiere das politische Rechts-Links-Schema, da werde der bergang zur politischen Affirmation (I, 27, FN 33) vorbereitet. Auch politisch werde dann radikale Gesellschaftskritik im kologischen Diskurs aufgegeben. An deren Stelle trete eine Orientierung am ideologischen wir, das die Rettung der Umwelt zur Aufgabe habe ... (I, 11)

    Unterstellt wird damit, ein Groteil der ehemals kapitalismuskritischen Linken sei theoretisch und politisch ausgestiegen, wre zu Abtrnnigen und Renegaten ge-worden, htte Verrat an der Arbeiterbewegung und deren Theorietradition begangen. Wie er zu dieser berzeugung gekommen ist, das wrde man von einem soziologi-schen Autor gerne erfahren. Warum haben so viele Linke am Leitfaden des kologie-Themas den traditionellen marxistischen Pfad der Tugend verlassen? Aus Opportu-nismus, Bequemlichkeit oder Karriereinteressen oder aus Verblendung, Unkenntnis, Unwissenheit und Dummheit? In dem vorliegenden Werk findet sich dazu leider nur wenig Erhellendes. Nicht gestellt wird bei ihm die naheliegende Frage, ob der kolo-gische Diskurs als Diskurs so verfasst ist, dass seine Formationsregeln und seine in-nere Ordnung (Foucault) eine Vernderung traditioneller Denkweisen sowohl in den Sozialwissenschaften als auch in den Naturwissenschaften erzwingen und dass auch die Marxsche Theorie unter kologischen Krisenbedingungen neu formuliert und weiterentwickelt werden muss. Dann wrde das Eintreten in den Diskurs ber die Naturfrage in der Tat einen tiefen Einschnitt auch fr das marxistische Denken bedeuten, das sich mit einer neuen theoretischen Problematik und einer neuen politi-schen Konstellation befassen msste.

    Um diese Frage des notwendigen Umdenkens angesichts der kologischen Krise ernsthaft zu stellen und zu bearbeiten, htte der Autor als Wissenschaftler u.E. eine methodisch angelegte Diskursanalyse betreiben knnen, und es wre auch leicht mglich gewesen, einzelne Diskursteilnehmer direkt nach den Grnden ihres Abwen-dens von der marxistischen Tradition zu befragen, also Sozialempirie zu betreiben. Stattdessen hat er sich darauf beschrnkt, die von ihm fleiig gesammelten ue-rungen von Sozialwissenschaftlern zum kologie-Thema politisch-normativ zu be-werten und die Abweichler von der wahren Lehre zu verurteilen.

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    Warum hat der Autor G. als berzeugter Marxist und Kenner vieler einschlgiger Texte nicht selbst versucht, die kologische Krise konsistent zu erfassen was er ja allen anderen abverlangt? Es htte dann allerdings nicht ausgereicht, standhaft zu bleiben und keinen Verrat zu begehen. Er htte sich der Diskussion stellen, im kolo-gischen Diskurs eine eigene Position einnehmen und vertreten mssen, wre an sei-nen Aussagen zur Sache gemessen worden und vermutlich htte dies auch seine theoretischen und politischen Vorstellungen stark verndert. Der Gefahr, selbst zum Abweichler zu werden, hat er sich allerdings nicht ausgesetzt.

    Es ist mig, ber die mglichen Grnde seiner Absenz zu spekulieren. Sicher ist nur, dass er an den Personen und Gruppen, die seit Jahren ernsthaft versuchen, die Krise der gesellschaftlichen Naturverhltnisse zu begreifen und zu untersuchen, nicht im Geringsten interessiert ist8, sie sind fr ihn wohl nur Textproduzenten und Charak-termasken. In den zwanzig Jahren, in denen er an seinem Opus gearbeitet hat, ist er nicht ein einziges mal ins ISOE gekommen, um mit dem Einen oder der Anderen, die er als Protagonisten der Sozialen kologie ansieht, zu sprechen, mit ihnen zu dis-kutieren und sich deren aktuelle Sicht der Dinge wenigstens einmal anzuhren.9 Dann htte er vielleicht auch herausfinden knnen, ob die allgemeine Problemsicht geteilt wird, ob es gemeinsame Interessen und theoretische Orientierungen gibt oder ob es sich hier wirklich nur um einen Besuch in Feindesland handelt. Aber der-artige direkte Kontakte und Gesprche hielt er offensichtlich nicht fr ntig, denn fr ihn war schon lange klar, dass es sich beim kologischen Diskurs um eine Form mo-derner Ideologieproduktion handelt. Einem Wissenschaftler kann man das nur schwer nachsehen, von einem Anklger ist nichts anderes zu erwarten.

    G. hat es also vorgezogen, verdeckt zu ermitteln. Als Anklger kann und muss er die Position eines externen Beobachters einnehmen, der sich einbildet, er knne von seinem Schreibtisch aus (gewissermaen nach der Aktenlage) den kologischen Dis-kurs dadurch entfalten (II, 907), dass er die bei seinen Ermittlungen in den schriftli-chen uerungen der Diskursteilnehmer gefundenen uerungen zur Sache kritisch darstellt. In der Mannigfaltigkeit der uerungen vermutet er einen gemeinsamen ideologischen Kern, der sich durch sein Zutun wie eine Frucht entfalten lsst, sodass der kologische Diskurs hervorkommt und dann von ihm kritisch prsentiert wer-den kann. In dem fiktiven Gerichtsverfahren bedeutet dies, Kritik zunchst als Vor-wurf zu formulieren und diesen schlielich zu einem Anklagepunkt zu verwenden.

    Zu b: Dann stellt sich aber die Frage, wie ein externer Beobachter berhaupt imma-nente Kritik ben kann. Was darunter zu verstehen sei, wird in der einschlgigen Literatur keineswegs eindeutig beantwortet. Zumeist wird darunter verstanden, dem

    8 Vielleicht hat er sich hier auch Marx zum falschen Vorbild genommen, der einmal bemerkte: Es

    handelt sich hier um Personen nur, soweit sie die Personifikation konomischer Kategorien sind, Trger von bestimmten Klassenverhltnissen und Interessen. (MEW 23: 16)

    9 Er hat allerdings wohl einmal schweigend an einem Workshop ber Gesellschaftliche Naturver-hltnisse teilgenommen, den das Institut fr Sozialforschung zusammen mit dem ISOE im Februar 2001 veranstaltete.

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    zu Kritisierenden gewissermaen einen Spiegel vorzuhalten, d.h. Texte mit deren eigenen Mitteln, Begriffen und Denkfiguren zu analysieren, sie also an ihren eigenen Mastben zu messen so wie oft versucht wird, die Verfassungswirklichkeit an den Verfassungsnormen zu messen. Dass dies nicht ohne interpretatorische Zutat des Beobachters mglich ist, war schon Hegel klar. (Vgl. Ritsert 2014: 15ff., Engster 2014) Auf die Frage nach der Mglichkeit einer immanenten Kritik durch einen ex-ternen Beobachter hat G. scheinbar eine klare Antwort: Bei ihm fllt immanente Kri-tik mit dem zusammen, was er in Anlehnung an Marx eine kritische Darstellung des kologischen Diskurses nennt. (I, 30) Er behauptet sogar, er habe in einer empi-rischen Arbeit (!) das Feld des kologischen Diskurses gesichtet und systematisiert, vorfindliche Anstze identifiziert, deren Traditionslinien und Bezge rekonstruiert, ihren Werdegang nachgezeichnet. (I, 11) Hat er das tatschlich gemacht und wenn ja: wie ist er dabei vorgegangen?

    1.2 Politischer Prozess und wissenschaftliches Tribunal

    Wie schon gesagt, G. betreibt weder eine methodisch organisierte Diskursanalyse noch eine empirische Untersuchung der Grnde und Ursachen fr die theoretische und politische Umorientierung der Linken. Vielmehr versucht er, die in einer hetero-genen Mannigfaltigkeit von Texten fixierten Errterungen zur Naturfrage kritisch darzustellen. Doch dazu msste er sie zunchst verstehend interpretieren und als symbolischen Gegenstand eines Deutungsprozesses erschlieen. Auch von einem fast autistisch arbeitenden Textwissenschaftler ist zu verlangen, dass er zumindest in Um-rissen erlutert, wie er die Texte anderer verstehen will, d.h. welches sinnverstehen-de Verfahren er anzuwenden gedenkt. Minimalbedingung dafr wre, den histori-schen und sozialen Kontext zu klren, aus dem heraus die symbolischen uerungen erfolgen, sowie die Grnde zu erschlieen, welche die uerungen des Autors aus seiner Sicht als rational erscheinen lassen. (Habermas 1983: 39) Aber das alles sind wissenschaftliche Anforderungen, die ein Anklger nicht erfllen muss.

    So wenig sich G. fr Personen interessiert, so wenig interessieren ihn deren subjek-tive Grnde; er sucht vielmehr nach den gesellschaftstheoretischen Begrndungen in den von ihm gesammelten Errterungen, was nach seiner Auffassung voraussetzt, ber eine ausgearbeitete Gesellschaftstheorie zu verfgen und hier wiederum er-kennt er nur solche Theorien an, die sich zu Marx oder zur Kritischen Theorie affir-mativ verhalten. Er selbst suggeriert stndig, ber eine derartige Theorie zu verfgen, verschweigt uns aber, wie sie verfasst und begrndet ist. Paradigmatisch scheint fr ihn die Marxsche Kritik der Politischen konomie zu sein; doch die erscheint bei G. nur in Zitierungen, nicht als explizite Darstellung in einem argumentativem Zusam-menhang. Sie bleibt so etwas wie das Wissen eines geheimbndlerischen Anklgers, der sich an die Arkandisziplin hlt.

    Als Anklger braucht er keine eigene Position im kologischen Diskurs einzunehmen, er sollte allerdings unbefangen sein. Und er muss als Anklger auch nicht seine eige-

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    nen kognitiven und normativen Vorannahmen explizieren. Wrde er dagegen der Leitlinie eines auf Verstehen gerichteten hermeneutischen Verstndnisses von objek-tiver Wissenschaftlichkeit folgen, dann kme ihm seine politische Absicht als trans-zendente Kritik rasch in die Quere. Aber ihm geht es ja nicht darum, zu verstehen, was der Autor gemeint hat, wie das Habermas hier ganz in der geisteswissen-schaftlich-hermeneutischen Tradition stehend eingefordert hat:

    Die Interpreten verstehen also die Bedeutung des Textes nur in dem Mae, wie sie einsehen, warum der Autor sich berechtigt fhlte, bestimmte Behaup-tungen (als wahr) vorzubringen, bestimmte Werte und Normen (als richtig) anzuerkennen und bestimmte Erlebnisse (als wahrhaftig) auszudrcken (bzw. anderen zuzuschreiben). Die Interpreten mssen den Kontext klren, den der Autor offenbar als das gemeinsame Wissen des zeitgenssischen Publikums vorausgesetzt haben mu, wenn die jetzigen Schwierigkeiten mit dem Text zur Zeit seiner Abfassung nicht, jedenfalls nicht so hartnckig aufgetreten sind. (...) Die Interpreten knnen den semantischen Gehalt eines Textes nicht verstehen, wenn sie sich nicht selbst die Grnde vor Augen fhren, die der Autor in der ursprnglichen Situation erforderlichenfalls htte anfhren kn-nen. (Habermas 1983: 39)

    In diesem Sinne ist G. sicherlich kein geisteswissenschaftlicher Interpret. Die metho-dischen Postulate der Hermeneutik wrde er als Ausdruck brgerlicher Wissen-schaft sicherlich auch vehement zurckweisen. Ihm geht es nicht um Sinnverstehen, sondern um kritische Darstellung: und nach seinem Verstndnis gehrt es dazu, die theoretischen Setzungen, immanenten Defizite, inneren Widersprche und Inkonsis-tenzen, Voraussetzungen und Perspektiven der von ihm identifizierten Anstze her-auszuarbeiten. G. verkndet in kantianisierendem Tonfall, seine Arbeit ziele auf eine begrndungskritische Analyse der Bedingungen der Mglichkeit theoretischer Aus-sagen im kologischen Diskurs, es gehe ihm also im Kern um deren Begrndungsf-higkeit und damit um die Wissenschaftlichkeit der vorgestellten Anstze (II, 907). Was seiner Auffassung nach nicht begrndungsfhig ist, das ist auch nicht wissen-schaftlich. Seine politische Verurteilung der Abweichung und des Verrats zieht eine wissenschaftliche Verurteilung der Abweichler und Verrter nach sich.

    Der Autor G. hatte offensichtlich das Problem, politische Anklage und wissenschaftli-che Verurteilung in einem Bhnenstck zusammenzufgen. Juristisch lsst sich die-ses Problem dadurch lsen, dass fr die transzendente Kritik eine politisch urteilende Strafkammer fr zustndig erklrt wird und die immanente Kritik in ein Tribunal ber die Wissenschaftlichkeit der Sozialen kologie verschoben wird, fr das andere Verfahrensregeln gelten als die vor dem politischen Gerichtshof.

    Der Autor hat die fr sein Bhnenstck verfassten Gerichtsakten, Protokolle der Ver-handlungen und gutachterlichen Stellungnahmen so prsentiert, geordnet und zu-sammengefgt, als ob er eine wissenschaftliche Studie verfasst htte. Dadurch wird der Text doppelbdig: Explizit wird er als wissenschaftliche Abhandlung prsentiert, unterlegt ist aber als impliziter Subtext die Darstellung eines fiktiven Gerichtsver-

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    fahrens (mit Anklage, Beweisaufnahme und Urteilsverkndigung). Nicht festgelegt sind dabei der Ablauf dieses Verfahrens (Ermittlung, Vorverhandlung, Hauptverfah-ren), die geltenden Regularien (Zustndigkeit des Gerichts, Redeordnung, ffentlich-keit), Verfahrensbeteiligte (Gericht, Staatsanwaltschaft, Nebenklger, Verteidiger, Zeugen, Gutachter) und Rechtsmittel (Beschwerde, Berufung, Revision). In der Fiktion hat der Autor freie Hand, er kann das Gerichtsverfahren wie ein Bhnenstck konzi-pieren mit einer Handlung, einer spezifischen Dramaturgie, definierten Rollen und einer Inszenierung der Abfolge von Ereignissen und Themen. Und so kann er eine hermetische Phantasiewelt entwerfen, in der er viele Rollen spielen muss. Diese Welt wird bevlkert von Revisionisten, Abweichlern, Verrtern, Renegaten, Ignoranten und ideologisch Verblendeten. Gegen sie kmpfen kleine Zirkel aufrechter Marxisten und kritischer Kritiker und damit kmpfen sie zugleich gegen Kapitalismus und brger-liche Wissenschaft.

    Thomas Gehrig hat seinen Text wohl kaum bewusst als Bhnenstck zweier Gerichts-verfahren entworfen und ausgearbeitet. Das merkt man schon daran, dass er selbst die Gerichtsmetaphorik in seinem Opus an keiner einzigen Stelle explizit benutzt. Hat er bei seiner extensiven Lektre bersehen, dass Kant die Kritik der reinen Vernunft als den wahren Gerichtshof fr alle Streitigkeiten derselben ansieht (KrV B779) und wie stark sich das Bild des Gerichtshofes als Ort der Wahrheitsfindung im Denken der Neuzeit metaphorisch festgesetzt hat? (Sterzenbach 1998: 492)10 Oder musste er sei-nen Subtext deshalb so stark zensieren, dass selbst das Wort Gericht im expliziten Text nicht auftauchen darf, weil er sich in erster Linie als Anklger in einem Straf-verfahren versteht und nicht als Streitender in einem Zivilprozess?11

    Im Zivilprozess sollte die immanente Kritik im Mittelpunkt stehen. G. versteht darun-ter, wie schon gesagt, die strukturierenden Kategorien und Theoreme sowie die zugrunde liegenden Gesellschaftsvorstellungen der Diskursteilnehmer zu kritisieren (I, 30). Doch was wird aus der immanenten Kritik, wenn sie in einem wissenschaftlichen Tribunal vorgetragen wird? Hier muss sich der politische Anklger in einen wissen-schaftlichen Experten verwandeln, fr den das Ganze allerdings keine blo akademi-sche Fingerbung ist. Er legitimiert sich dadurch, dass er seine Arbeit als Moment der Selbstaufklrung einer kapitalismuskritischen Linken anpreist. (I, 15) Fr diese

    10 Zur Knigsmetapher der Philosophie wird das Bild des Gerichtshofes aber erst bei dem Knigsberger

    Philosophen Immanuel Kant, im Zeitalter der Aufklrung. Schon in der Einleitung zu dessen Kritik der reinen Vernunft findet sich forensisches Vokabular. Begriffe wie Untersuchung, Verhandlung und Vergleich verweisen auf Gattungsbezeichnungen des juristischen Procedere. Die Vernunft erscheint in der Rolle des bestallten Richters, der die Zeugen ntigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt. Whrend des Ganges der Kritik taucht das juristische Vokabular immer wieder auf. Selbst der allgemeinen Logik entlehnte Begriffe werden in einem eingeschrnkten juristischen Sinn ver-standen, wie etwa die Worte Deduktion, konstitutiv oder regulativ. (Sterzenbach 1998: 492f.)

    11 Auffllig ist allerdings, wie sich neben dem explizit juristischen Vokabular die Worte gerichtet, aus-gerichtet, zugerichtet hufen. Es drngt sich der Eindruck auf, der verdrngte Subtext prge das Vo-kabular des Haupttextes. Einmal wird das besonders deutlich, als er der Sozialen kologie vorwirft, sie wrde sich an ihren Kronzeugen Heisenberg anschlieen, um ihr relationales Wirklichkeitsver-stndnis zu begrnden (II, 696).

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    Selbstaufklrung verfgt G. ber einen nur ihm selbst bekannten Mastab. Was von seinem Marx-Verstndnis abweicht, das dequalifiziert er als nicht begrndungs-fhig; es kann dann als brgerlich, positivistisch, revisionistisch, dezisionistisch, naturalistisch, ... gebrandmarkt werden. Auch im zivilrechtlich verfassten wissen-schaftlichen Tribunal beurteilt und verurteilt G. Wissenschaftlerinnen und Wissen-schaftler zynisch in Kategorien eines seltsamen Klassenkampfes in der Theorie (Alt-husser) allerdings ohne jenes Ma an Selbstkritik zu zeigen, das Althusser gerade von marxistischen Theoretikern und besonders von sich selbst einforderte:

    Politisch und philosophisch waren wir berzeugt, auf dem einzigen Festland der Welt angekommen zu sein, aber da wir philosophisch nicht seine Existenz und Festigkeit beweisen konnten, so hatten wir tatschlich fr niemanden Festland unter den Fen, nichts als berzeugungen. (Althusser 1968: 26)

    Auch der Autor des Bhnenstckes ber den kologischen Diskurs hat feste berzeu-gungen. Damit bekommt er allerdings dann ein ernsthaftes Problem, wenn es ihm nicht gelingt, das Tribunal ber die Wissenschaftlichkeit der Sozialen kologie so zu inszenieren, dass es sich nicht in einen wissenschaftlichen Diskurs unter prinzipiell Gleichberechtigten verwandelt: Wer bei anderen so eifrig nach Begrndungsdefiziten fahndet, wer so starke begrndungskritische Ansprche gegenber smtlichen Teil-nehmern am kologischen Diskurs erhebt, der ist selbst begrndungspflichtig, wenn er wissenschaftlich ernst genommen werden will. Als kritischer Wissenschaftler msste er seine Ansprche auch auf die eigene Arbeit anwenden, also selbstreflexiv und selbstkritisch verfahren. Doch Spuren von Selbstreflexivitt und Zweifel an sei-ner eigenen Urteilsfhigkeit konnten wir in dem Opus nicht entdecken. Vielleicht sind sie irgendwo in den Funoten versteckt, und wir haben sie berlesen. Um in dem Tribunal ber die Wissenschaftlichkeit der Sozialen kologie als anklagende und urteilende Autoritt anerkannt zu werden, nimmt G. die angemate Position eines unbeteiligten diskursexternen Beobachters ein, der von einem imaginierten festen aber den Angeklagten verborgenen Standpunkt aus allwissend und allweise urteilt und bewertet, Verdikte ausspricht und Demarkationslinien zieht. Vielleicht hat er deshalb jahrzehntelang mit keinem der Angeklagten diskutiert, dann htte er sich ja als Teilnehmer eines wissenschaftlichen Diskurses argumentativ behaupten mssen.

    Htte G. tatschlich einen durch und durch wissenschaftlichen Text verfasst, dann wre es mglich gewesen, im ersten Band seines Werkes bei der Kritik an ausgewhlten An-stzen seine eigene Untersuchungsperspektive sowie seine erkenntnistheoretischen Voraussetzungen detailliert darzulegen. Die seine Analyse strukturierenden Begriffe und methodischen Vorstellungen (Diskurs, Kritik, Begrndung, Naturalismus, soziale Konstitution, Kapitalismus ) htte er dort so explizieren knnen, dass sein theoreti-sches Selbstverstndnis und sein Verhltnis zu seinen groen philosophischen und politischen Gewhrsmnnern erkennbar wird. Doch dann htte er sich als ein Wissen-schaftler verhalten mssen, der bereit ist, sich einer Auseinandersetzung zu stellen und nicht als Anklger, der nur ber andere urteilt, niemals aber ber sich selbst.

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    Hier ist noch eine scheinbar unbedeutende Kleinigkeit nachzutragen: Es gibt bei G. eine eigentmliche sprachpolitische Selbstzensur:

    Die AutorInnen der Sozialen kologie sprechen i.d.R. von sozial-kolo-gischen und nicht von sozialkologischen Phnomenen, denn: Anders als bei Humankologie oder Sozialkologie soll durch den Trennungsstrich zwischen sozial und kologisch eine Differenz zwischen Gesellschaft und Natur markiert werden. (Becker 2003: 4) Plausibel erscheint diese Argumen-tation nicht, denn auch in der mit dem Bindestrich zusammengefgten Fas-sung wre zu klren, wie die Differenz bzw. der Zusammenhang zwischen den beiden getrennten Prdikaten zu denken ist es bleibt somit das Interes-se, per Bindestrich eine identifizierbare eigene Begrifflichkeit zu etablieren. In dieser Arbeit wird sozialkologisch in allgemeinerem Sinne verwendet und kann sich auch auf das Konzept der Sozialen Naturwissenschaft beziehen. (II, 435, FN 85)

    Konsequent schreibt er daher im gesamten Buch sozialkologisch, auch dann, wenn er Aussagen von ISOE-Autorinnen referiert es sei denn, die Formulierung sozial-kolo-gisch findet sich in einem wrtlich zitierten Text. Die sprachpolitische Zensur ist aber manchmal so stark, dass sie den Autor auch falsch zitieren lsst. Beispielsweise er-whnt er ein Sozialkologisches Arbeitspapier aus dem ISOE, obwohl die Reihe Sozial-kologische Arbeitspapiere heit. (II, 521, FN 456) Das Ganze ist aber mehr als eine Kleinigkeit, denn er wirft ja den AutorInnen Soziale kologie vor, sie knnten das durch einen Bindestrich markierte Verhltnis zwischen Gesellschaft und Natur begrifflich nicht bestimmen und wrden sich positiv auf die kologie bezie-hen, seien daher Naturalisten was die von ihm durchgngig gewhlte Formulie-rung sozialkologisch deutlich machen soll. Auf diese Weise werden die beiden Vorwrfe sprachpolitisch abgesichert.

    1.3 Politische Ignoranz und theoretischer Dogmatismus

    In dem Werk finden sich auf fast jeder Seite harte und apodiktische Urteile ber Au-torinnen und Autoren, die sich im kologischen Diskurs uern, theoretisch und poli-tisch argumentieren und das Neue der kologischen Krise zu begreifen versuchen. Zugleich zieht sich durch den ganzen Text eine blasierte Gleichgltigkeit gegenber den Anstrengungen, welche die von ihm Kritisierten machen, um die als bedrckend und schwierig empfundenen sozial-kologischen Probleme theoretisch und empirisch zu bearbeiten.

    Als das Projekt einer Sozialen kologie vor etwa 30 Jahren mit der Arbeit begann, da waren alle daran Beteiligten fest davon berzeugt, dass mit der Krise der gesellschaft-lichen Naturverhltnisse eine neuen Epoche mit neuen gesellschaftlichen Problemen und mit einer neuen theoretischen Problematik begonnen hat, die auch ein neues Denken erfordert. Max Weber lieferte fr diese berzeugung das Motto:

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    Aber irgendwann wechselt die Farbe: die Bedeutung der unreflektiert ver-werteten Gesichtspunkte wird unsicher, der Weg verliert sich in der Dmme-rung. Das Licht der groen Kulturprobleme ist weiter gezogen. Dann rstet sich auch die Wissenschaft, ihren Standort und ihren Begriffsapparat zu wechseln (Weber 1973: 261f.)

    Diese Sicht wird von G. nicht geteilt, er nimmt das Neuartige an der Krisensituation nicht ernst. Was wir zu verstehen und zu diagnostizieren versuchen, das ist fr ihn nur ein Ausdruck kapitalistischer Reproduktionskrisen. Daher ist die einzige fr ihn akzeptable wissenschaftliche Bearbeitungsform radikale Kapitalismuskritik in der Nachfolge von Marx. Dessen Kritik der politischen konomie seiner Zeit ist fr G. inhaltliches und methodisches Vorbild auch fr eine radikale Kritik des gegenwrti-gen kologischen Diskurses. Das Ziel seiner Kritik sei es, zu zeigen, was nicht geht (II, 907); sein Ergebnis ist, dass eine kritische Theorie gesellschaftlicher Naturver-hltnisse mit den im kologischen Diskurs entwickelten Denkweisen nicht mglich ist. Ob und wie sie berhaupt mglich ist, dieser Frage weicht er aus. Er verweigert sich auch dem Versuch, innerhalb des marxistischen Diskurses die Bedingungen der Mglichkeit einer derartigen Theorie auszuloten und dann selbst theoretisch und empirisch daran zu arbeiten, die kologische Krise konsistent zu begreifen.12 Auch dabei beruft er sich grospurig auf Immanuel Kant als Zeugen, von dem er behauptet, dieser sei daran gescheitert, seine Kritik in eine begrndete Metaphysik zu berfhren (II, 907). Aus dieser seltsamen Kant-Interpretation zieht G. den Schluss, sich strikt auerhalb des kologischen Diskurses zu halten und auch keinen eigenen Beitrag zu einer kritischen Theorie gesellschaftlicher Naturverhltnisse zu leisten.13

    Die immanente Kritik kommt ohne eine starke politische Zutat des externen Be-obachters Gehrig nicht aus, sie verwandelt sich unter der Hand zu einer Sammlung von Beweisstcken gegen Revisionisten, Abweichler, Verrter und ideologisch Ver-blendete, wird also vllig der transzendenten politischen Kritik untergeordnet. G.

    12 In seinem Aufsatz Entzauberung der Entzauberung der Natur nimmt er sich neuere Publikationen

    von Autorinnen und Autoren vor, die sich selbst als links und kapitalismuskritisch verstehen und die er in seinem groen Werk noch nicht behandelt hat. Alle werden abgeurteilt und aus der kleinen linken antikapitalistischen Gemeinde in dunkler neo- oder postneoliberaler Zeit (Gehrig 2009: 17) ausgeschlossen. Freigesprochen wird lediglich Ulrich Brand, der in erfreulicher Weise an einer an-tikapitalistischen und antietatistischen Perspektive festhlt. (ebd.: 16)

    13 G. hielt es in seiner Diplomarbeit zwar noch fr mglich, eine marxistische Theorie gesellschaftlicher Naturverhltnisse auszuarbeiten (Gehrig 1992: 5). Allerdings hlt er die von ihm untersuchten Anst-ze von Altvater und Immler fr ziemlich ungengend. Aber auch die wenigen damals von ihm bear-beiteten Texte von Becker, Kluge und Schramm sind fr ihn eher Dokumente einer Krise der Theorie gesellschaftlicher Naturverhltnisse (ebd.: 194ff.) als ernst zu nehmende Beitrge zu einer marxisti-schen Theorie. Liest man den Text der Diplomarbeit als Dokumentation des Vorprozesses zu dem kommenden groen Tribunal, dann ist auffllig, wie wenig sich das bereits dort gesprochene Urteil gegen die Hauptangeklagten Altvater und Immler in den darauf folgenden zwei Jahrzehnten vern-dert hat. In die Beweisaufnahme werden weitere Angeklagte einbezogen, Zeugen vernommen, Beweis-stcke gesammelt und weitere Anklagepunkte erhoben. Jetzt lautet das Urteil, eine kritische Theorie gesellschaftlicher Naturverhltnisse sei im kologischen Diskurs nicht mglich und wer weiter daran arbeitet, der wird von ihm angeklagt und verurteilt (vgl. dazu auch Gehrig 2009).

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    berhht seine dogmatisch gefestigte Position eines externen Beobachters zu der eines politischen und wissenschaftlichen Anklgers, der in der Lage ist, Kant, Hegel, Marx und die Kritische Theorie in den Zeugenstand zu rufen. Damit versucht er aber zugleich, sein Scheitern als Wissenschaftler zu verhllen. Das Ganze etikettiert er als Selbstaufklrung einer kapitalismuskritischen Linken (I, 15) und als ideologische Absicherung der kleinen linken antikapitalistischen Gemeinde, zu der er sich selbst rechnet. Sprachlich erinnert diese Selbstaufklrung stark an Ausschluss- und Su-berungsprozesse in der kommunistischen Linken aber auch gewissermaen spiegel-bildlich an die Sprache der Anklger im Verbotsprozess gegen die KPD in den 1950er Jahren. Und das ist sicherlich kein bloer Zufall.

    2 Der politische Prozess gegen die Frankfurter Soziale kologie14

    Alle Berhrung mit Parteipolitik und Parteiagitation ist durch den wissenschaftlichen Charakter des Instituts aus-geschlossen. Das Institut hat allein der Wahrheit zu die-nen und daher ntigenfalls auch der Kritik, der Vernde-rung, der Weiterbildung jener Theorien, von denen es aus-gegangen ist.

    Gesellschaft fr Sozialforschung e.V. (1925: 18)

    Beginnen wir mit dem Theaterstck ber den politischen Prozess. Aus dem Publikum kann man sich gegen eine Anklage auf der Bhne nur schwer verteidigen. Zwischen-rufe und lauter Protest sind zwar mglich, gehren oft sogar zum Stck, wie schon vor Jahrzehnten in der Publikumsbeschimpfung von Peter Handke vorgefhrt. Kri-tiker knnen sich nach der Auffhrung mit dem Text des Stckes und mit den darin beschriebenen Rollen, mit der Inszenierung und mit den Leistungen einzelner Schau-spieler beschftigen.

    Aber was kann man machen, wenn der Autor eines fiktiven Schauprozesses zugleich die Rollen des Anklgers, Richters, Gutachters und Verteidigers spielt? Man kann dann auf jeden Fall das Textbuch des Stckes lesen sowie sich die verschiedenen Rollen und deren Zusammenwirken in einer Inszenierung genauer ansehen. G. hat sich als Anklger im Prozess gegen die Soziale kologie als ein marxistischer Kritiker

    14 Gegen die Wiener Soziale kologie wird keine Anklage erhoben. Es tauchen allerdings zwei Wiener

    Texte auf: Unter Verweis auf Fischer-Kowalski et al. (1997), findet sich in dem Kapitel III.1.1 ber das Stoffwechselkonzept die Aussage, dass der Stoffwechselbegriff auch fr das soziologische Institut fr Soziale kologie in Wien eine wesentliche Rolle spielt (II, 450); zustimmend zitiert er auch einen Aufsatz von Fischer-Kowalski/Erb (2006), in dem die Luhmannsche Theorie sozialer Sys-teme als unzureichend kritisiert wird, um eine Brcke zwischen Gesellschafts- und Naturwissen-schaften zu bilden (II, 541).

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    maskiert, der in der Lage ist, Kant, Hegel, Marx, Horkheimer und Adorno als Zeugen der Anklage auf die Bhne zu zitieren. Und mit dieser Maske spielt er zugleich den Wchter einer fiktiven Revolution, der dem Publikum erklrt, dass es das Ziel eines jeden aufrechten Marxisten sein msse, alle Formen des Kapitalismus und mit ihm zugleich die brgerliche Wissenschaft zu berwinden.

    berwindung des Kapitalismus, das wre eine politische, konomische und soziale Umwlzung aller gesellschaftlichen Verhltnisse; berwindung der brgerlichen Wissenschaft das wre eine groe wissenschaftliche Revolution, die Befreiung des Denkens und Handelns von allen Bindungen an brgerliche Ideologien und die Auf-hebung aller Formen traditioneller Wissenschaft. Deshalb fordert G., der politisch-revolutionre Kampf msse durch Ideologiekritik und eine radikale Kritik der brger-lichen Wissenschaft untersttzt werden. Er zieht daher eine scharfe Demarkationslinie zwischen dem authentischen Marxismus sowie der antikapitalistischen Tradition der Arbeiterbewegung zu allen Formen brgerlicher Ideologie und Wissenschaft15 seien sie revisionistisch, kologistisch, szientistisch oder systemisch. Und der Ankl-ger G. argumentiert so, als wre seine Auffassung die herrschende Meinung16, auf die er sich sowohl bei seiner politischen als auch bei seiner wissenschaftlichen An-klage berufen kann, ohne sie noch weiter erlutern zu mssen.

    Theoretische berlegungen Anderer sind fr ihn nur dann akzeptabel, wenn sie in seine Vorstellungswelt eines authentischen Marxismus passen. Anders als G. sind wir jedoch davon berzeugt, dass der kologische Diskurs ein Umdenken auch der Theorien erzwingt, die in einer marxistischen Tradition verfasst sind. Seine in der Anklageschrift enthaltenen Ausstiegs- und Verratsgeschichten lassen sich daher auch als eine verzerrte Geschichte dieses Umdenkens lesen vielleicht sogar eines not-wendigen Bruches mit der Tradition. Die von ihm so fleiig gesammelten Belege und Zitate liefern Hinweise auf die Bereiche des sozial-kologischen Denkens, in denen dieses Umdenken begonnen hat, sich oftmals auf Umwegen entwickelte, immer wie-der Rckschlge erlitt, vielleicht sogar in Sackgassen fhrte aber auch die Umrisse einer neuen Wissenschaft zeichnen konnte. Die Anklagepunkte knnen daher auch als Ausgangspunkte eigener Reflexionen, begrifflicher Klrungen und diskursiver Rckblicke genommen werden.

    15 Brgerlich verwendet er dabei eher als einen denunzierenden Kampfbegriff denn als soziologische

    Kategorie. Wir werden spter darauf noch genauer eingehen.

    16 In juristischen Schriften hat die herrschende Meinung argumentativ eine hnliche Funktion wie der Stand der Wissenschaft in der Forschung. Wenn bei Streitfragen mehrere Antworten mglich sind, berufen sich Juristen in Gerichtsverfahren gerne auf die Mehrheitsmeinung in der Gruppe der mit der fraglichen Sache befassten Juristen.

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    2.1 Die Hauptanklage

    Betrachten wir also die Hauptanklagepunkte, aus denen G. seine Fundamentalkritik zusammensetzt, etwas genauer. Er bringt zwei fr ihn zentrale Einwnde gegen das Projekt einer Sozialen kologie (PS) vor, wobei er auch vor (persnlichen) Denunzi-ationen nicht zurckschreckt:

    (1) Das PS stelle nicht die Systemfrage und (2) es formuliere keine Alternative zur Wissenschaft, sondern nur eine in den Wissen-

    schaften.

    Bei oberflchlicher Betrachtung treffen beide Vorwrfe zu, bei genauerem Hinsehen erweisen sie sich als Ausdruck eines antiquierten und rckwrts gerichteten Denkens.

    (1) In der Sozialen kologie wird in der Tat keine dogmatische Kapitalismuskritik ge-bt und es werden auch keine abstrakten Revolutionsforderungen erhoben. Die kolo-gische Krise wird nicht allein dem Kapitalismus zugerechnet, sondern als Ursache wird ein ganzes Bndel hchst unterschiedlicher Produktionsverhltnisse, Produk-tions- und Lebensweisen, Denkformen und Geschlechterverhltnisse, sozialer Mecha-nismen und technischer Regulationen identifiziert. Sie konkretisieren sich in hochent-wickelten industriekapitalistischen Gesellschaften anders als in nicht- und vor-kapitalistischen Entwicklungsgesellschaften. Die kologische Krise wird in der Sozia-len kologie als Krise der gesellschaftlichen Naturverhltnisse beschrieben, wobei Technik und Naturwissenschaft einerseits als Krisenursache, andererseits auch als Mit-tel der Prvention eine ambivalente Rolle spielen. Dieses Selbstverstndnis charakteri-siert G. im Anschluss an eine Arbeit von Engelbert Schramm aus dem Jahr 1988 so:

    Nicht die berwindung des kapitalistischen Systems kann fr eine fortschritt-liche sozialkologische Perspektive im Vordergrund stehen, sondern eine so-zialkologische Naturwissenschafts- und Technikkritik. Ob und wenn ja wie diese dann noch an der Systemfrage interessiert ist, bleibt hier zunchst of-fen. Es sei denn, es wrde unterstellt, dass mit der Rede von den bewusst zu gestaltenden Stoffwechselprozessen der Boden kapitalistischer Verhltnisse prinzipiell verlassen ist. (II, 580)

    Der Anklger G. ist wohl davon berzeugt, dass der Kapitalismus die Hauptursache fr alle bel dieser Welt ist. Fr ihn ist die kologische Krise eine Krise der globalen kapitalistischen Vergesellschaftung. Das ist eine Auffassung, wie sie bis Ende der 1970er Jahre im linken politischen Spektrum vorherrschte, die aber in dieser Eindeu-tigkeit danach nur noch von Splittergruppen vertreten wurde.17 Wer sie in Deutsch-

    17 Inzwischen scheint sich hier wieder etwas zu verndern: Im Entstehen ist eine weltweit agierende

    Anti-Globalisierungsbewegung, die sich gegen die Vormacht finanzkapitalistischer Interessen, neo-liberale Deregulierungen und ungebremstes Wirtschaftswachstum richtet. Klimawandel und Natur-zerstrung werden hier dem kapitalistischen Wirtschaftssystem angelastet. Es ist allerdings keine Bewegung in der Tradition der Arbeiterbewegung und der marxistischen Kapitalismuskritik. Naomi Klein, Thomas Piketty und Jeremy Rifkin sind die neuen intellektuellen Stichwortgeber und nicht Marx und schon gar nicht die orthodoxen akademischen Marxisten.

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    land im akademischen Bereich auch heute noch ungebrochen vertritt, das kann man bei G. nachlesen. Als Kronzeugen fr seine pauschale Anklage des kologischen Dis-kurses zitiert er immer wieder den Berliner Geographen Ulrich Eisel:

    Aber wenn die linke Variante grn wird, dann werden die Grnde fr die Gegnerschaft zum Kapitalismus nicht mehr in der unvollendeten Emanzipati-on der Unterdrckten gesucht, sondern in der Zerstrung der Naturgrundla-gen. Die Einschrnkung der gesellschaftlichen Aktivitten auf ein Ma, das die ursprngliche Natur um ihrer selbst willen oder auch um des menschli-chen berlebens willen in Ruhe lsst, wird zum Gebot. Emanzipation bedeutet dann, seine Ursprnge, die wahren Werte sowie Richtlinien in einer natrli-chen Welt zu finden. Das hat es ohne dass sie das Wort dafr gebraucht htten bei den Konservativen aber schon immer bedeutet. (Eisel 2005: 15f.)

    (2) In der Sozialen kologie wurde schon frh sowohl gegen jene marxistische Form der Wissenschaftskritik argumentiert, bei der die Naturwissenschaften pauschal unter Ideologieverdacht gestellt und als Fetisch behandelt werden; zurckgewiesen wur-den aber auch irrationale Formen einer neuen Spiritualitt, New-Age-Philosophie und heideggerianische Kritik an Aufklrung und Rationalismus, die allesamt Alterna-tiven zur Wissenschaft suchten. Die Soziale kologie versteht sich dagegen als Teil einer Bewegung, die angesichts der kologischen Krise nach Alternativen in den Wis-senschaften sucht. Dies wurde auch immer wieder deutlich gesagt. G. hat also Recht, wenn er als Beleg fr seinen zweiten zentralen Anklagepunkt (II, 483, FN 278) auf eine Textpassage in der Monographie Soziale kologie verweist die er allerdings nicht zitiert18:

    Das Projekt einer Sozialen kologie entwickelte sich in kritischer Distanz zu solchen Aktivitten. Gesucht wurde nicht nach Alternativen zu Wissenschaft und theoretischem Denken, sondern nach Alternativen in der Wissenschaft, die sich an einem neuen Verhltnis der Menschen zur Natur und zu sich selbst orientieren. (Becker/Jahn 2006: 14f.)

    Daraus konstruiert G. einen Widerspruch zur Wissenschaftskritik der (frhen) Kriti-schen Theorie, die nach Auffassung von G. die brgerliche Wissenschaft bereits so tiefgehend kritisiert habe, dass fr sie Wissenschaftsalternativen innerhalb positivis-tischer Wissenschaft keine Alternativen darstellen.19 (II, 484, FN 283) Er behauptet, es gehe der Kritischen Theorie (ebenso wie ihm) nicht um Alternativen in der Wissen-schaft, sondern um Alternativen zur Wissenschaft. Zum politischen Anti-Kapitalis-

    18 In der Anklageschrift (II, 593, FN 778) wird zwar behauptet, in einem frheren Programm sei es noch

    darum gegangen, Alternativen zur Wissenschaft aufzuweisen, die Protagonisten der Sozialen ko-logie htten ihre frhen radikalen und kapitalismuskritischen Auffassungen inzwischen aber aufge-geben. Doch fr diese Behauptung werden keinerlei Belege geliefert und wir haben auch keine ge-funden.

    19 Es bleiben eine Reihe Fragen offen: Kann es fr Gehrig und seine Gewhrsleute Horkheimer und Adorno berhaupt eine nicht-positivistische Wissenschaft geben? Was sind ihre Charakteristika? Welches sind fr ihn die einschrnkenden Bedingungen des Wissenschaftssystems?

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    mus gehrt bei G. ein theoretischer Anti-Szientismus wenn nicht gar eine Ableh-nung jeglicher Form von Wissenschaft, die sich auf empirisch Vorgegebenes als Ge-genstand bezieht. Die empirischen Naturwissenschaften und die problemorientierte transdisziplinre Forschung klassifiziert er gleichermaen als positive Wissenschaft, die er dann kurzschlssig dem Positivismus zuschlgt.

    Hierzu noch ein Beispiel: Auf den Seiten, die den berlegungen Grgs zu den gesell-schaftlichen Naturverhltnissen gewidmet sind, hlt G. dem Autor Unverstndnis der Wissenschaftskritik der Kritischen Theorie vor:

    Grg vergisst hier die Andeutungen von Wissenschaftskritik in der Kritischen Theorie. Wissenschaft, so wie sie sich als akademische als wesentlicher Be-standteil brgerlicher Gesellschaft etabliert hat, ist emanzipatorisch lediglich im brgerlichen Sinne. Sie ist dabei in sich widersprchlich. Erst eine aufge-hobene Wissenschaft knnte den Blick auf Anderes frei machen. (II, 792, FN 251)

    Aber was wre fr G. eine Aufhebung von Wissenschaft? Er bleibt hier noch dunk-ler als seine groen Gewhrsmnner. Um die Abweichung des PS von der Kritischen Theorie zu markieren, schreibt er:

    Entscheidend fr die Soziale kologie ist es, diese als Wissenschaftskonzept mit spezifischem Gegenstand zu prsentieren. (II, 673)

    Wer versucht, einen Gegenstand seiner Forschung zu definieren, der bewegt sich nach dem Verstndnis des Anklgers im Horizont brgerlichen Denkens und traditio-neller Theorie. Bedeutet dies, dass jemand, der diesen Horizont berschreiten will, kein Wissenschaftskonzept fr einen spezifischen Gegenstand entwerfen darf, damit ihn G. freisprechen kann? Was bleibt dem armen Menschen dann noch brig auer einer esoterischen Philosophie, die sich als Kritik jeglicher Form positiven Denkens missversteht? Wer empirische Naturwissenschaft oder gar transdisziplinre Forschung betreibt, der macht sich auf jeden Fall stark verdchtig.

    2.2 Der politische Urteilsspruch

    Das politische Urteil ist also gesprochen: Die Angeklagten sind schuldig. Die Beweis-lage ist fr G. eindeutig und sein Schuldspruch scheint auch einfach begrndbar. Denn die Angeklagten leugnen nicht, dass sie statt die Systemfrage in der marxisti-schen Tradition zu stellen, die Naturfrage gestellt haben; und sie geben auch zu, dass sie Wissenschaftler sind und keine Alternative zur Wissenschaft suchen und praktizieren. So weit, so gut.

    Schwieriger wird es fr den Anklger allerdings, ein begrndetes Urteil ber die Wis-senschaftlichkeit der Sozialen kologie zu sprechen. In dem fiktiven Tribunal reicht es nmlich u.E. nicht aus, einzelnen Autoren brgerliches Denken vorzuwerfen, denn dieses politische Urteil ist ja bereits gesprochen. Zwar kann die Hauptverhand-

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    lung als ein politischer Prozess fortgefhrt werden, in dem dann einzelne Anklage-punkte nochmals genauer behandelt werden, um die Schwere des Vergehens und das Strafma festzulegen; das Tribunal ber die Wissenschaftlichkeit der Sozialen kolo-gie lsst sich dagegen nur in einem davon abgetrennten Verfahren fortfhren, in dem nicht nach politischen Kriterien bewertet und beurteilt werden kann, sondern nur nach wissenschaftlichen. Wir werden dieses Tribunal im 4. Kapitel genauer behandeln und uns zunchst noch etwas mit dem politischen Urteilsspruch beschftigen.

    In der Anklageschrift ist die politische Abwertung der verhandelten Positionen und der sie vertretenden Personen ein durchgngiges Stilmittel. Die Polemik trifft Positio-nen, die sich bei linken politischen Parteien (Sozialdemokratie, Grne) finden, sie wird besonders scharf, wenn es um brgerliches oder liberales Denken geht.

    Der Anklger trifft politische Bewertungen wie richtig oder fortschrittlich so als wre er der Weltengott oder der Lenker der historischen Entwicklung. Dass fortlau-fend ideologiekritische Bewertungen ausgesprochen werden, ist nicht verwunderlich; auffllig ist aber auch hier der ber die reine Analyse hinausschieende polemische Stil, der nicht zu einem wissenschaftlichen Verfahren passt.

    Bereits in den Ausfhrungen zum Darmstdter Projekt Soziale Naturwissenschaft, das G. mit der Sozialen kologie programmatisch gleichsetzt, wird politisch bewertet:

    Die evolutionre Perspektive der Sozialen Naturwissenschaft geht hier noch mit einer politischen Basisorientierung einher. Der Staat erscheint dabei immer als ineffizient, autoritr und brokratisch ein liberales Bekenntnis. (II, 493, FN 336)

    Politische Partizipation von Brgerinitiativen als eine Mglichkeit, die Interessen der von der kologischen Krise Betroffenen in der Programmatik des PS zu bercksich-tigen, wird politisch abqualifiziert, wo immer sie gefordert oder vorgeschlagen wird:

    >Brgerbeteiligung< als Alternative zum homo oeconomicus brgerlicher Wirtschaftsbeziehungen, wie zu den Instrumenten und Institutionen brgerli-cher Politik widerspricht sich jedoch selbst, da letztere bereits als Ergebnis brgerlich-individualistischer Willensbildungsprozesse gefasst sind. (II, 652, FN 1006)

    Was von Hegel, Marx und noch von Horkheimer als brgerlich mit klarer Bedeu-tung sowohl hinsichtlich der historischen als auch der jeweils gegenwrtigen Seman-tik bezeichnet wurde, bleibt bei G. systematisch undeutlich. Brgerlich, das ist bei ihm keine soziologisch-historische Kategorie20, sondern eine politische Kampfvoka-bel. Gegen uerungen von Engelbert Schramm (1988) in einem Text ber Arbeiter-

    20 Vgl. dagegen die Begriffsklrung bei Riedel 1972, die Analyse des Verhltnisses von Kritik und Krise

    als Phnomen der brgerlichen Welt bei Kosellek 1973; Haltern 1974, 1975 beklagt die hufig dif-famierende Verwendung der Begrifflichkeit ohne historisch-systematische Analyse. Bei Habermas 1962 findet sich eine instruktive, die Genese bercksichtigende Darstellung der ffentlichkeitssphre des Brgertums.

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    bewegung und industrielle Umweltprobleme wendet er beispielsweise ein, dass in dessen sozialdemokratischer Perspektive der brgerliche Diskurs nicht berschrit-ten werde. Und er stellt die rhetorische Frage, ob die Soziale kologie einen anderen kognitiven Zugang zum Problem der Umweltverschmutzung habe als einen brger-lichen. (II, 576, FN 706)

    Die Semantik des Brgerlichen erscheint in der Anklageschrift darber hinaus u.a. auch als brgerliche Wirtschaftsbeziehung (II, 652), brgerliche Politik (II, 652), brgerlich-individualistischer Willensbildungsprozess (II, 652), brgerliches Selbst-verstndnis (II, 653), brgerlicher Philosoph (II, 686), brgerliche Gesellschaft (II, 792, 906), brgerliches Motiv (II, 794), brgerliche Theorie (II, 905), brgerliche Verhltnisse (II, 887).

    In seiner Rolle als politischer Richter bewertet G. Argumentationen von Autoren aus dem PS immer wieder als richtig oder falsch, wobei er die Bewertung falsch mit der von brgerlich gleichsetzt:

    Richtig benennt Wehling den Begriff der Entwicklung als eine Zentralkate-gorie der Soziologie. Hierin reflektiert sich ein wesentliches Element brgerli-chen Selbstverstndnisses. (II, 653, FN 1017)

    Ein zentraler Vorwurf lautet: Indem das PS die kologische berlebenskrise ins thematische Zentrum rcke, werde nicht nur die Prioritt der politischen Auseinan-dersetzung falsch gewhlt, sondern die politische Reflexion insgesamt verabschiedet, sodass sich autoritre Lsungen durchsetzen knnen. G. zitiert zur Absicherung die-ses Anklagepunktes einige Autoren21 in den Zeugenstand, die der Gattungsmetapho-rik Konservativitt bescheinigen:

    Ein Gattungsinteresse sei prinzipiell nicht vertretbar, nicht einmal sinnvoll formulierbar (Eisenhardt/Kurth). Mit der Orientierung am allgemeinen Lebens-interesse der Menschheit oder der Gattung wird u.a. auch die im sozialko-logischen Diskurs angedachte Entsubstantialisierung der Kategorie Natur (als gesellschaftlich konstituierte, als gesellschaftliches Verhltnis) wieder unterlau-fen. (II, 584f., FN 732)

    In ihrer Essenz lautet die Anklage:

    Hinter der berlebenssemantik lauert die autoritre Lsung des Problems. (II, 715, FN 1302)

    Der politische Anklger G. scheint zu wissen, wie die Geschichte nach einem Fort-schrittsprinzip zu verlaufen habe. Deshalb kann er auch die eine oder andere Argu-mentation aus dem ISOE als fortschrittlich bewerten:

    Die Einsicht, dass am Anfang aller Umweltschutzbemhungen die Frage stehen msste, wie die Gesellschaft ihre Umwelt, Natur etc. gestalten will,

    21 Gehrig nennt Narr/Vack, Hirsch, Demirovic und Eisenhardt/Kurth.

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    ist im Rahmen des kologischen Diskurses als fortschrittlich zu kennzeich-nen. (II, 713)

    Das Prdikat fortschrittlich bekommen Jene angeheftet, bei denen der Anklger G. anti-brgerliche, anti-kapitalistische und anti-szientistische Tendenzen ermitteln konnte. Den Ehrentitel erhlt auch Herbert Marcuse, allerdings mit einer starken Ein-schrnkung:

    Trotz solch fortschrittlicher Momente bleibt Marcuses Blick auf Emanzipati-on jedoch, gerade wenn er Frau wieder in die Nhe von Natur rckt, letztlich patriarchal. (II, 846, FN 504)

    Zusammenfassend formuliert G. seine totalisierende Kritik:

    Hier ist nochmals festzuhalten, dass diese sozialkologischen Problemana-lyse- und Problembearbeitungskonzepte rein affirmativen Charakter haben. Sie sind in hohem Mae funktional fr die gegenwrtige Stufe kapitalistischer Entwicklung. Sie regulieren strukturelle Systemprobleme kapitalistischer Wirt-schaftsweise. (II, 716, FN 1304)

    Wie es sich fr einen scharfen und unerbittlichen Anklger in einem politischen Schauprozess gehrt, ist bei seiner Variante eines Klassenkampfes in der Theorie nicht nur Polemik, sondern auch persnliche Denunziation ein probates Stilmittel, das er hufig verwendet. Den Angeklagten kreidet er es aber als schlimme Verfehlung an, wenn er deren Kritik als denunziatorisch empfindet. So verurteilt er beispielsweise eine Kritik an verschiedenen marxistischen Anstzen durch Becker/Jahn/Wehling (1992) als Denunziation und stellt dann fest:

    Die Denunziation der marxistischen Renegaten der akademischen Wissen-schaft wird damit nicht nur durch die Biographien der Protagonisten der So-zialen kologie prekr, sondern auch auf methodisch-theoretischer Ebene. (II, 627, FN 907)

    Hier verdreht sich so ziemlich alles. Denn nicht die wissenschaftliche Kritik marxisti-scher Anstze durch Autoren aus dem ISOE stellt eine Denunziation dar, sondern das, was Gehrig an dieser Stelle mit dunklen Anspielungen auf sog. Protagonisten ver-sucht. Er nennt keine Namen und sagt auch nichts ber dunkle Flecken in deren Bio-graphien, die er aufgesprt haben will. Haben wir es hier mit einem hbsch wider-wrtigen Denunziantenstck zu tun, hnlich dem, das vor Jahrzehnten konservative Publizisten gegen Habermas inszenierten? (vgl. dazu Mller-Doohm 2014: 459) Oder drckt sich in der Denunziation nur die schlichte politische Grundberzeugung eines Dogmatikers aus, der nicht zwischen Kritik und Polemik unterscheidet? Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, wie in der Anklageschrift nach und nach Egon Be-cker und Christoph Grg wie Rdelsfhrer eingekreist werden, um dann mit besonde-rer Schrfe gegen sie polemisieren zu knnen. Hierzu einige Beispiele:

    Becker wird unterstellt, er missverstehe das Verhltnis des Marxismus zu Marx sys-tematisch:

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    Becker identifiziert auch hier Marxismus-Leninismus und Marxsche Theorie, von letzterer hat er keinen Begriff. (II, 606, FN 828)

    Insbesondere anhand Beckers Ausfhrungen zur Hochschul- und Bildungspolitik wird das (Vor-)Urteil des Anklgers ber das antidemokratische und antisozialistische Hin-tergrundszenario des PS ausagiert; auf dem Feld der Bildungspolitik habe sich Becker von frheren Auffassungen verabschiedet; aktuell gehe es ihm nur noch um die Frderung einer Elite; Becker zitiere zustimmend die These des (ehemaligen) Pr-sidenten der Privatuniversitt Witten-Herdecke, Konrad Schily22:

    Becker stellt die bisherigen Gleichheitsvorstellungen und -forderungen im Bildungsbereich sowie den sozialdemokratische[n] Glaube[n] an die staatli-che Leitungsfunktion in Frage. Die private Universitt Witten-Herdecke dient als positives Beispiel. Dort werde akzeptiert, dass die akademische Selektions-funktion nicht per Dekret aufzuheben sei. Die Ausbildung zielt auf die Her-stellung einer kologisch orientierten wissenschaftlichen Elite. Mit den Wor-ten des Prsidenten der Hochschul-GmbH Witten-Herdecke wird argumen-tiert, dass der rechtsstaatliche Grundsatz der Gleichheit nicht auf Bildungspo-litik zu bertragen sei: Bildung zielt auf Ungleichheit (Konrad Schily). (II, 648, FN 990)

    Den Abschnitt III.2.10 ber Risiko Wissenschaft abschlieend, formuliert G.:

    Die von der Sozialen kologie entworfene sozialkologische Wissenschafts- und Forschungspolitik basiert auf einem neoliberal-funktionalistischen Mo-dell der Hochschule, fr das staatliche Planung als von auen kommend im Wesentlichen abgelehnt wird, genauso wie die Orientierung der Hochschulen auf die berkommenen Vorstellungen einer Einheit von Forschung und Lehre, von Autonomie und Demokratisierung als nicht problemadquat erscheint. Problemadquat dagegen gelten jene problembezogenen, konkreten und poli-tisch-pragmatischen Projektwissenschaften, in deren Rahmen Elitebildung selbstevident notwendig ist. Ergebnis ist eine Unternehmensideologie der Wissenschaft, bei der lediglich die Marktbedingungen (scheinbar) besser als zuvor affirmiert werden, das Wissenschaftssystem instrumentell rationalisiert und modernisiert wird. Als zwingender Motor einer Motivation der Wissen-schaftspolitik in dieser Richtung fungiert das bedrohte berleben der Mensch-heit als unhintergehbare moralische Maxime. Zur politischen Umsetzung die-nen als kologische Allianzen bezeichnete Netzwerke von AkteurInnen, von denen gesagt wird, sie verfolgten eine anti-hegemoniale, alternative Orientie-rung. (II, 649)

    22 Htte Gehrig gewusst, dass der Arzt Konrad Schily seinerzeit (20052009) MdB der FDP und die

    Hochschule eine Grndung aus anthroposophischem Geiste war welche Worte htte er dann fr seine Polemik gefunden?

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    ber eine derartige politische Verurteilung kann man als angeklagter Protagonist nur den Kopf schtteln.23 Die abschlieende Wertung, das Projekt Soziale kologie sei als ein im Kern ideologisches Unternehmen zu rekonstruieren (II, 705, FN 1244), lsst fr die Verhandlung ber deren Wissenschaftlichkeit nicht viel Gutes erwarten.

    Fast harmlos sind demgegenber die Anklagepunkte, in denen den Autoren des ISOE an vielen Stellen eine Nhe zur Sozialdemokratie vorgeworfen wird:

    Der vermeintliche Antikapitalismus und die habituelle Radikalitt werden verlassen, indem Worte ausgetauscht werden, die Theoreme jedoch bleiben. Es wird dann versucht, sie nicht mehr in der Sprache der scheinbar revolution-ren, sondern in der einer sozialdemokratischen und brgerlichen Ideologie zu formulieren. (II, 627, FN 907)

    Mehrfach schlgt G. den Autoren des ISOE ihre Interpretation der Geschichtsphiloso-phischen Thesen Walter Benjamins um die Ohren: Benjamin habe mit seinen Thesen den Faschismus vor Augen und nicht eine sozialkologische Krise:

    Benjamin argumentiert selbst [im Unterschied zu den ISOE-Autoren] aus ei-ner revolutionren marxistischen Position heraus. Sein Angriff auf den Fort-schrittsoptimismus richtet sich gegen die (reformistische) Sozialdemokratie. All dies wird von Becker und Jahn unterschlagen. (II, 588)24

    Und selbst Herbert Marcuse bleibt nicht von der anti-sozialdemokratischen Keule des Anklgers G. verschont. Denn der habe sich positiv auf Argumente des anarchisti-schen Sozialkologen Murray Bookchin bezogen, der dafr pldiert, Umweltschutz auch im Kapitalismus zu betreiben:

    Hier unterscheidet sich Marcuse wenig von der Sozialdemokratie mit ihrer Vorstellung der sich akkumulierenden Reformen. Marcuse formuliert einen (ontologischen) revolutionren Reformismus der Natur. [!?] (II, 845, FN 498)

    Das PS, bzw. das ISOE weise aber nicht nur eine politisch zu verurteilende Nhe zur Sozialdemokratie, bzw. zu einem Sozialdemokratismus auf25; auch eine Nhe zur Partei Die Grnen wird politisch-polemisch notiert und dementsprechend abqualifi-ziert. Und der Anklger kennt auch die Motive derartiger Annherungen:

    Die Soziale kologie will selbst zu jenem, den Lauf der Welt entscheidenden wissenschaftlichen Hegemon werden. (II, 613)

    23 Wir wissen nicht, warum G. derartige Zuschreibungen vornimmt und woher seine polemische Ener-

    gie stammt. hnliche Polemiken tauchen bereits in seiner Diplomarbeit auf (Gehrig 1992: 205).

    24 Vgl. zur Benjaminschen Kritik am sozialdemokratischen Technikoptimismus Greffrath 1975, eine Arbeit, die G. nicht zu kennen scheint. Weitere Stellen der Auseinandersetzung um Benjamins ber-legungen: II, 777, 883.

    25 Was dieser Vorwurf, angesichts der variablen politischen Gestalt der Sozialdemokratie seit der Grn-dung der SPD in concreto beinhaltet, bleibt bei G. undiskutiert.

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    Bei der Gerichtsverhandlung, in der politische Urteile gesprochen werden, geht es stndig auch um den wissenschaftlichen Status des PS. Hierzu wird abschlieend hart geurteilt:

    Es zeichnet sich ein Bild einer realpolitisch orientierten Wissenschaft ab, die methodisch pragmatisch, problemorientiert und projektfixiert [!?] ist. (II, 552)

    Hart ist dieses Urteil schon deshalb, weil eine realpolitisch orientierte Wissenschaft nach Auffassung des Anklgers nur noch wenig mit jener theoretisch ausgerichteten geistigen Aktivitt zu tun hat, denen er allein Wissenschaftlichkeit zubilligen kann. Er hat auch eine Vermutung ber die Grnde fr die Haltung des PS:

    Dabei knnte im Hintergrund die Idee der wissenschaftlichen Politikberatung einer grnen Regierungspartei stehen. (II, 552, FN 602)26

    Das vom Hauptverfahren abgetrennte Tribunal ber die Wissenschaftlichkeit der So-zialen kologie, ber das wir im 4. Kapitel sprechen, wird also mit einer Reihe politi-scher Anklagepunkte erffnet. Doch schwieriger wird es fr den Anklger, ein nicht nur politisch begrndetes Urteil ber die Wissenschaftlichkeit der Sozialen kologie zu sprechen, denn fr brgerliches Denken und realpolitische Orientierung sind deren Autoren ja bereits verurteilt. In dem abgetrennten Verfahren muss mit wissen-schaftlichen Kriterien geurteilt werden. Aber mit welchen?

    3 Ein fiktiver Schauprozess als akademisches Theater

    Die als Dissertation vorgelegte Abhandlung muss eine sachlich geschlossene, selbstndige Leistung des Bewer-bers in angemessener Darstellung sein und einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Wissenschaft leisten.

    (Promotionsordnung des Fachbereichs Gesellschafts-wissenschaften der Goethe-Universitt Frankfurt)

    Mit seiner These vom Ausstiegsszenario kologie erhebt G. gegen smtliche aktive Teilnehmer am kologischen Diskurs einen Generalverdacht: Stellen sie die System-frage und versuchen sie, die kapitalistischen Macht- und Herrschaftsverhltnisse revolutionr zu verndern? Suchen sie nach Alternativen zur Wissenschaft oder nur nach realisierbaren Alternativen in der Wissenschaft? Betreiben sie kritische oder traditionelle Wissenschaft? Argumentieren sie naturalistisch oder dialektisch? Seine Ausstiegsthese liefert scheinbar auch ein Kriterium, um die Motive und die Schwere des jeweiligen Vergehens zu ermitteln und ein politisches Urteil zu sprechen und

    26 Andere Stellen, in denen G. dem PS eine Nhe zur Politik der Grnen eher vorhlt als analytisch

    notiert: II, 525, 605, 641; aber es wird auch eine Kritik des PS an den Grnen zitiert: Wehling 1987: II, 568 die jedoch kurz danach als verfehlt kritisiert wird.

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    wissenschaftlich zu bemnteln. Angeklagt und verurteilt werden aber nicht nur ein-zelne Teilnehmer, sondern alle, die sich aktiv am kologische Diskurs beteiligen und ffentlich uern. G. ist davon berzeugt, dass sie ber die Naturfrage auf einen Umweg gefhrt werden und die Systemfrage nicht mehr stellen.

    Der kologische Diskurs thematisiert gesellschaftliche Verhltnisse, er tut dies ber den Umweg, dass er fr sich glaubt, die Natur, die natrlichen Be-dingungen von Gesellschaft oder das Verhltnis der Gesellschaft zur Natur zu thematisieren. (II, 907)

    Wer etwas als Umweg kennzeichnet, der scheint den direkten Weg zu kennen, jene Landstrae fr die Wissenschaft, von der Marx einmal sagte, dass es sie nicht gibt.27 Und wer wie G. beansprucht, den kologischen Diskurs dadurch zu entfalten und zu rekonstruieren, dass er jeden einzelnen Text als Manifestation von etwas ansieht, das dem ganzen Diskurs zugrunde liegt, der muss mit Umwegen rechnen:

    Die Annherung an einen Text ist immer schon ein Umweg, der durchlaufen werden mu, um das Gelnde der Ideologien, Wissenschaften und Philoso-phien zu vermessen, in dem jeder Diskurs angesiedelt ist. Aber dieses Terrain verndert sich; unerwartete Hindernisse, pltzliche Abkrzungen und Durch-brche erzwingen Umwege von dem Weg, der selbst schon ein Umweg war: ein Spiel der iterativen Annherung, in dem jeder Text nur aus der Distanz zu anderen Gestalt annimmt. (Brhmann 1980: 225)

    Wenn G. glaubt, trotz solcher Warnungen einen direkten Weg zu kennen, warum ist er ihn dann nicht gegangen? Anders gesagt: Warum versucht er nicht selbst, die kologische Krise konsistent zu begreifen, was er von Anderen so vehement einfor-dert? Dies hngt wohl damit zusammen, dass er mit seiner These vom Ausstiegssze-nario kologie auch die Handlungslinie seines Stckes und damit auch seine eigene Rolle festlegt. Nach seinem erklrten Selbstverstndnis entfaltet er als Wissen-schaftler den kologischen Diskurs und versucht,

    jene gesellschaftlichen Bewusstseinsformen, die hinter den unterschiedlichen kologischen oder sozialkologischen Beschreibungssprachen und Be-schreibungssystemen liegen, zugnglich zu machen, sie herauszuarbeiten. In-sofern wird der Diskurs auf spezifische Weise rekonstruiert und nicht ein-fach neutral dargeboten. (II, 907)

    Wrde er mit einer eigenen Beschreibungssprache und mit eigenem Vokabular ver-suchen, die gesellschaftlichen Naturverhltnisse zu begreifen, dann wre er aktiver Teilnehmer am kologischen Diskurs. Er msste dann auch die Bewusstseinsformen rekonstruieren, die hinter seinen Beschreibungen liegen, sich also selbstreflexiv verhalten. Dann knnte er aber auch die Rolle eines unbeteiligten externen Beobach-

    27 Es gibt keine Landstrae fr die Wissenschaft, und nur diejenigen haben Aussicht, ihre lichten

    Hhen zu erreichen, die die Mhe nicht scheuen, ihre steilen Pfade zu erklimmen. (MEW 23: 31)

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    ters, der eine spezifische Rekonstruktion vornimmt, nicht weiterspielen. Was dieses Spezifische ist, was den Bezugspunkt seiner Rekonstruktion auszeichnet, wie er den Inhalt der Anstze in eine konsistente Form bringt (ebd.), wie sein kritisch-darstellendes Verfahren funktioniert, das will und kann G. nicht explizieren, denn dies wrde nach seiner Meinung ja bedeuten, die Arbeit vor der Arbeit zu schrei-ben. (ebd.) Er verweist uns arme Leser auf die Lektre seines gewaltigen Werkes, dem wir seine Methode entnehmen sollen.

    Wie schon gesagt: Wir haben uns entschlossen, den Text seines Werkes, der im Duk-tus einer wissenschaftlich drapierten Anklageschrift verfasst ist, als Dokumentation zweier fiktiver Gerichtsverfahren zu lesen, die von dem Autor als Schauprozess auf zwei Bhnen inszeniert werden. Im politischen Prozess ist der Autor fr die Beweis-aufnahme zustndig, zitiert Zeugen herbei, verfasst die Anklageschrift, spricht das Urteil aus und verhngt die Strafe. Im wissenschaftlichen Tribunal verwandelt er sich in einen Experten, uert sich ex cathedra gutachterlich und spricht Urteile ber Wis-senschaftlichkeit aus. Durch eine derartige Lektre wird der Text an einem unterleg-ten Subtext gespiegelt und so als juristischer Text erschlossen. Es wre wohl etwas zu prtentis, dies als symptomatische Lektre im Sinne von Louis Althusser zu be-zeichnen, obwohl wir uns durchaus an dessen Vorgehen bei der Lektre Marxscher und marxistischer Texte orientieren. Auch wir versuchen, unter die Oberflche des sichtbaren Textes zu gelangen, durch Spiegelung an einem Subtext das Unsichtbare und die Versehen sichtbar zu machen, die Lcken in der Dichte des Textes und die leeren Stellen in seinem Zusammenhang zu identifizieren. Eine derartige symptoma-tische Lektre ist ein produktiver Vorgang, denn es gibt keine unmittelbare Lektre, keine einfache Transparenz des Textes. Die Lektre whlt aus dem Geschriebenen eine mgliche Lesart aus, sie produziert daher den gelesenen Text noch einmal neu.

    Lesen , das heit eine Problematik praktizieren, einen Text zum Funktionie-ren bringen. Lesen , das heit den Text, ausgehend von seiner Entzifferung, dekodieren und (nach)lesen. (Karsz 1976: 20)

    Problematisch ist unsere Lektre schon deshalb, weil Gehrig schlielich kein Groin-quisitor der katholischen Kirche ist, kein Chefanklger in einem stalinistischen Su-berungsprozess, kein Vorsitzender eines Partei-Ausschlussgremiums, kein Gesin-nungsprfer in einem Berufsverbotsverfahren und er wrde derartige Zuschreibun-gen sicherlich zu Recht emprt zurckweisen. Auffllig ist allerdings, wie stark seine Sprache und insbesondere seine Invektiven an derartige negative Vorbilder erinnern: Reduktion Marxscher Begriffe (I, 233), unzulssige bertragung naturwissen-schaftlicher Inhalte auf Marxsche Begriffe (I, 233), metaphysische Vorstellung (I, 372), romantizistisches Naturbild (II, 894), szientifische Naturwissenschaftsglu-bigkeit (II, 897), Tradition der reaktionren Heimatschutzbewegung (I, 401). Das sind nur einige Beispiele aus der langen Liste seines polemischen Vokabulars.

    G. befindet sich mit derartiger Polemik durchaus in guter Gesellschaft. Marx und Engels verfgten ber ein groes Arsenal an Invektiven und Schmhungen, mit de-nen sie ihre politischen Gegner berzogen, bekmpften und politisch auszuschalten

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    versuchten. Viele Marxisten haben versucht, den Stil dieser Polemik zu imitieren und Kritik im Duktus einer Anklageschrift zu verfassen. Ein berhmtes Beispiel dafr ist Lenins Materialismus und Empiriokritizismus. Kritische Bemerkungen ber eine re-aktionre Philosophie aus dem Jahre 1908.

    Sicherlich, es wre unredlich, Gehrig mit Lenin historisch und politisch auf eine Stufe zu stellen, es geht uns hier nur um stilistische hnlichkeiten. Seine Abhandlung ist schlielich keine Anklageschrift in einem realen Strafprozess, er klagt und urteilt lediglich in einem Bhnenstck, das in seiner hermetischen Phantasiewelt spielt. In der Fiktion kann er viele Rollen einnehmen, sich als Anklger und als Richter mas-kieren, er kann im Stil eines Anklgers sprechen und wie ein unbestechlicher Richter auftreten. Allerdings besitzt er keine wirkliche Macht und er kann auch keine Strafen verhngen. Ziemlich unwahrscheinlich ist es auch, dass ihm sein Opus jenes Ma an ffentlicher Aufmerksamkeit verschaffen wird, aus der publizistischer Einfluss und intellektuelle Deutungsmacht hervorgehen. Wie andere Gralshters eines orthodoxen Marxismus auch, kann er weiterhin versuchen, sich wie ein Anklger und Richter zu verhalten, den seine Orthodoxie legitimiert, ber Abweichler zu Gericht zu sitzen. Doch Gehr wird er auerhalb des Kreises der Eingeweihten, seiner kleinen linken antikapitalistischen Gemeinde, wohl nur dann finden, wenn er berzeugend und ffentlich darlegen kann, was ihn berechtigt, diese Rollen zu spielen auch dann, wenn er seine Orthodoxie als wahre kritisch-marxistische Theorie deklariert und mit einer Sammlung von Zitaten aus den Schriften von Kant, Marx, Adorno und Hork-heimer ausstaffiert. Solange daraus keine fundierten Analysen des gegenwrtigen globalen Kapitalismus und der kologischen Krise hervorgehen, bleibt das alles wenig berzeugend. Eine zeitdiagnostisch fruchtbare und empirisch gehaltvolle kritische Theorie der Gesellschaft