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Propriety of the Erich Fromm Document Center. For personal use only. Citation or publication of material prohibited without express written permission of the copyright holder. Eigentum des Erich Fromm Dokumentationszentrums. Nutzung nur für persönliche Zwecke. Veröf- fentlichungen – auch von Teilen – bedürfen der schriftlichen Erlaubnis des Rechteinhabers. Seite 1 von 9 Bader, A., 1987a Der Begriff der Autorität bei Erich Fromm Der Begriff der Autorität bei Erich Fromm Armin Bader Zuerst veröffentlicht unter diesem Titel in: J. Claßen (Hg.), Erich Fromm und die Pädagogik. Gesell- schafts-Charakter und Erziehung, Weinheim und Basel: Beltz Verlag, 1987, S. 61-75. - Literaturnach- weise ohne Autorenangabe beziehen sich auf die 12bändige Erich Fromm-Gesamtausgabe (GA), hg. von Rainer Funk, München: DVA und dtv, 1999. Copyright © 1987 und 2011 by Dr. Armin Bader, St. Josef Hospital, Gudrunstr. 56, 44791 Bochum, E-Mail: A.Bader[at-symbol]derma.de Einleitung Der Begriff der Autorität ist in pädagogischer Diskussion und in abendländisch philosophisch- ethischen Werken wohl einer der meistdiskutier- ten und umstrittensten. Ich glaube, dass ohne ihn pädagogisches Interesse nicht möglich ist. So spiegelt die jeweilige Diskussion und Beurteilung von Autorität ein betreffendes Ethos wieder, welches in grundlegenden philosophisch- ethischen und politischen Überzeugungen grün- det. Diese müssen mitbedacht werden, soll ein Verständnis von Autorität erläutert werden, wie es von einem bestimmten Autor vertreten wird - in unserem Fall von Erich Fromm. Daher werde ich zuerst versuchen, das Menschenbild bei Fromm für uns greifbar zu machen, aus dem her- aus wir dann die Grundformen der Autorität, wie sie uns Fromm überliefert, erschließen kön- nen. Diese Grundformen lassen sich unterteilen zum einen in Arten der Autorität (Autorität in der Existenzweise des Seins und des Habens/ ra- tionale und irrationale Autorität), zum anderen in Formen der Autorität (offene und anonyme Autorität). Dabei können wir allen Grundfor- men bestimmte Charakterorientierungen zuord- nen, die, da sie aus dem Menschenbild bei Fromm resultieren, es uns ermöglichen, auch die Grundformen der Autorität einer ethischen Be- trachtung zu unterziehen. Der vorliegende Artikel möchte das Autori- tätsverständnis im Werk Erich Fromms anhand der Darstellung der von Fromm erwähnten Grundformen der Autorität erörtern und die pädagogische Diskussion um den Begriff der Au- torität ein Stück weit bereichern. 1. Das Menschenbild bei Erich Fromm Erich Fromm gilt als einer der ersten Psychoana- lytiker, die den Versuch wagten, ethisch verbind- liche Aussagen als Kriterium für menschliches Verhalten und Leben aus der psychoanalytischen Praxis herauszufiltern, um die Grundlage für ein Menschenbild zu schaffen, das Leitlinien für „richtiges“ Leben - d.h. eine Lebensform, die dem Menschen als solchem innewohnt - ab- zugeben vermag: „Noch überraschender ist sein Standpunkt (der Standpunkt des ethisch argumentierenden Analy- tikers, AdV), die Psychologie habe nicht nur die Pflicht, falsche ethische Urteile zu demaskieren, sondern sie könne auch bei der Aufstellung ob- jektiver und gültiger Normen der Lebensführung als Grundlage dienen“ (1947a, GA II, 3). Möchte Fromm über das menschliche Sein ethische Aussagen fällen, so kommt er nicht um- hin, eine irgendwie geartete Natur des Men- schen anzunehmen. Diese aber erkennt Fromm nicht in irgendeinem und irgendwie gearteten biologischen Naturbegriff, sondern in der be- sonderen existentiellen Situation des Menschen selbst: „Bewusstsein seiner selbst (des Menschen, AdV), Vernunftbegabung und Vorstellungs-

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Eigentum des Erich Fromm Dokumentationszentrums. Nutzung nur für persönliche Zwecke. Veröf-fentlichungen – auch von Teilen – bedürfen der schriftlichen Erlaubnis des Rechteinhabers.

Seite 1 von 9 Bader, A., 1987a

Der Begriff der Autorität bei Erich Fromm

Der Begriff der Autorität bei Erich Fromm

Armin Bader

Zuerst veröffentlicht unter diesem Titel in: J. Claßen (Hg.), Erich Fromm und die Pädagogik. Gesell-schafts-Charakter und Erziehung, Weinheim und Basel: Beltz Verlag, 1987, S. 61-75. - Literaturnach-weise ohne Autorenangabe beziehen sich auf die 12bändige Erich Fromm-Gesamtausgabe (GA), hg. von Rainer Funk, München: DVA und dtv, 1999.

Copyright © 1987 und 2011 by Dr. Armin Bader, St. Josef Hospital, Gudrunstr. 56, 44791 Bochum, E-Mail: A.Bader[at-symbol]derma.de

Einleitung Der Begriff der Autorität ist in pädagogischer Diskussion und in abendländisch philosophisch-ethischen Werken wohl einer der meistdiskutier-ten und umstrittensten. Ich glaube, dass ohne ihn pädagogisches Interesse nicht möglich ist. So spiegelt die jeweilige Diskussion und Beurteilung von Autorität ein betreffendes Ethos wieder, welches in grundlegenden philosophisch-ethischen und politischen Überzeugungen grün-det. Diese müssen mitbedacht werden, soll ein Verständnis von Autorität erläutert werden, wie es von einem bestimmten Autor vertreten wird - in unserem Fall von Erich Fromm. Daher werde ich zuerst versuchen, das Menschenbild bei Fromm für uns greifbar zu machen, aus dem her-aus wir dann die Grundformen der Autorität, wie sie uns Fromm überliefert, erschließen kön-nen.

Diese Grundformen lassen sich unterteilen zum einen in Arten der Autorität (Autorität in der Existenzweise des Seins und des Habens/ ra-tionale und irrationale Autorität), zum anderen in Formen der Autorität (offene und anonyme Autorität). Dabei können wir allen Grundfor-men bestimmte Charakterorientierungen zuord-nen, die, da sie aus dem Menschenbild bei Fromm resultieren, es uns ermöglichen, auch die Grundformen der Autorität einer ethischen Be-trachtung zu unterziehen.

Der vorliegende Artikel möchte das Autori-tätsverständnis im Werk Erich Fromms anhand der Darstellung der von Fromm erwähnten

Grundformen der Autorität erörtern und die pädagogische Diskussion um den Begriff der Au-torität ein Stück weit bereichern.

1. Das Menschenbild bei Erich Fromm Erich Fromm gilt als einer der ersten Psychoana-lytiker, die den Versuch wagten, ethisch verbind-liche Aussagen als Kriterium für menschliches Verhalten und Leben aus der psychoanalytischen Praxis herauszufiltern, um die Grundlage für ein Menschenbild zu schaffen, das Leitlinien für „richtiges“ Leben - d.h. eine Lebensform, die dem Menschen als solchem innewohnt - ab-zugeben vermag: „Noch überraschender ist sein Standpunkt (der Standpunkt des ethisch argumentierenden Analy-tikers, AdV), die Psychologie habe nicht nur die Pflicht, falsche ethische Urteile zu demaskieren, sondern sie könne auch bei der Aufstellung ob-jektiver und gültiger Normen der Lebensführung als Grundlage dienen“ (1947a, GA II, 3).

Möchte Fromm über das menschliche Sein ethische Aussagen fällen, so kommt er nicht um-hin, eine irgendwie geartete Natur des Men-schen anzunehmen. Diese aber erkennt Fromm nicht in irgendeinem und irgendwie gearteten biologischen Naturbegriff, sondern in der be-sonderen existentiellen Situation des Menschen selbst:

„Bewusstsein seiner selbst (des Menschen, AdV), Vernunftbegabung und Vorstellungs-

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vermögen haben jene „Harmonie“ zerbro-chen, die für das tierische Bewusstsein cha-rakteristisch ist, (... ). Wenn er sich seiner selbst bewusst wird, erkennt er die eigene Ohnmacht und Grenzen seiner Existenz“ (1947a, GA II, 30).

Diese existentielle Dichotomie des Menschen - die die Endlichkeit des menschlichen Seins er-kennende Vernunftbegabung einerseits, und das in der Emotionalität verankerte Bedürfnis nach Einheit und Harmonie mit der den Menschen umgebenden Natur andererseits formuliert nach Fromm die eigentliche Natur des Menschen und benennt gleichzeitig seine existentielle ethische Aufgabe: die Lösung der existentiellen Dichoto-mie durch Wiederherstellung einer neuen und harmonischen Bezogenheit von Mensch und Na-tur - einer harmonischen Bezogenheit aber, die das durch die Vernunftbegabung gesetzte Selbst-bewusstsein und die menschliche Identität nicht verleugnen darf, sondern erhält und seine Iden-tität bewahrt.

Nach Fromm aber gibt es nur einen Weg zur Einheit von Mensch und Natur, der sowohl dem Anspruch gerecht wird, die verlorengegan-gene Einheit von Mensch und Natur aufzuheben und gleichzeitig menschliche Integrität und Un-abhängigkeit zu erhalten vermag: der produktiv auf die Welt bezogene liebende Mensch, die lie-bende Charakterorientierung:

„Es gibt nur einen Weg zur Einheit, der ge-lingen kann, ohne den Menschen zu ver-krüppeln. (... ) Die großen Religionen, die auf dem Boden dieser Kulturen entstanden sind, lehrten, dass der Mensch die Einheit nicht durch das tragische Bemühen erringen kann, seine innere Zerspaltenheit durch Aus-schaltung der Vernunft aufzuheben, sondern alleine dadurch, dass er seine Vernunft und Liebe voll entwickelt.“ (1973a, GA VII, 211)

„Liebe ist in erster Linie nicht Bindung an eine besondere Person, sie ist vielmehr eine Haltung, eine Orientierung des Charakters, die das Verhältnis einer Person zur Welt als Ganzes, nicht aber zu einem einzigen „Ob-jekt“ der Liebe bestimmt“ (1956a, GA IX, 467).

Ein Mensch hingegen, dem es nicht gelingt, Ver-nunft und Liebe voll zu entwickeln und der es nicht vermag, dem Leben einen produktiven Sinn abzuringen, verkümmert in seinem eigens-ten Wesen - und nicht-produktive Formen der Bezogenheit ersetzen die liebende Charakterori-entierung (vgl. 1947a,71; GA II, 44-56). Tatsäch-lich ist es einzig der produktiv auf die Welt be-zogene und liebende Mensch, der das in der existentiellen Situation des Menschen wurzelnde Paradoxon erfüllt, sowohl er selbst als auch in Harmonie mit der ihn umgebenden Welt zu sein, der seine menschliche Natur produktiv verwirklicht, indem er die Forderung erfüllt, „wirklicher“ Mensch zu sein, d. h. seinem Sein entsprechend wächst und sich entfaltet - und somit sich selbst und seine Möglichkeiten wahr-haft verwirklicht. Als ein solcher Mensch aber ist er authentische Autorität: Autorität in der Exis-tenzweise des Seins.

2. Grundformen der Autorität 2.1 Seinsautorität und Autorität in der Existenz-weise des Habens „Autorität, die im Sein gründet, basiert nicht auf der Fähigkeit, bestimmte gesellschaftliche Funk-tionen zu erfüllen, sondern gleichermaßen auf der Persönlichkeit eines Menschen, der ein hohes Maß an Selbstverwirklichung und Integration er-reicht hat. Ein solcher Mensch strahlt Autorität aus, ohne drohen, bestechen oder Befehle ertei-len zu müssen; es handelt sich einfach um ein hochentwickeltes Individuum, das durch das, was es ist - und nicht nur, was es tut oder sagt - demonstriert, was der Mensch sein kann“ (1976a, GA II, 299).

Eine Analyse des Begriffes der Seinsautorität verweist uns zunächst auf die Existenzweise des Seins, wie sie uns Fromm in „Haben oder Sein“ expliziert. Wird diese auf einen Menschen bezo-gen, der im Sein lebt, meint sie in erster Linie die seelische Übereinstimmung von Handlung und Charakterorientierung, von Aussage und Sein, die in der psychischen Totalität des Individuums gründet. Seinsautorität kennzeichnet die voll-kommene Integrität einer Persönlichkeit, die

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Der Begriff der Autorität bei Erich Fromm

eben darum, weil sie ein hohes Maß an Integri-tät besitzt, Autorität ist. Der Begriff der „persön-lichen Autorität“, in der Pädagogik oft miss-braucht und seiner genuinen Bedeutung ent-fremdet, weist Ähnlichkeit auf mit dem Fromm-schen Begriff der Seinsautorität; doch bleibt je-ner meist vage und erfährt keine psychologische Differenzierung.

Fromms Theorie der Bezogenheit, seine Entdeckung der produktiven liebenden Charak-terorientierung in ihrem Unterschied zu nicht-produktiven Charakterorientierungen erkennt die psychologische Dimension von authentischer Autorität und vermag diese zu definieren: Auto-rität, die im Sein gründet, verrät die Anwesen-heit produktiver Charakterorientierung, da diese allein Selbstverwirklichung und Integration ga-rantiert, diese aber wiederum als Voraussetzung für die Anwesenheit von Seinsautorität in einer Person gelten dürfen.

Weiter kann der Begriff der Seinsautorität in Zusammenhang gebracht werden mit der von Fromm vollzogenen Neubestimmung und Rück-besinnung auf ein Verständnis von „Tugend“, wie es schon in abendländisch-humanistischer Philosophie formuliert worden ist. Rainer Funk führt hierzu aus:

„Entscheidend ist das Ethos, das heißt die Haltung, die der Charakter-Orientierung entspringt (und nicht die Gesinnung oder die bewusste Absicht bzw. das bewusste Motiv, der Wert oder die Norm, der gemäß sich ein Mensch verhält). Fromm greift also das Anliegen der Tugendlehre wieder auf, wie es von Aristoteles, Thomas v. Aquin und Spinoza formuliert wurde, freilich mit dem Unterschied, dass Fromm die Tugen-den und Laster von den jeweiligen Charak-ter-Orientierungen her bestimmt und so dem Anspruch gerecht wird, das Sittliche auch an der Vernunft der unbewussten Kräf-te zu messen“ (1976a, GA II, 419).

Etymologisch können wir das Wort „Autorität“ bis in das antike Rom zurückverfolgen. Es ist aus dem Lateinischen abgeleitet: augere = vermeh-ren, vergrößern; auctor = der Urheber und auc-toritas = Bürgschaft bei Geschäften. Lassen wir einmal den rechtlichen Aspekt des auctoritas-

Begriffes außer acht, so finden wir bei Cicero ei-ne Auffassung von Autorität, wie sie dem Frommschen Begriff der Seinsautorität sehr nahe kommt: Bei Cicero wird der Begriff der auctori-tas gebunden an die Tugenden der die auctoritas tragenden Persönlichkeit, vornehmlich an virtus und ingenium: an die die Gesamtpersönlichkeit durchdringende geistige Haltung und schöpferi-sche Vernunfttätigkeit1.

Da Fromm seine humanistische Ethik auch anlehnt an die „Nikomachische Ethik“ des Aris-toteles (vgl. 1947a, GA II, 21), die römische „vir-tus“ hingegen - trotz latinischer Prägung - ohne ihr griechisches Vorbild nicht zu denken ist, er-scheint es legitim, den Frommschen Begriff der produktiven Charakterorientierung und seine Beziehung zu vernunftgemäßem Handeln als Vorbedingung von im Sein gegründeter Autori-tät in Analogie zu Ciceros traditionellem Begriff von „virtus“ und „ingenium“ als Vorbedingung von auctoritas zu bringen. Hierdurch wird deut-lich, welch fundamentale Bedeutung dem Begriff der Seinsautorität innewohnt, lässt sich doch sei-ne Jahrtausende alte Tradition aufzeigen. Die im Sein gegründete Autorität repräsentiert die ein-zig authentische und produktive Form der Auto-rität, die Fromm in seinem Werk als eine in ers-ter Linie seelische Autorität beschreibt (vgl. auch Kap. 2.2 des Artikels: Auch die rationale Autori-tät ist für Fromm eine produktive Art von Auto-rität, allerdings eine nicht primär und zuerst see-lische Autorität.) Ihr gegenüber steht die in der Existenzweise des Habens gegründete Autorität, eine Form von Autorität, der wir besonders in hierarchisch strukturierten Gesellschaftsformen begegnen. Hier bilden nicht mehr ethisch rele-vante Kategorien wie Integrität und Selbstver-wirklichung oder Kompetenz das Kriterium für Autorität, sondern der Besitz von Titel und Uni-form: „Was immer die Gründe sind für den Ver-lust der kompetenzverleihenden Eigenschaften - es kommt in den meisten größeren und hierar-chisch gegliederten Gesellschaften zu einem Pro-zess der Entfremdung der Autorität. Die reale oder fiktive ursprüngliche Kompetenz geht auf die Uniform oder den Titel über“ (1976a,GA II,

1 Vgl. Lütcke, K. H.: Auctoritas bei Augustin, Kohl-

hammer Verlag, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1966, S. 30.

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Der Begriff der Autorität bei Erich Fromm

300). Man ist nicht mehr Autorität, sondern man

hat Autorität. Nun liegt es zwar durchaus im Be-reich des Möglichen, dass eine Titel und Uni-form tragende Autorität eine auch im Sein ge-gründete Autorität verkörpert, allein, die Ver-selbständigung von hierarchischen und bürokra-tischen Strukturen erfordert nicht mehr die Seinsautorität als notwendige conditio sine qua non, der Begriff der Autorität wird daher seinem eigentlichen Ursprung, Seinsautorität zu reprä-sentieren, entfremdet und der Existenzweise des Habens überantwortet. Dies aber hat auch den Verlust einer gesellschaftlichen Vorherrschaft der produktiven Charakterorientierung zur Folge: diese weicht einer Charakterstruktur, die einem bürokratisch-hierarchischen System entspricht, ja, durch sie erst institutionell und sozialpsycholo-gisch möglich wird: der sadomasochistischen Charakterorientierung.

Erich Fromm hat die Begriffe der im Sein bzw. im Haben gegründeten Autorität zunächst als psychologische und sozialpsychologische Ka-tegorien entwickelt. Das folgende Kapitel hinge-gen untersucht zwei Grundformen praktizierter Autoritätsausübung, die in erster Linie als institu-tionell-gesellschaftliche Arten von Autorität kon-zipiert worden sind und deren psychologische Komponenten erst durch nachträglichen Rekurs auf die zunächst psychologisch definierten Auto-ritätsbegriffe resp. den Charakterorientierungen deutlich werden. 2.2 Rationale und irrationale Autorität Fromm unterscheidet zwei Formen von Autori-tät, denen wir im gesellschaftlichen Alltag dort, wo wir soziale Rollen einnehmen, begegnen: ra-tionale und irrationale Autorität. Beide definiert er in folgendem Zitat und grenzt sie gleichzeitig gegeneinander ab:

„Ein Beispiel für ‘rationale Autorität’ ist die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler; ein Beispiel für ‘irrationale Autorität’ ist die Be-ziehung zwischen Herr und Sklave. Beide Beziehungen beruhen darauf, dass die Auto-rität dessen, der die Befehle erteilt, akzep-tiert wird. Dynamisch gesehen, sind sie je-

doch verschiedener Natur. (... ) Die Überle-genheit des einen über den anderen hat in beiden Fällen eine unterschiedliche Funkti-on. Im ersten Fall ist sie Voraussetzung für die Möglichkeit, den der Autorität Unter-worfenen zu fördern; im zweiten Fall ist sie die Voraussetzung für seine Ausbeutung. Ein anderer Unterschied läuft diesem parallel: Die rationale’ Autorität ist deshalb rational, weil die Autorität, ob sie sich nun beim Leh-rer befindet oder etwa beim Kapitän eines Schiffes, der in einer Notsituation seine Be-fehle erteilt, im Namen der Vernunft han-delt, die ich weil sie universal ist - akzeptie-ren kann, ohne mich zu unterwerfen. Irrati-onale Autorität muss sich der Gewalt (oder der Suggestion) bedienen, weil sich nie-mand ausbeuten ließe, wenn es ihm frei-stünde, es zu verhindern“ (1963d, GA IX, 370).

Der Begriff der „rationalen Autorität“ erscheint zum ersten Mal in den „Studien über Autorität und Familie“ (Paris 1936), dem 5. Band der Schriften des Instituts für Sozialforschung, das 1934 von Frankfurt/M. nach New York emigrie-ren musste: Herbert Marcuse konzipiert in An-lehnung an Engels den Begriff einer „echten Au-torität“, die unlösbar mit „Organisation Ober-haupt verbunden ist: eine auf sachlich-rationalen Voraussetzungen gegründete Subordination un-ter wirkliche Leitung und Leistung, -Arbeitsdisziplin“2. Voraussetzung einer solchen „Organisation“ ist freilich die Identität der Inte-ressensphären von Über- und Untergeordneten, die Fromm zuletzt in primitiven Gesellschaftsor-ganisationen ausmachen kann (vgl. „Studien über Autorität und Familie“ Bd. 5 der Schriften des Instituts für Sozialforschung (Paris 1936) S. 112; GA I, 170). Ist die Identität der Interessen-sphären der im Autoritätsverhältnis stehenden Partner durch beiderseitige und freiwillige Aner-kennung gegeben und das Vertrauen des Unter-geordneten in das solidarische Interesse des Au-toritätsträgers begründet, so gründet das Autori-tätsverhältnis auf rational-vernünftigem Diskurs.

2 Max Horkheimer (Hrsg.): Studien über Autorität

und Familie, 5 Bd., Libraire Felix Alcan, Paris 1936, S. 210.

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Der Begriff der Autorität bei Erich Fromm

Dieser Diskurs aber ist als Vorbedingung eines künftigen rationalen Autoritätsverhältnisses nur zwischen Menschen möglich, die schon eine ge-wisse Fähigkeit zu rational-vernünftigem Denken entwickelt haben. Entreißen wir hingegen den Begriff der rationalen Autorität seinem unmittel-bar gesellschaftlichen Horizont und definieren ihn - wie es Fromm in seinem späteren Werk un-ternimmt - auch als eine pädagogisch-psychologische Kategorie, die unter anderem auch das pädagogische Eltern-Kind-Verhältnis re-flektiert, versagt der rationale Diskurs als aus-schließliches Kriterium für das Funktionieren ra-tionaler Autoritätsausübung (Bsp. 1: Die Eltern-Kind-Beziehung kann nicht von Anbeginn auf ra-tionalen Diskurs gegründet sein, da das Klein-kind noch nicht über die Fähigkeit zu rational-vernünftigem Denken auf der Basis eines sich frei bestimmenden Selbstbewusstseins verfügt; Bsp. 2: Das Lehrer-Schüler-Verhältnis mag zwar als in-stitutionelle Konzeption dem Kriterium rationa-ler Autorität gerecht werden, der Lehrer selbst jedoch kann bei seiner ausübenden Praxis durch-aus eine sadomasochistische Charakterorientie-rung verraten, die den rationalen Anspruch des Autoritätsverhältnisses untergräbt). Die pädago-gische Definition von rationaler Autorität erfor-dert daher einen Modus von Autorität, der zu seinem Funktionieren nicht bloß auf vernünftige Argumentation angewiesen sein kann, sondern das rationale Argument übersteigt und eine intu-itive Komponente einführt: das Gelingen der Autoritätsbeziehung durch Seinsautorität3.

„Das Problem der Erziehung dreht sich um diese Frage (der Frage nach Legitimation von Autorität in der Erziehung, AdV). Wären die El-tern selbst entwickelter und ruhten sie in ihrer eigenen Mitte, gäbe es kaum den Streit um auto-ritäre oder laissez-faire Erziehung. Das Kind rea-giert sehr willig auf diese Seinsautorität, da es diese braucht; es rebelliert dagegen, von Leuten gezwungen oder vernachlässigt zu werden, die erkennen lassen, dass sie selbst nicht geleistet ha-ben, was sie vom heranwachsenden Kinde ver-langen“ (1976a, GA II, 299).

Das Gelingen einer rationalen Autoritätsbe-

3 Vgl. zum Begriff Seinsautorität Kap. 2.1 des vorlie-genden Artikels.

ziehung erfordert die im Sein gegründete Autori-tät des Autoritätsträgers selbst, erst die Identität von Aussage und Charakter, d.h. eine im weites-ten Sinne ehrliche Kommunikation, erzeugt die Basis für eine wirkliche Autoritätsbeziehung, in welcher der von der Autorität geleitete Mensch selbst produktive Charakterorientierung als vor-gelebtes Beispiel erfahren und daraufhin in sich selbst entdecken kann. Diese Entdeckung aber liefert nun die Grundlage für eine mögliche Auf-hebung des Autoritätsverhältnisses oder seine Umwandlung in ein solches, dessen Gelingen an einen rationalen Diskurs gebunden ist.

Eine Erziehungspraxis jedoch, die im oben genannten Sinne rationale Autorität als Beispiel vorlebt und durch diese überzeugt, gestaltet das pädagogische Umfeld von humaner Erziehung. Erich Fromms pädagogisches Interesse, das nie-mals darin bestand, eindeutig edukative Hand-lungsanweisungen aufzeigen zu wollen, da er um deren Missbrauch zur Manipulation und Fremdbestimmung wusste, und uns daher auch keine explizite Definition von „humaner Erzie-hung“ geliefert hat, offenbart uns hier seine tiefs-te pädagogische Überzeugung: Es geht nicht um die alternative Entscheidung von antiautoritären oder autoritären Erziehungsmodellen, sondern um das Wie überzeugend gelebter, rationaler Autorität. Ist dieses Problem erst einmal gelöst, hat sich auch die pädagogische Diskussion um den Autoritätsbegriff von selbst erledigt.

So begreift Fromm folgerichtig das Erzie-hungsmodell „Summerhill“ als eine Form prakti-zierter rationaler Autorität, gegründet auf die natürliche Seinsautorität A. S. Neills (vgl. GA IX, 415-424). In Summerhill wird Freiheit nicht mit Zügellosigkeit verwechselt, sondern als Voraus-setzung für biophiles Wachstum erkannt.

„Freiheit ist nicht Zügellosigkeit. Dieser sehr wichtige Grundsatz, den Neill deutlich heraus-stellt, besagt, dass beide Seiten Achtung vor dem anderen Menschen haben müssen. (... ) Ein Kind hat nicht das Recht, einem Erwachsenen lästig zu fallen oder ihn unter Druck zu setzen, nur weil es ein Kind ist“ (GA IX, 4114).

„Summerhill“ ist ein Ausdruck von Biophi-

4 Erich Fromms Vorwort in: A. S. Neill: Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung: das Beispiel Summerhill, rororo Sachbuch, Hamburg 1983, S. 14f.

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Der Begriff der Autorität bei Erich Fromm

lie. Die praktische Anwendung von Neills Grundsätzen „fördert die Liebe zum Leben“ (GA IX, 416).

Eine „antiautoritäre“ Erziehung hingegen, die - analog den Berliner Kinderläden - eine schrankenlose laissez-faire Pädagogik betreibt, hätte in Fromm sicherlich keinen Fürsprecher ge-funden; Fromm betont an mehreren Stellen sei-nes Werkes die für das Kleinkind notwendige Seinsautorität, und im Vorwort zu Neills „Sum-merhill“5 kritisiert er Neills Überschätzung der Sexualität für die Entwicklung des Heranwach-senden (vgl. GA IX, 413). Der Vorherrschaft ei-ner hedonistischen Anthropologie stellt Fromm sein ganzheitliches Menschenbild entgegen, das die existentielle Frage nach dem „guten“ Leben in der Verwirklichung biophiler EthosFormen re-alisiert sehen möchte und in welchem gelebte, nicht verdrängte Sexualität in Beziehung gesetzt wird zur Totalität der Charakterstruktur des Ein-zelnen. Analog dem Begriff der rationalen Autorität ist auch der Begriff der „irrationalen Autorität“ zu-nächst als gesellschaftliche Kategorie eingeführt worden. Dies bezeugt auch das oben erwähnte Zitat, in dem das Herr-Knechtschaftsverhältnis als irrationales Autoritätsverhältnis apostrophiert wird, ebenso wie die Genese des Begriffs in den „Studien über Autorität und Familie“. Hier schon wurde der Begriff der „irrationalen Auto-rität“ in die soziologische Diskussion eingeführt und als bestimmte gesellschaftliche Konstante definiert: Gemäß den „Studien“ wird ein Autori-tätsverhältnis dann irrational, wenn zwar die ge-sellschaftliche und ökonomische Situation einer betreffenden Gesellschaft den bis dato Be-herrschten eine reale Möglichkeit zur Emanzipa-tion bieten könnte, der gesellschaftliche Autori-tätsträger jedoch - unter kapitalistischen Produk-tionsverhältnissen der Kapitaleigentümer - das bestehende Autoritätsverhältnis entgegen der objektiven sozio-ökonomischen Entwicklung beibehalten möchte, aber hierfür zusätzlichen psychologischen Druck ausüben muss: „Erst. wenn die Beherrschten tatsächlich bessere Le-

5 Vgl. Erich Fromms Vorwort in: A. S. Neill: Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung: das Bei-spiel Summerhill, rororo Sachbuch Hamburg 1983, S. 16f.

bensbedingungen und größere Lebenssicherheit gewinnen könnten, wird die psychologische Funktion der Autorität irrational, um so mehr bedarf die Autorität dann der künstlichen psy-chologischen Stärkung“ (1936a, GA I, 179).

Beansprucht die rationale Autorität als ge-sellschaftliche Konstante eine gleiche Interessen-lage bei Autoritätsträger und Beherrschtem, so setzt der Begriff der irrationalen Autorität gerade deren Dissens voraus - und dieser besteht eben in materieller und / oder ideeller Ausbeutung. Im kapitalistischen Produktionsprozess erscheint daher die irrationale Autorität als eine immanent vorhandene und produziert fortwährend ihre eigene Ideologie zur Herrschaftslegitimation6.

Eine sozialpsychologische Analyse der irra-tionalen Autorität darf sich nun freilich nicht bei dem bloßen Aufweis einer Korrelation von irra-tionaler Autorität und bestimmten sozio-ökonomischen Gesellschaftsformen beschränken, sondern muss auch die sozialpsychologische Ur-sache aufzeigen können, die für das reibungslose Funktionieren praktizierter irrationaler Autorität verantwortlich zeichnet.

Wir haben sowohl in der zunächst sozial-psychologisch definierten Seinsautorität als auch in der mehr sozialökonomisch orientierten rati-onalen Autorität die produktive Charakterorien-tierung als bestimmte Grundlage für deren sinn-volle Praxis entdeckt; jetzt aber können wir auch mit Fromm eine nicht-produktive Charakterori-entierung als bestimmende Grundlage für die Praxis der irrationalen Autorität ausmachen: die sado-masochistische Charakterstruktur:

„In der autoritären Gesellschaft wird der sadomasochistische Charakter durch die ökono-mische Struktur erzeugt, welche die autoritäre Hierarchie notwendig macht“ (1936a, GA I, 174).

Die sadomasochistische Charakterstruktur ermöglicht die Verinnerlichung von Normen, die eine rational nicht begründbare Unterwerfung unter den „irrationalen“ Autoritätsträger zur Voraussetzung hat. Als eine solche Norm gilt zum Beispiel die seelische Grundeinstellung, sich

6 Vgl. auch den Aufsatz von Herbert Marcuse: Theo-retische Entwürfe über Autorität und Familie, Ideen-geschichtlicher Teil in: Studien über Autorität und Fa-milie (hrsg. v. Max Horkheimer) 5. Bd., Libraire Felix Alcan, Paris 1936.

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Der Begriff der Autorität bei Erich Fromm

einem irgendwie gearteten „Schicksal“ unterwer-fen zu müssen: „Für den Soldaten ist der Wille oder die Laune seines Vorgesetzten sein Schick-sal, das sein Leben bestimmt und dem er sich freiwillig unterwirft. Für den kleinen Kaufmann sind es die Gesetze der Wirtschaft, ...“ (1936a, GA I, 174).

Der freiwillige Verzicht auf rationale Er-kenntnis der Wirklichkeit und der Verlust der Fähigkeit, das jeweils eigene Leben durch pro-duktive Tätigkeit selbst in die Hand zu nehmen und sinnvoll zu gestalten, verrät die Vorherr-schaft der sadomasochistischen Charakterstruk-tur. Der autoritäre Charakter unterwirft sich ei-nem irrational gefassten „größeren Ganzen“, das seine Individualität transzendiert und deren fremdbestimmten Gesetzen er freudig Gehorsam leistet.

Es ist leicht zu verstehen, dass der durch die Gesellschaftsstruktur determinierte autoritäre Charakter eine entsprechende erzieherische Pra-xis verteidigt, ein reaktionäres Ideal von Familie entwickelt, das dem Vater als „Herrn des Hau-ses“ materielle und geistige Überlegenheit si-chern möchte. Die Familie als „psychische Agen-tur der Gesellschaft“ erzeugt in einer autoritär strukturierten Gesellschaft den autoritären Bür-ger; in den von der irrationalen Autorität ab-hängigen sozialen Klassen spiegelt sich in der Familie gesellschaftlich autoritäres Verhalten und eine hierzu korrespondierende sadomasochisti-sche Pädagogik wider. 2.3 Offene und anonyme Autorität Während die bisher erläuterten Grundformen der Autorität allgemeine und zu allen Zeiten er-scheinende Arten der Autorität bezeichnen, geht es bei der Konstitution der Begriffe „anonyme“ und „offene Autorität“ um die jeweils historisch bedingten Erscheinungsweisen der verschiedenen Arten der Autorität selber. Es ergeben sich fol-gende Fragen: Erscheinen die Arten der Autori-tät im 20. Jahrhundert als offene oder anonyme Formen der Autorität? Kann Oberhaupt rationa-le Autorität in der Form anonymer Autorität auftreten oder bleibt diese als eine der Erschei-nungsformen der irrationalen Autorität vorbe-halten?

Fromm definiert offene und anonyme Au-torität wie folgt: „Wir haben uns bereits mit dem Unterschied zwischen der rationalen und der irrationalen (...) Autorität beschäftigt und haben dabei festgestellt, dass die westliche Ge-sellschaft im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert durch die Vermischung beider Arten von Autorität gekennzeichnet war. Das Gemein-same der beiden Arten ist, dass es sich hier wie dort um eine offene Autorität handelt. Man weiß, wer anordnet und verbietet: der Vater, der Lehrer, der Chef, der König (...). Immer weiß ich, dass eine Autorität dahinter steht, ich weiß, weres ist, was er will und was mein Gehorsam oder mein Aufbegehren für Folgen haben wird. (...) Um die Mitte unseres Jahrhunderts hat sich die Eigenart der Autorität geändert. Sie ist jetzt keine offene Autorität mehr, sondern eine ano-nyme, unsichtbare, entfremdete Autorität. Nie-mand stellt mehr eine Forderung an uns, weder eine Person, noch eine Idee, noch ein morali-sches Gesetz. Dennoch gehen wir alle ebenso oder sogar noch mehr mit anderen konform, als dies die Menschen in einer durch und durch au-toritären Gesellschaftsform tun würden. Tatsäch-lich gibt es bei uns keine andere Autorität mehr als das Man. Was aber ist dieses Man? Es ist der Profit, die wirtschaftliche Notwendigkeit, der Markt, der gesunde Menschenverstand, die öf-fentliche Meinung, das, was man tut, denkt und fühlt“ (1955a, GA IV 109f.).

Die offene Autorität ermöglicht die Ausei-nandersetzung mit eben dieser. Der Autoritäts-träger erscheint als eine bestimmte Person, als eine bestimmte moralische Idee etc., so dass dem Beherrschten resp. dem Edukand die Mög-lichkeit gegeben wird, seine Identität in Ausei-nandersetzung mit dieser als offen erlebten Au-torität zu formen, denn selbst im Falle einer Niederlage gegen den Herrschaftsanspruch einer irrationalen Autorität erlebe ich meine Identität als Besiegter und definiere mein Selbst entspre-chend (vgl. auch 1955a, GA IV 1 10f.). Diese Möglichkeit zu eigenem Ich-Erleben - sei dieses nun produktiv bzw. nicht-produktiv organisiert - besteht nicht mehr, wenn die faktische Existenz einer Autorität als solche nicht mehr erkannt wird, wenn das Individuum sich frei glaubt, aber dennoch in seinem Verhalten fremdbestimmt wird. So kennzeichnet „anonyme“ Autorität das

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Seite 8 von 9 Bader, A., 1987a

Der Begriff der Autorität bei Erich Fromm

Fehlen von Individualität und Individuation. Das eigene Selbst und die ihm innewohnende einzig-artige Gesamtheit von Fühlen, Denken und Handeln wird nicht mehr als eigenes Zentrum von Glück und Leid erfahren und kann infolge-dessen nicht mehr als psychologische Grundlage für die intuitive Wahrnehmung der eigenen Identität erlebt werden: die Identität der Kon-formität, der common sense, ersetzt wirkliches authentisches Erleben und Individualität. Das konformistische Ich erlebt sein Selbstgefühl, wenn Denken, Fühlen und Handeln in Überein-stimmung sind mit Denken, Fühlen und Handeln anonymer „Anderer“, wenn nichts mehr Macht hat über mich als eine anonyme Masse, deren Normen ich mich freiwillig unterwerfe, um ja nicht in den Verdacht zu kommen, anders zu sein als die anderen. Ein solches Ich, das die ei-gene Identität blind nach dem Sachverständnis einer als anonym empfundenen Masse ausrich-tet, beschreibt Fromm als Gipfelpunkt entfrem-deten Selbsterlebens und entdeckt den „Marke-ting-Charakter“ als die diesem Ich zugrundelie-gende Charakterorientierung: „Das oberste Ziel des Marketing-Charakters ist die vollständige Anpassung, um unter allen Bedingungen des Per-sönlichkeitsmarktes begehrenswert zu sein. (... ) ... er ändert sein Ich ständig nach dem Prinzip: Ich bin so, wie du mich haben möchtest“ (1976a, GA II, 374).

Der Marketing-Charakter als dominierender

Gesellschafts-Charakter erscheint als Resultat der gesellschaftlichen Vorherrschaft der anonymen Autorität. Sie repräsentiert die Form irrationaler Autorität, wie sie uns in den hochentwickelten Industrieländern des 20. Jahrhunderts begegnet, und deren sozio-ökonomische Ursache in der durch die Konzentration des Kapitals bewirkten Zusammenballung des Produktionsapparates be-gründet liegt. Diese manifestiert sich in giganti-schen Konzernen, in denen der einzelne Ange-stellte oder Arbeiter zu einer anonymen Masse degradiert wird und - soll er funktionieren - sei-ne Identität der Marktsituation entsprechend wandeln und anpassen muss. Während die offe-ne Autorität eine praktische Form der Autori-tätsausübung beschreibt, wie wir sie noch im 19. Jahrhundert antreffen konnten, eine Form, die sowohl rationale wie irrationale Autorität wi-derzuspiegeln vermag, so müssen wir hingegen die anonyme Autorität als eine historisch-bestimmte Form von irrationaler Autorität be-greifen, die uns im 20. Jahrhundert als Folge spätkapitalistischer Kapitalkonzentration er-scheint.

Im folgenden Schema sollen noch einmal alle oben erwähnten Grundformen der Autorität zusammengestellt und die ihnen entsprechenden Charakterstrukturen zugeordnet werden. Die Grundformen der Autorität bei Erich Fromm

Zunächst psychologisch und sozial-psychologisch definierte Arten der Autorität

Autorität in der Existenz-weise des Seins

Autorität in der Existenzweise des Habens

Zunächst sozio-ökonomisch definier-te Arten der Autorität

rationale Autorität (produktive Charakter-struktur)

irrationale Autorität (nicht-produktive Charakter-struktur)

Formen der Autorität offene Autorität anonyme Autorität (Marketing-Charakter)

3. Schlussbemerkungen Erich Fromm hat die wissenschaftliche Diskussion über den Begriff der Autorität erweitert, indem er „Autorität“ sowohl psychologisch als auch so-ziologisch definiert und deren enge Beziehung aufgewiesen hat: Sozio-ökonomische Gesell-

schaftsstruktur, Gesellschafts-Charakter, Charak-terorientierung und Autoritätsstruktur bilden bei Fromm eine untrennbare Einheit und können daher nicht isoliert voneinander diskutiert wer-den. Der wissenschaftliche Versuch einer forma-len Bestimmung oder Ableitung zur Definition von Autorität, der psychologische, sozialpsycho-

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Der Begriff der Autorität bei Erich Fromm

logische und historische Tatsachen vernachläs-sigt, darf somit als gescheitert gelten. Anderer-seits folgt aus der Reflexion der Diskussion um den Begriff der Autorität im Hinblick auf sozio-ökonomische und sozialpsychologische Katego-rien nicht die bedingungslose Relativierung der Bestimmung von Autorität: Es ist eine der ein-drucksvollsten Leistungen Fromms, die histori-

sche und sozialpsychologische Dimension des Autoritätsbegriffes aufgezeigt, gleichzeitig aber auch mit der Thematisierung von Seinsautorität und rationaler Autorität eine ethisch verbindli-che Definition von Autorität geliefert zu haben, die als normierendes Leitmotiv für pädagogi-sches, psychologisches und soziologisches Arbei-ten dienen kann.