das dilemma der neuplatonischen theodizee. versuch einer lösung

35
Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee. Versuch einer L sung von Christian Sch fer (Regensburg) Das κακόν hat im antiken, auch philosophischen, Sprachgebrauch be- kannterma en einen sehr viel weiteren Sinn und Spielraum als im Deutschen und berhaupt in den meisten modernen europ ischen Sprachen das „B se", das „ bel", das „Schlimme" oder „Schlechte". Es kann, um nur einige wenige Beispiele zu nennen, genauso gut aktiv begangenes wie erlittenes bel, schwere menschliche Schuld wie ethisch indifferentes, z. B. technisches Mi lingen, Umst nde und Sachverhalte wie Handlungsvors tze, existenzbedrohendes B ses, den Tod ebenso wie allt gliche Mi lichkeiten bezeichnen. l Somit ist der griechische Be- griff des ,B sen 42 also umfassender und zugleich gewisserma en ,undif- 1 Antike Belegstellen f r diese verschiedenen Verwendungsweisen sind, in dersel- ben Reihenfolge, z. B. Homer, Od. III74 (von ,b sen* Handlungen), Od. III 113 (κακόν als Leid, Krankheit, auch Schm hungen, etwa Od. XXIV 161 etc.), Aischylos' Perser 663 (wo ά-κακος genauso ,ohne bel 6 , wie ,arglos, ohne Schuld' hei t), Od. IX 131 (die Kyklopeninsel sei gar nicht ,schlecht', d. h. keineswegs unfruchtbar oder unbrauchbar zur Landwirtschaft); bei Homer wird das Wort allenthalben von Umst nden wie ήμαρ, und von Herodot (I 65) von schwierigen Situationen (κακά hei t hier soviel wie ,Zwickm hle ( oder ,brenzlige Lage 6 ) aus- gesagt, Od. X 317 (κακά ένί θυμω) auch von der moralischen Verwerflichkeit einer Absicht (Vo bersetzt ,T cke'), bei Euripides in den Bakchen 1113 vom physi- schen Verderben, dem Tod, und in den Fr schen des Aristophanes (552) hei t κακόν schlie lich blo ,L stigkeit', in den V geln (931) sogar offensichtlich nur soviel wie ,Nervens gerei*. Aber auch alle anderen denkbaren Formen des Nega- tiven kann κακό$ im Griechischen abdecken: H lichkeit (II. X 316 etwa), Feig- heit (II. II 190 u. .), abstrakt B ses (so schon Od. VIII 63), etc. und letztlich auch, f r unseren vorliegenden Fall sp ter noch vordringlich wichtig, ,schlum- mernde' (potentielle 4 ) Schlechtigkeit in der Anlage oder Herkunft: deutlich z. B. Od. VI 189. 2 Ich entscheide mich im Zweifelsfall f r diese bersetzung von κακόν, worin ich K-R Hager, Gott und das B se im antiken Platonismus, W rzburg 1987, folge, der zu Recht herausstellt, da mit dem Wort das „B se" auch dem heutigen deutschen Sprachgef hl und -gebrauch nach immer noch „die religi se und me- taphysische Tiefendimension besser angesprochen zu sein scheint, welche dem Begriffe κακόν gerade in der Er rterung durch griechische Metaphysiker zu- kommt" (S. 10). Archiv f. Gesch. d, Philosophie 82. Bd., S. 1-35 © Walter de Gruyter 2000 ISSN 0003-9101 Brought to you by | University of Minnesota Authenticated | 160.94.45.157 Download Date | 9/25/13 8:11 PM

Upload: christian

Post on 15-Dec-2016

218 views

Category:

Documents


1 download

TRANSCRIPT

Page 1: Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee. Versuch einer Lösung

Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee.Versuch einer L sung

von Christian Sch fer (Regensburg)

Das κακόν hat im antiken, auch philosophischen, Sprachgebrauch be-kannterma en einen sehr viel weiteren Sinn und Spielraum als imDeutschen und berhaupt in den meisten modernen europ ischenSprachen das „B se", das „ bel", das „Schlimme" oder „Schlechte".Es kann, um nur einige wenige Beispiele zu nennen, genauso gut aktivbegangenes wie erlittenes bel, schwere menschliche Schuld wie ethischindifferentes, z. B. technisches Mi lingen, Umst nde und Sachverhaltewie Handlungsvors tze, existenzbedrohendes B ses, den Tod ebensowie allt gliche Mi lichkeiten bezeichnen.l Somit ist der griechische Be-griff des ,B sen42 also umfassender und zugleich gewisserma en ,undif-

1 Antike Belegstellen f r diese verschiedenen Verwendungsweisen sind, in dersel-ben Reihenfolge, z. B. Homer, Od. III74 (von ,b sen* Handlungen), Od. III113 (κακόν als Leid, Krankheit, auch Schm hungen, etwa Od. XXIV 161 etc.),Aischylos' Perser 663 (wo ά-κακος genauso ,ohne bel6, wie ,arglos, ohne Schuld'hei t), Od. IX 131 (die Kyklopeninsel sei gar nicht ,schlecht', d. h. keineswegsunfruchtbar oder unbrauchbar zur Landwirtschaft); bei Homer wird das Wortallenthalben von Umst nden wie ήμαρ, und von Herodot (I 65) von schwierigenSituationen (κακά hei t hier soviel wie ,Zwickm hle( oder ,brenzlige Lage6) aus-gesagt, Od. X 317 (κακά ένί θυμω) auch von der moralischen Verwerflichkeit einerAbsicht (Vo bersetzt ,T cke'), bei Euripides in den Bakchen 1113 vom physi-schen Verderben, dem Tod, und in den Fr schen des Aristophanes (552) hei tκακόν schlie lich blo ,L stigkeit', in den V geln (931) sogar offensichtlich nursoviel wie ,Nervens gerei*. Aber auch alle anderen denkbaren Formen des Nega-tiven kann κακό$ im Griechischen abdecken: H lichkeit (II. X 316 etwa), Feig-heit (II. II 190 u. .), abstrakt B ses (so schon Od. VIII 63), etc. und letztlichauch, f r unseren vorliegenden Fall sp ter noch vordringlich wichtig, ,schlum-mernde' (potentielle4) Schlechtigkeit in der Anlage oder Herkunft: deutlich z. B.Od. VI 189.

2 Ich entscheide mich im Zweifelsfall f r diese bersetzung von κακόν, worin ichK-R Hager, Gott und das B se im antiken Platonismus, W rzburg 1987, folge,der zu Recht herausstellt, da mit dem Wort das „B se" auch dem heutigendeutschen Sprachgef hl und -gebrauch nach immer noch „die religi se und me-taphysische Tiefendimension besser angesprochen zu sein scheint, welche demBegriffe κακόν gerade in der Er rterung durch griechische Metaphysiker zu-kommt" (S. 10).

Archiv f. Gesch. d, Philosophie 82. Bd., S. 1-35© Walter de Gruyter 2000ISSN 0003-9101 Brought to you by | University of Minnesota

Authenticated | 160.94.45.157Download Date | 9/25/13 8:11 PM

Page 2: Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee. Versuch einer Lösung

2 Chr is t ian Schäfer

ferenzierter' zu verstehen als in der heutigen Verwendungsweise, in derganz im Gegensatz dazu sehr stark der moralische Aspekt dominiert,der physische bereits in den Hintergrund tritt und der metaphysischemeist ganz verlorengegangen ist. Mit anderen Worten: Im Griechischenbezeichnet schlechthin alles, was negativ empfunden und ausge-sagt werden kann, alles, was ,in dieser Welt nicht stimmt' oder ,nichtin Ordnung ist'.

Genau dieses seltsame ,nicht stimmen' ist auch der Ausgangspunktder Theodizeefrage bei den Platonikern. Einer Frage, die nicht nur, wieunser modernes Sprachempfinden in bezug auf das ,Böse' fälschlicher-weise intuitiv vermuten lassen könnte, auf die Motive für das Schlimmeoder Bösartige im menschlichen Bereich, auf Schuld und (vor allemunschuldiges) Leiden abzielt, sondern weit radikaler und umfassenderdie Erklärung dafür zu finden sucht, warum die Welt in ihrer Gesamt-heit offenbar nicht perfekt ist, obwohl sie es angesichts der Güte undAllmacht ihres alleinigen Ursprungs doch sein könnte, ja eigentlich seinmüßte.3

Im folgenden will ich versuchen, einige Vorschläge zur Lösung desmittlerweile viel und kontrovers diskutierten Problems zu geben, wiePlotin als der ,Archeget' der neuplatonischen Denkweise die Vereinbar-keit des gemeinplatonischen Grundsatzes von der Alleinursächlichkeitund Güte des Einen mit dem Vorhandensein des Bösen gedacht habenkönnte. Mehr noch: Nachdem Plotins Äußerungen zum Thema ausheutiger Warte so verwirrend erscheinen und auch unter Kennern mitsehr einleuchtenden Argumenten bitter umstritten sind, soll der An-spruch folgendermaßen lauten: Den Versuch zu unternehmen, über denPlotinischen Wortlaut hinaus, der nach wie vor auch bei eingehenderphilologischer Untersuchung zu so vielen entgegengesetzten Speku-lationen und miteinander unvereinbaren Forschungsstandpunkten An-laß gibt, sich vor allem einer rationalen Rekonstruktion zu widmen.M. a. W.: den Versuch zu unternehmen, zu verstehen und plausibel dar-zulegen, wie Plotin die Dinge wohl gesehen haben muß, wenn wir ihm

3 Womit eine Bestimmung dessen, was hier und im folgenden unter .Theodizeefrage'zu verstehen ist, gegeben sein soll: In der Einleitung zu seiner Theodicee Plotinienne,Theodicee gnostique (New York/Leiden/Köln 1993) hat Denis O'Brien daraufhin-gewiesen, wie unangebracht und gefährlich mißverständlich der ,Leibnizsche' Be-griff ,Theodizee' (ein Begriff „entache d'anachronisme") im antiken Kontext er-scheinen kann. Ich schließe mich der berechtigten Vorsicht O'Briens (und etwaauch Hagers a.a.O., S. 9f.), was die Übertragung moderner Begrifflichkeit aufantikes Denken betrifft, rückhaltlos an, glaube aber, fürs erste sichergestellt zu ha-ben und im weiteren Verlauf noch weiter klären zu können, was ich für den vorlie-genden Fall unter ,Theodizee'verstehe.

Brought to you by | University of MinnesotaAuthenticated | 160.94.45.157

Download Date | 9/25/13 8:11 PM

Page 3: Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee. Versuch einer Lösung

Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee 3

nicht - wie das m. E. allzu oft und vorschnell passiert - grobe Denk-fehler, ein Fehlen an Stringenz, Nachlässigkeiten oder den Verstoß ge-gen seine eigenen philosophischen Vorgaben unterstellen wollen.4 Ge-gen Ende der Überlegungen soll darauf nochmals zurückgekommenwerden.

Die Vorgehensweise wird also im großen und ganzen die des „expliquer Plotin parPlotin"5 sein, also die, alle angenommenen mittelplatonischen Einflüsse, stoischenStreitthemen, vergleichenden gnostischen Fragestellungen etc. (wenigstens zunächst)beiseite zu lassen und sich in vordringlich systematischer Darstellungsabsicht alleinder Frage zuzuwenden, wie Plotin das Problem einer konsistenten philosophischenErklärung der Welt in seinem System angesichts des Bösen behandelt. Dabei sollinsbesondere nicht aus den Augen verloren werden, daß Konsistenz* im Falle Plotinsimmer zweierlei bedeutet: Innere Konsistenz, geschlossene Widerspruchslosigkeit desSystems im Ganzen, und relationale' Konsistenz, widerspruchslose Übereinstim-mung dieses philosophischen Systems mit dem Denken Platons, dessen klärendeAuslegung (und weiter nichts) Plotins Philosophie sein will (so Enn. V. l [10].8,10-14).

L Thema Probandum

Die vielleicht sicherste und einfachste, wenn auch keineswegs unproble-matischste systematische Bestimmung des Bösen ist die — omnis deflni-tio es t negatio — als Gegenteil des Guten (als Vorgehensweise vorge-schlagen und durchgeführt ist dieser Gedanke bei Plotin etwa in Enn.L8[51].l,15-20; 2,1 u.ö.).6 Auf diesem Wege der Definition hält sichja auch die platonische Philosophie tatsächlich über die Jahrhunderteihres Bestehens, obwohl sie gerade für ihre Dogmata schwerwiegendeinterpretative Probleme mit sich bringt: Zwar bietet sich dem Platonis-mus, ausgehend von der Ideenlehre ihres , Gründervaters' Platon, sehr

4 Gleichsam Plotin in seiner (über Platon getroffenen) Feststellung folgend: „Waslehrt nun dieser Philosoph? Er lehrt, so stellt sich heraus, nicht überall das Glei-che; seine wahre Absicht ist keineswegs ohne weiteres zu ersehen" (IV.8[6].l,26ff.), und in seinem Vorschlag, wie dieses Problem zu lösen sei; nämlich da-durch, daß man die Schwierigkeiten innerhalb der Philosophie des betreffendenDenkers aufs Ganze gesehen untersucht ( $ : 2,1 ff.).

5 So Denis O'Brien a. a. O., S. 3 („au risque d'expliquer l'obscur par du plus obscurencore").6 Zum (bereits) antiken Problem, das Böse als Allgemeinbegriff zu fassen und demVersuch, es in Kontrast zum (absoluten) Guten oder Göttlichen zu definieren:Garsten Colpe, „Religion und Mythos im Altertum", in: Ders./W, Schmidt-Big-gemann, Das Böse, Frankfurt a. M. 1993, S. 13

Brought to you by | University of MinnesotaAuthenticated | 160.94.45.157

Download Date | 9/25/13 8:11 PM

Page 4: Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee. Versuch einer Lösung

4 Chr i s t i an Sch fer

wohl die M glichkeit einer Bestimmung (oder zumindest einer Identifi-zierung) des (absoluten) Guten. Doch wie soll dessen Gegenteil ausse-hen? Sicherlich ist dieses nicht als ebenb rtiger absoluter Gegenpartdes Guten zu verstehen, denn eine dualistische Vorstellung widerspr -che dem platonischen Grundsatz von der Alleinurs chlichkeit des Gu-ten in Verbindung mit dem platonischen Dogma, da das Gute nurGutes bewirkt.7 Wird dieser Grundsatz aber erst einmal angenommen,und soll gleichzeitig das als Gegenteil des Guten verstandene B se inseiner Existenz nicht generell geleugnet werden, so sieht sich das Pro-blem unmittelbar zur ckverwiesen auf die beunruhigende Frage nachdem Ursprung des B sen, eine Frage, deren Beantwortung mithin zumKorrelat der Definitionsfrage wird. Dem Platonismus bleiben vor die-sem Hintergrund zwei Erkl rungsm glichkeiten brig:

(1) Das B se als eine Art Gegenprinzip zum Guten zu verstehen (zumindest alseine Art negativer αρχή, wie bei Plotin in Enn. L8[51].6,31 ff.), wenn auch nichtals absolutes. Die Platoniker verstanden es als privativ und brachten es somit inAbh ngigkeit vom prim ren allurs chlichen Guten, dessen Privation in einem sekun-d ren Moment das Gutes voraussetzende B se eben darstellt. Das Gute bliebe somitgenauso ,unschuldigc am B sen wie ein Licht daran (so das klassische Vergleichsbei-spiel),8 da mit wachsendem Abstand von ihm die Dunkelheit zunimmt.

Oder:(2) Das B se gewisserma en als Dynamisches', sporadisches Gegenteil einzelner

Wirkweisen des Guten zu begreifen; d. h. keinen antagonen Gegenpol des Gutenanzunehmen, sondern im ewigen Proze der Weltwerdung an einigen wichtigen Stel-len Defekte zu entdecken, die den Plan und die Aktivit t des Guten durchkreuzenund nachhaltig sch digen, und somit ,stets verneinend6 bles wirken. In diesem Fallwird der Ursprung des B sen nicht auf ein , Verblassen' oder ,Abnehmen4 der Wir-kung des Guten zur ckgef hrt. Das n mlich w rde die Allmacht des ersten gutenPrinzips in Frage stellen, wie das wohl letzten Endes in (1) auch geschieht, indemdas Urb se gewisserma en als Abfallprodukt der Emanation gesehen wird und dasGute sozusagen durch ein Fehlen an konsequenter Allmacht als schuldig am Schlech-ten. Vielmehr verlangt es diese Interpretationsweise, von einer aktiven punktuellen

7 Gem Resp. 379aff. (379b wird nochmals eigens insistiert, das Gute sei nichtUrsache des Schlechten, sei „unschuldig am B sen": ουκ άρα πάντων γε αίτιοντο αγαθόν, αλλά των μεν ευ εχόντων αίτιον, των δε κακών άναίτιον). brigensein alter Gedanke, den Platon hier anscheinend aus Homerischen Vorgaben ber-nimmt: Eine der epischen ,Definitionenfi der Gottheit ist die des „Gebers desGuten" (so z. B. Od. VIII 365). Weitere Platonstellen zitiert u. a. Ernst Schr der,Plotins Abhandlung ΠΟΘΕΝ ΤΑ ΚΑΚΑ, Diss. Rostock 1916, S. 22 ff.

8 Im Anschlu z. B. an Platons Lichtmetaphorik in Resp. 508a-509b oder 517af.etc. Bei Plotin vgl. z. B. Enn, ΙΥ.β[27].9,23 ff.; II.9[33].10-12 etc.

Brought to you by | University of MinnesotaAuthenticated | 160.94.45.157

Download Date | 9/25/13 8:11 PM

Page 5: Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee. Versuch einer Lösung

Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee 5

Entscheidung gegen das Gute und seine emanativen Ausl ufer auszugehen, einerEntscheidung, die freilich nun ebenfalls einer Begr ndung bedarf, die ihrerseits dieAlleinurs chlichkeit des Guten nicht in Frage stellen sollte.9

Interessanterweise (und zun chst ein wenig verwirrend) liegen diesebeiden Interpretationsm glichkeiten geradezu in Reinform bei Plotinvor: Augenscheinlich ohne innere Verbindung findet sich im CorpusPlotinianum (1) die Theorie von der Materie als einem sekund ren ne-gativen Gegenpol des Guten, dem ,Urb sen4 (so vor allem in Enn.L8[51] und IL4[12]), das als reine M glichkeit und unterste Stufe desDerivationsprozesses vom Guten nach Verwirklichung ,giert' und des-sen ^Struktur' der Seinsmangel ist, neben (2) der Vorstellung von dergefallenen' pr existenten Seele, durch deren aktive „Schuld" das belin die von ihr hervorgebrachte und bedingte n chstuntere (und gleich-zeitig letztm gliche) Wirklichkeitsstufe, die materielle Welt, gekommensei (also zum Beispiel Enn. IV.8[6]).10

Bis heute haben die Interpreten stets versucht, das rgerliche undoffenbar nur schwer vereinbare Nebeneinander dieser Erkl rungswei-sen im Platonismus allgemein und bei Plotin insbesondere zugunsteneiner der beiden M glichkeiten aufzul sen, mu ten dabei jedoch nat r-lich in Kauf nehmen, die andere jeweils ins Hintertreffen geraten zulassen.11 So zuletzt etwa Dominic O'Meara, der in (2) einen fr hen

9 Was etwa Plotins Nachfolger Porphyrios und Proklos verst rkt im Sinn hattenund sp ter die christlichen Platoniker durch die Erkl rung des Engel- und S n-denfalls verst ndlich zu machen versuchten. Im Vergleich mit diesen christlichenInterpretationen wird auch deutlich, warum hier die Allmacht des ersten Prinzipsnicht in Frage gestellt oder geschm lert wird: Es ist m chtig genug, freie Wesenau er sich und die Konsequenzen dieser zugestandenen Freiheit zu dulden. F rdie nichtchristliche platonische Philosophie fand sich der in dieser Hinsicht weg-weisende Gedanke in Platons Nomoi 904aff.: Der Gott l t uns stets die Freiheit,da wir unseren Platz zwischen Geist und Erde, zwischen gut und b se suchen,da der Gott es so f r am besten erkannt hat ( hnliches deutet ja bereits derMythos des Er in Resp. 617bf. an).

10 Diesen drei Schriften IV.8[6] (Περί τή$ eis τα σώματα καθόδου τή$ ψυχή$), ΙΙ.4[12](Περί των δύο υλών) und Ι.8[51] (Περί του τίνα και ττόθεν τα κακά) gilt auch dasHauptaugenmerk meiner anschlie enden Untersuchung (und nicht nur meiner:Dominic O'Meara, Plotinus, Oxford 1995, S. 78 ff. und Denis O'Brien, Plotinuson the Origin of Matter, Neapel 1991, S. 23 f. nehmen wie noch viele andere diesedrei Schriften, insbesondere in der Kontrastierung von IV.8[6] und I.8[51], alsGrundstock der Theodizeefrage bei Plotin).

11 Zugespitzt hat sich die Kontroverse um den Vorrang der einen oder anderen Erkl -rung v. a. seit den sechziger Jahren in der Diskussion um die Urs chlichkeit der Seelef r die Existenz des B sen bei Plotin zwischen O'Brien, H. R. Schwyzer, K. Coi>rigan, J. M. Rist und F.-R Hagen Die wesentlichen Positionen und schriftlichen Bei-tr ge werden im nachstehenden noch des fteren zitiert.

Brought to you by | University of MinnesotaAuthenticated | 160.94.45.157

Download Date | 9/25/13 8:11 PM

Page 6: Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee. Versuch einer Lösung

6 Chr is t ian Schäfer

Erklärungsversuch Plotins vermutet, den der Philosoph in einer späte-ren Phase verworfen und durch (1) ersetzt habe.12 O'Meara sieht sichjedoch letztlich auch zu dem recht unbefriedigenden Schluß gezwun-gen: „but this brings us back to the paradox that Good makes evil",13

und muß (trotz Plotins zeitlich vorausliegender Verurteilung des Dua-lismus in Enn. IL9[33]) auf die Vermutung zurückgreifen, daß Plotin inEnn. I.8[51] einem latenten Prinzipiendualismus der Mittelplatonikerfolgt.14 Während sich O'Meara somit auf Seiten der Majoritätsmeinungwiederfindet, die sich seit jeher (wohl auch insbesondere hinsichtlichder Wirkung Plotins auf die christliche Philosophie) von der Identifizie-rung von Materie und Urbösem angezogen gefühlt hat,15 haben andere,

12 A. a. O., S. 84. Es ist keineswegs unüblich, in Plotins Schriften eine Entwicklungzu vermuten, deren Phasen eine je verschiedene Erklärung des Bösen und derMaterie suggerieren. O'Meara ist nur ein Beispiel, ein weiteres berühmt geworde-nes ist Henry-Charles Puech, der in der Diskussion um seinen Vortrag „Plotinet les Gnostiques" in den Entretiens Hardt V, Les Sources de Plotin, Genf 1960,S. 175 ff., v. a. S. 184 f., einen ^gnostischen' von einem späteren ,antignostischen*Plotin in dieser Frage scheiden will, oder auch E. R. Dodds, Pagan und Christianin an Age of Anxiety, Cambridge 1965, S. 24 ff. (vgl. dazu auch O'Brien, Theodi-cee, S. 8 ff.)· Andere, wie F. Heinemann, Plotin, Leipzig 1921, S. 83 ff., haben ausdem gleichen Grund angenommen, die Schrift über das Böse (Enn. I.8[51]),stamme nur zum Teil von Plotin selbst. Es wird sich bald herausstellen, warumdie vorliegende Studie diesen und ähnlichen Vorschlägen nicht folgt: Sie hofft siedurch ihre Neuinterpretation des Problems des Bösen bei Plotin obsolet zu ma-chen. Zur Auseinandersetzung mit Puech vgl. im übrigen Rist, „Plotinus on Mat-ter and Evil", in: Phronesis 6, 1961, S. 154 ff. (Ich möchte dabei Rist in der Ein-schätzung folgen, daß u.a. auch rhetorische Emphasen, die sich bei Plotin inder Auseinandersetzung mit der Gnostik argumenti causa verstärken und danachwieder abflauen, zu Fehleinschätzungen bezüglich inhaltlich verschiedener ,Pha-sen' in seinem Denken geführt haben könnten).

13 A.a.O., S. 86.14 A.a.O., S. 80. Daß es ein echtes antagones ,Gegenprinzip' zum Guten geben

könnte, ist aber im platonischen und insbesondere Plotinischen Denken unmög-lich. Angesichts der systemimmanenten und der Platonischen Vorgaben Plotinsist die Materie „innerhalb des Ableitungsdenkens eine Folge, kein Prinzip" (Chri-stoph Hörn, Plotin über Sein, Zahl und Einheit, Stuttgart 1995, S. 171; vgl. dazuauch Rist, Plotinus. The Road to Reality, Cambridge 1967, S. 119).,

15 Man ist dabei mittlerweile weitgehend davon abgekommen, in Plotins vermuteterdezidierter ,Materiefeindlichkeitc den Ursprung einer christlichen ,Leibfeindlich-keit* sehen zu wollen (die im übrigen auch gar nichts mit der Frage nach demBösen zu tun haben könnte: Augustinus und Dionysius Areopagita weisen bereitsdeutlich darauf hin, daß der Engelfall zeigt, wie Böses auch unabhängig vonLeiblichkeit entsteht). Die Deutung der Plotinischen Materie, die ich im folgen-den geben will, kann hoffentlich auch in Beziehung auf solche falschen und den-,noch erstaunlich hartnäckigen Vorstellungen zu ein wenig ideengeschichtlicherKlärung beitragen. - .*

Brought to you by | University of MinnesotaAuthenticated | 160.94.45.157

Download Date | 9/25/13 8:11 PM

Page 7: Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee. Versuch einer Lösung

Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee 7

wie Denis O'Brien, um nur ein Beispiel zu nennen,16 stärker versucht,die Existenz des Bösen aus einer metaphysischen Schuldhandlung her-aus zu erklären, dem ,Fall' eines weltformenden geistigen Prinzips (d. h.im Plotinischen System: der Seele). Doch auch hier bestehen Kon-gruenzprobleme (auf die insbesondere Fritz-Peter Hager vor einigerZeit wieder hingewiesen hat)17: Wie und warum sollte die Seele Böseswirken, wenn doch Plotin z. B. in Enn. I.8[51].2,25 ff. und 4 f. ausdrück-lich ausschließt, daß es im geistigen Bereich Böses gibt? Generellscheint bei Plotin (und nicht nur bei ihm) außerdem ein Widerspruchzu bestehen zwischen der Tatsache, daß sowohl der materielle Kosmosin seiner Gesamtheit als auch die Seele prinzipiell gut sind (soIV.8[6].2.1-55), die notwendige Verbindung der Seele mit dem Materi-ellen jedoch durch eine „Schuld ( ) der Seele" (5,16) den Anfangallen Übels darstellen soll.

Doch gibt es, und das herauszustellen ist das Hauptanliegen dieserStudie, meines Erachtens einen Weg, beide Lösungsvorschläge, die sichim Denken Plotins wie im Platonismus überhaupt finden, zu versöh-nen, indem sie sie als komplementär zu verstehen erweist.

2. Thesis

Zunächst muß dazu im Hinblick auf das spezifische Problem, das sichbei Plotin stellt, der Seelen- und Schuldbegriff, dessen sich die Enneadenbedienen, näher betrachtet werden:

Plotin spricht von der Seelenbewegung, die die Materie hervorbringtund dann zur sichtbaren Welt formt, als einem ,Fall', einem ,schuldhaf-ten Abstieg' der Seele mit katastrophalen (für die Seele) subjektivenund (im Hinblick auf den ersten Bruch mit dem Geistigen in der Ema-nationsreihe) objektiven Folgen: So IV.8[6].1,29-40 Platon zitierend,dann 2,7 ff.; 2,30 ff.; 2,44 ff.; 3,1 ff. und öfter. Doch wie kommt die Seeledazu zu ,fallen'? Der Rekurs auf ein wie auch immer geartetes »Natur-gesetz4 zur Erklärung dieser ,Apostasis4 der Seele greift in letzter Konse-quenz zu kurz, denn er würde die Freiheit, die Plotin der Seele zuspricht

16 Vgl. dessen bereits in Anm. 3 und Anm. 10 genannten Beiträge, dazu auch z. B.„Le volontaire et la necessite", in: Revue Phihsophique 167, 1977, S. 401-422,sowie: „Plotinus on Evil: a Study of Matter and the Soul in Plotinus' Conceptionof Human Evil", in: Le Neoplatonisme (ed. Centre National de la RechercheScientifique), Paris 1971, S. 113-146; sowie schließlich: „Plotinus on Matter andEvil", in: The Cambridge Companion to Plotinus, Cambridge 1997, S. 171 IT.

17 Vgl. Hager a. a. O., v. a. S. 53 ff.

Brought to you by | University of MinnesotaAuthenticated | 160.94.45.157

Download Date | 9/25/13 8:11 PM

Page 8: Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee. Versuch einer Lösung

8 Chris t ian Sch fer

(III.1[3].5,16), mi achten; der Rekurs auf einen willk rlich oder plan-voll ausgel sten g ttlichen Zwang ist angesichts der Tatsache, da dasG ttliche nur Urheber des Guten ist, unzul ssig. Was als Erkl rungdes Abstiegs bleibt, ist eine Auffassung von der ,SchukT der Seele, diean eine (als Folge der Schuld wie f r den Weltproze ) notwendige Er-fahrung des κακόν als Bestrafung gekoppelt ist.

Einen Ansatzpunkt f r diese Erkl rung bietet die Eingrenzung vonFunktion und Stellung der Seele, des ,Protagonisten' der Enn. IV.8[6]:Die Seele ist im Plotinischen System ein ,mittlerer Charakter', ein ex-emplarisches μεταξύ zwischen intelligibler Welt und κόσμο$ αισθητός,zwischen den M glichkeiten ihrer h heren Bestimmung und der nurscheinbar erstrebenswerten niedrigeren: Von der Weltordnung an dieNahtstelle zwischen beiden gestellt, hat sie sowohl den Drang zum H -heren, Geistigen wie den gegenseitigen Trieb zur Verbindung mit dem,unter ihr' befindlichen Materiellen (IV.8[6].4,l-3; 4,31-ff.; 7,1-11;8,11 ff. u. .)18. Wie Amphibien (4,32) k nnen die Einzelseelen baldhier, bald dort leben, als norma normata zwischen bedingender geistigerund von ihr bedingter ph nomenaler Welt, als „wanderer of the meta-physical world"19. — Die „wahre" Bestimmung der Seele geht jedochimmer etwas mehr zum Geistigen (8,1 ff.) und der „h heren Wirksam-keit" (z. B. 1,6: εί$ ένέργειαν έκείνην20).

Die Schuldhandlung (der ,FalP) der Seele liegt nun in ihrer sponta-nen Entscheidung f r den ihr wesenhaften ,abw rtsgerichteten' Drang(der wohl mit der ελλειψι$ του αγαθού in I.8[51].5,l ff. gemeint ist). Dadieser Entscheidung eine zumindest teilweise freie Willensbewegung zu-grundeliegt, mu Plotin dabei wohl angenommen haben:21 die (Geist-)

18 Diese Mittelstellung der Seele — brigens auch in bezug auf ihre moralischenM glichkeiten, also hnlich dem tragischen »mittleren Charakter' bei Aristoteles- war Plotin durch Platons Phaidros vorgegeben in dem Bild des Seelenwagensmit den Pferden „gemischter Abkunft" (246bl f.) sowie durch die bereits er-

. w hnte Stelle aus den Nomoi 904a ff.19 W. R. Inge, The Philosophy ofPlotinus, Vol. I, New York 31968, S. 203.20 N heres ber diese Grundausrichtung der Seele in konziser Form z. B. bei Ru-

dolf Schwyzer, Plotinos, M nchen 1978, Sp. 563 und 565.21 So gibt es nach allgemeiner platonischer Auffassung (in gewolltem Gegensatz

zur stoischen) immer etwas, das dem Handelnden selbst frei obliegt, das το εφ'ήμΐν; selbsturspr ngliche Entscheidung ist aber nach gleicher Ansicht v. a. so-lange m glich, wie sich die Seele noch au erhalb der Sinneswelt und somit au er-halb des physikalisch determinierten Kausal-Nexus, der ειμαρμένη, befindet (vgl.Heinrich D rrie, „Der Begriff Pronoia in Stoa und Platonismus", in: FreiburgerZeitschrift f r Philosophie und Theologie 24, 1977, S. 78, und Rist, „Prohairesis:Proclus, Plotinus et alii", in: Entretiens Hardt XXI, Genf 1975, S. 107 ff. Grundle-gend dazu, wie gesagt, Platons Nomoi 904aff. und Resp. 616/617. Vgl. im selben

Brought to you by | University of MinnesotaAuthenticated | 160.94.45.157

Download Date | 9/25/13 8:11 PM

Page 9: Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee. Versuch einer Lösung

Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee 9

Seele ist für Plotin kein ^fallender Stein' ( : III. l [3].5,16 ff.), und kein Naturgesetz hebt ihre Eigenverantwortlichkeit ganzauf. Höchstens ein Zusammenspiel, oder besser: eine Wechselwirkungvon Willensimpuls und Gottgegebenheit kann zugestanden werden(1,18 ff. und 9,1 ff)22. Treffender ausgedrückt: die Seele kommt im Ab-stieg spontan25 einer ihr gewissermaßen vorgegebenen und wesentlichen(man könnte auch sagen: ,charaktertypischen') Disposition nach. DieseSpontaneität läßt die Handlung der Seele selbstursprünglich und frei-willig sein ungeachtet der Möglichkeit bedenkenswerter Handlungs-alternativen, deren Inbetrachtnahme durch dieses spontane Wollen derSeele verdrängt wird.24

Bei Platon, der im Phaidros mit dem ,Seelenwagengleichnis' sein ei-genes dramatisches Bild des Seelensturzes bietet, gibt der lenkende Teilder Seele seinen Schwächen und gegengeistigen Inklinationen, dem ab-wärtsreißenden ,Seelenroß' allzu sehr nach, wird seiner nicht mehr Herrund stürzt mit ihm in die materielle Welt (247b und 248ab). Ähnlichgibt die Einzelseele bei Plotin ihrem wesenseigenen weltkonstituie-renden Drang ,nach unten' nach. Der ,Richterspruchc oder das ,Los'(IV.8[6].l,38ff.), demgemäß sich dieses Nachgeben und der Fall in Plo-tins metaphorischer Sprache vollziehen soll, kann daher durchaus alsbildlicher Ausdruck einer inneren Situation, in der sich der Handelndebefindet, gedeutet werden (5,21 f.). Was da also als äußerer Zwang dar-gestellt wird, ist in Wirklichkeit eher ein spontan ausgelöster innererDrang der Seele, vergleichbar vielleicht der inneren ,Not' des Künstlerszum Schaffen des Kunstwerks und zum Formen des Materials, die ja

Zusammenhang auch Enn. III. l [3], eine Schrift, die zeitlich vor IV.8[6] liegt undderen Ergebnisse hier also ohne weiteres vorausgesetzt werden dürfen). Plotinkann sogar von der Verantwortung des einzelnen (auch in der Sinnenwelt!) spre-chen, die man nicht dem All zuschieben dürfe (III.l[3].4,25ff.).

22 Vgl. Dörrie a. a. O., S. 82 f.: Der Weltplan „vergewaltigt also das Einzelne nicht";eine Eigenverantwortlichkeit und somit Schuldfahigkeit bleibt mithin immer be-stehen.

23 Womit das von Plotin gebrauchte Wort »freiwillig' vielleicht am treffendsten in-terpretiert ist: Die antike lateinische Philosophensprache übersetzt mit suasponte (vgl. Walther Warnach, „Freiheit I." In: Historisches Wörterbuch der Phi-losophie Bd. 3, Sp. 1065).

24 Zu Spontaneität und Entscheidung im Seelenabstieg vgl. insbesondere O'Brien,„Le volontaire et la necessite", S. 402-422, eine auch sonst recht gelungene Ab-handlung zum Problem des .Falls' der Einzelseele bei Plotin, sowie nochmalsRist a. a. O., v. a. S. 109-116. Dazu, daß .Wollen' hier, ähnlich wie etwa auch imaristotelischen Vokabular, nicht unbedingt eine vernünftige ,Wahl' voraussetzt,siehe nochmals O'Brien, Thoodicee, S. 11.

Brought to you by | University of MinnesotaAuthenticated | 160.94.45.157

Download Date | 9/25/13 8:11 PM

Page 10: Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee. Versuch einer Lösung

10 Chr i s t i an Sch fer

auch anderes und mehr ist als nur ein von der Natur vorgeschriebenervitaler Fortpflanzungstrieb.25 Dieser Vergleich mit dem k nstlerischenSchaffensdrang ist auch deshalb durchaus zutreffend, weil er implizitdarauf hinweist, da die Wendung zum Materiellen nicht ohne Eiferund eine starke Hingabe (προθυμία: 7,10 f.) an das zu Formende abge-hen kann. Ein erstes schwerwiegendes Problem liegt freilich darin (undhier hinkt der Vergleich mit dem k nstlerischen Formen), da die Seeleihre Hingabe an ein unpassendes, ja sogar offenbar zum Schlechtenreizendes Material sozusagen verschwendet. Und genau hier kommt dieSchuldhaftigkeit ins Spiel: Ist diese Hingabe n mlich ernst und unge-teilt, so vergi t die Seele ihre eigentliche Bestimmung der Besch ftigungmit dem ,Oberen' und Besseren (8,16 ff.) und geht ganz auf im Niederenund u erlichen und im eigenen (wie sich jetzt herausstellt) fatalenTrieb ,nach unten' (Plotin spricht vom θεραπεύει ν τα έξωθεν, dem ,den

u erlichkeiten Diener sein' oder „sie verehren": 4,20). Die Seele er-blickt sich ,im Spiegel der Materie' (IV.3[27].12), verliebt sich wie Nar-kissos in sich selbst,28 ist wie verzaubert (IV.6[41].3,lff.) und verliertsich in hybrider Selbstbezogenheit an die eigene Natur und den eige-nen Stolz (V.l[10].l,l ff.: τόλμα)27: Sie will sich vom reinen Geist, demNous, dadurch unterscheiden, da sie sich mit dem Nachgeordnetenverbindet (IV.8[6].3,22—31), und sich in Vereinzelung von der geistigenWelt, in der „alles beisammen ist" (3,7), abwendet und schlie lich —wenn diese Abwendung zur Grundhaltung wird — scheidet: Sie falltwie im kranken selbstverliebten Taumel aus dem geistigen Bereich.28

25 Den Narkissos-Mythos greift Plotin selbst in diesem Zusammenhang des Seelen-falls auf: I.6[l].8,9ff. Vgl. Jean Trouillard, La procession plotinienne, Paris 1955,S. 78. hnlich O'Brien, a.a.O., S. 14: Die Seelen folgen einem „elan naturel".

26 Vgl. Inge a. a. O., S. 260. Ganz hnlich erkl rt Clemens von Alexandrien in denStromaieis (VIII 9), Sch nheit (gemeint ist wohl u erliche) wecke Verlangen indenen, die sich nicht beherrschen.

27 Die Er ffnungspassage der Enn. V. l [10] scheint mir ganz deutlich die SchriftIV.8[6] in ihren Ergebnissen mit knapperen Worten zu rekapitulieren; ich ziehesie deshalb hier zu deren Auslegung heran. Insbesondere hat brigens in neuererZeit N.J. Torchia, Tolma and the Descent of Being, New York 1993, bei derUntersuchung des plotinischen ,Abstiegsvokabulars' die Verwerflichkeit des Wil-lens zur ,Andersheit' festzumachen und herauszustellen versucht. Selbstbezogen-heit und berheblichen Vereinzelungswillen vermutete dann nach Plotin auchAugustinus (im zw lften Buch von De civitate Dei) als Hintergrund etwa f r denFall und die paradigmatische Schuld der Engel um Luzifer (vgl. auch GeorgKohler, „Selbstbezug, Selbsttranszendenz und die Nichtigkeit der Freiheit", in:Studia philosophica 52 [1993], S. 67 ff.).

28 Inge a. a. O., S. 216: „Isolation is a disease of the individual soul, like the loss ofsenses."

Brought to you by | University of MinnesotaAuthenticated | 160.94.45.157

Download Date | 9/25/13 8:11 PM

Page 11: Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee. Versuch einer Lösung

Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee 11

Die αμαρτία der Seele hat also eine zweifache Dimension: Sie ist eineinfaches Fehlurteil, dem gem man handelnd auch fehlt, und ein re-flexives Fehlurteil ber sich selbst als Handelnden, das die Schuld zurGrundhaltung werden l t. Sie ist eine Schuldhandlung gem einesdoppelten ,Sich T uschens': eines ,Sich Tauschens' in bezug auf dasHandlungsobjekt (hier: die materielle Welt), und eines aktiven ,SichT uschens', also eines ,Sich-selbst-Betr gens' (hier: hinsichtlich der ei-genen Bestimmung, Natur und F higkeiten).

Da dieser Schuldbegriff dem Platonismus keineswegs fremd war, und da Plotinbei Platon durchaus auf eine solche Konzeption der αμαρτία durch ein doppelsinni-ges ,Sich T uschen' sto en mu te, kann u. a. vielleicht am besten ein Blick auf eineeinschl gige Passage aus den Nomoi (863c) belegen, wo Platon zwei grunds tzlicheArten des Schuldigwerdens unterscheidet. Beide rekurrieren auf je eine bestimmteArt der άγνοια (wobei eben die άγνοια vorab nach „gut sokratischer" Manierals αιτία der αμαρτία angenommen wird), „deren eine (seil, άγνοια), die einfa-che (απλούν), den leichten Schuldhandlungen verursachend zugrundeliegt (κούφωναμαρτημάτων αίτιον)"; die zweite, als doppelte aufzufassende (διπλούν), liegt hinge-gen dann vor, „wenn einer irrt/sich t uscht (όταν άμαθαίντι), weil er nicht nur in[einfacher] Unwissenheit befangen ist (αγνοία συνεχόμενος), sondern noch dazu vomD nkel der Weisheit (δόξη σοφίας), als w te er genau Bescheid ber das, wovon ergar nichts wei ". Nach Platon mu man deshalb „eine solche Unwissenheit, wennsie von Macht und St rke [f r die Ausf hrung der auf sie gr ndenden Handlungen]begleitet ist, als Ursache von gro en und rohen Schuldhandlungen (μεγάλων καιάμουσων αμαρτημάτων) ansehen".

Das ,Sich T uschen* ist also gerade auch bei Platon doppelsinnig und zweischich-tig: ,einfachc ist die άγνοια ein blo es Fehlurteil, ein Nichtwissen o. ., das uns falschhandeln l t. Als »doppelte* aber ist die άγνοια auch reflexiv: der άμαρτάνων t uschtsich nicht nur in bezug auf den Gegenstand seiner jeweiligen Handlung, sondernauch umfassender in bezug auf sich selbst als Handelnden, er t uscht sich als sittlichhandelndes Wesen im wahrsten Sinne des Wortes, indem er verstockt seine Unwis-senheit nachgerade kultiviert und damit f r das Gesamte seiner Handlungen korrek-turunf hig wird. Tats chlich ist ja diese zweite, die doppelt aufzufassende Unwissen-heit genau die, der Sokrates in seinen philosophischen Gespr chs berf llen auf denStra en von Athen entgegenzuwirken suchte (vgl. u.a. Apol 21cfT.) und die somitdas eigentliche berwindungsthema der ersten Platonischen Dialoge und den Grundf r den Gedanken der schmerzhaften Heilung von der δόξα (dem „D nkel", wieSchleiermacher hier das Wort bersetzt hat) etwa im H hlengleichnis darstellte.

Hat die Plotinische Seele erst einmal ihrem verh ngnisvollen Drangnachgegeben und ist Abgestiegen', so verstrickt sie sich meist in derSinnenwelt, sie wird in ihr und durch sie ^vergewaltigt' und auf dieseWeise um so mehr daran gehindert, zum Bewu tsein ihrer wahren,oberen' Wirksamkeit zu kommen (IV.8[6].8,3ff.). Die Seele verstocktund ist in dieser geradezu selbstgef lligen Blindheit gegen ber der

Brought to you by | University of MinnesotaAuthenticated | 160.94.45.157

Download Date | 9/25/13 8:11 PM

Page 12: Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee. Versuch einer Lösung

12 Christian Schäfer

Geistbeziehung dann tatsächlich ihr eigener ärgster Feind.29 Plotin ver-weist ausdrücklich darauf, daß der Abstieg der Seele eine erste oderparadigmatische Schuld ist, der die ,bösen Taten' in der Menschenweltfolgen (5,16 ff.), und sieht in der Frage nach der Freiwilligkeit dieser,ersten Sünde' das Ur- und Spiegelbild des Problems der Freiheit mora-lischer menschlicher Handlungen überhaupt.30

Einige wichtige Anfragen und Unklarheiten zum Problem der Ur-sächlichkeit der Seele für die Existenz der Materie und des Bösen (etwadie oben von Fritz-Peter Hager im Zusammenhang damit aufgewiese-nen Schwierigkeiten) werden somit beantwortet. — Insbesondere sollaber hiermit für das Theodizeeproblem nicht der Frage aus dem Weggegangen werden (dem „pivot de la theodicee plotinienne"31), die leiderin den Arbeiten etwa Hagers und auch Schwyzers weitgehend unbeach-tet oder auch nur in ihrer Brisanz unterschätzt bleibt, wie man dennangesichts der streng monistischen Vorgaben das Vorhandensein derMaterie und somit des ,Urbösen' im Plotinischen Stufungsprozeß er-klären soll, wenn diese Materie nicht aus der nächsthöheren ihr »vorge-schalteten* geistigen Wirklichkeitsstufe (d. h. der Seele) hervorgegangenist?32 Eine bedingende Verbindung zu diesem ,Urbösen' hat die Seelealso allemal, nur welche? Sicherlich kann nicht an eine »Schöpfung* derMaterie durch die Seele im biblischen Sinn gedacht sein.33 Überhauptist es schwer und hat viele Interpreten verwirrt, sich vorzustellen, wie,etwas' so unwirkliches, qualitätsloses und seinsleeres wie die Plotini-sche Materie (zu deren Qualitätslosigkeit vgl. II.4[12]. 16, nach derSchrift über die Materie, I.8[51].3,6ff. etc., sowie unten Anm. 37) ,her-vorgebracht' oder,geschaffen' sein kann.

29 Vgl. dazu auch Inge, a. a. O., S. 255. Und überraschend ähnlich wieder einmalAugustinus, für den „Sünde im Kern nichts anderes als jene absolute Selbstver-fallenheit ist, die einem endlichen Subjekt nicht mehr gestattet, über sich hinaus-zukommen [...], es an die eigene Endlichkeit und Beschränktheit fesselt und da-

. mit von jeder erlösenden Selbsttranszendenz [...] ausschließt" (G. Kohler a. a. O.,S. 70) - auch das ein alter Platonischer Gedanke: vgl. Nomoi 731dff.

30 Vgl. dazu u.a. H. J. Blumenthal, Plotinus' Psychology, Den Haag 1971, S. 5,Helmut Holzhey, „Das Böse: Vom ethischen zum metaphysischen Diskurs", in:Studio, philosophica 52 (1993), insbesondere S. 15 ff. sowie nochmals Kohlera. a. O., wo eine ähnliche Verbindung bei Augustinus gezogen wird.

31 So O'Brien, a.a.O., S. 48.32 Was — ich folge O'Briens Deutung (Plotinus on Evil, S. 135 f., sowie Plotinus on

the Origin of Matter, S. 21 f. und schließlich Theodicee, S. 29 f.) - Plotin selbstin I.8[51].14,15 unmißverständlich suggeriert. Daneben vgl. III.9[13].3,12ff.;IV.3[27].9,22f. etc.

33 Also nicht an eine zeitliche Schöpfung der Materie; dazu u. a. Rist, „Plotinus onMatter and Evil", S. 157, O'Brien a.a.O., S. 61 and Hörn a.a.O., S. 171.

Brought to you by | University of MinnesotaAuthenticated | 160.94.45.157

Download Date | 9/25/13 8:11 PM

Page 13: Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee. Versuch einer Lösung

Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee 13

Vielleicht hilft den Zweifelnden folgendes Bild ber einige Verst ndnisschwierig-keiten hinweg: Begriffen wir die Bewegung der Seele in bezug auf das Eine (in Anleh-nung an Plotins eigenes Bild aus IV.4[28].16 oder VI.9[9].8) als die eines Kometenum ein Gestirn, das also den Perihel der elliptischen Kometenbahn darstellte, so,br chte* diese durch ihre Bewegung dennoch gleichzeitig einen inhaltsleeren Aphel,hervorc, den zweiten Brennpunkt der Ellipse, der sozusagen selbst inhaltslos (wie-wohl errechenbar) ist, sondern nur durch die Bahn des Kometen und den Perihel,der sie in allem beeinflu t, bestimmt wird. - Jedenfalls l t sich zur Frage dermateria generata feststellen: G be es keinen Derivationsproze vom Einen-Gutenher, so g be es auch keine Materie.

Ich denke, da es die auf dieser Grundlage der Schuldbegriffsanalysedurchgef hrte Untersuchung der Plotinischen Rede vom ,oberen' und,unterenc Wirkverm gen der Seele (IV.8[6].1,6; IV.8[6].5 und 6 sowie8,l ff.)34 erlaubt, die T tigkeit der Seele bei der Weltbildung als eineArt ,Handlung mit Doppelwirkung' zu verstehen. Sie zielt zun chstund prim r auf Gutes ab (n mlich in Nachahmung der T tigkeit desNous die Weiterf hrung der Wirklichkeitsstufen nach dem Gesetz derdiffusio boni gem IV.8[6].5,25ff. und 6,6 ff.) und konzentriert sichdarauf. In ihrem Eifer und ihrer Hingabe (προθυμία; 7, l Of.) bringt sieaber sozusagen negative ,Nebenwirkungen* (die wir mit dem physischenoder moralischen bel identifizieren) — einen ,Apher — hervor undmu das auch in Kauf nehmen (zu diesen entgegengesetzten Wirkver-m gen der Seele 4,1 ff.). Es ist dabei mit Nachdruck darauf hinzuwei-sen, da die Handlung der Seele, insofern sie fehlerhaft ist, Plotin alsschuldhaft und doch gleichzeitig im Hinblick auf die Weiterf hrung desDerivationsprozesses vom Einen her als bejahenswert gilt (dazu Enn.III.l[3].10ff. und Enn. L8[51].8-\5passim). Er qualifiziert sie daher ananderer Stelle sozusagen als nolens volens, als freiwillig und unfreiwillig,ττειθόμενος und εκών, άκων und φορά οικεία ιόν, und so steigen die Ploti-nischen Seelen ούτε έκοϋσαι ούτε ττεμφθεΐσαι ab35 - f r den modernen

34 Besonders stark ist das Bild, das Plotin VL9[9].9,25ff. im gleichen Zusammen-hang des Seelenstrebens ,nach oben' und ,nach unten4 anf hrt, wenn er sagt, dieSeele „entarte zur Hure", indem sie der „gemeinen Aphrodite" in ihren „niederenTrieben" gehorcht, statt sich, die sie „etwas anderes als Gott ist, aber aus Gottstammt, und daher nach ihm verlangt" (der Platonische Gedanke der urspr ngli-chen Einheit etwa aus Symposion 189dff., den ja auch z. B. Augustinus in DeCivitate Dei XII l ff. aufgreift, in Verbindung mit der aristotelischen Definitiondes Guten als des εί$ δ πάντα άνήρτηται in Met* 1072M3 ff.), diesem ihr naturge-m en Verlangen ,nach oben*, zur ,himmlischen Aphrodite* zu beugen.

35 Deutlich z. B. in IV.8[6].5,8f. oder in IV.3[27].13, Siehe auch z. B. Rist, „Pro-hairesis", S. 115 f., sowie O'Brien, der wiederholt, v. a. etwa in „Le volontaire etla necessite", darauf insistiert, da „l'ame sejourne dans ce monde, non pointvolontairement (au sens o eile aurait ,choisi'), ni par necessito (au sens o eile

Brought to you by | University of MinnesotaAuthenticated | 160.94.45.157

Download Date | 9/25/13 8:11 PM

Page 14: Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee. Versuch einer Lösung

14 Chr is t ian Schäfer

SchuldbegrifT ein moralisches Paradoxon. Nur so ist aber m. E. zu be-greifen, warum Plotin hier von einer ,Schuld' des eigentlich guten Wirk-prinzips Seele und daher von einem alle Formen des irdischen Übelsbedingenden Defekt (IV.8[6].5,16fT.) sprechen kann, wenn das auch auseinem heutigen Schuldverständnis heraus oft unverständlich erscheint;und nur so wird es auch zu begreifen sein, daß es, wie Plotin im zweitenKapitel von Enn. I.8[51] ausführt (und worauf die Interpreten mitNachdruck hinweisen)36, in den geistigen Wirklichkeitsstufen keineSpuren des Bösen gibt, die Seele aber dennoch — ohne daß dezidiertböser Wille von ihrer Seite vorliege — das Böse in der ihr nachgeordne-ten materiellen Stufe, in die sie sich in ihrem ,Abstieg' begibt, hervorru-fen kann. Dazu ist allerdings eine Ergänzung, eine zweite interpretativeKomponente nötig, und diese ergibt sich aus Plotins Materiebegriff.

3. Antithesis

Gewissermaßen analog zur Scheidung des Wirkvermögens der Seele in,oberes' und ,unteres' kennt Plotin die Unterscheidung von ,oberer'(intelligibler) und ,unterer' Materie (ausgeführt in Enn. IL4[12J), wobeidie Unterscheidung beider in ihrem grundsätzlichen Formbezug liegt.Allein diese letztere, ,untere' Materie ist es, von der Plotin in Enn.I.8[51] als dem ,Bösen' spricht, nur sie wird dank des ,unteren' Seelen-vermögens hervorgebracht und nur sie darf als materielle Grundlageder Körperwelt verstanden werden.37 Zum Problem der ,zwei Materien'und des 5uv<^is-Begriffs bei Plotin hat in neuerer Zeit unter anderemChristoph Hörn38 viel Klärendes beitragen können, worauf ich mich in

aurait ete soumise ä une contrainte), mais d'une ,autre maniere' qui reunit ä lafois volonte et necessite" (so in Theodicee, S. 17).

36 Vgl. Hager a. a. O., S. 35 u. ö.37 Diese Materie ist passive , reine Möglichkeit ohne jede aktuale Konnota-

tion, ungeformte Potentialität ohne Potenz, wie Enn. II.4[12].6—16 undII.5[25].4f. zeigen (Rift, „Plotinus on Matter and Evil", S. 157: „Matter then forPlotinus is the formless, indeterminate substratum of things."). Sie nähert sichsomit sehr stark der Aristotelischen Auffassung von der materia prima, wie auchRist (a.a.O.) richtig festgestellt hat: „It is evident that although Plotinus rejectsthe Aristotelian distinction between and ( .4[12].14), his conceptionof matter bears a certain resemblance to that which we can form of the ,primematter' of Aristotle." Zur von Rist hier wohl hauptsächlich angesprochenen Ari-stotelesstelle vgl. Phys. 190b 13 ff.

38 A. a. O., S. 170 ff. Für das folgende vgl. auch H. Benz, Materie und Wahrnehmungin der Philosophie Plotins, Würzburg 1990, insbesondere das Kapitel „Die Hyleals das zur Aufnahme des Eidos Disponierte", S. 181 ff.

Brought to you by | University of MinnesotaAuthenticated | 160.94.45.157

Download Date | 9/25/13 8:11 PM

Page 15: Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee. Versuch einer Lösung

Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee 15

der Beurteilung der Rolle der Materie f r unseren Problemkreis st tzenm chte. Die Materie darf bei Plotin demnach nicht als einheitlichesGegenprinzip zum Guten gesehen werden oder als m chtige Gegen-gr e, die der berall vorhandenen Wirkkraft des Guten aktiv entge-genarbeitet: Die ,oberefi Materie hat mit dem B sen nichts zu tun, bleibtim Bereich des Geistigen, und gibt uns somit das Argument in dieHand, da Materie schlichtweg, unvoreingenommen und f r sich be-trachtet noch nicht per se B ses bedeuten mu . Vielmehr mu die ,un-tere' Materie, und nur sie, als „nicht mehr unterbietbares Produkt desgesamten Derivationsprozesses" vom Guten angesehen werden.39

Doch will auch das zun chst nur hei en, da wir hier an dem Punktder Wirklichkeitsstufungen angekommen sind, der vom Guten am wei-testen entfernt und in seinen Eigenschaften' am un hnlichsten ist (soin Aufnahme des von Platon im Timaios vorgegebenen argumentum egradibus Enn. I.8[51].5). So weit, so gut. Doch Plotin identifiziert diesenletzten Punkt, an dem der Ableitungsproze vom Einen ankommenmu , mit dem notwendigen B sen', von dem Platons Theaitetos (176a)spricht (vgl. Enn. L8[51] das ganze Kapitel 6 - auf Schr ders Hinweiseines Fehlers im Gedankengang gehe ich hier nicht ein), und nenntdie Materie das ,B se' und ,das B se selbst' (3,39 f.). Denn als letzteEmanationsstufe ist die Materie kategorial vollkommen unbestimmt,eigenschaftslos (όποιος: 10,1), άπειρος, unbegrenzt, in keiner Weisewirklich, sondern reine passive δύναμι$, ganz M glichkeit also, und dasmacht sie f r Plotin zum μη v (II.5[25].4), der letzten (Gegen-)Stufeder έτερότη$, der Andersheit vom Ersten (VI.9[9].8,30ff.).

Doch blo e Existenz ohne Bezugnahme auf ein So-Sein auszusagen, ist dem grie-chischen Denken, vielleicht besonders dem platonischen, sozusagen ein Unding. Dasgriechische εστί schlie t immer ein ,etwas' ein, im Sinne eines εϊναί r/. Das Plotinischeμη όν leugnet daher nicht die Existenz der Materie in toto, sondern da sie etwaspositiv zu Bezeichnendes, ein fa bares ,Etwas* sei. Das B se, mit dem Plotin dieMaterie identifiziert, ist also nicht totale Nichtexistenz (το παντελώς μη όν), son-dern verschieden von jeder positiv fa baren Weise des Seins (I.8[51].3,6-9 sowieII.4[12].10,1-18; vgl. dazu Platons Soph. 244d und 254dflf.: έτερον του δντο$).40

Es mu also an dieser Stelle nochmals nachgefragt werden, was denn das ,μή4 inμη όν verneint. Ich entscheide mich f r folgende Deutung und entwickle sie hier

39 A.a.CX, S. 171.40 Auch die nachfolgenden Privationstheorien des B sen haben daher nie wirklich

einfachhin das B se mit dem Nichts identifiziert, Ber hmt ist das Augustinische(Confessiones VII 5,7), sp ter in der Scholastik (z. B. bei Anselm von Canterbury,De casu diaboli II 247) aufgenommene Argument, da , wenn wir das B se mei-den wollen, bestrafen oder f rchten, das B se aber nichts ist, wir ja nichts mie-den, bestraften oder f rchteten.

Brought to you by | University of MinnesotaAuthenticated | 160.94.45.157

Download Date | 9/25/13 8:11 PM

Page 16: Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee. Versuch einer Lösung

16 Chr is t ian Sch fer

insofern als dem Thema des B sen und seines Ursprungs zutr glich: Wie bereitsangedeutet, bezeichnet Nicht-Sein f r Plotin keineswegs streng das Gegenteil von(aktischem Sein, von Existenz berhaupt. Vielmehr ist aus den einschl gigen berle-gungen aus Platons Sophistes, die Plotins Theorie offenbar zugrundeliegen, zu erse-hen, da eine blo e Verneinung etwa des Sch nen, das ,Nicht-Sch ne' also, nochnicht einfachhin mit dem strengen Gegenteil des Sch nen, dem H lichen identischist (257d7 ff.), genauso wie zum Beispiel eine Verneinung des moralisch Guten nichtnur das moralisch Schlechte bezeichnet, sondern auch die Adiaphora.41 Das Nicht-Sch ne ist f r Platon mithin das, was von der Natur des Sch nen verschieden ist(έτερον εστίν ή της του κάλου φύσεω$: 257dll f.). Analog kennt Platon keine totaleVerneinung des Seins (258e6-259al) und mithin nichts, was in keiner denkbarenWeise w re (das μηδαμώ$ v, von dem Soph. 237b7f. die Rede ist, soll ja im Dialoggerade als unm glich erwiesen werden). Das erkl rt aber bislang nur, was das μη inμη όν nicht verneint. Platon selbst deutet im folgenden (258all-258c3) offenbar einepositive Aufl sung dessen, was unter dem μη όν zu verstehen sei, zumindest an, wennauch keineswegs eindeutig.42 ;

F r die Interpretation Plotins gen gt es hingegen, von der ,negati-ven4 Einschr nkung des μη v, der Platonischen Bestimmung dessenalso, was es nicht hei en kann, auszugehen, und dann das Kapitel 6der Enn. L8[51] f r eine „positive" Erkl rung des Plotinischen μή-όν-Begriffs in den Enneaden heranzuziehen. Plotin versucht hier, die , Ge-genteiligkeit' von Materie als μη όν und Sein im Beispiel des abgrenzen-den Vergleichs von Qualit ten und Elementen als materiellen Qualit ts-tr gern festzumachen und zu erkl ren (1.8.6.49-54):

Elemente, auch als Qualit tstr ger in der ,reinsten' vorkommendenWeise (Plotin nennt meist zum Beispiel Feuer f r die Qualit ten ,hei Vund Brocken', Wasser — oder ,Schnee' — f r ,kalt4 und ,feucht') k n-nen strenggenommen nicht als Gegens tze bezeichnet werden, da sieein gemeinsames Substrat haben, das sie eint (da sie n mlich beide^yletisch' verfa t sind). Die Qualit ten selbst hingegen, wenngleich siean Dingen oder Elementen auftreten k nnen, die ein gemeinsames Sub-strat besitzen, weisen selbst, f r sich allein genommen, kein gemeinsa-

41 Vgl. dazu auch O'Briens Bemerkungen in „Plotinus on Matter and Evil",S. 173 ff., insbesondere S. 175. Nur kurz weiterverweisen m chte ich hier au er-dem auf die neueste Wortmeldung O'Briens zum Thema der Plotinischen Mate-rie: „La matiere chez Plotin", in: Phronesis 44 (1999), S. 45-71. Hier distanziertsich O'Brien brigens (teilweise) von einigen Fehleinsch tzungen und -Interpreta-tionen seines Beitrags im Cambridge Companion.

42 Und au erdem in der platonischen Tradition offenbar verf lscht wiedergegeben.Dazu auch O'Brien „Plotinus on Matter and Evil",.S. 172f. Das im folgenden zuKapitel 6 der Enn. 1.8 Gesagte ist im wesentlichen ebenfalls v. a. O'Brien a. a. O.,insbesondere S. 175-178 entnommen.

Brought to you by | University of MinnesotaAuthenticated | 160.94.45.157

Download Date | 9/25/13 8:11 PM

Page 17: Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee. Versuch einer Lösung

Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee 17

mes Substrat auf, was dazu Berechtigung gibt, sie, da ohne irgendwieeinigendes Zugrundeliegendes, als Gegens tze zu bezeichnen: so sindalso ,hei 4 und ,kalt' zwar Gegens tze im Sinne der Andersheit, έτε-ρότη$ (wie bei Platon gefordert), nicht aber die Elemente4 Feuer undWasser.43

Offenbar versucht nun Plotin, das μη v der Materie so zu erkl ren,da er sie in einen echten Gegensatz zum Sein stellt, den Unterschiedvon μη δν und v also im Sinne der Gegens tzlichkeit der Qualit tenaufzufassen, und beide mithin als (a) ontologisch so weit entfernt (ver-schieden) voneinander wie nur irgend denkbar (εναντία τα πλείστοναλλήλων άφεστηκότα: 6,40 f.), und (b) als nicht noch einmal durch einirgendwie Zugrundeliegendes44 geeint zu definieren. So ist also alsZwischenfazit (durch den Blick auf Platons Sophistes) immerhin fest-gelegt, was μη δν nicht verneint, sowie ( ber Denis O'Briens Analysevon L8.6), wie die Verneinung in „μη δν" aufzufassen ist. Aber: Wasgenau verneint denn nun μη v, d. h. was bedeutet in diesem Ausdruckdas v?

Bei der Beantwortung dieser Frage ist f r unseren Zusammenhanginsbesondere die Tatsache als wichtig zu erachten, da mit der Entge-genstellung von Sein und Nicht-Sein f r Plotin, dessen normative On-tologie das Gute mit dem dynamisch aufgefa ten, d. h. sich wesensge-m weitergebenden Sein, identifiziert, auch die Frage des Unterschiedszwischen dem absoluten Guten und dem αυτό κακόν beantwortet wird;

43 „Wir w rden ja bei Feuer und Wasser ohne weiteres annehmen, da sie Gegen-s tze (εναντία) seien, wenn nicht in ihnen als Gemeinsames (κοινόν) die Materievorhanden w re [...]; best nden aber diese Elemente auf sich selber (έπ' αυτών)und gen gten sich selber ohne das Gemeinsame zu ihrer Wesenserf llung (ουσίανσυμττληρουντα), so g be es auch hier einen Gegensatz zwischen ουσία und ου-σία." (1.8.6,49 f.)

44 „Es sind also all das, was v llig voneinander geschieden ist, nichts Gemeinsameshat und am weitesten voneinander absteht, nach der eigenen Wesensanlage ein-ander Gegensatz; denn die Gegens tzlichkeit (έναντίωσις) beruht nicht auf derjeweiligen Beschaffenheit oder Zugeh rigkeit zu sonst einer Klasse des Seienden(γένο$ των VTCOV), sondern darauf, da sie [die als Gegens tze zu bezeichnenden]am weitesten voneinander geschieden sind, da sie aus Entgegenstehendem beste-hen (εξ αντιθέτων συνέστηκε) und da sie Entgegengesetztes hervorbringen."(6,54-59) Das einzige diesen beiden ontologisch weitestm glich Auseinanderste-henden unterliegende ,Substrat' w re also lediglich, da es sie ,gibt\ was abernat rlich kein Substrat im echten Sinne ist. O'Brien a.a.O.» S. 177: „[...] do nothave a common substrate (since existence as such is not a substrate), and dotherefore count as contraries, since the negation [...] does here indicate lhat thetwo terms in the opposition are as far removed from each other as possible".

Brought to you by | University of MinnesotaAuthenticated | 160.94.45.157

Download Date | 9/25/13 8:11 PM

Page 18: Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee. Versuch einer Lösung

18 Chr is t ian Sch fer

so sind etwa beide in folgender Passage ohne weitere Erkl rung vonPlotin bereits stillschweigend gleichgesetzt:

Was soll denn aber der allgemeinen Wesenheit (TTJ καθόλου ουσία) und berhauptden ersten Prinzipien (τοις πρώτοις) entgegengesetzt sein? Nun, der Wesenheit dieNicht-Wesenheit (ή μη ουσία), und dem Guten in seiner Eigenart (φύσει) dasjenige,was Eigenart und Ursprung des B sen (κακοο φύσις και αρχή) ausmacht; dennαρχή sind sie beide, das eine des B sen, das andere des Guten. (1.8.6,32 ff.)

Zwei Dinge fallen in diesem Text bei einem Blick auf die Formulierun-gen - neben der impliziten Gleichsetzung von Gutem und Sein — so-fort auf: Zun chst, da es Plotin f r richtig h lt, das μη v nun als μηουσία zu bezeichnen, nachdem (zun chst ihm, am Ende des Kapitelsund der Differenzierung der Gegens tze am Beispiel der Unterschei-dung von Qualit ten und Elementen dann auch dem Leser) klar ist,wie die Verneinung gemeint ist. Dann aber auch, da die μη ουσία alsGegensatz der πρώτα, als pluralisch, „der ersten Prinzipien" (n mlich,wie sich herausstellen wird, des Einen und des Geistes), gewertet wird.

Als μη δν ist die Materie also eine Verneinung des Seins in mehrfa-cher, pluraler Perspektive; drei solche Perspektiven k nnen gem dembisher Gesagten bei Plotin insgesamt unterschieden werden:

(1) Eine Perspektive im Sinne der ber die Andersheit definierten Gegens tzlich-keit (also wie der Gegensatz von oben (a)): Die Materie ist das Endresultat derEntfernung vom Ersten, im Sinne der έτερότης vom Ersten; also dessen Gegensatzin der Derivationskette und in diesem Sinne als μη δν zu werten. Dabei ist zu beach-ten, da das Erste als das bergute, berseiende etc., ja eigentlich jenseits der Ge-gens tze wie gut und b se etc., eigentlich auch des Seins und seiner Gegens tze steht.Als gewisserma en weitestentferntes und unterschiedlichstes Pendant ist also die Ma-terie in Plotins Augen ebenfalls gleichsam qualit tslos ,unterseiend4, das Nicht-Sei-ende.

Daran schlie en sich zwei weitere perspektivische Unterscheidungendes Nicht-Seins an, die der Ma gabe von 1.8.6,34 nachkommen wollen,die Untersuchung des μη δν „nach Eigenart und Ursprung (φυσι$ καιουσία)" zu zerlegen:

(2) Eine Perspektive auf das μη δν in bezug auf die φύσις, auf das ,Wesen* derMaterie (also wie oben der Gegensatz im Sinne von (b)): Die Materie ist μη v imSinne einer μη ουσία. Das hei t, sie ist inhaltlich* gesehen Gegensatz zur ,Reinform'des Seins, das mit dem Nous und seinen Inhalten, den Ideen, zu identifizieren ist, wiees Plotin im Anschlu an Platons.ouaiai und an die Vorstellung der ουσία bei Aristo-teles tut:45 Die ουσία als Sein im eigentlichen Sinne, als κυρίω$ δν (Π.4.16,2), kommt

45 Zum Ganzen ebenfalls O'Brien, a.a.O., S. 172ff., wo, wie gesehen, insbesondereauch wieder auf Platons Sophistes-Stelle bezug genommen wird. O'Brien unter-breitet dabei einen immerhin-interessanten Interpretationsvorschlag, indem er

Brought to you by | University of MinnesotaAuthenticated | 160.94.45.157

Download Date | 9/25/13 8:11 PM

Page 19: Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee. Versuch einer Lösung

Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee 19

nur der Geisthypostase zu, die auch als das erste Gute aus dem Wirken des selbst jaeigentlich nicht ,seienden', sondern έπέκεινα της ουσίας bleibenden berguten geltenkann.46 Wie die oben besprochenen Beispiele aus 1.8.6 zeigen, soll dabei der Gegen-satz von ουσία und μη ουσία im Sinne eines echten Gegensatzes gelten, also derart,wie ihn der strenggenommene Gegensatz von Qualit ten, nicht aber der nur ver-meintliche im elementaren Bereich darstellt: Ideenkosmos und Materie weisen keinSubstrat auf, das sie eint, denn die blo e Tatsache, ,da es sie gibt', ist kein Substrat.

(3) Eine »kombinierte4 Perspektive auf das μη δν im Sinne des αρχή-Seins, dessenalso, was die Materie als hervorrufende* ausmacht (im Sinne des μη δν< qua αρχή):Materie und Erstes bringen Entgegengesetztes hervor, meint Plotin in 1.8.6,59 undin 6,34, da ja beide eine αρχή seien, die eine des B sen, das andere des Guten. DieTatsache, da die Materie als μη δν dem όντως δν der Ideen diametral entgegenge-setzt ist, l t sie somit in ,kreativen' Gegensatz zum Ersten treten, und genau darinwurzelt die Identifizierung des μη δν mit dem B sen.47

das μη δν der Materie bei Plotin als „Nicht-Substanz-Sein" definiert, genausowie hier in der zweiten Bestimmung des μη δν als μη ουσία. Das w rde PlotinsMateriebegriff einmal mehr in eindeutige N he zu Aristotelischen Vorgaben r k-ken, da im sechsten Buch der Metaphysik „der Materie das Substanzsein (ti)ausdr cklich abgesprochen wird" (C. J. de Vries, Grundbegriffe der Scholastik,Darmstadt 31993, S. 64 f.). Siehe dazu Met. 1029a20f.: „Ich nenne Materie, wasan sich (καθ* έαυτήν) weder ein Etwas/eine Substanz [?] (τί) noch ein Quantita-tives (πόσον), noch sonst etwas von dem genannt wird, wodurch das Seiende (το

v) bestimmt wird (δρισται)." ( bersetzung de Vries a. a. O.) — Es wird vielleichtauffallen, da ich mich mit dieser angesprochenen zweiten (2) Bestimmung desμη δν ber die <ρύσι$ unter nur wenigen Vorbehalten dieser Sichtweise f r dieInterpretation der Materiefrage bei Plotin angeschlossen habe. Eine auch f runsere Untersuchung des Nicht-Seins der Materie als Nicht-Substantialit t inall ihrer sprachlichen Gedr ngtheit dienliche Definition des Substanzbegriffs beiAristoteles ist schlie lich die von Walter Brugger in seinem Philosophischen W r-terbuch, Art. „Substanz": „Substanz ist das, was sein Sein nicht in einem anderen,sondern in sich hat [...] Die Selbst ndigkeit der Substanz, kraft deren sie ihr Seinin sich selbst besitzt, schlie t aber nicht aus, da sie dieses Sein dem Einflueiner Wirkursache verdankt" - ganz so, wie die Geisthypostase zwar „ihr Seinin sich selbst besitzt" (ganz im Gegensatz zur Materie), sich aber dem Wirkendes Einen verdankt.

46 So changiert ja auch Plotins Ausdrucksweise: Mal ist das Gute das undefinier-bare Erste, aus dem alles Sein ausflie t, und das deswegen gut ist, mal ist es derGeist, der als erste der Hypostasen qualitativ festlegbar ist, und zwar allein alsgut, da unmittelbar aus dem Ersten hervorgegangen. Zu der hier in der Materie-frage n her interessierenden Bestimmung u. a. auch E. Varessis, Die Andersheitbei Plotin, Stuttgart 1996, S. 295: „Das Gute ist in diesem Fall mit dem Seiendengleichzusetzen, d. h. mit der ersten aus der absoluten Einheit hervorgegangenenseienden Vielheit (I. Hypostase = Geist) und deren Inhalten, von denen jedeseinzelne zugleich ein Nous ist."

47 Zur sozusagen »doppelten Verneinung* durch das μη δν bei Plotin, d. h. als ver-neinender Gegensatz des Ersten und des No $, siehe auch E. Varessis a.a.O.,S. 295 ff.? der ich mich hier im wesentlichen anschlie en m chte.

Brought to you by | University of MinnesotaAuthenticated | 160.94.45.157

Download Date | 9/25/13 8:11 PM

Page 20: Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee. Versuch einer Lösung

20 Christian Schäfer

Die zu klärende Frage ist, ob dieser Umstand die Materie wirklichschon zum ,Urbösen' oder zu einer selbst schon bösen macht, jaüberhaupt irgendwie zum Bösen machen kann (in I.8[51].10,l fragt Plo-tin berechtigterweise selbst: ;)? Fritz-Peter Ha-ger hat diese Frage mit der traditionellen Plotinauslegung unter Beru-fung auf Enn. I.8[51]3,20ff. mit Ja beantwortet und zum Herzstückseiner Interpretation der Materie als alleinigen Ursprungs des Bösengemacht.48

Ich möchte im Hinblick auf eine Integration der beiden eingangsangeführten Lösungsvorschläge zur Erklärung des Bösen jedoch eineandere Interpretation anbieten, die sich hoffentlich als mindestens ge-nauso kongruent mit dem Wortlaut der Plotinischen Schriften erweisenwird. Diese geht zunächst von einer Analyse der wichtigsten Attributedes ersten Prinzips bei Plotin aus: Einheit und Güte. Das erste Attributbezeichnet das höchste Prinzip in seiner ,Struktur' (um nicht das —wenn auch eigentlich nicht weniger verkehrte — Wort ,Eigenschaften'verwenden zu müssen, gegen das sich Plotin an mehreren Stellen ver-wehrt), das zweite, also ,gut', in perspektivischem Wechsel in seinerWirkung.49 Das erste beschreibt das höchste Prinzip sozusagen in (be-zug auf) sich selbst, das zweite in bezug auf seine Tätigkeit, die diffuseHervorbringung all dessen, was ist, gewissermaßen in bezug auf dasEmanieren des Einen-Guten ausgesprochen. Ähnlich möchte ich vor-schlagen, die prima fade für den modernen Leser so schockierendeIdentifikation von Urbösem und Materie bei Plotin weniger von derder Materie eigenen , Strukturiertheit' her zu begreifen, von dem, waseine isolierte Untersuchung der Materie allein für sich betrachtet er-bringen würde, sondern von der Wirkung dieser Struktur auf den Pro-zeß der Wirklichkeitskonstituierung, insbesondere auf die Seele (soauch Plotin in I.8[51].3,22ff.). Ähnlich wie Platons Resp. 379a ,gut' als„Gutes bewirken oder hervorrufen" definierte, so definiert sich das,Böse' bei Plotin aus seiner Wirkung; „[it] may be said to have a nature

48 A.a.O., S. 46ff.49 Eine Differenzierung, die sich seit E. Zellers Philosophie der Griechen in ihrer

geschichtlichen Entwicklung, Leipzig 51923, Inges Philosophy of Plotinus (imVol. I z. B. S. 131) und Schwyzers Aufsatz „Die zweifache Sicht in der Philoso-phie Plotins", in: Museum Helveticum I, 1944, S. 87 ff., sowie dessen RE-Artikelzu Plotin (als Monographie Plotinos erschienen München 1978), dort Sp. 549 imZusammenhang der Frage nach ,aktualer' und »gegenständlicher' Betrachtungdes Systems, mit Recht durchgesetzt hat; bei Zeller im Bd. III2, S. 527 f. auchdie wichtigsten Plotinischen Belegstellen.

Brought to you by | University of MinnesotaAuthenticated | 160.94.45.157

Download Date | 9/25/13 8:11 PM

Page 21: Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee. Versuch einer Lösung

Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee 21

or character which is known by its effects"50. Genau in diesem Sinneist die Materie ,das Böse'. Und tatsächlich sagt Plotin ja auch, daßdas Gute und das Böse Gegensätze seien, definiere sich nicht aus ihrerBeschaffenheit, sondern aus ihrer weitestmöglichen Entfernung in derEmanationsfolge sowie daraus, daß sie das Entgegengesetzte hervorbrin-gen: L8[51].6,56-59. In sich selbst betrachtet würde ein ,bösesc Bösesübrigens sozusagen auf ein verweisen müssen, und Plotinwürde das Problem iterieren: Nicht ,sein6 (das spricht Plotin der Mate-rie ohnehin, wie gesehen, weitgehend ab), sondern Bewirken4 bestimmtalso die Materie als Böses.51 Es wird gleich noch zu sehen sein, inwelchem Sinne.

Plotin gibt in I.8[51].8 (einem für die vorliegende Interpretation zen-tralen Kapitel der Schrift) einen nicht zu übersehenden Verständnishin-weis, der es erlaubt, die Materie gewissermaßen wie ein Seinsprinzip imaristotelischen Sinne zu begreifen: Er gibt das Beispiel von der Axt;beim Holzhacken etwa bewirkt die bloße Form der Axt nichts ohne das

50 Rist a.a.O., S. 160 und in Plotinus. The Road to Reality, S. 128: Die Materie„only exists as non-being, but its sheer lack of reality means that its effects willbe bad". Der Gedanke des Bösen als des Schädlichen, Verderblichen etc., alsodessen, das als böse bezeichnet wird, weil es Böses wirkt, findet sich bei Platonselbst immer wieder: so etwa Menon 77d, Phaid. 99c, Resp. 379b und 608e, Phai-dros 246df. etc. Einen gewissen Einfluß mag dabei (ich folge hierin Schröder,a. a. O., S. 169 f.) das Adagium vom ' spielen, daß also, was Böseswirkt, auch Böses sein muß.

51 Vgl. Rist „Plotinus on Matter and Evil", S. 160: „When speaking from the ethicalpoint of view, Plotinus takes up the powerful, if perhaps slightly rhetorical, posi-tion that the cause of evil is itself evil. Evil is judged by its effects, or rather lackof them, just as Goodness is judged by its overflowing abundance." Vielleicht isthier auch der Ort, darauf hinzuweisen, daß Plotin offenbar u. a. an eine Verwen-dungsweise von denkt, die bereits eingangs in Anm. l angesprochen wurde:Die ,Schlechtigkeit in der Anlage'; Dinge oder Personen, die als böse oder übelidentifiziert werden, werden in ihrer eigenen Schlechtigkeit als , schlechtenEltern' oder ,aus keinem guten Stair (so wohl die naheliegenden modernen Ver-gleichsbeispiele) bezeichnet, das phänomenal auftretende Schlechte also auf einendefektuösen Ursprung zurückverwiesen. - Generell bestimmt v. a. das frühegriechische Schrifttum gerne z. B. die Eigenschaften einer Person nach denender Eltern, insbesondere des Vaters (daher auch Stephanus' Thesaurus GraecaeLinguae zu $: „genere malo natus"). So nennen die Trojaner den Sohn desHektor nicht bei seinem richtigen Namen Skamandrios, sondern Astyanax,,Stadtherr', und Homer fügt die Begründung hinzu: „Denn allein Hektor be-schirmte die Stadt" (II. VI 402 f.); ebenso heißt der Sohn des Odysseus Telema-chos, obwohl eigentlich nicht er, sondern sein Vater Odysseus als berühmter Bo-genschütze der ,Fernkämpfer4 ist (was sich v. a. Od. XXI 404 fT. brutal heraus-stellt).

Brought to you by | University of MinnesotaAuthenticated | 160.94.45.157

Download Date | 9/25/13 8:11 PM

Page 22: Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee. Versuch einer Lösung

22 Christ ian Sch fer

Eisen, also die Materiekomponente (8,11 ff.). Und freilich bewirkt dasEisen hier nichts, wenn es nicht die Form der Axt hat. Das pa t ausge-zeichnet zu dem, was vorhergehend zum Problem der Materie als ,Ur-b sem' festgestellt wurde, indem als ,b se' vor allem ihr Wirken, dieFolgen ihrer ontologisch fragw rdigen Existenz gelten kann: hnlichwie die Seinsprinzipien bei Aristoteles f r sich noch keinen ontologi-schen Selbstand haben, sondern nur relativ auf ihre Verwirklichungdefinierbar sind, ist die Plotinische Materie dank ihrer Grundbestim-mung im Sinne von I.8[51].3 (d. h. hinsichtlich dessen, was geschieht,wenn sie negativ, als „Unprinzip" zur Wirkung kommt) zwar gewisser-ma en das ,B se per se'; a. h. sie ist dasjenige, ohne das es niemalsB ses gegeben h tte, auch wenn man die Schw chen und fehlerhaftenInklinationen der ,unteren' Seele in Betracht zieht. Sie ist jedoch nichtbereits als vorontologische, , nterseiende'52 Bestimmung, d. h. vor ih-rer ,Aktivierung', in dem ,Zustand', in dem sie aus der Emanation her-vorging, n mlich als reine M glichkeit, per se b se. \.

Gleiches gilt nat rlich f r die Seele: Auch sie ist als Prinzip nichtschlecht oder b se. So ganz deutlich z. B. L8[51].ll,17 (die Seele ist ουκακόν παρ' αυτής) und 4,5 f.: ψυχή δε καθ' εαυτήν μεν ου κακή οΰδ' αυπασά κακή. Doch zeigen die hier von mir in Kursiva gesetzten Aus-dr cke ebenso deutlich, was auch vorher im Zusammenhang mit demMaterieproblem gesagt wurde: Die Tatsache, da die Seele f r sich be-trachtet keinen Anteil am κακόν oder der Schlechtigkeit, der κακία, hat(wobei letztere f r Plotin eine Folge des ersteren ist), schlie t nicht aus,da sie im Zusammenspiel mit einer anderen Gr e (der Materie, wiesich herausstellen wird), ihren schuldig-unschuldigen Beitrag beim,Ausbruch' des κακόν hat. — Wenn auch nicht als ganze (ούδ' αυ πασά),sondern, wie gesehen, durch ihr ,unteres Verm gen' (ein wiederkehren-der Gedanke in den Enneaden, und am sch nsten vielleicht ausgedr cktinVI.9[9].8,16ff.).

Wenn also Plotin davon spricht, die Materie ,giere' und ,bettle' (I.8[51].14,35f.)als reine M glichkeit und daher als Mangelstruktur nach Verwirklichung — einGedanke, den Aristoteles, Phys. 192al7ff., vorformuliert — und werde somit zum

52 Die platonische Tradition nennt das Erste-Gute bekanntlich , berseiend' im An-schlu an Platons (Resp. 509b) Bestimmung des αγαθόν, das ja auch έττέκεινατων όντων (vgl. bei Plotin I.8[51].3,3) ist; die eigenartige ,Nichtexistenz' der Ma-terie kann — wenn schon die Materie als un hnlichster Punkt des Einen im Ema-nationsproze verstanden wird — daher vielleicht auch am besten mit dem analo-gen Begriff ,unterseiend' verst ndlich gemacht werden. — Wobei ich den „Feh-ler", den O'Brien, Theodicee, S. 68 Schwyzers Plotinauslegung vorwirft, gewinn-bringend umgangen zu haben hoffe.

Brought to you by | University of MinnesotaAuthenticated | 160.94.45.157

Download Date | 9/25/13 8:11 PM

Page 23: Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee. Versuch einer Lösung

Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee 23

B sen schlechthin, so kann diese Aussage m. E. nur im komplement ren Zusammen-hang des Schuldhandelns der Seele innerhalb des diffusiven Prozesses der Wirklich-keitsschaffung gemeint sein und gesehen werden. Die Seele tut ja ,zun chstc (ichstelle hier, Plotin folgend, logische Abh ngigkeiten als zeitliche Abfolge dar)53 imSinne des Guten, von dem sie stammt und in dem sie f rs erste auch verharrt, dasRichtige, indem sie die diffusio boni betreibt und eine nachfolgende Wirklichkeits-stufe hervorbringt: ότι μηδέ οίον τε ην στήναι τα πάντα εν τω νοητώ δυναμένου έφεξή$και άλλου γενέσθαι έλάττονος μεν, αναγκαίου δε είναι εΐττερ και το προ αυτού, sagtPlotin mit w nschenswerter Deutlichkeit in IV.8[6]3.29. Der Materie wiederum kannin ihrem (anthropomorphistisch gesprochen) , Verlangen' nach Verwirklichung, nach

berf hrung ins Sein und ihrem ,Streben nach Substanz' (III.6[26].7,13: υποστάσεωςεφεσι$)54 auch nichts Unrechtes vorgeworfen werden, und zwar des gleichen Prinzipsdes bonum diffusivum sui wegen, zu dem sie, sozusagen ex negativo, beitr gt: siejbenimmt' sich dabei ja sozusagen genauso ,unschuldig* wie ein Vakuum, das, wasauch immer daf r geeignet ist, anzieht, um sich zu f llen. Plotin sah dabei durchaus,da er somit der Materie, das hei t dem ,B sen', ein sehr l bliches ,Trachten4 nachdem Guten und eine gewisse (wenn auch nur passive) Rolle bei der Verbreitung derWirklichkeit, der diffusio boni, einr umt, und spricht das in Kap. 28 von Enn,VL7[38] auch an.55

4. Synthesis

Und doch liegt genau dann, wenn diese beiden an sich noch nicht inactu schlechten Momente aufeinandertreffen, der Defekt in der Konsti-tution der Weltwirklichkeit vor, den wir mit dem bel oder dem B sen

53 In Wirklichkeit wird die Zeit im Plotinischen System von der Seele zugleich mitdem sichtbaren Kosmos hervorgebracht (III.7[45]. 12,22; 13,23 ff. u. .). O'Brienhat in fast allen seinen einschl gigen Ver ffentlichungen erfolgreich darauf auf-merksam machen k nnen, da die ,Hervorbringung* der Materie und ihre »Er-leuchtung' (also Formmitteilung) durch die Seele nur logisch, nicht aber zeitlichin zwei abgrenzbare Handlungsabl ufe differenzierbar ist (so a. a. O., S. 26 f. und41 ff.: „deux volets [...] indissociables", aber „distincts"). Ich entscheide michdaf r, sie hier und im folgenden, wo immer m glich, logisch abzugrenzen, ohne

ber eine zeitliche Differenzierung zu urteilen. Zur raum-zeitlichen Metaphorikin Plotins Sprache vgl. auch z. B. Schr der, a.a.O., S. 132f.

54 Zum Problem vgl. auch Hans Buchner, Plotins M glichkeitslehre, M nchen1970, S-73.

55 Ich will in diesem Zusammenhang noch einmal zu dem Vergleich mit dem ,Eisen4

und der Form(handlung) aus I.8[51].8 zur ckkommen: Od. XIX 13 sentenziertHomer warnend, „das Eisen zieht die M nner von selbst an". Soll hei en: WoWaffen sind, da greifen M nner auch fr her oder sp ter danach, und es kommtzu Kampf, Blutvergie en und Tod. hnlich wie bei der Materie Plotins kannman sich hier fragen: Worin liegt eigentlich die negative αιτία des Eisens? Wohlnur in der Tatsache, da sein blo es Vorhandensein in geeigneter Form einenSchuldf higen zum Handeln freizt' oder .bringt'.

Brought to you by | University of MinnesotaAuthenticated | 160.94.45.157

Download Date | 9/25/13 8:11 PM

Page 24: Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee. Versuch einer Lösung

24 Chris t ian Schäfer

identifizieren: Die ,untere' Materie, das ,Seinsvakuum' setzt den ihrnächststehenden, gewissermaßen affinen ^unteren4 Seelenteil in Bewe-gung. Zwar nicht aktiv, denn das kann die Materie als reine passiveDynamis wohl kaum, aber gewissermaßen finalursächlich als ange-strebtes Objekt oder - insofern sie nur „Spiegel" (IV.3[27].12) der Seeleist - als Scheinobjekt der Formhandlung. Dieser ,Seelenteir gibt auseiner ihm eigenen Schwäche dem Drang zur Materie nach, einer Schwä-che, die aber wiederum weder der Seele noch dem ersten Guten vorzu-werfen ist, da sie aus der Auffacherung in Einzelseelen resultiert, welcheihrerseits der Umsetzung des Prinzips der diffusio boni diente.

Mit anderen Worten: Nachdem in der Materie als letzter Wirklichkeitsstufe ( -) kein Rest mehr von positiv formender verbleibt, ist ihr die Überführung

ihrer selbst ins Sein, zu ontologischer Selbständigkeit aus eigener Kraft unmöglich.Der Anstoß zur Überführung heraus aus der ohnmächtigen Möglichkeit in die Wirk-lichkeit muß zu ihr von einem anderen kommen (IL5[25].l,30f.), während bei dengeistigen Hypostasen (wie der Seele) als stets selbstgestalteten Wirklichkeiten keiner-lei solche ausschließliche Passivität vorliegt.56 Was geschieht also? Die Materie inihrer ,Unwirklichkeitsstrukturc müßte wie alles im Emanationsprozeß zu mehr Seindrängen, sich stets mehr verwirklichen. Denn das Potentielle „gibt es" nur „relativauf seine Verwirklichung"57 (und das Potentielle ist für Plotin sozusagen gleichbe-deutend mit der Materie: so sehr, daß er z. B. in HL9[13].11,3 auch sagen kann, dieSeele erhalte ihre Form erst in Interrelation mit dem Geist, und sei daher in Bezie-hung zum Geist gesehen Materie, ). Doch ist die Materie von sich ausnicht fähig dazu, und diese Unfähigkeit als rein passive Potentialität stellt sie, die ja

56 Zur Aitiologie dieser passiven Formresistenz der Materie vgl. Buchners Kom-mentar zu III.4[15].l,6ff. (a.a.O., S. 72): „Alles, was aus einem Oberen hervor-geht, ist unbestimmt, weil ohne Form; durch die Rückwendung wird das Emanatbegrenzt [...]. Nun aber [seil: bei der Hervorbringung der Materie] tritt etwasauf, bei dem die zweite Phase ausfallt. In völliger Unbestimmtheit verharrt das,was der unterste Bereich der Seele da aus sich entläßt; deswegen ist das Erzeugte

• auch nicht mehr formbar." So geschehen z. B. bei der Derivation der Seele ausdem Geistigen (von der auch weiter oben das Zitat aus III.9[13].ll sprach): Hättedie Seele nicht einen geistigen apex, der sich auf seinen Ursprung, das Geistige,zurückbesänne und ,zurückwendete', so verbliebe die Seele (IV.8[6].4,1 ff.). Vgl. dazu auch Rists gleichlautende Auslegung in Plotinus. The Road toReality, S. 123. Das Fehlen einer solchen Rückwendung, d. h. das ganz auf sichselbst besonnen Bleiben, taucht später bei Augustinus als Problem der curvatioin se ipsum wieder auf.

57 Buchner a. a. O., S. 18. Genau das ist es, was meine vorliegende Deutung meint,wenn sie versucht, die Materie qua ,Böses' im Hinblick auf den dynamischenProzeß des Plotinischen Systems zu begreifen, statt in abgeschlossener Untersu-.chung der Materie in ihrer Strukturiertheit. Diese vermeintliche Materiestrukturkann nämlich nur in bezug auf anderes, dem sie relativ ist, jS

Brought to you by | University of MinnesotaAuthenticated | 160.94.45.157

Download Date | 9/25/13 8:11 PM

Page 25: Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee. Versuch einer Lösung

Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee 25

zunächst als notwendiger Endpunkt der Stufenfolgen einen legitimen Ort im Plotini-schen System hat, für Plotin dann gewissermaßen auch außerhalb der Emanations-ordnung, „unterhalb des Seins".

Diese in bezug auf die Frage nach dem Bösen für sich selbst betrach-tet indifferente Unfähigkeit der Materie wird nun, sobald sie im Zusam-menhang mit der wirklichkeitskonstituierenden Bewegung der Seele gese-hen wird, zum Ursprung des Bösen (und somit die Materie zum Resi-dium des Bösen, zum potentiellen ): Die Seele wird durchdieses (wieder anthropomorphistisch gesprochen) hilflose Elend unddie totale Seinsarmut der Materie (vgl. : .8[51].3,13; II.4[12]. 16,20u. ö.), die sie aus sich entläßt, tatsächlich Angebettelt' und widmet sichder Aufgabe, die Formhandlung, zu der die Materie von sich aus nichtfähig ist, zu übernehmen. - Was ein Fehler ist (wenn auch ein eigent-lich hochgradig lobenswert motivierter in Anbetracht des diffusio-boni-Anspruchs): Denn die Materie ist in ihrer rein passiven UnWirklich-keitsstruktur nicht formfahig, und die Seele scheitert in wichtigen Be-langen an dieser Bildungsresistenz. Als sei sie einem um Beistand fle-henden Ertrinkenden spontan, ohne in langer Überlegung die Situationoder die realistischen Rettungschancen abzuwägen, zu Hilfe geeilt undbeim Versuch der Rettung selbst ertrunken oder zumindest in arge Be-drängnis geraten, weil der Ertrinkende zu schwer war. Freilich wird —um im Bild zu bleiben — niemand dem um Hilfe rufenden Ertrinkendennoch dem auf Rettung Bedachten irgend etwas vorwerfen wollen. Diekatastrophale Folge (die Lebensgefahr, das mögliche Ertrinken beider)hat sowohl von der Initiative des einen (dem Hilferuf aus Angst vordem Ertrinken) wie des anderen (der spontane Rettungswille) her gese-hen rein positive Voraussetzungen: Die Rettung des Lebens.58

Und doch greift dieses Bild ein wenig kurz: Denn für Plotin ist der .Ertrinkende'hier keine von seinem Retter unabhängige Entität; vielmehr erblickt sich die Seele jaselbst im ,Spiegel der Materie', und in der von ihr hervorgebrachten neuen Emana-tionsstufe sozusagen sich selbst als deren ,Schöpfer'. Sie täuscht sich also, wie obengesehen, in einem doppelten Sinne: Durch ein einfaches Fehlurteil in bezug auf ihreHandlung und deren Objekt, und durch ein reflexives Fehlurteil (der ,Spiegel' stehthierfür), eine Täuschung ihrer selbst als Handlungssubjekt, einen selbstverliebten

58 Plotin konstruiert selbst ein ähnliches Beispiel: VI.9[9].8,16ff. oder auchIV.3[27].17,21f. (die archaische und vielleicht sogar überkulturell archetypischeVorstellung vom Wasser als dem unstrukturiert-chaotischen, ,apeironalen' Ele-ment mag hier noch hineinspielen), und spricht I.8[51].13,17f. z. B. vom „Versin-ken im Schlamm der Finsternis". Zum Gedanken der der Materie undseinen Vorläufern siehe Schröder, a.a.O., S. 137, Anm.4.

Brought to you by | University of MinnesotaAuthenticated | 160.94.45.157

Download Date | 9/25/13 8:11 PM

Page 26: Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee. Versuch einer Lösung

26 Chr i s t i an Sch fer

,D nkel' und eine Selbst bersch tzung etc. Der Versuch also, den Ertrinkenden' zuretten, ist der auf einem subjektiv keineswegs ,b s gemeinten4, spontan ausgel stenDenkfehler basierende, objektiv besehen f r Plotin aber n rrische und selbstzen-trierte Versuch der doch eigentlich auf das Geistige und Obere ausgerichteten (,zen-trierten') Seele, das eigene Spiegelbild zu ergreifen und zu formen. N rrisch, weil dieSeele so versucht, sich selbst, ohne den Archimedischen Punkt4 der R ckbeziehungzum Einen, wie M nchhausen am eigenen Sch pf aus dem Sumpf zu ziehen. Es isteine (im Sinne der auf άγνοια gegr ndeten αμαρτία) schuldhafte curvatio in se ipsum,die das Verh ltnis und die wechselwirkende Funktion von passiver Materie und akti-ver Seele sowie die vom Einen unabh ngige und doch f r das Zustandekommen derκακά konstitutiven Schuld im Sinne des oben angesprochenen doppelsinnigen ,SichT uschens' der Seele ausdr ckt. Plotin hat das mit Hilfe der Narkissos-Sage illu-striert:

Irgendeine Sage, d nkt mich, deutet es geheimnisvoll an: der [seil von dem siehandelt, Narkissos], wollte ein sch nes Abbild [seil, seiner selbst], das auf demWasser schwebte [εφ' ύδατος όχουμένο$], greifen, st rzte aber in die Tiefe (εϊς τοκάτω) der Flut und ward nicht mehr gesehen. (L6[l].8,9 ff.)

Die wesentlichen Punkte* der vorangehenden Interpretation des Verh ltnisses vonMaterie und Seele sind hier von Plotin in den Mythos offen oder verdeckt eingearbei-tet: Die Seele, die sich in ihrer ,Sch pfung", d. h. in dem von ihr Hervorgebrachtenwie in einem Spiegelbild sieht; sich wie Narkissos selbstvergessen in dieses Bild ver-liebt; sich also spontan ihres eigentlichen Wesens vergessend ,nach unten* (κάτω), indas f r sie Todbringende begibt; die Tatsache, da das Spiegelbild aber nur „aufdem Wasser schwebt", genauso wie ja die K rperformung der Materie immer nuraufgesetzt, uneigentlich bleibt;59 schlie lich auch das haltlose St rzen in die formloseTiefe, wo vom Spiegel-Abbild Strukturiertheit vorgegaukelt wird, etc.

Ihre unreflektierte Spontaneit t macht die Seele in dieser Hinsichtzum unabsichtlich Schuldigen. Ihre Hervorbringungs- und Formhand-lung ist l blich (im Hinblick auf die diffusio boni) und doch zugleich

59 Auch dazu wieder zwei auslegende Bilder, die Plotin in IIL6[26]. 14,24 ff. gibt(und gewi nicht ohne innere Bezugnahme zu unserer Narkissos-Stelle, da jaauch der Echo-Mythos einf hrender Bestandteil der Narkissos-Sage ist): „Sogleitet denn, was sie [die Materie] etwa empfing, von ihr ab als von einemwesensfremden Ding, so wie das Echo von glatten, ebenen Fl chen; weil dasEmpfangene dort nicht bleibt, erweckt es die Vorstellung, da es dort sei undvon dorther komme. [...] Vergleichbar den glatten Gegenst nden, die man, umFeuer zu erhalten, gegen die Sonne aufgestellt (manchmal nimmt man auch Ge-f e mit Wasser), damit der Strahl, von dem darin befindlichen Widerstand ge-hemmt, nicht hindurchgeht, sondern sich au en sammelt. In diesem Sinne wirddie Materie zur Ursache des Werdens und auf diese Weise bekommt Existenz,was an ihr in Existenz tritt (ουτοο τα εν αυτή συνιστάμενα τοιούτον συνίσταταιτρόπον)." . - -

Brought to you by | University of MinnesotaAuthenticated | 160.94.45.157

Download Date | 9/25/13 8:11 PM

Page 27: Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee. Versuch einer Lösung

Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee 27

eine (IV.8[6].5,16) im radikal platonischen Sinne.60 Die Seelegeht somit eine hochgradig mangelhafte Verbindung ein, wobei derMangel, der sich in diesem Verbindungsmoment, sozusagen bei derÜberführung in den in-actu-Zustand, als das metaphysische Übel er-weist, wie gesehen, der Materie, dem ,Seinsvakuum' verdankt ist, indemer sich auch auf die materiellen Einzelkörper ausbreitet und den SeelenProbleme schafft. Eine Verbindung, die das physische Übel, das Leid,das ja nur in beseelten Einzelkörpern auftritt, ermöglicht und, bei stär-kerer Hingabe an die Welt und der ,Verstrickung' in ihr, zum morali-schen Bösen führt (5,16 ff.).

In beinahe schon tragischer Wendung stellt sich an diesem Ort her-aus, warum Plotin die Materie im Hinblick auf ihre Rolle im Zusam-menhang der Seelenhandlung ,böse' oder sogar ,das Böse' nennt: Esist fast schon unglaublicherweise derselbe Grund, der es verbietet, dieMaterie zusammenhanglos und für sich, allein in ihren Eigenschaften'(also gegenständlich', nicht ,aktual') untersucht, als ,das Böse' zu be-zeichnen: Die Materie ist ja reine Möglichkeit, passive , durchkeinen auch noch so geringen Wirklichkeitsbeitrag vorbegrenzte quali-tätslose Indeterminiertheit (airoios ) und mithin für sich genom-men unmöglich selbst schon böse (denn diese Prädikation würde sie inirgendeiner Weise determinieren, vorab begrenzen und somit definie-ren). Wohl aber ist sie aus eben dieser selben vollständigen Indetermi-niertheit, dem gänzlichen Wirklichkeitsmangel und der grenzenlosenreinen Möglichkeitsstruktur heraus für die Formhandlung der(Einzel-)Seele unüberkommbar und eine Art tödlicher Falle: ,Böse' alsoim Hinblick auf das totale Versagen der Seelenhandlung, das die Mate-rie durch ihre für das Formprinzip Seele aufreizende Indeterminiertheitprovoziert hat; und sogar ,das Böse' im Sinne einer negativen, falschen,dem Guten entgegengesetzten Finalursache für die Seelenbewegung(deren einzig wahrer kausaler Zielpunkt in der normativen OntotogiePlotins ja das Eine-Gute sein sollte).61 Damit ist auch die Deutung

60 D. h. im Sinne des gerne so genannten »ethischen Intellektualismus' des Sokra-tisch-Platonischen Denkens; vielleicht am deutlichsten in Platons Protagoras355a-358e präformiert und zum locus classicus geworden (und 359afT. fortge-führt am Beispiel der Tugend der Tapferkeit, die auf Wissen und das Bemühendarum beruhen muß). Vgl. auch die weiteren Belegstellen bei Schröder, a. a. O.,S. 10-12. Ich möchte mich also dem Grundtenor der Arbeiten O'Briens anschlie-ßen, der die »Schuld der Seele' v. a. in dieser (logisch) zweiten Bewegung derSeele, der Illumination der Materie sieht, noch nicht so sehr in deren Hervorbrin-gung (obgleich diese ja die Hervorbringung des potentialiter ist).

61 Diese Interpretation scheint im Gegensatz zu einigen Aussagen des Kap. 13 derEnn. I.8[51] zu stehen. Dort lehnt Plotin die Meinung ab, man könne das Böse

Brought to you by | University of MinnesotaAuthenticated | 160.94.45.157

Download Date | 9/25/13 8:11 PM

Page 28: Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee. Versuch einer Lösung

28 Chr i s t i an Sch fer

des B sen als Privation erkl rt: Die στέρησι$ (von der Plotin u.a. inI.8[51].ll,lff. spricht) ist in der Formresistenz der Materie zu sehen,die die Seele in ihrer weitgehend vergeblichen Formhandlung entkr ftetund frustriert: Das einzige, was die Seele an der Materie in PlotinsMeinung zustandebringen kann, ist es, „eine Leiche zu schm cken",einen νεκρόν κεκοσμημένον (ΙΙ.4[12].5,18).

Dar ber, wie man sich die στέρησι$ durch die Materie vorstellen kann, gibt Plotinau erdem in V.9[5].1462 einen das bereits Gesagte bekr ftigenden Hinweis, der nicht

bergangen werden sollte: Plotin spielt hier wieder einmal auf Platons argumentume gradibus an, und auf das Problem der in peius absteigenden Seinsfolge; Ausgangs-punkt ist die bereits aus dem Platonischen Parmenides bekannte Frage, ob es vonNegativa, gewisserma en ,peinlichen' κακά, also Schmutz, Schlamm, F ulnis etc.,reine Formen', Ideen gebe (14,7 f.). Nat rlich nicht, sagt Plotin (14,9 f.), sondernerst auf der Stufe, die das Produkt der Seelenhandlung ist, finden sich solche Dinge(14,10-14), und auch da gibt es sie nur, „weil die Seele vielleicht (ΐσω$) nicht dieKraft zu etwas anderem hatte; denn sonst h tte sie ein naturgem es Ding geschaf-fen, wie sie es tut, wo sie's kann (έποίησεν αν τι των φύσει, ποιεί yo v οπού δύναται)"(14,16ff.).

Es bleibt also f r die Vorstellung der στέρησι$ bei Plotin festzuhalten:Die ^Beraubung' ist rein passiv und bezieht sich auf das Formhandelnder Seele. Ph nomenologisch ,fa barec (,ΕίηζεΓ-)κακά entstehen ausder Seelenhandlung an der Materie. Deren Formunfahigkeit ist gemdem argumentum e gradibus als Unm glichkeit, an ihr den Ideenkos-mos richtig abzubilden, zu verstehen: hnlich wie ein gezeichnetes, d. h.,ins Materielle bertragene' Dreieck nie eine exakt bemessene Innen-winkelsumme von 180° haben kann, wie das ,reine' ideelle Dreieck,oder ein gezeichneter (,in Materie verwirklichter') Punkt nie der mathe-matisch-idealen Forderung, ausdehnungslos zu sein, nachkommenkann,63 so scheitert die Seele von Mal zu Mal (όπου ου δύναται) an der

und seine Wirkung voneinander trennen und das eine b se nennen, das anderenicht. Ich m chte jedoch darauf hinweisen, da die vorliegende Interpretationdiesen (in Plotins Augen) Fehler stets zu vermeiden sucht: Die Wirkung ist hierja gerade das Sein des B sen.

62 Eine durchaus kryptische, auch sprachlich schwierige Textpassage (Hardersbersetzung behilft sich mit einigen ehrlichen Fragezeichen). Ich hoffe, im fol-

genden trotzdem den Sinn paraphrasierend treffen zu k nnen.63 Ein wichtiges Datum des Emanationsgedankens, das K. Kremer („Bonum est

diffusivum sui", in: Aufstieg und Niedergang der r mischen Welt Bd. 36:2, Berlin/New York 1987, S. 1004) so gefa t hat: Was auch immer aus einem in der Seins-folge H herstehenden hervorgeht, „ist jeweils Abbild (εικών), Nachahmung(μίμηκα), Spur (ίχνος) von ihm, eine Teilhabe an ihm, daher ein wahrhaft Ande-res, das seinem Prinzip nur noch hnlich (δμοιον), aber nicht mehr identisch mitihm ist" (es folgen Textbelege).- -

Brought to you by | University of MinnesotaAuthenticated | 160.94.45.157

Download Date | 9/25/13 8:11 PM

Page 29: Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee. Versuch einer Lösung

Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee 29

einwandfreien Übertragung des stets guten Geistigen und seiner Inhalte(Ideen), wie sie ja der Seele aus dem Nou$-Kontakt unmittelbar vertrautsind, in die materiell verfaßte Wirklichkeit (V.9[5].10,18-21 und, zumProblem der ,räumlichen Verwirklichung', II.4.11,18 f.).

Die rein passive Formunfähigkeit der als 6 verstandenen Materieläßt die Seele sich sozusagen unnütz abarbeiten, ,beraubt sie' (aktivischgesprochen) ihrer formbringenden Kraft. Das ,objektivec Resultat istu. a., daß es das physische und natürliche Leiden in der Welt gibt: Kata-strophen, Krankheiten (so Plotins Beispiel V.9[5].10,4ff.), jede Art vonImperfektion, die unter die gerechnet werden können. Die ,sub-jektive' Folge ist die Verstrickung der Seele in dieser ihr wesensfremdenimperfekten Welt, eine Verstrickung, die sie lahmt, verstocken läßt, ihreWahrnehmung (insbesondere die des ihr gemäßen, des Guten und Gei-stigen) trübt, bricht und pervertiert etc., und somit zum Grund fürweitere moralische Übel, Sünden, Leiden und Unbill wird.

So begeht die Seele sozusagen eine ihr im Hinblick auf die ihr wesenhafte Situie-rung zwischen geistiger und körperlicher Welt ,charaktertypische Schuld' im Vollzugihrer Diffusionshandlung, indem sie (um es in Anlehnung an das Lieblingsbild derPlatoniker zu veranschaulichen) sich vom Guten, vom Oberen und sozusagen vonder Lichtquelle, der eigentlich ihr letztes Streben gelten sollte, in ihrem Eifer bei derHervorbringung des Materiellen und der Formung der Welt spontan abwendet, umdas Licht gleichsam (wieder grob anthropomorphistisch gesprochen) ,im Rücken zuhaben', damit es ihr das Handlungsobjekt bei der Arbeit beleuchte (vgl. L8[51].4,17-25 und 52; II.l[40].6,39f.)64. Sie verliert also den Fixpunkt ihres höheren Stre-bens aus den Augen, konzentriert sich immer stärker auf die Körperwelt und ver-strickt sich schließlich in der materiellen Wirklichkeit, was Quelle aller moralischenSchuld wird und Ausgangspunkt für das Leiden. Ein Leiden wiederum, das die Seelenur durch die ihr eigentliches geistorientiertes Wesen allerorten limitierende Inkarna-tion erfahren kann, denn je inniger ihre Verbindung mit den Körpern, desto tieferwird sie in deren materiell bedingte (sekundäre) Mangelstruktur, Bedürfnisse, Ge-brechlichkeiten usw. hineingezogen. Kurz, daraus resultieren alle phänomenal auftre-tenden Formen des Bösen (5,21 ff.).

64 Und das ist eine im antiken Sinn des Wortes. Plotin kann also von einerSchuld der Seele sprechen, wiewohl keine freigeborene Intention vorliegt (wennman unseren heutigen Schuldbegriff zugrundelegt, ein Unding). Ich kannO'Briens Auffassung von einer „generation ,necessaire', done innocente de lamatiere" (Theodicee, S. 36), also nicht ganz zustimmen: Zumindest sich selbstschadet die ,innocente* Seele nämlich. Denn die Abwesenheit vom Oberen istgenau das Gegenteil der .Rückwendung' zum Einen, von der IV.8[6].4,1 ff. alsKommen zur Eigentlichkeit, zur wesenseigenen und -gemäßen Wirklichkeitspricht. Zur Licht- und Dunkelmetapher übrigens sehr richtig z. B. ders., Plo-tinus on the Origin of Matter, in Anm. 19 zu S. 20: „ -ros (Enn. V.lflO].2.26) is, for Plotinus, almost a pleonasm".

Brought to you by | University of MinnesotaAuthenticated | 160.94.45.157

Download Date | 9/25/13 8:11 PM

Page 30: Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee. Versuch einer Lösung

30 Chris t ian Schäfer

Aus dieser Sicht der Dinge ergibt sich, wie bereits bemerkt, auch einerichtigere Einschätzung der Materie als des :65 Diesekann für sich genommen ja zunächst v. a. nur deswegen ^schlecht' oder,böse* genannt werden, weil sie als reine und schwerstformbare passive

$ der vom Guten am weitesten entfernten, differentesten Wirk-lichkeitsstufe des Plotinischen Systems entspricht. Daß eine solchebloße aber nicht von vorneherein und aus sich selbst ,böse* ist,zeigt unter anderem, daß ja das Verwirklichungsstreben dem diffusio-boni-Gesetz gehorcht. Als kann die Materie innerhalb des Ge-samtsystems aber eben deshalb gelten, weil sie in ihrer aus ihrer totalenPassivität resultierenden (also nicht aktiven) Wirkung für die Seele zumObjekt der oben besprochenen und für die -Frage zentralenSchuldhandlung wird. Und so veranlaßt .— in Plotins Worten — dieMaterie die Seele, also „das, was sie gewissermaßen betrügerisch sicherschlich, böse zu sein" (L8[l.l]54,48)66. So ja auch I.8[51].14,42 undschließlich 14,50 ff.:

Die Materie also ist Ursache der Schwäche der Seele, sie ist auch Ursache ihrerSchlechtigkeit [...]. Denn die Seele hätte gar nicht in einem Werdeprozeß in sieeintreten können, wenn sie nicht dank der Anwesenheit der Materie ins Werdengeraten wäre. (In der Übersetzung Harders.)

65 Nämlich, wie oben gesehen, als aus ihrer totalen passiven Bedürftigkeit (und nuraus dieser) resultierendem (wenngleich passivem*) Erstanstoß für den Fall derSeele. Ich möchte also im großen und ganzen mit meiner Interpretation der Vor-gabe O'Briens und Horns folgen, die, wenn auch beide mit Einschränkung aufdas moralische Böse, richtig annehmen, daß, wenn das „erst durch dieHinwendung der materiebehafteten Seele zustandekommt, die Materie abergleichzeitig das letzte Produkt des Derivationsvorgangs ist, dann sich ihr im zi-tierten Text [seil.: Enn. I.8[51].6,31-44] geschilderter -Charakter auch soverstehen läßt, daß die Materie als Teil- nur in dem Sinn einer , verführen-den* Größe in Erscheinung tritt, die die Seele schwächt und in ihr böse Verhal-tensweisen hervorruft" (Hörn a.a.O., S. 172 f.).

.66 Wobei Betrügerisch6 ein anschaulicher Anthropomorphismus und gewisserma-ßen eine Metonymie in Form der allage adiectivi ist (ähnlich dem.,melancholi-schen Abendhimmer: der ist ja auch nicht selbst melancholisch, sondern seineWirkung auf den Betrachter löst das melancholische Gefühl in diesem aus, unddas versucht die literarische Figur bündig darzustellen): Die Plotinische Materieist in Wirklichkeit zum ,Betrug* zu passiv; als Betrügerisch' empfindet nur diein ihrer Absicht der Formhandlung , betrogene* Seele diese sie »aufreizende' Mate-riepassivität, die sich dann schließlich im Vollzug der Formhandlung als Formre-sistenz herausstellt. Ähnlich ,uneigentlich* ist die ,Handlung' der Materie in Enn.III.6[26].7,21 ff. zu verstehen: „Daher lügt sie in allem, was sie verspricht [...], sieist ein Possen, der sich verflüchtigt", etc. Auf diese metonyme Verständnisweisehebt wohl letztlich dann auch Plotins Rede von der Materie als »Spiegel' derSeele ab (Enn. (III.6[26].7). _

Brought to you by | University of MinnesotaAuthenticated | 160.94.45.157

Download Date | 9/25/13 8:11 PM

Page 31: Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee. Versuch einer Lösung

Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee 31

Mein Deutungsversuch schl gt mithin vor, den κακόν-Begriff Plotinsin diesem Sinne in gewisser Analogie zur griechischen Auffassung vomαληθές zu sehen: F r den Griechen h ngen bekannterma en M glich-keit und Qualit t der geistigen Erfassung von Dingen nicht allein vonden gnoseologischen F higkeiten des erkennenden Subjekts ab, son-dern genauso von der F higkeit des Erkenntnisgegenstandes, sich zuerkennen zu geben, ά-ληθές zu sein. Auf die »Handlungsvernunft' derSeele bertragen k nnte man f r den uns interessierenden Fall davonsprechen, da die Qualit t der Handlung nicht allein von der Hand-lungsausf hrung oder der Absicht des handelnden Subjekts abh ngt,sondern auch gravierend von der G te des Handlungsobjekts, seinerBehandelbarkeit, ffnungs- und Formfahigkeit etc. Nun ist aber dasHandlungsobjekt in diesem Fall so hochgradig seinsdefizient, im Hin-blick auf die Formmitteilung mangelhaft67 (was sich aber, genau wiebeim Erkenntnisbem hen, erst im Vollzug der Handlung herausstellt)und geradezu zur Schuldhandlung der Seele verf hrend, also im grie-chischen Sinne des Wortes ,b se', κακός, wie die Materie (somit dasπρώτον κακόν) und die gesamte einzelk rperliche Wirklichkeit (also dasδεύτερον κακόν, Enn. I.8[51].4,l—5)68 in Plotinischer Sicht der Dinge(so z. B. Enn. III.6[26].7). So kann man durchaus davon sprechen, dahier die Formhandlung von ihrem Ziel, der Materie und dem materiellVerfa ten hier mit Schlechtigkeit kontaminiert wird: hnlichlautende

u erungen stellt auch Enn. I.8[51].4,17-22 und der ganze Abschnitt14. — Eine Korrelation von Seelenbewegung und Eigenheiten der Ma-terie, die brigens selbst Hager mit einer guten und hilfreichen Analysedes Seinsbegriffs bei Plotin und seiner Anwendbarkeit auf die Materie,eingesteht.

Als Res mee kann in bezug auf die ,Theodizeefrage' bei Plotin alsofolgendes festgehalten werden: Das Gute bringt nichts B ses hervor,auch nicht mittelbar oder ,notwendig'. Zwar ist die Materie ein ,Pro-dukt' (das letzte n mlich) des Derivationsprozesses vom Einen. Aberauch sie ist als solche nichts in actu B ses. Wenn Plotin davon spricht,

67 Inge hat die von Plotin angesprochene qualit tslose φύσις der Materie (so jabereits in der Pr ambel zu I.8[S1], dann explizit in 1.8.6 und fter) als „resistenceto form" aufgefa t (a.a.O., S. 134), und Rist, „Plotinus on Matter and Evil",S. 156, versteht unter der ά-rroios ολη (I,8[51].10,l f.) und der Ιρμία der Materie„the non-cooperation of something completely inert" in bezug auf die Formmit-teilung.68 Die Einzelk rper sind ein sichtbares Zeichen dieser .verungl ckten Synthese'.F r die K rperdinge gilt daher: „it is as though their existence were governedfrom the bottom rather than from the top" (Rist a.a.O., S. 159).

Brought to you by | University of MinnesotaAuthenticated | 160.94.45.157

Download Date | 9/25/13 8:11 PM

Page 32: Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee. Versuch einer Lösung

32 Christian Sch fer

sie sei das αυτό oder πρώτον κακόν, dann tut er das in perspektivischemWechsel und im Hinblick darauf, da sie, weit davon entfernt, als etwasaktual Seiendes gelten zu k nnen, nichts weiter als eine M glichkeitdarstellt, n mlich die bedingende M glichkeit (und zwar die einzig inFrage kommende) f r einen f r das B se in allen Weisen seines Auftre-tens konstitutiven und f r Plotin jedenfalls negativ konnotierten69 (unddas ist der erste Bruch mit dem Ersten, von dem Plotin in seinen Wirk-lichkeitsstufen spricht), ,Abstieg' oder ,Fall' der Seele. Ein Fall, dessenGr nde in der Seele eigentlich im positiven Bezug auf die diffusio bonischlummern.70

Dieser Abstieg ist aber nun auch nicht in der Weise notwendig, daer aus der Vorgabe der emanativen Initiative des Einen-Guten, alsoeiner unmittelbaren oder auch nur mittelbaren »Schuld* des G ttlichenabgeleitet werden k nnte. Nach L8[51].4,25ff. sowie IV.8[6].2,10ff. und4,5 ff. kennt Plotin n mlich z. B. auch solche Seelen, die nicht abstei-gen, und zwar aus eigener ,Charakterst rke', nicht, weil nicht auch sieden notwendigen', ihrer ,niederen' Natur gem en Drang zur Hervor-bringung des »Unteren' h tten. Vielmehr ist es ja eher so, da das Gutedie aus eigenem Antrieb »abgestiegene' Seele nie ganz im Stich, nie ganzaus dem Geistigen herausfallen l t und ihr sogar in einer Art be-sonderen Zuwendung den Weg der R ckkehr zum Guten offenh lt:IV.8[6].5,28ff.; VI.9[9].8,15ff. u. .71

Wenn wir Plotins Denken rational rekonstruieren, das hei t in seinen Pr missenund philosophischen Absichten ernst nehmen wollen, so m ssen wir auch seinerGrundvoraussetzung der G te und alleinurs chlichen Allmacht des ersten Prinzipsbis ins Detail Rechnung tragen. Das Woher des B sen kann dann in bereinstim-mung mit dem Wortlaut der Enneaden m. E. nur folgenderma en erkl rt werden:Das Eine bringt, was es hervorbringt, l ckenlos und ohne Unvollst ndigkeit hervor

69 Was aus Plotins Vokabular gut zu ersehen ist: Von ,FaH' und ,Schuld* der Seele. ist da die Rede (IV.8[6].5,16), und von ihrem ,Schmerz' und ihrer »Verwirrung*

(8,19 ff.). Richtig hat Ugo Bonante, Orme ed enigmi nella filosofia di Plotino,Mailand 1985, S. 163, festgestellt, da das Vokabular, mit dem Plotin den Seelen-abstieg beschreibt, dem intendierten Endergebnis einer harmonischen »lichtvol-len'Gesamtwirklichkeit seltsam entgegengesetzt ist.

70 Der Ausdruck »schlummern' k nnte f r manche der Tatsache zuwiderlaufen, daja eigentlich das Sein der Seele ενέργεια ist. Andererseits gilt das aber wohl v. a.f r die Geistseele insofern sie Geist ist, f r die ττερί νουν ενέργεια (I.8[51].2,6f.).In anderer Beziehung kann Plotin durchaus von den δυνάμεις der weltformendenSeele sprechen (z. B. IV.8[6].4,2; I.8[51]. 14,34; II.3[52]15,21 etc.): Erkl rung undweitere Belege sind etwa bei Adolfo Levi, // concetto dell'errore nella fllosofia diPlotino, Turin 1951, S. 7, nachzulesen.

71 Dazu z. B. auch Schr der a.a.,O.» S. 144 f.

Brought to you by | University of MinnesotaAuthenticated | 160.94.45.157

Download Date | 9/25/13 8:11 PM

Page 33: Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee. Versuch einer Lösung

Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee 33

(die berühmte aurea catena des Seins ist ein Bild dafür)72, und somit auch die Mate-rie, also selbst das Letztmögliche, in dem auch potentialiter die Veranlagung zurWeckung des Bösen in der oben angedeuteten Weise der Interaktion mit dem Form-prinzip Seele schlummert (weshalb die Materie im Hinblick auf ihre , Wirkungen4 als

gilt); - des Bösen, das wohl ebenfalls in der vollständigen emanativenAbleitung oder Ordnung - zumindest als Möglichkeit - nicht fehlen durfte (wasPlotin I.8[51].7,16 ff. auch andeutet) und diese Ordnung, solange es lediglich als Mög-lichkeit vorliegt, die restliche ,Schöpfung' also, tatsächlich in gewisser Weise auchkomplettiert und ,adeltV — Ähnlich wie wir einen Menschen vor allem dann gutnennen und hochschätzen, wenn er das Böse kennt, damit aber nie etwas zu tunhatte, nicht aber, wenn er ohnehin nie auch nur die entfernteste Möglichkeit gehabthätte, mit Bösem in Kontakt zu kommen und ihm zu widerstehen, sich gegen es zuentscheiden. — Die ,Weckung* des Bösen aber liegt außerhalb der ursprünglichenund durchgängig ursprungsverwiesenen Emanationshandlung, der ,Absicht6 oder,Inkumbenz' des Einen: Sie entspringt dem ,Zusammenspier (sofern man davon ein-gedenk der vollständigen Passivität der Materie sprechen kann) von Seele und Mate-rie in einer Weise, die, wie gesehen, die Frage nach einer Schuld des Guten an derExistenz seines Gegenteils in überraschender und stringent durchdachter Wendungausschließt.

5. Ertrag

Eine Auslegung Plotins wie die voranstehende ist gewöhnungsbedürftig. Sie versuchtsich auf weite Strecken im sozusagen ,uneigentlichen Denken' über das , dasPlotin im Anschluß an Platons Timaios 52b als ,Bastardschluß' (II.4[12]. 10,34 und12,32 f.) auf das Böse zu erwägen gibt. Ich möchte sie daher lediglich als Diskussions-beitrag, vielleicht auch als einen Vorschlag zur Güte zu dem bekannten verfahrenenPhilosophen- und Philologenstreit zur Plotinischen Theodizee vorgetragen haben.Was könnte der Beitrag dieses Vorschlags zur Beurteilung des Theodizeeproblems inden Enneaden sein? Ich denke, daß eine Relektüre Plotins unter den Vorzeichen deshier gegebenen Versuchs einer Neuinterpretation seiner Lehre vom Bösen immerhinfolgenden Gewinn erbringen kann (und ich schrecke dabei in der Auflistung desmöglichen Ertrags im Dienste der Deutlichkeit nicht vor der Gefahr zurück, viel-leicht ein wenig zu weit auszugreifen):a) Eine sinnvolle Verbindung der eingangs besprochenen und prima

fade unvereinbar erscheinenden Erklärung des Bösen aus (1) derMaterie und zugleich (2) der metaphysischen ,Schuld', oder besser:Ursächlichkeit eines geistigen Prinzips.

72 Ein Bild, das im Anschluß an eine folgenreiche .theologische' Stelle in der llias(VIII 18 ff.) eine große Eigendynamik und Bedeutsamkeit im antiken, insbeson-dere platonischen Denken erlangte: Vgl. dazu z. B. die Studie von R L6v£que,Aurea catena Hörnen, Paris 1959.

Brought to you by | University of MinnesotaAuthenticated | 160.94.45.157

Download Date | 9/25/13 8:11 PM

Page 34: Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee. Versuch einer Lösung

34 Christ ian Schäfer

b) Im Zusammenhang damit: Eine Rettung des monistischen AnsatzesPlotins durch eine Theodizee des ersten Guten, des Göttlichen, dassich als unschuldig an der Existenz des Bösen erweisen wird, da dasGute ja tatsächlich nichts in actu Schlechtes hervorbringt, sonderndieses erst im freien ,Zusammenspier zweier für sich isoliert genom-men keineswegs aktual ,übler' oder ,böser' Prinzipien, oder besser:,Komponenten der Weltkonstituierung' Wirklichkeit wird.

c) Somit auch eine begründende Erklärungsmöglichkeit für alle dreiWirkweisen des Bösen (moralisch, physisch und metaphysisch)gleichzeitig. Was um so wichtiger ist, als die antike platonischePhilosophie vor Differenzierungen des Begriffs des Bösen aus be-stimmten und mit Hilfe unserer Interpretation durchaus erklärba-ren Gründen weitgehend zurückschreckt.

d) Daraus resultierend: Den Nachweis, daß bei Plotin keineswegs, wiees die communis opinio der Forschung will, eine ,ontologische Ver-uneigentlichung' des Problems des Bösen vorliegt, die von den,lebensweltlich-tragischen' Auffassungen der Antike klar trennbarwäre,73 und das um so mehr, als, wie gesehen, die „Konstitution"des Bösen einen äußerst dramatischen Hintergrund aufweist.

e) Den Aufweis einer innigen Verbindung mit den allgemeinen Grund-sätzen der platonischen Ethik, die ja genau darauf hinausläuft, dasGute durch Revision der Seelenschuld über die Abkehr von der Bin-dung ans Materielle zu erreichen (bei Plotin etwa in IV.8[6].5,28 ff.und I.8[51].7,12ff. im Anschluß z. B. an Platons Phaidon 64aff. und67a und u. ö.).

f) Den Anschluß dieser Interpretation des Bösen bei Plotin an die ein-schlägigen philosophischen Vorgaben Platons (so etwa auch der In-terpretation der Schuld als — auf den ersten Blick eigentlich mora-lisch indifferenter — und , die sich als der Seeleauswirkt, oder auch der Negativität des ), deren Ver-mittler und getreuer Ausdeuter Plotin zu sein sich vornimmt(V.8[31].l,10). Sowie vielleicht eine zumindest gewisse Annäherungder Plotinischen Lehre an die einschlägigen Standpunkte etwa desPorphyrios und des Proklos, deren Thesen zum Problem des Bösen

73 So O. Marquard im Art. „Malum" des Historischen Wörterbuchs der PhilosophieBd. 5; ähnlich z. B. Carl-Friedrich Geyer, Leid und Böses in philosophischen Deu-tungen, Freiburg i. Bn/München 1983, der etwa S. 54 der platonischen Philoso-phie vorwirft, „in der Betonung der Vernunftgemäßheit des universalen Kosmos-zusammenhangs jede Kritik, die sich auf konkrete Leiderfahrung berief, wir-kungsvoll unterlaufen zu können".

Brought to you by | University of MinnesotaAuthenticated | 160.94.45.157

Download Date | 9/25/13 8:11 PM

Page 35: Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee. Versuch einer Lösung

Das Dilemma der neuplatonischen Theodizee 35

somit im Hinblick auf Plotins Vorgaben stärker als (wenn auch viel-leicht ,einseitige') Weiterentwicklung denn als Distanzierung odergar diametrale Abkehr gewertet werden können,

g) Schließlich den Nachweis, daß Plotins Erklärung des Bösen in derWelt, die Plotinische ,Theodizee*, einmal gereinigt von ,esoterisch4

erscheinenden (Erzählungs-)Elementen, suggestiven Bildern und dra-matischen Sprachmitteln (an die ich mich hier der Anschaulichkeithalber gehalten habe, etwa, wenn hier logische Prioritäten als tem-porale Vorzeitigkeiten dargestellt werden), streng und sauber durch-dacht ist. Und vielleicht auch, daß sie in ihrer Stringenz keineswegszu Unrecht die ideengeschichtliche Basis für alle nachfolgendenchristlichen wie nichtchristlichen Platoniker wurde, die sich ihrerrationalen Grundelemente über Jahrunderte gewinnbringend be-dienten.74

74 Die hier für Plotin erarbeitete Lösung des Theodizeeproblems wird in der Tatviele an die Grundgedanken der christlichen Theodizeen im Anschluß an Augu-stinus erinnern, die ja ebenfalls v. a. mit dem Möglichkeits- und Freiheitsbegriffoperieren: Gott hat demnach (grob dargestellt) die Welt als gute geschaffen (Gen.1,31), doch, da eine irgendwie defiziente oder unvollständige Schöpfung einesallmächtigen Schöpfers unangemessen wäre, hat er ihr das Böse zumindest derMöglichkeit nach eingeschlossen. Daß diese Möglichkeit aber gleichsam zumAusbruch kam, verdankt sich (nicht einer Initiative Gottes, sondern) einer freienEntscheidung dafür (im Engel- bzw. Sündenfall). Und frei sind die geistbegabtenWesen ebenfalls nur aus Gottes Güte: Denn ,höher* und ,seinsvoller*, perfekteretc. ist das Wesen, das frei entscheiden kann, und sei es für eine falsche Möglich-keit, als wenn es die Freiheit nicht hätte (für den nichtchristlichen Platonismuswar dieser Gedanke, wie gesehen, durchaus schon bei Platon vorformuliert). Ichdenke, daß mit dem Aufweis der gleichen (zumindest formal gesehen gleichen)Argumentationsstruktur bei Plotin der Nachweis erbracht werden kann, daß essich hier um einen gemeinplatonischen Lösungsversuch handelt, der im christli-chen Denken dann abgewandelt und angeglichen, sicherlich auch in vielen Punk-ten unter neuen Vorzeichen bereichert und verdeutlicht, weiter verfolgt wurde.

Brought to you by | University of MinnesotaAuthenticated | 160.94.45.157

Download Date | 9/25/13 8:11 PM