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Daniel Jonah Goldhagen

Hitlerswillige VollstreckerGanz gewöhnliche Deutsche

und der Holocaust

Aus dem Amerikanischenvon Klaus Kochmann

Pantheon

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Die amerikanische Originalausgabe ist 1996 unter dem Titel Hitler’s Willing Executioners: Ordinary Germans and the Holocaust bei Alfred A. Knopf Inc., New York, erschienen.

Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-100

Das für dieses Buch verwendete FSC®-zertifizierte Papier Lux Cream liefert Stora Enso, Finnland.

Der Pantheon Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH.

Erste Auflage Pantheon-Ausgabe April 2012

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1996 by Wolf Jobst Siedler Verlag GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: Jorge Schmidt, München, nach einer Vorlage von Design Team München Satz: Ditta Ahmadi, BerlinKarten: Peter Palm, BerlinDruck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, LeckPrinted in Germany ISBN 978-3-570-55184-4

www.pantheon-verlag.de

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Erich Goldhagen,meinem Vater und Lehrer

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INHALT

Vorwort zur Pantehon-Ausgabe

Vorwort zur deutschen Ausgabe

EinleitungZu einem neuen Verständnis zentraler Aspekte des Holocaust

TEIL I

Antisemitismus in Deutschland: Der Drang zur Ausschaltung

Kapitel 1Eine neue Sichtweise des Antisemitismus: Ein Rahmen für die Analyse

Kapitel 2Die Entwicklung des eliminatorischen Antisemitismus im modernen Deutschland

Kapitel 3Der eliminatorische Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft der NS-Zeit

TEIL II

Das eliminatorische Programm und seine Institutionen

Kapitel 4Wesen und Entwicklung des nationalsozialistischen Angriffs auf die Juden

Kapitel 5Die Maschinerie der Vernichtung: Agenten und Mechanismen

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TEIL III

Polizeibataillone: Deutsche Normalbürger als willige Mörder

Kapitel 6Polizeibataillone: Handlanger des Völkermords

Kapitel 7Polizeibataillon 101: Die Taten der Männer

Kapitel 8Polizeibataillon 101: Die Motive der Täter

Kapitel 9Polizeibataillone: Leben, Morde, Motive

TEIL IV

Jüdische »Arbeit« bedeutet Vernichtung

Kapitel 10Ursprünge und Muster jüdischer »Arbeit« während der NS-Zeit

Kapitel 11Das Leben in den »Arbeits«lagern

Kapitel 12Arbeit und Tod

TEIL V

Todesmärsche: Bis zum bitteren Ende

Kapitel 13Der tödliche Weg

Kapitel 14Marschieren – wohin und wozu?

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TEIL VI

Eliminatorischer Antisemitismus, gewöhnliche Deutsche, willige Vollstrecker

Kapitel 15Das Handeln der Täter: Die konkurrierenden Erklärungsansätze

Kapitel 16Der eliminatorische Antisemitismus: Das Motiv für den Völkermord

EpilogDie nationalsozialistische Revolution in Deutschland

Anhang 1Bemerkung zur Methode

Anhang 2Schema der in Deutschland vorherrschenden Auffassungenvon Juden, Geisteskranken und Slawen

Dank

Pseudonyme

Abkürzungen

Anmerkungen

Bibliographie

Register

Abbildungsverzeichnis

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Es ist nicht vorteilhaft, gegen den Geist seines Jahr-hunderts und seines Landes anzukämpfen; und mögeman einen Mann für noch so mächtig halten, er wirdseine Zeitgenossen schwerlich für Gefühle und Ideengewinnen, die von all ihren Begehren und Gefühlen abgelehnt werden.

Alexis de Tocqueville,Über die Demokratie in Amerika

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Vorwort zur Pantheon-Ausgabe

Im August 1996 erschien Hitlers willige Vollstrecker erstmals aufDeutsch. Seither sind anderthalb Jahrzehnte vergangen. Die Welt hatsich drastisch verändert. Wir wurden Zeugen von Chinas Aufstieg,mussten aber auch erleben, wie viel mit und seit dem 11. Septemberzerbrochen ist. Deutschland hat endlich jene Normalität wiederer-langt, nach der sich das Land nach dem Ende des 2. Weltkriegs einhalbes Jahrhundert lang gesehnt hat. Die Menschen, darunter und vorallem auch die Menschen in Deutschland, haben sich den Wahrheitenüber die NS-Zeit und den Holocaust gestellt und sind daran gereift.Der Sturm der Entrüstung sowie die Kontroversen, die durch die Ver-öffentlichung von Hitlers willige Vollstrecker losgetreten wurden, er-scheinen heute, da über die Kernthesen des Buchs sowie über diedarin gezogene Schlussfolgerung breiter Konsens herrscht, unvor-stellbar.

Beim Nachdenken über ein Vorwort für die vorliegende Neuaus-gabe schien es mir lohnenswert, die anfänglichen Reaktionen nachzu-zeichnen, die die Erstveröffentlichung des Buchs ausgelöst hatte.Außerdem wollte ich dem deutschen Lesepublikum die Veränderun-gen vor Augen führen, die sich seither im Hinblick auf unser Wissenüber den Holocaust, den Nationalsozialismus und ganz allgemeinüber Völkermord sowie unseren Umgang mit diesen Themen abge-zeichnet haben.

In Land für Land, in dem das vorliegende Buch (in 15 Sprachen)erschienen ist, hat es beträchtliche Aufmerksamkeit sowohl seitensder Wissenschaft als auch der Öffentlichkeit auf sich gezogen und hit-zige Diskussionen entfacht. Nirgendwo ist die Reaktion jedoch um-fassender, nachhaltiger, heftiger und emotionaler ausgefallen als inDeutschland. Bereits kurz nach der Erstveröffentlichung des Buchs inden USA Ende März 1996 und mehrere Monate, bevor es überhauptauf Deutsch erschien, wurde es Gegenstand einer erbittert geführten,lang anhaltenden Debatte, in deren Verlauf das Buch und meine Per-son unter Beschuss gerieten und scharfen Angriffen ausgesetzt waren.Journalisten und Wissenschaftler verfassten Artikel, in denen die In-

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halte des Buchs größtenteils verurteilt und inkorrekt dargestellt wur-den. Fast axiomatisch wurden zudem die falschen Anschuldigungenerhoben, ich würde die Deutschen einer »Kollektivschuld« bezichti-gen, die Hauptaussage des Buchs unterstelle den Deutschen einen unveränderlichen »Nationalcharakter«, es enthalte unzulässige Ver-allgemeinerungen über die damaligen Deutschen und liefere einemonokausale Erklärung des Holocaust. Ernstzunehmende Argumenteund Beweise, die ihre Behauptungen in diesen und anderen Punktengestützt hätten, brachten die Kritiker jedoch nicht vor, weil solche Ar-gumente und Belege nicht existieren.

Doch es gab auch Menschen in Deutschland, die das Buch ent-schieden verteidigten und zu Recht darauf hinwiesen, dass dieje-nigen, die es in Verruf bringen wollten, eben nicht die Erkenntnisse,Argumente und Schlussfolgerungen des Buchs diskutierten, sondernvielmehr Scheindiskussionen anzettelten. Dies kam einem »Vermei-dungsdiskurs« gleich, wie ein Kommentator es nannte.

Die fast vier Monate währende hitzige Debatte um das Buch nochvor Erscheinen der deutschen Ausgabe im August hatte eine fast sur-reale Qualität. Die deutsche Öffentlichkeit sah sich auf einmal einer un-unterbrochenen Flut an hochemotionalen Tiraden in der Presse, imRadio und im Fernsehen ausgesetzt, die sich mit der sensibelsten undbrisantesten Epoche ihrer Geschichte beschäftigte. Den Menschenwurden alle möglichen Behauptungen und Gegenbehauptungen anden Kopf geworfen, so dass niemand in der Lage war zu prüfen, wel-che Thesen der Wahrheit entsprachen und welche nicht. Allzu vieleJournalisten und Wissenschaftler brachten mit ihren Ansichten undErfindungen die deutsche Öffentlichkeit absichtlich dazu, das Buchabzulehnen, noch bevor es überhaupt auf den Markt kommen würde.Dies empfand ich als schockierend. Viele Menschen legten mir nahe,sofort dazu Stellung zu nehmen und die Falschdarstellungen und Ver-leumdungen zu widerlegen. Sonst würde die deutsche Öffentlichkeitdas Buch womöglich unwiderruflich ablehnen.

Dies habe ich nicht getan. Es erschien mir als wenig sinnvoll, michan einer unwirklichen Auseinandersetzung über ein Buch zu beteili-gen, das die Menschen noch gar nicht lesen konnten. Außerdem warich der Auffassung, dass der Sturm sich legen würde und viele Deut-sche schließlich den Wert des Buchs erkennen würden, wenn sie ersteinmal Gelegenheit gehabt hätten, sich ein eigenes Urteil zu bilden.Dies belegt etwa ein Brief einer Frau aus Nürnberg, der mich AnfangAugust erreichte. Darin schrieb sie: »Den Brief, den ich Ihnen imletzten Mai geschickt habe, bedauere ich sehr.« Sie erklärte, ihr erster,vernichtender Brief sei auf der Grundlage dessen entstanden, was sieden anfänglichen Angriffen auf das Buch entnommen habe. Insbeson-

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dere sei sie davon ausgegangen, dass es den »Begriff eines National-charakters« thematisiere, eine Vorstellung, die sie »verabscheue«. Siebetonte, sie habe nicht erwartet, »daß Gelehrte, die sich mit dem Ho-locaust beschäftigten, den Inhalt von ›Hitler’s Willing Executioners‹in irreführender Weise darstellen würden«. Daraufhin kaufte sie sichdie englische Ausgabe des Buchs und »um es milde auszudrücken,ich war überrascht von dem, was ich dort entdeckte. Das war nichtdas Buch, das ich erwartet hatte, und ich meine, jeder, der Ihr Buchliest, wird deutlich erkennen, daß jene Gelehrten Ihre Worte verdrehthaben oder Fehler kritisierten, die entweder ganz nebensächlich odergar nicht vorhanden sind.« Und weiter: »Dennoch habe ich bei derLektüre Ihres Buchs (und der Beobachtung der von Heuchelei ge-prägten Debatte) eine Menge gelernt, und dies führte zu einer sehr positiven Diskussion mit meinen Kommilitonen und mit den Erwach-senen, die ich unterrichte. Bislang habe ich noch niemanden kennen-gelernt, der Ihre Argumente wirklich kannte und sie absurd fand,noch bin ich auf jemanden gestoßen, den die von Ihnen dargestelltenhistorischen Tatsachen nicht erregten (abgesehen von einem, dessenGroßvater in der SS gewesen war – er hatte jedoch eine ziemlichschwere Zeit durchzustehen, nachdem ich Ihr Buch in seiner Klassevorgestellt habe).« Ihr Brief ist in diesem Sinne ein beispielhafterKommentar und eine Erklärung dafür, wie sich die Rezeption desBuchs in Deutschland allmählich verändert hat.

Zeitgleich mit dem Erscheinen der deutschen Übersetzung wurdeich Anfang August von der Zeit gebeten, eine ausführliche Antwortauf die deutschen Kritiker zu verfassen. Zuvor war dort neun Wochenlang eine Reihe von eher gemäßigten Beiträgen verschiedener Intel-lektueller zu meinem Buch erschienen. In meiner Erwiderung konnteich nun auf die zahlreichen Unwahrheiten eingehen, die in diesen Ar-tikeln vorgebracht worden waren. Des Weiteren konnte ich die Men-schen auffordern, sich endlich mit den eigentlichen Themen und Er-kenntnissen des Buchs auseinanderzusetzen. Die Veröffentlichungmeiner Replik und das Erscheinen der deutschen Ausgabe lösten eineFlut von neuerlichen Reaktionen aus, die jedoch im Großen undGanzen gelassener und sachlicher ausfielen. (Die deutsche Ausgabeenthielt ein eigens verfasstes Vorwort, das sich ebenfalls mit vielendieser Fragestellungen befasste.) Die Kritiker konnten ihre ursprüng-lichen unbegründeten Vorwürfe nun nicht länger aufrechterhalten.

Vier Wochen später reiste ich nach Deutschland, wo ich innerhalbvon zehn Tagen das Buch im Rahmen mehrerer Veranstaltungen vor-stellte. Ich nahm unter anderem an sechs Podiumsdiskussionen teil,zu denen auch Fachwissenschaftler und Journalisten eingeladen wor-den waren. Die meisten dieser Diskussionsforen wurden entweder re-

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gional oder sogar landesweit ausgestrahlt. Viele der eingeladenen Ex-perten äußerten sich lobend über das Buch, das ihrer Meinung nachwichtige Lücken in unserem Wissen über den Holocaust geschlossenhabe, und stimmten dessen Kernthesen zu. Selbst ausgewiesene Kriti-ker, von denen die meisten eigens zu der einen oder anderen Po-diumsdiskussion eingeladen worden waren, gaben sich in der direk-ten Auseinandersetzung vor einem Publikum, das inzwischen mitdem Inhalt des Buchs vertraut war, in etlichen Punkten geschlagen.Dennoch war es bemerkenswert, wie wenig sich jene Kritiker mit deneigentlichen Erkenntnissen und Schlussfolgerungen des Buchs aus-einandersetzten. Denn dadurch wäre ja offensichtlich geworden, dassich durchaus neue Fragen aufgeworfen, neue Erkenntnisse geliefertund auch Antworten formuliert habe. Doch das wollten sich die Kriti-ker auf keinen Fall eingestehen.

Kurz nach meiner Ankunft in Deutschland wurde noch etwas an-deres deutlich. Obwohl viele Menschen zweifelsohne die Ansichtender Meinungsmacher zunächst akzeptiert hatten, lehnte die deutscheÖffentlichkeit die übereilten »Weisheiten« dieser Experten inzwi-schen ab, wie dies ja auch bei der Briefschreiberin aus Nürnberg undderen Bekannten der Fall war. Zum offensichtlichen Erstaunen vie-ler wurde das Buch von der Öffentlichkeit sehr gut aufgenommen.Die Podiumsdiskussionen zogen Scharen von Zuhörern an, die mehr-heitlich aufseiten des Buchs standen und die Sichtweisen der Kriti-ker nicht teilten. Sie hörten sich die entsprechenden Argumente an,beurteilten die Aussagekraft des vorgelegten Beweismaterials undbildeten sich ihre eigene Meinung. Es wurde häufig und kräftig ap-plaudiert, meist um Zustimmung zum Buch und seinen Thesen zumAusdruck zu bringen. Das Interesse in Deutschland war riesig. DieEintrittskarten für die verschiedenen Podiumsdiskussionen waren imNu ausverkauft. (So waren beispielsweise die Karten für sämtliche2400 Plätze in der Münchner Philharmonie in Windeseile vergriffenund die Zeitungen schrieben, dass die Organisatoren mühelos auchdas Olympiastadion hätten füllen können.) Gleichzeitig hieß es, dasBuch beherrsche wie kein anderer Gesprächsgegenstand die öffent-liche Diskussion. Es war Thema des Tages geworden. Zu meinerÜberraschung führte es in der Folge in Deutschland, Österreich undvielen anderen Ländern die Bestsellerlisten an.

Gegen Ende meiner Buchtournee erklärten die zu Beginn im We-sentlichen feindselig eingestellten deutschen Medien sowohl meinenAufenthalt als auch das Buch zu einem Riesenerfolg. Führende libe-rale und konservative Zeitungen beschrieben meine Lesereise inihren abschließenden Kommentaren übereinstimmend als »Triumph-zug«. Ich hatte darauf gehofft, dass das Buch in Deutschland Anklang

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finden würde, sobald die Menschen erst einmal die darin enthaltenenArgumente kennengelernt hätten. Dass die Reaktionen dann aller-dings von allen Seiten derart wohlwollend ausfallen würden, hatmeine Erwartungen bei Weitem übertroffen.

Fünfzig Jahre nach Kriegsende ist vielen Deutsche an einer ehr-lichen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gelegen. Die My-then und irreführenden Ansichten, die bisher die öffentlichen De-batten über den Holocaust dominiert und vielen als Trost und Alibigedient haben, können sie nicht mehr überzeugen. Nachdem sie ge-sehen hatten, was wirklich in dem Buch steht, zweifelten sie nichtmehr daran, dass die neuen Fragen, die es aufwirft, die Ideen und Perspektivwechsel, die es anbietet, durchaus stichhaltig sind. Ihnenwar unmittelbar klar, dass die alten Perspektiven verworfen werdenmussten, dass viele der zentralen Fragen zum Holocaust bisher nichtgestellt worden waren und dass ihr Wissen über die Vergangenheitgroßenteils hinterfragt und vermutlich revidiert werden musste. Diestrifft auch dann zu, wenn man nicht sämtlichen meiner Thesen folgt.Natürlich hatten viele Menschen in Deutschland der unrealistischen,jedoch vorherrschenden Sichtweise, was die schiere Durchführungdes Holocaust angeht, ohnehin nie richtig Glauben geschenkt. Diesebesagt, dass eine kleine Schar von Nazis alle anderen Deutschen ter-rorisiert hätte, und diese hätten die Verfolgung und Auslöschung derJuden, die sie eigentlich missbilligten, aus diesem Grund geduldetoder sogar mitgetragen. Doch bislang hatten die notwendigen Be-weise gefehlt, um eine solche Ansicht wirksam anzufechten. Außer-dem war es schwierig gewesen, viele der Themen des Buchs, ob öf-fentlich oder privat, auch nur anzusprechen.

Kurz nach dem Erscheinen des Buchs entwickelte sich in Deutsch-land augenscheinlich ein relativ breiter Konsens, dass die durch dasBuch angestoßene Debatte nicht nur notwendig, sondern längst über-fällig war, und dass aus einer solchen Debatte nur Gutes erwach-sen konnte, ganz gleich, zu welchen Schlussfolgerungen der Einzelnekommt. Diese Ansicht wurde von vielen geteilt, auch von etlichenKritikern, die mir ansonsten widersprachen. Letztlich ist dies derGrund für die ausgesprochen positive Resonanz, die das Buch inDeutschland erfahren hat. Es erklärt zudem, weshalb große Teile derÖffentlichkeit sich empört gegen jene Meinungsführer wandten, diedie Diskussion zu unterdrücken suchten. Die Menschen hatten dieMärchen und die Ausflüchte satt.

Die Rezeption des Buchs sagte sehr viel über die positiven SeitenDeutschlands aus. Für die Deutschen ist es extrem schmerzhaft, sichdiesem furchtbaren Teil ihrer Vergangenheit zu stellen. Dass vieledennoch dazu bereit waren und sind, zeigt einmal mehr, wie sehr sich

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das demokratische Deutschland in der zweiten Hälfte des zwanzig-sten Jahrhundert bereits gewandelt hat.

Dies war der Stand der Dinge unmittelbar nach der Veröffentli-chung des Buchs. Nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europaund auch in Israel und den Vereinigten Staaten – im Prinzip überallauf der Welt – löste es Diskussionen aus, leitete ein Umdenken einund zog schließlich innerhalb kürzester Zeit einen Paradigmenwech-sel nach sich. Kurz nach meiner Lesereise durch Deutschland erfuhrich, dass mir für meinen Beitrag zur deutschen Demokratie der De-mokratiepreis der »Blätter für deutsche und internationale Politik«verliehen worden war. Die Laudatio anlässlich der Preisverleihunghielt Jürgen Habermas, sein Vortrag lautete: »Über den öffentlichenGebrauch der Historie: Warum ein ›Demokratiepreis‹ für DanielGoldhagen?« Eine zweite Laudatio trug Jan Philipp Reemtsma vorund in der ersten Reihe saß damals Joschka Fischer, der bald daraufAußenminister werden sollte. Ich wurde von wichtigen deutschen Po-litikern empfangen, darunter von der Bundestagsfraktion und demVorstand der Grünen.

Es erschien ein umfangreicher, in zahlreichen Sprachen verfassterKorpus an Sekundärliteratur, die sich explizit mit Hitlers willige Voll-strecker beschäftigte, (darunter über vierzig Bücher und Tausendevon Artikeln). Thematisch sind die Titel breit gefächert, ernst, manch-mal jedoch auch recht amüsant, wie folgende Beispiele zeigen: EinVolk von Mördern? Die Dokumentation zur Goldhagen-Kontroverseum die Rolle der Deutschen im Holocaust, eine Zusammenstellungvon Artikeln, die über das Buch geschrieben worden waren (und dieerschien, noch ehe das eigentliche Buch in Deutschland veröffentlichtworden war); Unwilling Germans? The Goldhagen Debate, eine An-thologie kritischer Beiträge zur Rezeption des Buchs, einschließlichmeiner Antwort auf die Kritiker; das Buch Goldhagen in der Qua-litätspresse: Eine Debatte über »Kollektivschuld« und »National-charakter« der Deutschen, in dem untersucht wird, wie die Medienzunächst versuchten, den Inhalt des Buchs zu verzerren; Gold-Hagenund die »Hürnen Sewfriedte«: Die Holocaust-Forschung im Sperr-feuer der Flakhelfer, ein Buch, das die deutschen Akademiker durch-leuchtete, die zum Angriff auf das Buch bliesen; Goldhagen und die deutsche Linke oder Die Gegenwart des Holocaust, eine Reaktionder deutschen Linken, die das Buch als erfrischenden Weckruf in Sa-chen Holocaust und Antisemitismus werteten; Wessen Schuld? Vom Historikerstreit zur Goldhagen-Kontroverse, eine Analyse des Buchsvor dem Hintergrund weiterer historischer Debatten in Deutschland;Die Bilderwelt der Goldhagen-Debatte: KulturwissenschaftlichePerspektiven auf eine Kontroverse um Geschichte, eine kulturwissen-

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schaftliche Untersuchung der visuellen Aspekte rund um die Rezep-tion meines Buchs und meiner Person in Deutschland; Goldhagenund die Deutschen, ein Sonderheft von Psyche: Zeitschrift für Psy-choanalyse und ihre Anwendungen, eine psychologische Reflexionder Resonanz, die das Buch erfuhr; und, mein Lieblingswerk, einedurchaus ernst gemeinte Untersuchung zum Thema Antisemitismusund Kirche: In den Gedächtnislücken deutscher Geschichte mitHeine, Freud, Kafka und Goldhagen.

Die in meinem Buch aufgeworfenen konzeptionellen und empiri-schen Leitfragen haben weitere, häufig (jedoch nicht ausschließlich)jüngere Wissenschaftler zu entsprechenden Forschungsprojekten mo-tiviert. Das Erscheinen des Buchs in Deutschland versetzte die Ge-schichtswissenschaften in Aufruhr und schlug hohe Wellen. Die einstunverrückbaren und scheinbar akzeptierten Wegweiser, die vorgaben,wie Forscher bei der Untersuchung dieses Zeitraums zu verfahrenhatten, und wie Journalisten, die über diese geschichtliche Epocheschrieben, sich dabei von deren Weisheit leiten lassen sollten, wareninzwischen verschwunden. Oder, anders ausgedrückt, sie wurdennicht mehr als richtungweisend angesehen, da sie häufig in stark irre-führender Weise eingesetzt worden waren. Die Disziplin brauchte einige Zeit, um ihre Fassung wiederzuerlangen. Wie ein Regime, daszu Ende geht, so braucht auch ein abgelöstes Paradigma Zeit, um einneues hervorzubringen. Jedoch dauerte es in diesem Fall nicht lange,bis sich rund um die Parameter, die in Hitlers willige Vollstrecker dar-gelegt worden waren, ein neues und noch immer einflussreiches Para-digma herausgebildet hatte.

Das alte Paradigma bestand aus abstrakten, gesichtslosen Struktu-ren und Institutionen (die Bürokratie; die Gaskammern; der starkübertrieben dargestellte »Terrorapparat«, der sich angeblich in all seiner Grausamkeit direkt gegen ganz gewöhnliche Deutsche rich-tete; die SS, die NSDAP) sowie aus vermeintlich unaufhaltsamenäußeren Kräften (der totalitäre Terror, die Erfordernisse des Kriegs,der sozialpsychologische Druck), der den Deutschen keinen realisti-schen Spielraum ließ und ihnen jegliche Möglichkeit verwehrte, et-was anderes zu tun als roboterhaft »Jawohl« zu rufen. Durch diesesParadigma wurden die menschlichen Akteure sowie ihre Fähigkeit,ihr Handeln gemäß eigener moralischer Werte zu beurteilen und mo-ralische Entscheidungen zu treffen, ausgeblendet. Zugleich war die-ses Vorgehen ahistorisch, da es den tatsächlichen geschichtlichenKontext ignorierte und beispielsweise unberücksichtigt ließ, wie dieInstitutionen, in denen sich die Menschen vorfanden, jeweils funktio-nierten, wie die Menschen damals dachten und wie ihre Ansichtenentstanden waren. Des Weiteren implizierte ein solches Denkmodell,

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dass jedes Volk zu jeder Zeit unabhängig von seiner Haltung gegen-über Juden (also selbst Nicht-Antisemiten) genauso, mit der gleichenBrutalität, dem gleichen Eifer und dem gleichen teuflischen Gelächtergehandelt hätte wie die tatsächlichen Täter.

Diese Sichtweise wurde durch das neu aufgekommene Paradigmain Frage gestellt. Es wurde nachdrücklich betont, dass der Holocaustvon Menschen herbeigeführt worden war, die von der Richtigkeit des-sen, was sie taten, überzeugt waren und deren Überzeugungen sich in-nerhalb eines äußerst spezifischen historischen Kontexts herausge-bildet hatten. Diese Individuen trafen zahlreiche Entscheidungen, wiesie sich innerhalb der Institutionen, in denen sie tätig waren, verhal-ten sollten. Diese Entscheidungen, durch die sie ja überhaupt erst zuihren Aufgaben gekommen waren, waren im Sinne des alten Para-digmas noch ganz anders bewertet worden. Im Rahmen des neuen Paradigmas wurden nun endlich die Menschen selbst ins Zentrum der Diskussion gerückt. Statt wie früher vorrangig danach zu fragen:»Was brachte die Menschen dazu, gegen ihren Willen zu handeln?«(eine Frage, die völlig ungerechtfertigt davon ausgeht, dass die Men-schen tatsächlich gegen ihren Willen handelten), lautet die Frage nun:»Warum haben sich die Menschen unter den gegebenen Umständenbewusst entschieden, so und nicht anders zu handeln?«

Wirkmächtige Mythen bröckelten: So etwa die Mär, dass Schwei-zer oder Schweden nur deshalb so gehandelt hätten, wie sie es taten,weil sie von den Deutschen bedroht wurden; oder der Mythos, dassdie Völker in verschiedenen besetzten Ländern nur deswegen nichtmehr taten, um den Deutschen Einhalt zu gebieten, beziehungsweiseden Mord an den Juden nur deshalb nicht weniger bereitwillig unter-stützten, weil sie Angst vor den deutschen Besatzern hatten; das offi-zielle Märchen der alliierten Regierungen, dass sie aus vertretbarenGründen auf keinen Fall mehr hätten tun können, um die Opfer zu ret-ten; die Legende, dass diejenigen, die sich jüdischen Besitz, darunterauch Kunstwerke, aneigneten, dies im Allgemeinen ohne böse Ab-sicht taten; das Trugbild, dass die Täter im Großen und Ganzen ihrTun missbilligten, jedoch dazu gezwungen wurden, dass sie von blin-dem Gehorsam beherrscht waren oder psychologisch unter Druck ge-setzt wurden und nur deshalb so handelten; und schließlich die dreimiteinander verwandten Mythen, dass das deutsche Volk im weiterenSinne (unbeschadet aller Ausnahmen) erstens nicht gewusst habe,dass seine Landsleute sich der Massenvernichtung von Juden schul-dig gemacht hatten, das Naziregime zweitens nicht unterstützt habe,obwohl dessen zahlreiche brutale politische Maßnahmen weithin bekannt waren (darunter die Zwangssterilisierung, die so genannteEuthanasie, die gewaltsame Verfolgung von Juden und anderen Min-

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derheiten, die Wiedereinführung von Massensklaverei auf dem euro-päischen Kontinent), und drittens die allgemeine eliminatorische Ver-folgung der Juden nicht gebilligt habe.

Es überrascht daher nicht, dass viele Menschen, die derartige Auf-fassungen entweder tröstlich fanden oder deren wissenschaftlicheLaufbahn auf Forschungspositionen aufbaute, die diese stützten, garnicht glücklich waren und ihr Missfallen auch deutlich zum Ausdruckbrachten. Dass diese Ansichten nun auf einmal derart überzeugend inFrage gestellt wurden, empfanden sie als politisch unerwünscht oderals persönliche Bedrohung. Häufig reagierten sie darauf, indem sie –nicht selten in hasserfüllter und skrupelloser Weise – gegen die Über-bringer der Botschaft vorgingen, egal ob es sich dabei um Wissen-schaftler wie mich handelte oder um Institutionen wie das HamburgerInstitut für Sozialforschung, das die Ausstellung »Vernichtungskrieg.Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944« konzipierte, welche be-reits 1995 an verschiedenen Ausstellungsorten in Deutschland ge-zeigt wurde, oder um den Jüdischen Weltkongress, der die Schweizerdazu zwang, das Thema des Schweizer Goldes und der Einbehaltungjüdischen Kontenvermögens anzugehen oder um Zeugen, namentlichjüdische Überlebende, deren Fülle an Zeugnissen immer schon eineerhebliche Gefahr für viele dieser Mythen dargestellt hatte.

Gewisse Grundsätze, die durch das alte Paradigma verschleiertwurden, sind zu wesentlichen Elementen des neuen Paradigmas ge-worden. Dazu gehören:

Menschen und menschliches Handeln: Das Zerrbild, dass die ein-zelnen Deutschen keine eigenen Ansichten über die Rechtmäßigkeitdessen, was sie oder ihre Landsleute taten (darunter das Abschlachtenvon Kindern), besessen hätten, wurde verworfen. Dies hatte gleich-zeitig zur Folge, dass in den Mittelpunkt der Analyse, wie der Holo-caust durchgeführt werden konnte, nun wieder Menschen rückten.Menschliches Handeln in diesem Zusammenhang und auch auf all-gemeinerer Ebene wurde als zentrales Element anerkannt, um dieNS-Zeit verstehen zu können. Inwieweit derartige Ansichten unterDeutschen verbreitet waren, ist von großer Bedeutung, ebenso wie eseine wichtige Rolle spielt, auf welche Weise sie einzeln oder im Zu-sammenspiel mit anderen Faktoren das Handeln der Deutschenwährend jener Jahre beeinflussten. Dasselbe gilt für die Bevölke-rungen anderer Länder, in denen die Deutschen zahlreiche willigeHelfer fanden, aber auch solcher Länder, deren Bewohner sich (teil-weise mit Erfolg) darum bemühten, das Auslöschungsvorhaben zuvereiteln.

Die Deutschen wussten davon: Die Legende, dass die deutsche Öf-fentlichkeit in weiten Teilen nichts von der groß angelegten Mas-

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sentötung der Juden wusste, wurde zu den Akten gelegt. Im Zusam-menhang mit der Veröffentlichung von Hitlers willige Vollstreckernahm auch die Aufrichtigkeit der Deutschen zu: Im September 1996gaben siebenundzwanzig Prozent der Deutschen, die bei Kriegsendewenigstens vierzehn Jahre alt waren, zu, zum Zeitpunkt der Ereignissevon der Judenvernichtung gewusst zu haben. (Die Umfrage, die zudiesem verblüffenden Ergebnis kam, wurde im Auftrag des ZDFdurchgeführt. Das wichtigste Meinungsforschungsinstitut der deut-schen Nachrichtenagentur dpa gab dabei zu bedenken, dass die Dun-kelziffer ohne Zweifel beträchtlich höher liegen dürfte.) Damit rücktdie eliminatorische Verfolgung der Juden in den Mittelpunkt einer je-den Untersuchung des kulturellen, sozialen und politischen Lebensder damaligen deutschen Zivilgesellschaft und ganz gewöhnlicherDeutscher. Gleichzeitig wird dadurch eine Kontinuität mit den elimi-natorischen Verfolgungen der 1930er Jahre hergestellt, von der alleDeutschen wussten. Dies beweist, neben zahlreichen weiteren For-schungsergebnissen, dass der nach dem Krieg gebetsmühlenartig be-schworene Spruch »Niemand hat’s gewusst« nur eine Schutzbehaup-tung, ein Rechtfertigungsmythos war.

Eine komplexe Sichtweise auf die Beziehungen und die gegensei-tige Einflussnahme zwischen Staat und Gesellschaft: Es wurde inzwi-schen eingeräumt, dass die Deutschen, anders als es der Mythos vomtotalitären Terror will, eben nicht terrorisiert wurden (außer sie gehör-ten einer Bevölkerungsgruppe an, die spezifischen Angriffen ausge-setzt war wie die Juden, Homosexuelle, Sinti und Roma, Menschenmit geistiger Behinderung beziehungsweise psychisch kranke Men-schen oder führende Mitglieder der kommunistischen und sozial-demokratischen Parteien). Dies wird unter anderem daran deutlich,dass es durchaus offen vorgetragenen Dissens und vielfältige Opposi-tion zu zahlreichen politischen Maßnahmen des Regimes gab. DasRegime wiederum war sehr darauf bedacht, sich nach der öffentlichenMeinung zu richten und reagierte entsprechend auf Widerspruch undoppositionelles Handeln. Ein neues Verständnis der Beziehungenzwischen der Staatsmacht, der Politik des Regimes und der Zustim-mung der Bevölkerung hat sich herausgebildet. Man geht inzwischendavon aus, dass es zur wechselseitigen Beeinflussung kam und dassinsgesamt ein relativ hohes Maß an Zustimmung existierte, die dasRegime bemüht war aufrechtzuerhalten. Eine zentrale Frage hierbeiist, weshalb die Deutschen verschiedene politische Vorhaben malmehr, mal weniger stark ablehnten, es praktisch jedoch keine prinzi-piellen Einwände gegen die allgemeine eliminatorische Verfolgungder Juden gab. Allgemeiner gesprochen: Sämtliche Denkmodelle, diedavon ausgehen, dass die Menschen – Deutsche, Franzosen, Litauer,

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Polen, Schweizer, Ukrainer oder die Alliierten – aufgrund von unauf-haltsamen äußeren Kräften so handelten, wie sie es taten, was die Ver-nichtung der Juden angeht, müssen ersetzt werden durch Sichtweisen,die die Existenz der menschlichen Handlungsfähigkeit anerkennen.Hätte die breite Mehrheit der Deutschen die radikale eliminatorischeVerfolgung der Juden abgelehnt, hätte Hitler diese niemals in dieserWeise betreiben können.

Eine vergleichende Perspektive auf den Völkermord: Bei Unter-suchungen zum Holocaust sollten weder methodologische Verfahrenangewandt noch Kausalbehauptungen aufgestellt werden, die im Wi-derspruch dazu stehen, was wir über andere analoge Phänomene wissen und wie wir diese erforschen. Eine solche vergleichende Per-spektive war bereits Bestandteil von Hitlers willige Vollstrecker undprägte die Kernthesen dieses Werks. In meinem Buch Schlimmer alsKrieg: Wie Völkermord entsteht und wie er zu verhindern ist wurdediese Sichtweise weiter ausgeführt. Es wird detailliert ergründet, in-wiefern der im ersten Buch gewählte theoretische Rahmen die Grund-lage für ein tiefgehendes vergleichendes Verständnis von Eliminatio-nismus und Völkermord bildet und gleichzeitig ein aussagekräftigesErklärungsmodell für diese Phänomene bietet. Des Weiteren wirdnachgewiesen, dass das alte Paradigma des Holocaust nahezu allemwiderspricht, was wir heute über Genozide wissen. Im Gegensatzdazu stehen das neue Paradigma und die darauf gründenden Schluss-folgerungen ganz und gar im Einklang mit Ansätzen, die aus einervergleichenden Perspektive heraus den Holocaust zu erklären ver-suchen, und stellen auch keinen Widerspruch zu den zahlreichen an-deren Beispielen für Eliminationismus dar.

Sämtliches Quellenmaterial ist zu verwenden: Alle verfügbarenQuellen (einschließlich zeitgenössischer Dokumente und der Aus-sagen von Tätern, Opfern und unbeteiligten Beobachtern) müssenVerwendung finden, außer sie erweisen sich gemäß klar formulierter,üblicher sozialwissenschaftlicher Prinzipien als fragwürdig. Dies istvon besonderer Bedeutung, da im Rahmen des alten Paradigmas dieAussagen der Opfer ausdrücklich oder stillschweigend unberücksich-tigt blieben, und zwar genau weil die Aussagen dieses unglaublichsachkundigen Personenkreises vielen der zentralen Behauptungendes alten Paradigmas eindeutig widersprachen. Auch standen sie augenscheinlich im Widerspruch zu den Aussagen jener Wissen-schaftler, deren Karriere sich auf dieses Erklärungsmodell gründete,da sich ihre Forschungsarbeit nur innerhalb seiner festgestecktenGrenzen bewegte. Geht es beispielsweise um die Verwendung derAussagen jüdischer Überlebender, müssen die Gründe für derenNichtberücksichtigung auch dann vertretbar sein, wenn man das Wort

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