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„WAS WIRD LITERATUR?“ Performances, Lesungen und Gespräche über Quellen und Zukünfte des Schreibens Literaturhaus Graz, 19. bis 21.11.2015 STATEMENTS

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„WAS WIRD LITERATUR?“Performances, Lesungen und Gespräche

über Quellen und Zukünfte des Schreibens

Literaturhaus Graz, 19. bis 21.11.2015

STATEMENTS

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HARTMUT ABENDSCHEIN

WAS WIRD MEINE LITERATUR?

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Was wird meine Literatur?

(EA, 1969)

Der Besuch von Orakeln ist nicht immer eine ungefährliche Sache. Vielleicht hilft es aber, will man ein Bild künftiger Literaturen skizzieren, sich daran zu erinnern, was früher als solche bezeichnet wurden. Und - vielleicht noch wichtiger - worüber geschwiegen wurde. Eines der frühesten Werke, an dessen persönliche Rezeption ich mich erinnern kann, ist Die kleine Raupe Nimmersatt von Eric Carle, eine Jahrgangsgenossin, quasi. Sicher ist das Buch nur im vorbegrifflichen Sinne als Literatur zu bezeichnen. Als Werkzeug, Medium, Objekt, das eine Geschichte transportiert, haptisch innovativ war und nicht nur als erzählte sondern auch als mediale Allegorie funktioniert, ist sie immer noch auf der Höhe der Zeit, behaupte ich. Und steht für das anschauende Lesen als Transformationsprozess, ist gleichermassen aber auch literaturdiätetische Schrift. Ein richtiger Longseller in den Kinderbilderbuchcharts. In diesem Lesealter war und ist Lesen, auch als Bildbetrachtung noch mit Literatur identisch und es war (kaum mit Einschränkungen) wichtig. The medium is the message. In der Oberstufe wurde es dann konkreter. Goethe und Brecht waren Literatur. (Man rief sie beim Nachnahmen, wie alte Kollegen.) Und eine Prise Hesse für die Verträumten. Es gab ein geheimes System von Namen, den Lehrplan, der das bestimmte. (Wer diesen bestimmte und warum, war (uns) nicht transparent. Die KMK selbst im Bereich des Literarischen.) Dies bestätigte sich in ähnlicher Weise in der Buchhandelsschule, dort wurden sogar Whitelists ausgehändigt. Autortitelkombinationen, Verlagsnamen, Orte, Jahrgänge. ISBN. Ein Werk wurde zu einem syntaktischen Metadatensatz mit verbindlicher Nummer. Praktisch. Aber eines unter einigen. Noch theoretischer, ungreifbarer, kühler. In der Praxis – in einer Grossbuchhandlung – stand die Literatur zwischen Krimi- und Sachbuchabteilung. Mit einem kleinen Lyrikregal als strukturell erratischem Wurmfortsatz. Wieder Hesse, Benn, die Droste. Von Kling oder Brinkmann hatte man damals auch schon was gehört. Machte die Buchhändlerinnen aber trotzdem ratlos. Man nannte es Kassengift, auch schon in den Neunzigern. Aus Gründen aber unverzichtbar. (Gleich daneben zur Kompensation: Die

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Kontemplationslyrik einer Allert-Wybranietz mit Rosenfotos als Geschenkbändchen. Läuft. In Kurorten sogar wie warme Semmeln.) Fürs literaturwissenschaftliche Studium geeignet war das wenigste. Die Germanisten sagten: Goethe und Brecht. (Die Kollegen.) Die Anglisten Shakespeare und Chaucer. Faust 1 noch eher als Faust 2, aber manchmal muss es sein. Der Urfaust nur den Strebern vor der Zwischenprüfung. Frankenstein 2 noch eher als Toni Morrison. Aber o.k.. In Schottland gab es Robert Burns (Tae a Moose - die kleine Raupe Nimmersatt wird jetzt etwas nervös.) Und Alasdair Gray - wenn man Drogen mochte. Im Hauptstudium dann Durchbruch und Befreiung: man lernte auszurechnen, dass X% aller Literaturbegriffe zumindest fragwürdig sind. Man frage also lieber nach den Machtverhältnissen, die sich in Texten und Textaussagen spiegelten, man frage nach dem impliziten Leser, man frage nach dessen Mutter, man suche und analysiere verschollene oder apokryphe Kanones. Literatur ist demnach eine variable, ästhetische Erinnerungsfunktion. Und für den Common Sense: noch nie haben zwei Menschen dasselbe Buch gelesen. Noch nicht einmal das gleiche. Als Verlagspraktikant erzählte man uns, dass unser Verlag die Richtige Literatur macht und der XY-Verlag nicht. RundfunkvolontärInnen pries man die autorschaftliche Sprechstimme. O-Ton ist Gold und the voice the message. Aber nur, wenn sie auch Preise erworben hat. Und eine Anerkennungsgabe der Literaturgruppe Olten war damit nicht gemeint. Dem Presselektorat ist Literatur, was im Feuilleton ist. The name ist the message. Zunehmend auch mal ein E-Book. Bei der Nennung von Games war man vorsichtig. Mit Webseitenliteratur sparsam. Textformate mit ungewissem Ausgang galten alle als irgendwie igitt. Geradezu basisdemokratisch ist die Bestandesbildungspolitik der Universitätsbibliothek. Wenn man genug im Budget hat und entsprechende Kompetenzen, kann man fast eigenverantwortlich und in definitorischer Absicht wirksam werden. Kanones gab es auch, aber derer viele. Und den Sammelauftrag der lokalen Mundartdichter. Die Sondersammelgebiete sind zahlreich und wechseln alle zehn Jahre. Ebenso das Erwerbsprofil. Kontinuität ist allerdings Glückssache. Und Katalogbrüche sind wahrscheinlich, aber das ist ein anderes Thema.

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Was ich damit sagen will: Je nachdem, mit wem man zu Tische sitzt, wird sich der Literaturbegriff dehnen und engen, vorausgesetzt natürlich, die Verhältnisse bleiben stabil und demokratisch und der Definitionsmächte viele. Nihil novum sub sole novum. Das ist die Prognose. Literatur in summa war, ist und wird also sein, wozu Gesellschaften und ihre Teilsysteme bereit sind, als solche zu bezeichnen, zu rezipieren, sich darüber auszutauschen. Warum sollte es also in ein paar Jahren nicht ein Spaziergang mit Oculus Rift sein. Oder - wie in Christian Böks Xenotext-Experiment - die Produktion eines Gedichte-Generators auf bakterieller Grundlage. Oder auch nur eine semiotisch gelungene Rückenmassage. Wasimmer man sich auch als kreative, bewusstseinserweiternde, willkürliche Zeichen, Zeichenkombinationen, -träger vorstellen mag. Im radikal anderen Fall gibt es dann eine (1!) Bibel an deren vier Schriftsinne wir alle glauben müssen. Einen Kommentar, der uns in Freiheit wiegt. Und ein paar mehr oder minder entspannte Auslegungsapparate.

Mit dieser Einsicht kann meine Literatur, die Freiheit nehme ich mir, - neben gelegentlicher Sichtung dessen, was andere als Literatur bezeichnen - diejenige sein, die ich als solche mache. Das sind auch immer wieder (Text-)Artefakte, die aus Materialsamplings entstehen. Manchmal Appropriationen, die aber um einen entscheidenden Tick erweitert werden. Dabei soll zunächst einmal kein Medium, kein Material, keine Technik ausgeschlossen werden. (Klar, das Buch ist ziemlich praktisch. Weswegen ich auch unbedingt an die Weiterexistenz der Buchkultur glaube. Menschen sind so.) Wenn das Archivieren das neue Sammeln und Rezipieren ist (Kenneth Goldsmith), dann ist das Buch nun einmal ein Tausendsassa. Wenn es in Betrieb, Handel und Lehre nur noch 1-2 möglichst definierte und zu reproduzierende Gattungen gibt, deren Wahrnehmung und Vermittlung als respektabel erachtet wird, dann kann mir das egal sein. Mich interessieren die Ungenannten, Untendurchgefallenen und noch Unerprobten. Die Chimären und Mutanten. Was also Literatur sein kann und soll, ist für mich auch das, was sich medial, aber auch von Gatekeepern und Vorbildern emanzipiert. Von mir aus auch die Haltung eines ungeschriebenen Texts. Folglich will ich den Begriff breit und offen halten und arbeite gegen dessen Vereinnahmung bzw. Verknappung durch Textsortenkonventionen, Märkte, Betriebe, Medien, Performancetrends etc., sowohl als Autor, Herausgeber als auch als Verleger. Kommen wir also zum Verlag, denn es ist nur konsequent sich als solchen aufzustellen: Die Verlagsarbeit sehe ich als fortlaufende Arbeit an einem poetischen Text: In der Darstellung und Anfertigung von Exempeln unterschiedlichster Art und deren Edition, entsteht ein sich aufdatierendes Gesamtliteraturkunstwerk, das Archiv und Resonanzraum für zeitgenössische, vergangene und künftige mögliche Literaturen sein kann. Neben konventionelleren Schriften befinden sich darin gleichberechtigt Oulipo-Ansätze, dissidente Schreibweisen, Sobjekte, aber auch printedierte Botprotokolle, Unterlassungserklärungen und Netzliteraturen. Literatur als Texterkenntnis ist auch Textkenntnis des ganz Anderen. Der Menueplan der kleinen Raupe ist divers. Das Ergebnis spricht für sich.

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Hartmut Abendschein (D/CH), geb. 1969, Schriftsteller, Herausgeber und Verleger. Mitbegründer von litblogs.net, Betreiber des weblogs taberna kritika.

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CHRISTIAN BENNE

BASED ON A TRUE STORY

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Based on a true story

Manche Sprachen besitzen für die Zukunft der Vergangenheit, futurum in praeterito, eine eigene Tempusform. Die deutsche Sprache gehört nicht dazu. Sie behilft sich mit Umschreibungen.

Wir schreiben das Jahr 1998. (Wir umschreiben es, wir schreiben es um.) Die nahende Jahrtausendwende, das augenscheinlich grenzenlose Wachstum am Neuen Markt und die Aussicht auf den kurz bevorstehenden ewigen Frieden beflügelten futuristische Phantasmagorien wie seit der Mondlandung nicht mehr. Alles würde ganz anders werden, wir wussten bloß noch nicht, ob das ein Grund zum Feiern war. Aber zum Feiern brauchte man damals eigentlich gar keinen Grund.

Berliner Zimmer nennt man das Durchgangszimmer, das die Mietskasernen jener Stadt auszeichnet, die sich gerade erst damit zu versöhnen begann, die Zukunft des Landes zu beherbergen. Hier baute, wer damals PC und Modem besaß, die klobige Anlage mit Vorliebe auf, denn für schöne Dinge war es kaum zu gebrauchen. Das Berliner Zimmer ist lichtarm.

Der Berliner Student saß in seinem Berliner Zimmer und starrte ungläubig in den flackernden Monitor. Über den Schreibtisch verstreut lagen an ihn gerichtete Schmähbriefe auf Kopierpapier, das die Konturen des Tintenstrahldrucks ausfransen ließ und, passend zum Inhalt, die Unbedarftheit der Typographie unterstrich. Übertroffen wurden sie von eifernden Beiträgen in Internetforen, die sich schon wie der Shitstorm anfühlten, der erst noch erfunden werden würde. Das isländische Wort für Computer lautet wörtlich: Fenster zur Welt. Was dieses Fenster preisgab, übertraf in seiner Tristesse noch die Aussicht auf den Hinterhof, auf dem die Hausmeisterin Frau Tonn, sie hieß wirklich so, wenigstens versuchte, den Müll sachgerecht zu trennen.

Soeben war in einer großen Wochenzeitung ein Beitrag von ihm erschienen, in dem er so rundheraus wie nassforsch das Ende der gerade erst verkündeten Zukunft der Literatur ausgerufen hatte, eigentlich nur einer verlorenen Wette wegen. Mit seinem Erscheinen stellte die Zeitung indes zugleich den von ihr selbst erst zwei Jahre zuvor ins Leben gerufenen Wettbewerb für Internetliteratur ein. Die eingesandten Texte hatten, um es milde auszudrücken, die hohen Erwartungen ästhetisch nicht einzulösen vermocht. Das fanden auch IBM und die anderen Sponsoren; Geld verdienen ließ sich damit nämlich nicht.

Der Student, in der Phantasie der Erregten ein bigotter Reaktionär weit fortgeschrittenen Alters, der das Netz nur vom Hörensagen kannte, hatte also gerade die Zukunft der Literatur zerstört. Das lastete schwer auf seinen schmalen Schultern.

Die Geschichte der Literatur lässt sich als Abfolge ihrer in die Zukunft gerichteten Selbstentwürfe erzählen, die selber wieder historisch wurden. Spätestens seit der Querelleverband sich damit auch eine gesellschaftliche Zukunftsbestimmung, deren Allegorie die Dichtung nun wurde. Ihre Zukunft zu prophezeien war eine Ahnung nicht nur des kommenden Wortes, sondern der kommenden Tat. Es galt die Zukunft der Menschheit herbeizuschreiben: das Licht zu schaffen, mit Nietzsche gesprochen, indem man es begehrt. Dahinter steckte freilich noch, wie Nietzsche selbst am besten wusste, die metaphysische Gleichsetzung von Wesen und Zweck. Das zukünftige Ziel der Literatur, der Gesellschaft, der Menschheit wurde zugleich zu ihrem Eigentlichen erklärt.

Hinter dem naiven Technikfetischismus gewisser Zeitgenossen vermutete der junge Mann, bisweilen wohl sogar mit Recht, zu kurz gekommene Menschheitsbeglücker, mit denen er in seinem Leben schon Erfahrungen gesammelt hatte, die für ein Leben reichten. Was ihn zu seinem bescheidenen Artikel provoziert hatte, war ihr Siegeseifer, der sich aus dem Ressentiment speist und die Züge verzerrt. Musste die Ablehnung der literarischen Ersatzutopie aber notwendigerweise zum Rückzug in die selbstzufriedene Biedermeierlichkeit der Sammler von Erstausgaben führen? Zum Glück bot Manufactum noch keine Bücher an, lange würde es nicht mehr dauern. Gab es denn keine Alternative zur falschen Dichotomie aus Revolution und Tradition?

Die Universität, die er besuchte, schmückte ihr Hauptgebäude mit der berühmten Behauptung, dass es nicht darauf ankomme, die Welt zu interpretieren, sondern sie zu verändern. Er hatte das immer als Absurdität, ja als Zumutung empfunden. Der Urheber des Satze hatte an anderer Stelle von der Last der „Tradition aller toten Geschlechter“ gesprochen, die die Lebenden belaste und sie selbst im Augenblick der totalen Umwälzung „ängstlich die Geister der Vergangenheit“ heraufbeschwören lasse. Ihm selbst hingegen schien die Vorstellung einer Revolution attraktiver, die sich mit eben jenen Geistern der

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Vergangenheit verbündete, schon allein um Aussicht auf dauerhaften Erfolg zu haben. Er dachte dabei an keine konservative Revolution, nicht an die Rücknahme der Gegenwart im Namen einer vorgängigen Überlieferung. Vielmehr schwebte ihm die radikalste Auslegung des pindarischen genoio hoios essi vor: Werde, der du bist. Nicht allein unsere Zukunft änderte sich durch die Revolution, sondern unsere Vergangenheit. Erst über die interpretierende Um-Schreibung der Vergangenheit würde die Revolution in die Zukunft finden, weil sie nur dann die Prämissen zu ändern vermochte, unter denen sie selber noch angetreten war. Deshalb begann, so dachte er sich, noch jede (nicht nur jede literarische) Revolution mit einer revolutionären Re-Lektüre.

Für die Zukunft der Literatur interessierte sich der Student, er studierte übrigens Literatur, nun immer weniger, für ihre Vergangenheit umso mehr – weil ihm an ihrer Gegenwart gelegen war. Die Literatur im Internet wurde ihm umso sympathischer je weniger missionarisch sie auftrat. Allerdings schien ihm dergleichen immer unbedeutsamer. Er sah das Netz nun als konsequenteste Erfüllung des frühromantischen Traums vom ewigen Werden. Was wird Literatur? Sie wird werden. Und nur wenn sie wird, wird sie sein. Sein muss sie aber, um zu werden. So wird sie, was sie ist. Er begann Aufsätze, Bücher, Essays zu verfassen, für die er insgeheim den Begriff der Literaturphilosophie erfand. Für Zeitungen schrieb er kaum noch.

Etliche Jahre gingen ins Land. Er gab sein beschränktes Wissen inzwischen selbst an die nächste Generation weiter und wunderte sich allenfalls über ihren linkischen Umgang mit Texten jedweder Provenienz. Dass unter ihnen ein Streit über die Zukunft entbrennen würde, gar über die Zukunft der Literatur, hielt er für höchst unwahrscheinlich. Ein wenig hätte er es sich gewünscht. Merkwürdigerweise lud man ihn nun vermehrt zu Veranstaltungen über die Zukunft der Literatur ein. Mit den alten Geschichten hatte das nichts mehr zu tun; sie waren zum Glück längst vergessen. Obwohl doch gar keine Jahrhundertwende ins Haus stand, kündigte sich augenscheinlich wieder irgendetwas an. Nun würde er ihnen also erneut begegnen: den Zukunftsgewissen und angesagten Neuerfindern des „scheibenförmigen Gegenstands mit idealerweise kreisförmiger Kontur, der um seine Symmetrieachse drehbar gelagert ist“ (Quelle: Wikipedia), aber auch den mutigen Spielern und Träumern. Er atmete tief durch und beschloss, sich ihnen stellen. Vielleicht waren sie ja dabei, die Zukunft der Literatur aus dem Berliner Zimmer zu befreien? Das wäre doch schon mal ein Grund zum Feiern.

Christian Benne(D/DK), Professor für Europäische Literatur und Geistesgeschichte, Universität Kopenhagen.

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OLIVER BUKOWSKI

JEDER FÜR SICH UND ALLE MITEINANDER?

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JEDER FÜR SICH UND ALLE MITEINANDER?

In der Kognitions- und Wahrnehmungspsychologie nennt sich das „Priming“, „WYSIATI“ (What you see is all there is - in etwa: „Nur, was man gerade weiß, zählt“) und „Halo-Effekt“: Wir nehmen ein paar Anfangsinformationen – ob nun vorgegeben oder selbst gesucht – und treten daraus den neuronalen Trampelpfad unserer Annahmen und Vorhersagen. Unsere ersten, schnellen Schlussfolgerungen sind beharrlich. Jede und jeder weiß, wie schnell der sog. Erste Eindruck bei der Partnerwahl gebildet, aber wie schwer er zu korrigieren ist. Orakeln wir hier über die Zukunft des Schreibens, sind wir da nicht viel besser dran, wir „primen“ uns. Wir destillieren die massivsten Phänomene aus der Gegenwart und glauben zu wissen, was sich künftig wie entwickeln wird. Wir projizieren und wahrsagen. So entstehen Trends, so entstehen Moden und das, was dann sehr bald als brandneu und Avantgarde ausgerufen wird. Bis, ja bis, wir uns wieder zusammensetzen und neuerlich aus dem Bodensatz der Tasse Kaffee in der Kantine lesen. Denn wir glauben stur daran, dass nichts bleibt, wie es war. Dass es Entwicklung gibt, geben muss. Höherentwicklung sogar. Überall ist das so, also auch in der Kunst. Wieder ein Fehler. Ein sehr menschlicher – denn unsere Spezies urteilt intuitiv nun mal so naiv optimistisch. Evolutionspsychologisch mag das sogar von Vorteil sein, aber hier, in Kunstfragen, ist es ein folgenreicher Irrtum. Anders als in Wissenschaft und Technologie, lässt sich in der Kunst nicht von Fortschritt oder Höherentwicklung sprechen. Wie der Fotograph Man Ray wusste: „Kunst hat mit Wissenschaft nichts zu tun. Kunst ist kein Experiment. Es gibt keinen Fortschritt in der Kunst, ebensowenig wie es Fortschritt in der Sexualität gibt. Um es einfach zu sagen: Es gibt nur verschiedene Wege, sie auf die Beine zu stellen.“1 Oder für das Theater mit dem Fachjournalisten Dirk Pilz: "Die Annahme von Fortschritt in Kunst ist jedoch ein Irrglaube: Nie werden durch neue Formen alte hinfällig. Die Theatergeschichte wird – wie jede Kunstentwicklung – nicht durch Fortschritte, sondern durch Ausdifferenzierungen bestimmt. Rimini Protokoll macht keine Andrea Breth hinfällig, Gob Squad keinen Bondy. Im Grunde ist diese Feststellung eine Banalität, aber der blinde Fortschrittsglaube des 'postdramatischen Theaters', die Frontstellung zwischen vermeintlich alten und vorgeblich neuen Darstellungsweisen ließ dies leicht in Vergessenheit geraten. … Der Gestus der Opposition –gegen das Vorhandene, „Alte“ – OB - allein macht noch keine eigene – und gehaltvolle –Haltung.“2

Nichts gegen den Versuch, Entwicklungen zu sehen und zu bestimmen. Gefährlich wird es nur, wenn wir uns hier tatsächlich einigen und wieder einmal allzu genau wissen, was modern und avantgardistisch ist. Gefährlich nicht, weil wir uns vielleicht irren, sondern weil wir der Kunst genau das nehmen, was sie am Leben hält und ihr Publikum sichert: die Vielfalt. Wir setzen das Eine über das Andere und erledigen damit beide. Das Vorhandene, indem wir es pauschal als unbrauchbar und gestrig denunzieren; das Neue, weil wir es für überlegen halten und ihm jede Bühne schenken – genau so lange, bis eben kaum eine Bühne mehr anderes zeigt. Das, was gerade noch brandneu war, ist dann wieder das Gewöhnliche. „Hypermoderne Sachen haben die seltsame Angewohnheit, schneller als andere zu veralten.“3, wie Nabokov sagte. Aus Avantgarde wird Mainstream, und alles beginnt von vorn. Das Paradox: Wer zu genau über die Zukunft redet, verhindert oder übersieht sie. Erwartungshaltungen „primen“, sie richten unsere Wahrnehmung und engen sie dadurch ein. Noch verstiegener wird es, wenn wir uns auf inhaltliche Vorhersagen einlassen. Es hieße

1 zitiert nach Karheinz Barck, Peter Gente, Heide Paris, Stefan Richter: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais, Reclam Leipzig 1990, S. 315 2 Dirk Pilz: Der Gestus der Opposition. Unübersichtliche Vielfalt am Theater, NEUE ZÜRICHER ZEITUNG, 27.07.2012 3 Vladimir Nabokov „Das wahre Leben des Sebastian Knight“, Roman, Rowohlt 1999, S. 38

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nicht nur, die ästhetischen Formen künftiger Bühnenereignisse vorherzusagen, wir Scharlatane müssten auch noch den Gegenstand des kommenden Theaters prophezeien, nicht weniger als die komplette Gesellschaft der Zukunft also. Bitte nicht, jeder Horoskop-Redakteur hätte mehr Anstand. Wie nun trotzdem über das Schreiben von Morgen reden? Ich denke, indem wir nachsehen, welche Probleme wir heute haben. Der erste Gedanke zu ihrer Lösung ist dann schon ein Spurenelement von Zukunft.

Dirk Pilz vermisste Gehalt bei den Modernisierungs-Versessenen. Gehalt entsteht durch das Spannungsverhältnis von Form und Inhalt. Pilz` Kritik zielt darauf, dass die Postdramatik der letzten Dutzend Jahre vor allem durch die Entwicklung der Theaterformen spektakulär sein wollte. Draußen, vor dem Theater, tobte die Spätmoderne. Die Habermassche Unübersichtlichkeit der Verhältnisse wurde drinnen, im Theater, zur Undurchschaubarkeitvulgarisiert. Jeder Kausalzusammenhang in Plots, Konflikten, Figurenentwicklungen galt nun als peinliche Vereinfachung, als „unterkomplex“. Überhaupt, das „Komplexe“ – die Vokabel wurde zum steten Hammerschlag gegen das Repräsentationstheater. Grundzug der neuen Suchbewegung: das Theater soll unverwechselbar subjektiv (damit auch ein Markenschlager) und es soll wahr sein. Subjektiv sollte es werden, indem man nun von die Zwangsjacken von Rolle und Figur abwarf. Und wahr wurde es, weil man sich von den herbeikonstruierten Kausalketten befreite und also nun so ähnlich komplex in seinen Komplexen, überfordert und sinnverlassen auf der Bühne stand, wie man sich auch draußen durchschlug. Beides sollte sich dann glücklich zu dem vereinen, was in einer so feindlich wirren Welt von höchstem Wert sein musste: wieder glaubhaft sein, authentisch. Jede Form von Einfühlungstheater war von nun an Lüge. Die Rhetorik: Einfühlung = Gefühl = Gefühligkeit = Sozialromantik = Kitsch. Sozialrealismus wurde zum Schimpfwort, nur der eigene, der postdramatische Ansatz galt. Alles hier zu knapp und ungerecht skizziert, aber im Prinzip wieder nur der ganz gewöhnliche Fall, wo sich eine einzige Denkweise als Weltgeist zu Pferde hievt und alles Vorhandene niederreitet. Doch, frohe Botschaft, auch ein Glücksfall. Denn die Postdramatik vernichtete nicht nur, ihr Ansatz war kein monoformaler, sondern trug selbst viele Spielarten in sich. Die Klaviatur verfügbarer Theatermittel erweitert sich ungeheuer. Von Dokumentar- über Tanz-, Erzähl-, Störfall- bis Diskurstheater – es wurde wie der Teufel experimentiert. Auch sprachlich. Wir sehen heute Rhythmus, Arbeit mit Zeilenbruch und lyrischer Metaphorik bei Palmetshofer und Schmalz, die Fließtexte der Jelinek, Slang und Soziolekte bei Berg, Laucke, Kricheldorf, Diskurs-Idiome bis in die Lecture Performance, Erzähltheatralik mit Bericht, Kommentar und nahezu reiner auktorialer Prosa, chorische Intarsien ähnlich dem Hiphop in den „Sprachskulpturen“ der Zeller, die alltagsbelassene Sprache des Dokumentartheaters und jeden Tag vieles mehr. Hatte ein Text nur irgendeine performative Potenz, ließ er sich auf die Bühne bringen. Aber was die nun, diese dunkel fordernde „performative Potenz“?Genau diese Frage ist und bleibt für Schreibende ein Problem. John von Düffel spricht von einer „postdramatischen Verunsicherung“ der Autorinnen und Autoren. Das ist aufregend oder entmutigend. Gerade die, die anfangen, für das Theater zu arbeiten, sitzen häufig dem leeren Blatt und wissen nicht recht, was die Bühne eigentlich von ihnen will. Wo zeigt sich denn „performative Potenz“ wenn ich jeden Roman, jeden Tagebucheintrag und Küchenzettel auf die Rampe bringen kann? Wenn keine Kausalzusammenhänge mehr gefragt sind, dann kann ich auch keine Handlungslogik anlegen und die Entwicklungsdynamik des Abends verifizieren. Wo es weder Figur, Konflikt noch Situation gibt, lässt sich für einen Satz auch nicht entscheiden, ob er aufgrund einer bestimmten Motivation, einer Erregung oder einer kontextuellen Reaktion zu glauben ist. Gleiches gilt für die Theatermacher. Ob nun ein

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Text „theatral“ und „performativ potent“ ist, lässt sich nicht mehr an sich bestimmen. Der Text im Manuskript war einst ein Angebot für das Theater. Zum Theaterstück wurde er, wenn er auf die Bühne kam. Präsentationsraum und –situation erlösten ihn aus der Papierform. Spätestens seit den 1990ern wird Theater aber erst dann Theater, wenn es als solches im Parkett gesehen und verstanden wird - die große Zeit der Wirkungsästhetik und Funktionsanalyse begann. Schreiben heißt Entscheiden. Wer aber entschied nun? Ich, der Autor? Der Regisseur? Alle Prozessbeteiligten? Vom Text selbst, das war postdramatisch, war nichts Zwingendes mehr zu holen. Also entschied der, der die Macht dazu hatte. Die letzte Instanz vor dem Publikum: die Regie. In Kritik des sogenannten Regie– oder genauer Regisseurstheaters und seinen brutalen Strichen, Textumstellungen, Fremdtextcollagen peitschte sich dann freilich die Debatte um Urheberschaft und Werktreue hoch. Lange Jahre dummer Ego- und Grabenkämpfe bis man dann endlich, endlich den Prozess anerkannte und sich selbst in ihm sah: egal, wie es beginnt (ob als Manuskript oder freie Improvisation): das, was es wirklich ist, ist es erst in den Köpfen des Publikums. Auf dem Weg dahin war man mehr Zuträger als grandios selbstherrlicher Entscheider. Man stellte auf Konferenzen sogar zerknirscht fest, dass man sich mit Personalkarussell, Namedropping und Förmchenspiel wohl zu sehr mit sich selbst beschäftigt hatte. Theater als Insiderveranstaltung für Theatermacher, ohne Einführungsveranstaltung und Begleitheft kaum noch erklärlich für den eigentlichen Adressaten, das Publikum. Gutes Theater machen und trotzdem verstanden werden - dafür wollte man alle Kompetenzen bündeln. Fortan sollte gemeinsam, also kollektiv entwickelt werden. Und in genau dieser Arbeitssituation befinden wir uns heute. Mal wieder. So ein Text, das ist noch immer so, hat dabei eine enorme Macht und Funktion. Erstens, ist er – ähnlich einem Geschäftspapier in der Wirtschaft – der erste Grund und Anlass, Personen und Ressourcen zu bündeln. Schauspieler, Regisseure, Dramaturgen, Bühnenbildner entscheiden sich wegen dieser paar Seiten Papier, Verträge zu unterschreiben. Intendanten planen, die Werbung rollt an. Zweitens leistet er im kollektiven Miteinander Hervorragendes. Gegen und mit ihm kann man arbeiten, auf ihn kann man sich jederzeit beziehen. Selbst, wenn man frei entwickeln will, kann man mit ihm Improvisationen domestizieren, sich dramaturgisch rückversichern, Debatten konzentrieren oder auch nur beruhigen, dass, wenn alles scheitert, der Text immerhin noch die Chance auf ein gutes Ende des kreativen Gemetzels bietet. Notfalls kann man ja wieder werktreu werden. Wie aber kommt es zum Text? Die Autorin, der Autor schreibt und liefert – das ist der übliche Weg. Das Theater Kollektiver Stückentwicklung kann das nicht hinnehmen. Warum auch einen so wesentlichen Posten auslassen? Man kann nun Autoren einladen. Vorher oder immer mal wieder. Mit ihnen streiten, feilschen, zu Veränderungen bewegen. Auch das ist Alltagspraxis, und kaum eine Autorin oder Autor wird sich guten Argumenten sperren. Hingegen kenne ich keinen Regisseur, der sich im fairen Gegenzug ähnlich kooperativ und veränderungswillig zeigt, wenn es um sein Regiekonzept, seine Inszenierungs-Ideen und –Entscheidungen geht. Der Kollektivgeist schwächelt also schon. Aber auch das so alles anders und besser werden. Writers-Rooms, „Agiles Theater“! Alle mit allen und zwar gleich von Anbeginn an! Der Kommunikationsberater, Theaterwissenschaftler und Dramatiker Ulf Schmidt entnimmt aus der Wirtschaft und der Produktionsweise der besten US-amerikanischen Serien ein Verfahren, in dem sich alle Kompetenzen des Theaterbetriebs bündeln sollen. Wie das im Einzelnen geschieht: dazu bitte ein Blick auf seine Website4. Im Prinzip geht es darum, nicht nur einen Autor aktiv in den Theaterbetrieb

4 http://postdramatiker.de/

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aktiv einzubinden, sondern gleich einen ganzen Stab. Gemeinsam mit allen anderen Entscheidern des Theaterbetriebs soll dann das Bühnenereignis digital und interaktiv revolutionär entwickelt werden – von der ersten Idee bis zum letzten Vorhang. Einmal davon abgesehen, dass eine weltweit erfolgreiche Serien-Produktion die Mittel für solch einen Luxus hat, nicht aber das Theater, so ist das doch ein schönes, paradiesisches Zukunftsszenarium. Aus Erfahrung skeptisch bin ich allerdings, weil der Kern der Schmidtschen Arbeitsweise noch immer eine Art Brainstorming ist. Alle arbeiten, denken nach, klügeln miteinander. Letztlich aber, sonst endet das nie, muss jemand sagen: Ja, so soll es sein, final cut! Bei diesem Konzept ist das dann so ein Sachwalter der Idee, ein „Product Owner“. Das muss in diesem Modell zwar nicht die Regisseurin oder der Regisseur sein, aber wo liegt dann der Unterschied zu deren Allmacht, das letzte Wort zu haben? Ob nun Product Owner oder Regisseur – wieder steht eine Einzelperson am Ende der Entscheidungskette und hat keinen künstlerischen Fressfeind. So weit, so normal – Kunst, soll sie sich vor Publikum zeigen können, ist nicht basisdemokratisch zu schaffen. Aber was ist mit dem Prozess, dem gemeinsamen Weg dahin? Leisten die Writers Rooms hier nun mehr als das, was wir aus Konzeptionsproben, Arbeitsgesprächen, Schreibseminaren und Workshops kennen? Nein, denke ich. Und zwar weil das gute, alte Brainstorming eben dafür nicht taugt. Es langt für marginale Einzelfragen, nicht aber für die Struktur und Wirkungsästhetik, den Hauptsachen des postdramatischen Ereignisses. Dagegen hilft alles Digitale wenig, denn Probleme, die verbal kaum noch vermittel- und begründbar sind, klaren nicht auf, nur weil sie uns auf den Bildschirmen entgegenleuchten. Schmidt, das ist erfreulich, bleibt nicht nur im Teich der Theaterwissenschaft, aber warum liest er, der Kommunikationsberater, nicht auch bei denen nach, die schon ewig zum Thema arbeiten, den Wissenschaftlern der Kommunikations- und Kreativitätsforschung? Seit 1882 ist dort der Ringelmann-Effekt bekannt. Das Phänomen, dass das Ergebnis einer nicht unbedingt besser wird, nur weil es in der Gruppe erarbeitet wurde. Im Gegenteil, wir delegieren Verantwortungen, verbergen uns in der Gruppe, strengen uns weniger an. Und werden die unterschiedlichen Auffassungen dann schließlich doch zu einem Konsens geglättet, dann ist es eben ein Konsens blutarmen Mittelmaßes. Etwas, womit alle „irgendwie leben“ können. Wer das plastisch erfahren will, der setze sich einmal in eine ganz alltägliche Drehbuchkonferenz deutscher Filmproduktionen und beobachte die Herrschaften beim „Ploten“. Und weiß Schmidt von den in den Kognitionswissenschaften bekannten „Verlustaversionen“? Dem so menschlichen Reflex, selbst auf Missratenem bocksstur zu beharren, nur weil man zuvor so viel Zeit, Mühe und Gedanken investiert hat. Kennt er das nicht wenigstens aus seinem Arbeitsleben als Autor? Oder das Brainstorming selbst, das Mantra der Kreativgruppen. Schon vor zehn Jahren wussten Utrechter Sozialpsychologen: „Die Situation des Brainstormings stört den Gedankenfluss des Einzelnen. Wenn man mit anderen Menschen reden muss, sich mit ihren Ideen auseinandersetzt, im Gespräch immer wieder unterbrochen wird, werden die eigenen Denkprozesse blockiert. Assoziationsketten reißen ab, Verarbeitungstiefe und Anzahl der Ideen nehmen ab.“5 Alles satt bekannt. Warum nicht den Freunden Kollektiver Kreativität?

Sicher, es gibt da schon einige Techniken, das Miteinander doch noch glücken zu lassen. Beispielsweise hilft die ständige Verschriftlichung der Positionen vor dem Gruppengespräch. Nur, ich hab es immer und immer wieder probiert: Kaum ein Regisseur, nicht einmal der

5 Siehe PSYCHOLOGIE HEUTE, März 2005, S.8

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Dramaturg und schon gar nicht ein Darsteller lässt sich darauf ein. Man fürchtet, sich nachlesbar festzulegen. Außerdem gibt der Theaterbetrieb die Kollegen nicht frei, sie haben ganz einfach keine Zeit dafür. Und selbst wenn, sind die Ergebnisse nicht viel besser. Denn das Problem liegt nicht in den Umgangsformen, sondern in dem, was es gemeinsam zu entwickeln gilt. Ein gelungener Abend Gegenwartstheater ist in Form und Inhalt ein sehr viel subjektiverer Zugriff auf Welt, als dass er Ergebnis eines Gruppen-Konsens sein kann. Zwei Hauptgründe unseres kollektiven Scheiterns: Erstens, die Dramaturgie. Anders als in Film- und Serienproduktion hat die Raffinesse der Handlungslogik – etwa eines Plots – geringeren Stellenwert. Warum jetzt dies oder jenes genau so geschieht und geschehen muss, ist deshalb kaum noch sinnvoll debattierbar. In der Not verlegt man sich auf das Sammeln von Einfällen, und genau so sieht es auf der Bühne dann auch aus: eine Reihung von Einfällen, so bunt wie beliebig. Zweitens, die Sprache. Der Film arbeitet im Wesentlichen mit Umgangssprache. Mit etwas Stilkunde ist die von jedem gut zu bearbeiten. Nicht so die Sprache der Bühne. Man kann in die artifiziellen Sätze, Ellipsen, Rhythmen, Stilbrüche, Metaphern - etwa eines Schwab, Palmetshofer oder Schmalz – nicht so einfach hineinkorrigieren. Schon gar nicht kollektiv. Tut man es doch, geht die Kraft dieser Sprache verloren und mit ihr ein Großteil des Theaterabends.

Und doch, es könnte gehen! Thomas Ostermeier, Intendant der Schaubühne, arbeitet mit seinem Dramaturgen und Hausautor Marius von Mayenburg. Er liest jede Textfassung mit, erklärt, was ihm gefällt und was er sich anders wünscht. Ein großer Fehler, sagt Ostermeier: Ich mildere oder entferne mit dem Autor alles, was mir im ersten Moment nicht passt. Danach habe ich einen (mir) gefälligen Text. Aber es sind gerade die sperrigen Stellen, die Zeilen und Szenen, die ich noch nicht verstehe, an denen ich mich abzuarbeiten habe. Genau da muss mir was einfallen, hier liegt meine Chance als Regisseur, zu erfinden, wirklich Neues zu schaffen. Er, Ostermeier, werde nie wieder seinem Autor so früh ins Handwerk pfuschen.

Ist das schon Zukunft? So wenig, so viel? Ich denke, ja. Künftig wird es für uns Autoren womöglich kollektiver zugehen, aber Ostermeiers Erfahrungsbericht lärmt nicht mit hipper Gruppenkreativität, er stärkt die Position des Einzelnen – im Kollektiv. Die Zusammenarbeit wird nicht permanent betrieben, sondern behutsam und erst dann, wenn jede und jeder immer wieder die Zeit für sich hat, das Eigene zu entwickeln. Und selbst danach, in der Gruppe, wird es nicht – Regress zum Mittelmaß – auf den kleinsten Nenner herunter debattiert, nur weil er dann ein „gemeinsamer“ ist. Im Gegenteil, das je Andere wird zunächst einmal belassen und ausgehalten. Und mehr noch: Es wird Initialzündung für das eigene Denken. Jeder für sich und dann erst miteinander – so unspektakulär das auch klingt, es wäre schon mehr, als ich heute irgendwo vorfinden kann. Zuerst herrschte Vereinzelung unter der Allmacht der Regie, dann – oh, flache Hierarchien – wurde das Kollektiv, und nur das Kollektiv, als Wundermittel ausgeschrien. Jetzt sollten wir endlich Beides dialektisch einen, sinnvoll in ein Spannungsverhältnis setzen. Wir bräuchten dazu nicht einmal Writers Rooms. Alles da, die vorhandenen Strukturen lassen das schon lange zu. Nur sehen und nutzen wir sie nicht, wir benehmen uns lieber wie Hipsters: Alles Neue radiert das Vorhandene rückstandslos aus, bloß weil es „neu“ ist. Hören wir damit auf und wir sehen zwar unsere schwierige, oft frustrierende Vergangenheit, haben dafür aber auch eine Zukunft. Vielleicht sogar eine gemeinsame.

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Oliver Bukowski (D), geb. 1961, Autor (v.a. Drama), derzeit Dozent bei „uniT“ (Graz) und an der Akademie für Darstellende Kunst Baden Württemberg.

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DON ALPHONSO

NÄHE

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Nähe.

Louis hat nie etwas aufgeschrieben. Er mochte zwar Bücher, in allen Zimmern des Bauernhofs gab es ein Regal, und es gehörte zum guten Ton, mitgebrachte Bücher dort stehen zu lassen. Seine Gäste kamen nur auf persönliche Empfehlung, was für eine bestimmte Qualität bei der Auswahl der Lektüre sorgte. Es gab zwar Strom, aber kein Radio und kein TV-Gerät und erst recht kein Internet, und ein Telefon hat auch nie geklingelt. Man war auf Bücher angewiesen, dort oben, hoch über Brixen, und auf Louis. Er hat die Geschichten, die er erzählte, nie aufgeschrieben, aber wenn auf der anderen Seite des Tales die Rosszähne rot erglühten, sprach er von der schlechten, schlimmen, schönen und wunderbaren Zeit seiner Jugend. Davon, dass sein Vater auf dem Kachelofen – genau auf dem, an dem wir sassen – starb und sie es erst am nächsten Morgen verstanden, weil der Körper vom Ofen noch so warm war, als lebte er noch.

Das geht nur, wenn man sich das Publikum selbst aussucht, wie es Louis Nussbaumer getan hat. Das geht im Rahmen eines abgelegenen Bauernhofs in Südtirol, hinter den dicken Steinmauern und mit Blick auf eine grandiose Bergwelt, und obwohl ich beruflich heute ebenfalls Geschichten erzähle, werde ich nie in der Lage sein, auch nur ansatzweise diese Vertrautheit und Intimität zu erschaffen, wie es die Menschen in diesem Tal ohne moderne Kommunikation beiläufig, selbstverständlich, ohne Mühe konnten. Meine Leser blicken nicht auf Almen und Berge, sie sind in der Regel Sklaven der neuen Zeit, das blaue Glimmen der Bildschirme bestimmt ihr Leben, und man sagt mir auch, ich müsste mich dem anpassen, kürzer schreiben und eventuell gar so, dass es auf eine iWatch passt. So weit soll man die Texte eindampfen, verdichten, überflüssiges wegschneiden und sich das Fabulieren verkneifen, die Konditionalsätze, die Neologismen, die Frechheiten, die geistigen Tretminen der Gemeinheit – um Himmels Willen den Leser mit seiner kurzen Aufmerksamkeitsspanne nicht aus dem Konzept bringen. Oder gar verunsichern. Vielleicht auch einmal daran denken, dass andere Menschen ganz andere Empfindungen haben. Nett sein. Der moralisch richtige Haltung ein Brandopfer mit den schiachen Ideen bringen. Niemanden beleidigen und dem Gschlaf nicht sagen, dass sie Grattler sind.

Deren Hohepriester könnten nämlich beleidigt sein, wenn sie alle drei Tage in der FAZ darüber lesen, wie ein schlechterer Sohn aus besserem Hause ohne jede Existenzsorge meint, die Welt beurteilen zu müssen. Von oben nach unten, ohne Rücksicht auf soziale Vorstadtabgründe, in denen andere ihr Leben fristen müssen, und mit einer gewissen Verwunderung über die unzweifelhafte Tatsache, dass andere seine Probleme bei der Petersburger Hängung seiner Gemäldesammlung nicht nachvollziehen können. Das, finden manche, geht doch auf gar keinen Fall, so verstosse man gegen die guten Sitten, und eine Literatur des Klassismus und der Verhöhnung sei es ausserdem auch. Vielleicht haben sie damit recht. Trotzdem lebe ich davon, das zu schreiben.

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Aber wenn wir über Literatur und ihren Weg reden, dann müssen wir auch darüber reden, was bei Lesern ankommt, was sie gern lesen und was sie zu lesen bereit sind. Wir stehen da nämlich als Autoren vor einer nicht ganz risikolosen Entwicklung: Dank des Internets, dank dessen, was wir ort veröffentlichen und an Bindungskräften entwickeln, können wir vielleicht etwas von der Intimität eines Abends in den Dolomiten zaubern. Nähe. Berührbarkeit. Die alte Trennung zwischen Leser und Autor, die das Medium Buch mit sich bringt, in den Kommentarspalten überwinden. Uns in das Wohlwollen der Leser wie in einen Sautrog voller Zwetschgendatschi legen, uns wie die Rosinen in den Apfelstrudel der Zuneigung einbacken lassen, und uns so, beliebt wie Mehlspeis am Sonntag, einen Vorsprung bei der Jagd nach Kontrakten und Plätzen im Katalog des Verlags verschaffen.

Da geht sie auch hin, die Literatur, wenn sie auf Erfolg aus ist, hinternwackelnd und lippenleckend, und wir lernen, wie man in Klagenfurt triggert und den Erwartungen der Rezensenten entspricht. In unserm Puff bekam frei nach unserem Paten Villon schon immer jeder, was er braucht, und für den Leser und seine direkten Wünsche haben wir auch noch einen Platz. Dauernd. Immer. Er hat ja sein blauschimmerndes Kasterl. Das ist ihm wichtig, und wer sein Dasein nicht mit Greisinnen und überspannten Bartträgern im Lyrikseminar verplempern will, macht sein Werk und seine Person zu einem untrennbaren Ganzen der fünfzig oder besser noch mehr Schattierungen der Aufmerksamkeitspersönlichkeit. Bei manchen Onlineauftritten lesen dann die Jungautoren ihre Texte in die Kamera und ins Quotennichts, und Millionen schauen lieber Dagibee zu, wie sie sich bei Youtube anmalt.

Das ist die Lyrik der neuen Zeit, das sind die neuen Vertriebskanäle, da schielen die Verlage hin und denken darüber nach, wie man einen Wort-Haul, einen Roman-Playthrough an die Kundschaft bringt. Der nächsten Generation der Autoren wird man das nicht mehr erklären müssen. Es wird ein paar Stars geben, und sehr viele, die scheitern. Wenn sich jeder voll einbringt, wenn jeder sein Publikum dauernd befeuert, ist es nichts Besonderes mehr, sondern eine Simulation der Intimität und des Anbiederns, die dem Textprodukt vielleicht eine Weile hilft, aber auf Dauer vermutlich kaum jemand durchhalten wird. Ich mache das schon recht lang, aber halt um den Preis, dass ich eine Kunstfigur vorschicke, die konfliktfreudig, zuspitzend und, sagen wir es freundlich, auf eine nicht sehr sympathische Art speziell ist. Konstruierte Vielschichtigkeit. Ist das noch Literatur oder schon eine Fälschung?

Ich sitze wie alle anderen auch vor diesem blauschimmernden Kasterl, diesem Endpunkt unserer kulturellen Fäulnis und Faulheit, diesem aufgekochten Brei kurz denkender Nutzer und Benutzter, und wundere mich auch, wie man in diesem System noch etwas überantworten kann, das eine Bedeutung in sich trägt und Fragen stellt. Als Autor werde ich regelmässig okkupiert, missverstanden und ausgelegt, solange ich in die Vorurteilsblasen der Leute passe, und gehasst, wenn ich mich mit eigenen Gedanken dagegen stelle. Das geht heute ganz schnell. Ich gehe in die Länge, meine Texte sind nie strukturiert und stringent, weil ich denke, dass ich damit die allzu simplen Zeitgenossen abschütteln kann und sie längst woanders sind, wenn die Vernünftigeren und Schrägeren am Ende auf den Kommentarknopf

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drücken und etwas anmerken. Das kann dann schon lauschig und warm werden, und manchmal sagen sie:

Schreib doch endlich ein Buch.

Aber ich habe eine sehr vorteilhaftes Abkommen mit der FAZ, dort genau das zu tun, was ich mache, viel besser als die meisten Buchverträge, und wenn es mehr Wege wie meinen gäbe, würden ihn sicher auch mehr Leute beschreiten. Dabei mache ich eigentlich gar nicht viel, ich sitze auf der Nordseite der Berge unter einem schwachen Licht, plaudere etwas und schaue hinüber zu den Felsen und Wäldern, wo die Zivilisation noch etwas bedeutungsloser als bei einem Amazon-Bestellvorgang eines e-Books ist.

Ich weiss nicht, wohin die Literatur geht, und ob sie nicht auch nur noch warm von der langsam erkaltenden Glut eines Kachelofens mit grosser Geschichte ist. Ich erzähle Geschichten, Menschen hören mir zu, und wenn es nicht viel ist, so ist es wohl genug, dass sie wiederkommen. Dann geht die Literatur zum Leser, wie schon immer war und hoffentlich auch noch etwas länger sein wird. Aufhalten kann man keinen, aber unterhalten, das geht wohl noch.

Rainer Meyer (alias Don Alphonso) (D), geb. 1967. Journalist, Buchautor und Blogger, betreibt auf der Online-Ausgabe der FAZ den Blog Stützen der Gesellschaft.

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OLGA FLOR

WAS WIRD LITERATUR?

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Was wird Literatur?

Diese Formulierung gibt Raum für mehrfache Deutungen, die ich im Folgenden unterteilen möchte:

(1) Woraus kann Literatur werden?

Aus allem kann Literatur werden, naturgemäß, könnte man sagen, so wie man naturgemäß am Graben keine Krawatte fand, wenn man denn Thomas Bernhard war und eine suchte. Anders gesagt: Man kann aus einem verfehlten Krawattenkauf einen sprachlich ausgefeilten, durchkomponierten Text gestalten. Man kann aus einer hochkomplexen Materie wie etwa der Frage, wie der Krieg in Syrien aufzulösen wäre, vielleicht noch keine Literatur machen, zumindest nicht hier und heute, einfach, weil die Aufgabe zu groß ist, weil der Konflikt drängt und direkte, auch sprachliche Antworten erfordert. Weil Literatur ihrem Wesen nach Zeit braucht und eben nicht tagesaktuell reagieren kann. Das können andere Textformen besser, konzeptionelle, journalistische, essayistische, was sie aber eben darum im Moment auch so wichtig macht.

Zwangsläufig inhärent ist die Frage nach der Definition des Begriffs „Literatur“, und, weil jede Definition den Drang nach Abgrenzung in sich trägt, eben auch danach:

(2) Was ist eigentlich Literatur?

Diese Frage erscheint mir ebenso unbeantwortbar wie die Frage, wohin sich das, was unter dem Begriff so subsummiert wird, entwickeln wird, doch dazu später. Persönlich behelfe ich mir mit der Überlegung, dass es ein Kondensat von Gedankenfolgen in Form eines Textes ist, der nicht nur auf der bloßen Narrativebene basiert (für jede Kurzmeldung muss ja bereits ein „Narrativ“ behauptet werden: Anfang, dramatischer Höhepunkt und Ende des Erzählspannungsbogens, dieser größten alle Lügen, wenn man ihn mal auf seine Realitätstauglichkeit hin abklopft, tatsächliches Erleben gehorcht ganz offensichtlich solchen Gesetzmäßigkeiten nicht, allenfalls sind diese Strukturen als Form der Erinnerungshilfe psychologisch erklärbar). Ein literarischer Text besteht eben auch wesentlich aus seiner Form, durchaus auch optisch, verweist durch Sprachklang, Anspielungen und inhaltliche Verweise, Rhytmisierung und Strukturierung über sich selbst hinaus und damit auf sich selbst als eigenständiges Sprachkonstrukt zurück, das – und sei es nur vor dem inneren Ohr der Lesenden – auch Unter- und Obertöne zum Klingen bringen kann. Solange, bis die Metaphern eben klappern.

Gerade weil jede Beobachtung, jede Wahrnehmung, jede Reflexion in sich das Potential trägt, die Basis für Literatur zu werden, erfordert die Entstehung von Literatur in jedem Fall genaues Hinsehen. Dann das Exzerpieren, Konzentrieren, Formulieren. Durcharbeiten, zumindest ist das meine Herangehensweise, neu Formulieren, bis der Text sitzt, Perfektion

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ist natürlich nicht zu erreichen und auch nicht erstrebenswert, denn die würde wohl zu Lasten der Durchlässigkeit, Erfahrbarkeit des Textes gehen.

(3) Was wird aus dem, was als Literatur bezeichnet wird?

Der Versuch, Prognosen zu erstellen, straft sich naturgemäß selbst. Festzuhalten ist aus meiner Sicht, dass der Druck auch auf uns Produzierende in Richtung Unterhaltung wächst. Um nicht missverstanden zu werden: Unterhaltung hat ihre Berechtigung, Freude an Komik und Zerstreuung ist ein menschliches Grundelement, das Bedürfnis nach Ablenkung in Zeiten wirtschaftlicher und politischer Schwierigkeiten ist nur zu verständlich. Ich bin selbst Konsumentin von Kriminalromanen, der tendenziell spießigsten aller Formen, doch zur hörbuchbasierenden Begleitung sportlicher Aktivitäten (zur Motivation an grauen Wintermorgen) funktioniert für mich weniges besser als der Scheherezade-hafte Suspense des letzthin unterbrochenen Erzählbogens, des Dürstens nach Fortsetzung. Also nichts gegen Unterhaltung, solange sie unter ihrer Unterhaltungsflagge segelt.

Schwierig wird es, wenn sich die Tendenz abzeichnet, dass mehr und mehr als „ernsthafte“ Gegenwartsliteratur Verbrämtes starken Unterhaltungs-, sprich, Trivialitätseinschlag zeigt: das engt den Raum für Komplexes, zur Reflexion, Entdeckungslust, durchaus auch zum Widerspruch Anregendes zusehends weiter ein, und der ist ohnehin schon klein genug. Man könnte zur kulturpessimistischen Schlussfolgerung gelangen, dass der Literaturbegriff sich zugunsten einer als gut geschrieben bezeichneten, also plotmäßig sauber gestrickten und sprachlich ohne größere Redundanzen und allzu heftig klischierende Bilder auskommende Unterhaltungsliteratur verändern könnte, wobei sich die beiden Wortteile schon von allein feindselig ineinander verbeißen, doch sei es drum. Andererseits birgt die Übersättigung mit solcher Absehbarkeit – und das ist es vielleicht, worin sich Unterhaltungsmedien, nicht nur –Texte, am ehesten erschöpfen –, durchaus auch das Potential für Freude an der Rezeption von Frischerem, Radikalerem, Riskanterem, das helfen könnte, das eigene Denken ebenso frisch zu halten.

Olga Flor (A), geb. 1968, studierte Physik und arbeitete im Multimedia-Bereich, freie Autorin.

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PETER GLASER

ÜBERALL SCHREIBEN

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ÜBERALL SCHREIBEN

ENDE DER SIEBZIGER JAHRE war ich der einzige Schriftsteller unter lauter Musikern in meinem Freundeskreis und litt darunter, über keinerlei eindrucksvolles Equipment zu verfügen. Als ich 1978 zum ersten Mal einen Mikrocomputer sah, begriff ich sofort, welche großartige Chance mir diese Maschine bot: Endlich eine Schreibmaschine, mit der man auch Lärm machen konnte! Ich nahm den Rechner fortan bei Lesungen mit auf die Bühne. Ein Schriftsteller mit einem Computer – die Verbindung war für mich seit jeher ganz selbstverständlich, da ich als Junge Naturwissenschaftler werden wollte und erst, nachdem ich fassungslos hatte erkennen müssen, dass Mädchen sich nicht für organische Chemie interessieren, in die Kunst abgerutscht war, genauer gesagt in die Literatur.

NOCH JEDES NEUE Aufschreibesystem hat auch neue literarische Spielformen und Entwicklungen nach sich gezogen. Die Individualisierung des Bleisatzes in Form der Schreibmaschine hat die Textexperimente der Dadaisten ebenso inspiriert wie die konkrete Poesie. In der geometrischen Textmatrix, in der die Buchstaben sich mit Hilfe der Schreibmaschine tippen ließen, kündigte sich die Annäherung von Mathematik und Sprache an, die heute im Computer vollzogen ist. Was das eigentliche Schreiben angeht, kann einem aber, wenn man nichts zu sagen hat, kein Computer helfen. Die Frage, ob das Geschriebene auf Papier gedruckt, über ein Blog oder auf einem iPad zu seinen Lesern findet, ist für den Autor nachrangig. Wenn ein Text Käse ist, helfen ihm weder brilliante Auflösung noch runde Ecken. Anders als etwa bei Autos geht es beim Schreiben nicht darum, womit man fährt. Da auch ich für die Lockungen der Computerindustrie empfänglich bin, schreibe ich auch mit Stift und Zettel, um mich zu vergewissern, dass es mir weiterhin um das Schreiben geht und nicht um das Equipment.

„KULTUR IST Reichtum an Problemen”, schrieb Egon Friedell. Und tatsächlich ist schon seit Jahrzehnten nicht mehr so viel und vergnügt, zum Teil verzweifelt und um Geld-oder-Leben ringend, mit Schrift und Sprache experimentiert worden wie in unserer zunehmend digitalen Kultur. Ob es sich bei dem Autor um einen Schriftsteller, einen Publizisten, einen Jouralisten oder einen Blogger handelt, nimmt sich dabei erst einmal nichts. Neben typographischen Experimenten, in denen sich die visuelle Poesie der sechziger Jahre wieder auf die Höhe der Zeit bringt, gibt es eine Fülle weiterer literarischer Ansätze, von den begehbaren, epischen Erzählungen der Computerspiele bis zu lyrisch dichten, winzigen Twitter-Juwelen. Das alles führt Traditionen fort, wovon aber bemerkenswerter Weise sowohl die Vertreter der klassischen Buchkultur als auch die Digerati oft nichts wissen wollen – dabei verbindet das. Schon von Hemingway gibt es eine Story aus den zwanziger Jahren, die nur sechs Worte lang ist: “For sale: baby shoes, never used”.

MIT DEM NETZ hat der Mensch eine vollkommen neue Dimension des Durcheinanders erschaffen – einen reichen, schöpferischen Humus. Das Netz ermöglicht es uns nun, nicht mehr nur Bücher und Zettel durcheinanderzuschmeißen, sondern auch Bilder aller Art, Animationen, Videos und komplette Dikurse. Im gordischen Myzelienknoten der Hyperlinks ist inzwischen die ganze Welt in die Globalisierung der Unaufgeräumtheit eingebunden. Dazu gibt es Ent-Ordnungssysteme - Stichwort “Tagging” – in denen die Idee des Strukturierens überhaupt aufgegeben wird. Ziel von Multimedia ist es also, die Unübersichtlichkeit zu universalisieren. Jeder soll alles von überall aus durcheinanderbringen können. Als Schriftsteller fühle ich mich zutiefst aufgerufen, aktiv an dieser Art von Anarchie teilzunehmen. Und dann ist das Schreiben doch auch wieder etwas wie die Fortsetzung der Alchemie: Man fügt Teile zueinander und hofft, dass daraus Gold oder etwas Lebendiges

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wird. Es geht um die Qualität der Teile, wie sie zusammengefügt sind, und man soll den Leser nie spüren lassen, was einen viel Arbeit gekostet hat. 1940 schrieb Hemingway an seinen Verleger Charles Scribner, ihm gefalle am Krieg, dass es jede Nacht möglich sei, getötet zu werden, das heißt, am nächsten Tag eventuell nicht schreiben zu müssen.

IN IHREM BUCH „Where Wizards Stay Up Late” über die Ursprünge des Internet umreißt die amerikanische Autorin Katie Hafner ein neues Lebensgefühl: „Amerikas Romanze mit den Highways hat nicht damit begonnen, dass jemand Straßen begradigt, asphaltiert und mit weißen Streifen in der Mitte bemalt hat, sondern damit, dass einer auf den Trichter kam, seinen Wagen wie James Dean die Route 66 runterzufahren und das Radio laut aufzudrehen und eine gute Zeit zu haben.” Die neuen Bewegungsmöglichkeiten in der digitalen Dimension empfinden nicht alle als Zugewinn. Zu vieles scheint unausgesetzt und gleichzeitig zu geschehen. Dieses Gefühl, nicht mithalten zu können mit den Beschleunigungen der modernen Welt. Wir befinden uns, falls das jemanden beruhigt, in einem Phasenübergang –die Beschleunigung gehört zu den Symptomen dieses Übergangs. Was wir erleben, ähnelt einem alten, flimmernden Bildschirm, der so lange nervt, bis die Bildfrequenz über 70 Hertz steigt. Dann wird das Bild ruhig und klar, auch wenn weiter beschleunigt wird.

„WER EINEN BLICK ins Netz wirft und sich an die Nachrichtenströme bei Facebook oder Twitter anschließt, bekommt einen Eindruck von der großen Lebendigkeit, der großen Dynamik, vor allem der großen Produktivität und Kreativität, die sich derzeit rund um die Literatur und ihre Institutionen entfaltet“, hält Stephan Porombka, Professor für Texttheorie und Textgestaltung in Berlin, fest. „So viele neue Ideen, engagierte Diskussionen, interessante Versuche und so viel Bereitschaft, grundsätzlich über die Literatur nachzudenken und ihre Möglichkeiten zu erweitern - das hat der Literaturbetrieb seit Ewigkeiten nicht erlebt.“

Wir treten ein in die Boom-Zeit der Literatur. Und wer jetzt die Augen zumacht und be-hauptet, das alles sei flach, sei nur uninteressanter Kram und technische Spielerei jenseits des eigentlichen literarischen Schreibens, das letztlich Romanform annehmen und in Büchern gedruckt werden müsse, der ist taub und tumb. Schlimmer noch: Wer sich jetzt abwendet und versucht, einfach die Skripte des alten Literaturbetriebs nachzuspielen, der interessiert sich auf sentimentale Weise für Bücher und Buchkitsch, nicht aber für Litera-tur und literarische Kreativität.

VERSUCHT MAN, die Regeln beim American Football auf den Punkt zu bringen, könnte man sagen: Es geht bei dem Spiel darum, dass jeder jeden bei allem behindert. Gleichermaßen könnte man über die digitale Textsphäre sagen, dass es dabei darum geht, dass jeder alles und jeden bei allem und jedem kommentiert und ergänzt. Der Essayist Michael Rutschky äußert angesichts der durch neue Kommunikationsmittel ausgelösten Mitteilungsfluten den Verdacht: „Jeder will nur noch schreiben, keiner liest mehr.” Soll übrigens niemand glauben, dass die Vielschreiberei ein Phänomen ist, das erst jetzt zum Vorschein kommt. Einer der exzessivsten Aufschreiber war der Architekt Buckminster Fuller, der sein Leben in einer unglaublichen Ausführlichkeit dokumentiert hat: Von 1915 an schrieb er 68 Jahre lang alle 15 Minuten einen Eintrag in ein Journal. Als Fuller am 1. Juli 1983 starb, hinterließ er 80 laufende Meter an Notizbüchern.

Die immer eingehenderen, destallierteren, oft aber auch vor Banalität rauschenden Aufzeichnungen und Literaturen, mit denen wir es nun zu tun haben, werfen ein Problem auf, das der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges in seiner Erzählung „Von der Strenge der Wissenschaft" schon 1960 beschrieben hat. Es geht darin um ein Reich, in dem

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die Kunst der Kartographie eine solche Vollkommenheit erreicht hat, dass eine Karte gezeichnet wird, „die genau die Größe des Reiches hatte und sich mit ihm an jedem Punkte deckte". Aber eine Karte, die genauso detailliert ist wie die Wirklichkeit, verliert ihre Funktion.

Peter Glaser (A/D), geb. 1957. Autor und Journalist. 2002 mit dem Bachmann-Preis ausgezeichnet. Betreibt das Blog „Glaserei”.

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NORA GOMRINGER

WAS WIRD LITERATUR?

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Was wird Literatur? – Audiofile einer Rede, per Kapsel ins All geschickt im Jahr 2015 <Press auto-repeat>

Literatur wird spätestens ab dem Jahr 2035 vollkommen bedeutungslos für die weitere Zukunft, wird zum abgeschlossenen historischen Phänomen, das Eingeweihte, sogenannte Reader, noch als Quelle für Barcodierungen verwenden, die über das Binäre hinausreichen sollen. Alles andere, was unsere Generation eventuell noch an der vielköpfigen Hydra, der schön gelockten Nymphe, der Rausch fordernden „Cocaina Literatur“ schätzt, wird vergangen sein. Abgesehen von meiner Kristallkugel lassen die Umstände, denen ich das Jahr 2015 ausgesetzt sehe, diese Prognose zu. Seit beinahe einer Dekade gibt es innerhalb der europäischen Union zunehmend die Tendenz, wenn nicht bereits die gängige Praxis ganzer Staaten und Regierungen, sich um die kulturellen Entwicklungen ihrer Bürgerschaften kaum oder gar nicht mehr zu bekümmern. Wo Sport, Lebensmittel- und Genusswarenindustrie als Teile der allgemeinen Kulturindustrien keine Einbussen erleben - außer vielleicht den ein oder anderen hinfälligen Skandal – werden rein rhetorisch die Zuwendungen an die Kunst stets als „Subventionen“ niemals als „Investitionen“ bezeichnet. Und weil Sprache Haltung ausbildet, wird die Welt müde vom ständigen Subventionieren irgendwelcher unverständlicher, unbegreiflicher Künste, deren Ansichten, Ziele und Profile auch deshalb nicht mehr nachvollzogen werden können, da in den Schulen und Universitäten Kunsterziehung, Musik und Religion keine Rolle mehr spielen, beim Ausfall der Stunden in diesen Fächern ja längst niemand mehr „Aufholen“, „Nachholen“, „Ersatz“ oder gar „bessere Qualität“ fordert. So gesehen überlebt die Literatur von allen Künsten noch am vergleichbar längsten, da sie quasi getarnt, eingebettet ist in eine Gruppe von Scheinwissenschaften: die Philologien. So wie unsere Zeiten zunehmend Bildung und Haltung zu Bildung entwerten, indem offizielle Gelder gekürzt und gestrichen, Kinder auch deshalb nicht mehr dem staatlichen Bildungssystem anvertraut werden, werden viele Wissenschaften ihre Wertigkeit hinter jenen die sich selbst nach der Hebelwirkung direkter, unmittelbar sichtbarer Resultate beurteilen, verschwinden müssen. Die Zeitungen, deren Mitarbeiter zum Teil nur noch als freie, nicht ausgebildete Enthusiasten zeichnen, lassen sich den geringen für’s Feuilleton zugestandenen Platz nur noch von Werbung füllen, verlieren dadurch vollends Trennschärfe und meinungsbildende Funktion. Die Bildmedien werden hilfloser in der Behandlung von Literatur, da ja kaum mehr einer außerhalb des Internets liest. Das Internet aber ist Heimstätte nicht der Literatur, sondern einzelner Textphänomene, die alle zusammen genommen, eine Haut, nicht aber eine Membran bilden. Außerdem wird nur noch das manipulierte Bild sprechen, welches wir ohne ein Verständnis für ikonographische Traditionen decodieren können. Traditionen überhaupt werden als reine Nostalgie abgetan. Und Nostalgie ist Ausdruck einer bewegten und beweglichen Seele und die werden nur Migranten, Flüchtlinge, Bewegte und damit Bevölkerungsgruppen, die kein hohes soziales und gesellschaftliches Ansehen besitzen und auch in Zukunft nicht besitzen werden, ihr eigen nennen. Weil unser Literaturverständnis des Jahres 2015 dem Geheimnis, der Erinnerung, der Schönheit und eben den Traditionen verschrieben ist, verstehen wir es

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kaum, diesen Schlagwörtern den Aufstand, die Verstörung, die Härte und die Struktur entgegenzusetzen, so wie es nur Literaten könnten, nämlich in radikaler, beweglicher und intellektueller Weise. Daher sehe ich bis 2035 die Bedeutung der Literatur abnehmen und ab 2035 gänzlich verschwinden. Literatur wird folglich Erinnerung. (Fun fact: Erstes Zeichen dafür wird grammatikalisch das Aussterben des Konjunktivs sein. Konjunktive drücken im Deutschen Möglichkeiten und Wünsche aus. Für eine Gesellschaft, die sich dem Faktischen vollkommen verschreibt und das Wünschen den Randgesellschaften überlässt, entfällt die Notwendigkeit, sich einer kommunikativen Entsprechung zu bedienen.) Für die Menschen, die noch mit Literatur aufgewachsen sind, in Strukturen, die eine Beschäftigung mit ihr zuließen, forderten und nötig machten, wird sie eine der vielen Geschichtstopoi sein, die man den Kindern und Kindeskindern anderer Leute erzählt – denn meine Generation bekommt keine Kinder – wenn diese überhaupt noch Geschichten fordern. Hoffentlich aber wird noch in der nächsten Dekade alles anders und Literatur bleibt ein Phänomen der Sprache und der Erfindung und damit ultimativer und lustvoller Ausdruck menschlicher Existenz. Dafür aber bedarf es der schützenden, erhaltenden Strukturen, die jede Anfechtung abwehren, die die Wichtigkeit scheinbarer Marginalia hochhalten, schon weil es sich vom Rand am besten ins Innere blicken lässt und diese Beobachtung immer noch als wertvollstes zivilisatorisches Ringen erkannt bleibt, da es auch allen xenophoben Tendenzen aktiv entgegen zu wirken vermag. Aber diese Absichten sehe ich 2015 nicht und von daher: wird Literatur spätestens ab dem Jahr 2035 vollkommen bedeutungslos für die Zukunft, wird zum abgeschlossenen historischen Phänomen, das Eingeweihte, sogenannte Reader, noch als Quelle für Barcodierungen verwenden, die über das Binäre hinausreichen sollen. Alles andere, was unsere Generation eventuell noch an der vielköpfigen Hydra, der schön gelockten Nymphe, der Rausch fordernden „Cocaina Literatur“ schätzt, wird vergangen sein. Abgesehen von meiner Kristallkugel lassen die Umstände, denen ich das Jahr 2015 ausgesetzt sehe, diese Prognose zu. Seit beinahe einer Dekade gibt es innerhalb der europäischen Union zunehmend die Tendenz, wenn nicht bereits die gängige Praxis ganzer Staaten und Regierungen, sich um die kulturellen Entwicklungen ihrer Bürgerschaften kaum oder gar nicht mehr zu bekümmern. Wo Sport- und Genusswarenindustrie keine Einbussen erleben - außer vielleicht den ein oder anderen hinfälligen Skandal – werden rein rhetorisch die Zuwendungen an die Kunst stets als „Subventionen“ niemals als „Investitionen“ bezeichnet. Und weil Sprache Haltung ausbildet, wird die Welt müde vom ständigen Subventionieren irgendwelcher unverständlicher, unbegreiflicher Künste, deren Ansichten, Ziele und Profile auch deshalb nicht mehr nachvollzogen werden können, da in den Schulen und Universitäten Kunsterziehung, Musik und Religion keine Rolle mehr spielen, beim Ausfall der Stunden in diesen Fächern niemand „Aufholen“, „Nachholen“, „Ersatz“ oder gar „bessere Qualität“ fordert. So gesehen überlebt die Literatur von allen Künsten noch am vergleichbar längsten, da sie quasi getarnt, eingebettet ist in eine Gruppe von Scheinwissenschaften: die Philologien. So wie unsere Zeiten zunehmend Bildung und Haltung zu Bildung entwerten, indem offizielle Gelder gekürzt und gestrichen, Kinder auch deshalb nicht mehr dem staatlichen Bildungssystem anvertraut werden, werden viele

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Wissenschaften ihre Wertigkeit hinter jenen die sich selbst nach der Hebelwirkung direkter, unmittelbar sichtbarer Resultate beurteilen, verschwinden müssen. Die Zeitungen, deren Mitarbeiter zum Teil nur noch als freie, nicht ausgebildete Enthusiasten zeichnen, lassen sich den geringen für’s Feuilleton zugestandenen Platz nur noch von Werbung füllen, verlieren dadurch vollends Trennschärfe und meinungsbildende Funktion. Die Bildmedien werden hilfloser in der Behandlung von Literatur, da ja kaum mehr einer außerhalb des Internets liest. Das Internet aber ist Heimstätte nicht der Literatur, sondern einzelner Textphänomene, die alle zusammen genommen, eine Haut, nicht aber eine Membran bilden. Außerdem wird nur noch das manipulierte Bild sprechen, welches wir ohne ein Verständnis für ikonographische Traditionen decodieren können. Traditionen überhaupt werden als reine Nostalgie abgetan. Und Nostalgie ist Ausdruck einer bewegten und beweglichen Seele und die werden nur Migranten, Flüchtlinge, Bewegte und damit Bevölkerungsgruppen, die kein hohes soziales und gesellschaftliches Ansehen besitzen und auch in Zukunft nicht besitzen werden, ihr eigen nennen. Weil unser Literaturverständnis des Jahres 2015 dem Geheimnis, der Erinnerung, der Schönheit und eben den Traditionen verschrieben ist, verstehen wir es kaum, diesen Schlagwörtern den Aufstand, die Verstörung, die Härte und die Struktur entgegenzusetzen, so wie es nur Literaten könnten, nämlich in radikaler, beweglicher und intellektueller Weise. Daher sehe ich bis 2035 die Bedeutung der Literatur abnehmen und ab 2035 gänzlich verschwinden. Literatur wird folglich Erinnerung. (Fun fact: Erstes Zeichen dafür wird grammatikalisch das Aussterben des Konjunktivs sein. Konjunktive drücken im Deutschen Möglichkeiten und Wünsche aus. Für eine Gesellschaft, die sich dem Faktischen vollkommen verschreibt und das Wünschen den Randgesellschaften überlässt, entfällt die Notwendigkeit, sich einer kommunikativen Entsprechung zu bedienen.) Für die Menschen, die noch mit Literatur aufgewachsen sind, in Strukturen, die eine Beschäftigung mit ihr zuließen, forderten und nötig machten, wird sie eine der vielen Geschichtstopoi sein, die man den Kindern und Kindeskindern anderer Leute erzählt – denn meine Generation bekommt keine Kinder – wenn diese überhaupt noch Geschichten fordern. Hoffentlich aber wird noch in der nächsten Dekade alles anders und Literatur bleibt ein Phänomen der Sprache und der Erfindung und damit ultimativer und lustvoller Ausdruck menschlicher Existenz. Dafür aber bedarf es der schützenden, erhaltenden Strukturen, die jede Anfechtung abwehren, die die Wichtigkeit scheinbarer Marginalia hochhalten, schon weil es sich vom Rand am besten ins Innere blicken lässt und diese Beobachtung immer noch als wertvollstes zivilisatorisches Ringen erkannt bleibt, da es auch allen xenophoben Tendenzen aktiv entgegen zu wirken vermag. Aber diese Absichten sehe ich 2015 nicht und von daher: (...)

Nora Gomringer (D/CH), geb. 1980, Lyrikerin, leitet das Künstlerhaus Villa Concordia (Bamberg). 2015 mit dem Bachmann-Preis ausgezeichnet.

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HENDRIK JACKSON

Rückzugsräume

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Rückzugsräume

die Vorzüge neuster Kommunikationstechniken, also des Internets und der Computer, insbesondere der laptops/tablets, liegen auf der Hand. gerade für Übersetzer, aber auch Schriftsteller beinhalten sie enorme Erleichterungen und Mobilität. es erleichtert Recherche und bereichert die Möglichkeiten der Wortfindung. doch gravierender als diese eher handwerklichen Neuerungen ist die Zuspitzung der Vernetzung und die Vollendung der Aufhebung von Raum und Zeit, die der Computer und das Netz in Verbund mit dem smartphone vollbringen. neuster Höhepunkt einer Geschichte des Näherbringens von Fernem, das in der Wiege der Menschheit begann (mit den ersten übermittelnden Medien), ja Umschlagspunkt: das Verhältnis zwischen Ferne und Nähe kehrt sich um, dem heutigen Mensch ist inzwischen das Fernste das Nächste und das Nächste geht ihn weniger etwas an. in der Literatur bedeutet das, dass Literaturzeitungen ins Netz abwandern und nicht der Buchhändler vor Ort sie distribuiert, Netzwerke wichtiger sein werden als regionale Bündnisse und das Leseevent zunehmend die Funktion hat, uns in der Globalität der Entwertung und des Austauschs das Ereignis zurückzugeben. so weit, so offensichtlich.

ich möchte gern von etwas nicht ganz so Sichtbarem, aber Gravierendem reden. jedes Gerät und die Beschäftigung mit ihm hat seine "Aura", seinen geistigen Raum, der durch die Handlungen in der Zeit und an dem Ort mit diesem Gerät bestimmt werden, durch den Charakter und die Art der Aufmerksamkeit, die ihm gewidmet werden. wichtiger noch, als dass das Ferne so nahe tritt, dass man mit jedem und allem auf der ganzen Welt vernetzt wird, ist, dass die autistische Kompetenz, die darin liegt und sich schon beim Fernsehen zeigte, raumgreifend wird, totalisiert. autistisch meint hier: dass kein leibhaftiges Gegenüber da ist, kein an denselben Ort und Raum gebundenen Wesen, sondern nur virtuelle Vertreter, dass Nicht-Austauschbarkeit nur simuliert wird und das erweiterte Selbstgespräch das Wesen dieser Beschäftigungen ist. das Problem, das man an jedem Jugendlichen aber auch an den Erwachsen ablesen und studieren kann, ist die Zersetzung unseres Alltags mit diesen Autismen. man kann dabei kein Medium verteufeln, die Vorteile wurden ja beschrieben, zudem kommt es immer auf den richtigen Gebrauch an. aber jeder weiß, mit welch glasigem Blick ein Kind vom Zocken kommt, so wie früher übrigens der Bücherwurm (!) von seinem Buch. massive Abhängigkeiten sind beobachtbar. und hier wird es problematisch. der Moment, wo diese Aura der Beschäftigungen usurpierend und absorbierend werden, zum bestimmenden und organisierenden Lebensprinzip und -gefühl werden, bildet den Umschlagspunkt einer ganzen Kultur. die Verabsolutierung der Anwesenheit autistischer Verhaltensweisen einhergehend mit einer Aufhebung jeglichen Raum-Zeitgefühls führt zum Verschwinden von Biographie und Erdnähe. der Mensch aber ist und bleibt sterblich und an Ort und Zeit gebunden. das sind seine grundlegendsten Bedingungen, die auf absehbare Zeit auch von der Medizin nicht aufgehoben werden. Literatur kommt aus der Beschäftigung mit diesen Grundlagen und aus

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dem Wissen um diese. der Schriftsteller muss sich der Zersetzung des Alltags durch die Kompetenz des Autistischen, am gefährlichsten und vergiftendsten im smartphone, entziehen. wohl wissend, dass der Ausdruck für die in dem Entzug gewonnen Einsichten und Erlebnisse selber in einer spezifisch autistischen Kompetenz sich vollzieht. denn das Buch hat zwar im Gegensatz zu Fernsehen, Computer und smartphone angenehm meditative und haptische Qualitäten, ist als Lektüre aber selbst autistisch geprägt. eher ist es der Müßiggang, wie Rilke schrieb: der "einsame eigene Gang über schlaflose Landschaft", oder die Unterredung mit guten Freunden, die uns wieder für die nähere Umgebung und unser Dasein darin öffnen. auch das ist keine neue Einsicht, aber eine dringlichere als je zuvor. wie sich die in der „Abstinenz“ gewonnen Perspektiven dann allerdings in der vollmedialisierten Gesellschaft noch literarisch vermitteln lassen, bleibt akut als Frage. die Festivals und eventlesungen sind zum einen sicherlich Bestandteil einer hysterisierten und auf Großereignisse fixierten Politik hirnloser Vernetzung und somit eher Teil des Problems, zum anderen sind sie aber tatsächlich fähig, den Menschen Raum und Zeit auch in der Hörerfahrung selbst zurückzugeben und von da ausgehend geeignet, auch von anderen Dimensionen Zeugnis abzulegen.

diese Praxis des Rückzugs ist allerdings keine Aufforderung zur Abkehr (zum Beispiel von zeitgenössischen Themen), im Gegenteil: aus der kleinen Distanz heraus lässt sich vieles aufmerksamer wahrnehmen. ob man sich dann den Schichtungen der Vergangenheit zuwendet, die unsere Gegenwart bestimmen oder den Paradigmenwechseln der Wissenschaft, die neue Beschreibungen zukünftigen Lebens und der Erde liefern, sei dahingestellt. wichtiger für den Einzelnen als die vielfach besprochenen Formen und Inhalte der Literatur ist zuweilen, und in diesen Zeiten mehr denn je, der Gestus, mit dem sie spricht, die Aura, die sie erzeugt.

Hendrik Jackson (D), geb. 1971. Autor, Essayist und Übersetzer. Hrsg. von www.lyrikkritik.de.

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JO LENDLE

WAS WIRD LITERATUR

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Was wird Literatur

Die Literatur war immer gut darin, unseren Plänen zuvorzukommen – den Lebensplänen und den Leseplänen. Und auch unseren Vorstellungen von der Literatur selbst. Bevor wir ihr etwas vorschreiben konnten, hatte sie sich schon vorausgeschrieben. Sie ist nicht nur in dieser Hinsicht ein Schlingel. Ich fürchte daher, nicht wir haben darüber zu befinden, was Literatur wird. Wenn wir Literatur im glühenden Sinne meinen, dann zeichnet eben das sie ja aus: Dass sie Haken schlägt, uns voraus ist, überrascht. Dieser Literatur einen zukünftigen Zustand zu unterstellen führte so weit wie der Versuch, Ort und Impuls eines Quantenteilchens zugleich zu bestimmen. So weit wie die Frage, ob Schrödingers Katze noch atmet. Was die Literatur wird, wissen die Götter, und die lassen sich ungern über die Schulter sehen.

Wir können allerdings bestimmen, was für uns selbst zu Literatur wird: Wir wählen aus. Als Verlag, als Rezensent, als Leser. Auch wer nicht selbst schreibt, prägt so die Möglichkeiten der Literatur. Ob die sich darum schert?

These 1: Je stärker Literatur sich darum kümmert, was andere von ihr wollen, desto länger gerät sie. Um zu entführen, fremde Leben anzubieten, auf andere Gedanken zu bringen. Das ist in Ordnung. Wir schätzen das seit Jahrhunderten. Und bei aller Lust am Neuen: Bewährtes kann man ruhig bewahren. Auf Papier zum Beispiel, zum ruhigen Lesen gibt es nichts Besseres.

These 2: Je weniger Literatur sich darum kümmert, was andere von ihr wollen, desto kürzer gerät sie. Weil unser Leben immer geschnipselter wird, der Takt der Wahrnehmungen kürzer. Das ist schon länger so, aber selbst die Akzeleration nimmt an Geschwindigkeit zu. Tatsächlich sehen wir ein Wiedererstarken des Flaneurs, des Meisters der Zusammenhanglosigkeit. Die kurze epische Form, über Jahrzehnte eingesponnen in Kleinstkokons, in Nischen gebettet, traut sich zurück auf die Straße. Das führt eher zur Intervention als zur Eskapade, es wird vielstimmig, flirrend. Eher ein Schwarm Bienen als ein einzelner Bär. Zu dieser Kürze gehört, dass man sie zwischendurch liest, unterwegs. Auf dem Bildschirm, zum schnellen Lesen gibt es nichts Besseres.

Mit dieser Janusköpfigkeit künftiger Literatur müssen, können, werden wir leben.

Jo Lendle (D), geb. 1968. Seit Januar 2014 Verlegerischer Geschäftsführer der Hanser Verlage.

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JÖRG PIRINGER

was wird literatur? was wird poesie?

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was wird literatur? was wird poesie?

eine utopistische tirade über literatur kann ich nichts sagen. mich beschäftigt die poesie. diese gilt zwar gemeinhin als unterabteilung der literatur, ich halte sie aber (nach Friedrich W. Block) als eine eigenständige kunstform, die den einschränkungen, die der literatur für gewöhnlich zugemutet werden, nicht unterliegt. mich bekümmert nicht der wandel vom papier- zum e-book. keine plagiatsvorwürfe und leistungsschutzrechte. das sind probleme der unterhaltungswirtschaft. mit kunst hat das nichts zu tun.

was ist poesie?

poesie als unterkategorie und gleichzeitig metakategorie von literatur darf alles. sie benötigt keine verständlichkeit. keine lesbarkeit. keine abdruckbarkeit. sie experimentiert mit form und gestaltungsprinzipien. erlaubt jede art der herstellung und präsentation. ist medienübergreifend und polyvalent. kann alles ausdrücken und veraltet nie. als ich im juli 2015 Thomas Böhms artikel in der wochenzeitung Die Zeit las, in dem er die einführung von lyrikgalerien forderte, musste ich lachen. in der dem deutschsprachigen literaturfeuilleton eigenen mischung aus eurozentrismus, ignoranz und überheblichkeit wurde da etwas propagiert und als neueste idee zur rettung der poesie verkauft, was schon im chinesischen altertum und spätestens seit der moderne auch in europa von den verschiedensten avantgardebewegungen praktiziert wurde: das gedicht als unikat. als objekt. als multiple. als handelsgut. wenn sich die literaturkritik von ihrer rolle als verlautbarungsorgan der verlage emanzipieren und wieder selbsttätig auf entdeckungsreise gehen würde, könnte sie unzählige spannende zeitgenössische poesieformen entdecken. denn poesie ist schon jetzt wesentlich mehr als eine gedichtsammlung in einem buch. poesie ist schon jetzt performance. ist schon jetzt bildende kunst. ist jetzt visuelle poesie. ist lautpoesie. ist konzeptuelle poesie. ist poesieskulptur. ist generative poesie. ist poesieapps. ist softwarepoesie. ist poesiefilm. ist filmpoesie. ist kombinatorische poesie. polypoetry. haptische poesie. spampoetry. samplepoesie. flarf. lettristische poesie. schreibmaschinenpoesie. tachygraphie. hypergraphie. poesiehardware. scotch art. e-poetry. digitale poesie. netzpoesie…

und was wird?

ein umbruch findet statt. ich meine nicht den umbruch der publikationsformen. nicht den wandel der bisherigen einnahmequellen (gab es denn welche?) für poetinnen. nicht die erosion der urheberrechte. es ist die digitale sprachtechnologie der konzerne, die die zukunft der poesie und der sprache im allgemeinen verändern wird. schon jetzt wird ein grossteil der textuellen information im netz von computern erzeugt und von computern gelesen. noch sind das hauptsächlich standardisierte protokolle und formale sprachen wie html, die rechner

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untereinander austauschen. aber zunehmend werden für ein breites publikum lesbare inhalte wie sportreportagen, wetterberichte und börsennachrichten automatisch generiert. suchmaschinen scannen fortlaufend die inhalte des netzes. versuchen die textuelle information zu extrahieren und in einen durchsuchbaren index zu kondensieren. dazu bedienen sie sich verfahrensweisen der linguistik und der kognitionswissenschaften. spamfilter analysieren erhaltene emails und schätzen ab, ob die verfasserin ein mensch oder eine maschine gewesen sein könnte. smartphones reagieren auf gesprochene anfragen der besitzerin. geben antworten, die wissen über die umgebung und lebensgewohnheiten vermuten lassen. all diese sprachtechnologien beeinflussen den alltag. formen soziale interaktionen und sollten dementsprechend in der zeitgenössischen und zukünftigen poesie einer reflexion unterzogen werden. die poetinnen der kommenden jahre werden nicht zusehen und konzernen die hoheit über die sprachalgorithmen überlassen. sie werden für rechenmaschinen schreiben. sie werden die computer umprogrammieren. die spracherkennungssysteme der mobiltelefone hacken. datenpoesie erstellen. big language data cluster pervertieren. sie werden eine dynamische poesie entwerfen. flüssige texte. poesie aus information. poesie aus desinformation. poesie, die sich nach dem wetter richtet. verdunkelte poesie, die die geheimdienste verwirrt. poetische computerspiele designen. biopoesie. neuronale poesie. interaktive poesiefilme. poesiesoftware. codetheater. virtual reality poetry. poesieenvironments. poesiethemenparks. poesieasteroiden. poesiegalaxien. quantenpoesie. poesie aus dunkler materie und antineutrinos. poesie aus den letzten geheimnissen der beobachtbaren welt.

was bleibt?

all das wird passieren. oder wird erst der anfang sein. oder nichts davon. oder einiges. oder manches. was aber bleibt und bleiben muss, ist der kern der poesie als sprachbasierte reflexion von wirklichkeit und vorstellung. oder wie es H.C. Artmann formuliert: Der vollzogene poetische Act, in unserer Erinnerung aufgezeichnet, ist einer der wenigen Reichtümer, die wir tatsächlich unentreissbar mit uns tragen können.

literaturangaben

Reißt die Seiten aus den Büchern!von Thomas Böhm http://www.zeit.de/kultur/literatur/2015–07/lyrik-vertrieb-problem-buchmarkt ——Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actesvon H.C. Artmann The Best of H.C. Artmann, hg. von Klaus Reichert, Suhrkamp Taschenbuch

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Jörg Piringer (A), geb. 1974. Freier Künstler und Wissenschaftler (u.a. elektr. Musik und audiovisual/interactive poetry). Gründungsmitglied des Instituts für transakustische Forschung sowie des Gemüseorchesters.

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KATHRIN RÖGGLA

WAS WIRD LITERATUR?

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Was wird Literatur? Nein! Was ist Literatur? Dies ist kein Statement zur Zukunft der Literatur. Mir ist die Zukunft der Literatur schnurzpiepegal. Es geht doch immer in diesen Zukunftsdebatten um Gegenwart. Denn die Gegenwart ist natürlich wie man aus allen möglichen Realismusdebatten weiß, mit Zukunft und Vergangenheit aufgeladen. Schuldverhältnisse sind das. Heute mehr in Hinblick auf die Zukunft. Denn das hat sich verschoben. Arbeitete sich jemand wie Heiner Müller an der nationalsozialistischen und stalinistischen Vergangenheit ab, arbeiten wir uns an der Zukunft ab, die ganz allgemein verwettet scheint, ins grobe Schuldverhältnis gebracht. Diese verwettete Zukunft steckt dann in der Gegenwart unserer Literatur, die gerne etwas mehr Zukunft hätte und ahnt, daraus wird wohl nichts. Warum? Zum einen, die gesellschaftlichen Verhältnisse. Zum anderen die Medienverhältnisse, die verändernden Wahrnehmungsgewohnheiten, hätte man früher ganz kulturpessimistisch gesagt. Früher, so vor zehn Jahren, hätte man aber auch noch darauf geantwortet: Das Bloggen, das Internet, Twitter und Ebooks. Lichtzeilen. Anrufbeantworter. Überallhin hätte man die Literatur, d.h. Texte versetzt gesehen, damit sie noch ein wenig Zukunftslicht abbekommen – Slams, Poetry Corners, Spoken Word, hätte man weitergeredet, um etwas Legitimation fürs Gegenwärtige erhalten, denn darum ging es schon damals hauptsächlich. Literatur als irgendwie doch Praxis, die ankommt bei den Leuten und nicht als Restaurationsgeste erstarrt. Heute scheint mir niemand mehr ernsthaft ernsthaft von der Zukunft der Literatur zu reden und schon gar nicht in Bezug auf Medienfragen, (und wenn doch, dann möchte ich das hören – deswegen komme ich nach GRAZ!) umso mehr höre ich von Realismusdebatten, aber das ist das Theater, in dem es traditionell überhitzter zugeht, und das irgendwie lauter ist. Und dieser Theaterdiskurs kann sich gerade nun mal auch nicht entscheiden, ein rein postdramatischer Diskurs zu sein oder ob von einer Rückkehr zum Text, dem neuen Realismus im Text, dem Postrealismus, dem Neoneorealismus oder Gegenrealismus auszugehen ist. Das erzeugt noch nicht unbedingt neue Auftragslagen, aber vielleicht hilft es? Nur, ob das schon die Literatur der Zukunft sein könnte? Was wird Literatur, was ist sie? Im Prinzip, das ist ja der Witz, versuchen die meisten Leute ja eigentlich nichts anderes als möglichst gegenwärtig zu sein. Es irgendwie zu schaffen, in diese Gegenwart reinzukommen, die ihnen aus vielen Gründen: Soziale, politische, rassistische, ideologische verbaut sind. Oder man lässt sie nicht. Man sagt ihnen, sie seien vorgestrig oder übersieht gleich völlig, dass sie da sind, da draußen auf ihren Booten oder da drinnen in ihren Sozialbauten oder dort drüben in ihren Universitäten oder auch in den Reihenhäusern. Das ist ein Problem, das sich zwar beschreiben lässt, aber nicht unbedingt verlesen lässt wie ein Statement, das in dieser Debatte weiterhilft. Ich gebe das gerne zu. Die Erfahrung mit solchen Statements sagen mir ohnehin, dass man diese rein persönlich anlegen muss (wenn man nicht in normativem Gemurkse landen will) was interessiert mich in den nächsten Jahren, wie stelle ich mir meine eigene Schreibpraxis vor? Und da stehe ich nun mal auf einer riesigen Baustelle, die nicht unbedingt der Berliner Flughafen ist, aber deren statische Probleme ich gerade dabei bin zu ermessen und hoffentlich bald einigermaßen vernünftig einschätzen kann. Die Frage, was Literatur wird oder ist, ist ja stets

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mit der Frage verknüpft, welche Probleme man mit ihr und in ihr hat. Wo haperts, haut es nicht hin, wo stolpert man – sowohl in arbeitstechnischen, textimmanenten, medialen als auch öffentlichkeitstechnischen Fragen. Über dieses Stolpern lässt sich so manche Fragestellung ordnen, beispielsweise die Frage nach der Realität eines gesellschaftlichen Umbaus. Warum klappt etwas nicht in einem Text? Warum komme ich nicht weiter? Was wirkt einfach falsch an dieser Stelle? (Da kann ich in GRAZ vielleicht mehr erzählen) Und dann die ganz allgemeine Frage nach Produktions-Verlusten, mit denen immer mehr zu rechnen ist in Zeiten von Amazon und Austeritätspolitik. Nur was solls: Text tritt ja insgesamt in den Hintergrund - Vor kurzem führte ich in der Bonner Germanistik ein Gespräch über die Germanistik ohne literarischen Text, bzw. ohne Lektüre - Textvernichtung als Uniprogramm! Gleichzeitig findet im Stadttheaterbetrieb so etwas wie eine Touristisierung des ohnehin schon festivalisierten Betriebs statt, englische Untertitel wandern auf alle Bühnen, Schauspieler werden nur dann gecasted, wenn sie fließend Englisch können. (Und Untertitel sind nicht unbedingt das, was literarisch etwas hergibt.) Und dann: Schließlich gehen ja auch Zeitungen ein, weil die Leute in der Woche nicht mehr Zeit haben zu lesen, Gary Stheyngarts Dystopie „Super Sad True Love Story“ scheint sich als treffliche Gegenwartsbeschreibung zu bewahrheiten, Sprache wird in Zeiten der postdemokratischen Repräsentationskrise ohnehin misstraut. Aber was hilft uns das? Dass Sie jetzt mit Gegenbeispielen kommen? Vielleicht. Das wäre das alte Kegelspiel in der Matrix der ewigen kulturpessimistischen Rhetorik. Alle neune hat man dann immer irgendwann geschafft, und die Urheberrechtsdebatte war auch noch mit dabei (samt Alexander Kluges Idee vom konzentrischen Schreiben, dem kollektiven Schreib-Projekt einer Weltgeschichte als Antwort auf die Globalisierung und die um die Welt kreisenden Pensionsfonds). Insofern schnell zurück zu meiner Baustelle: Zu kapieren, in welcher Gesellschaft man sich befindet, ist für mich eine der schriftstellerischen Grundfragestellungen (wenn man so will: ein Auftrag): Woher kommt die Ohrfeige, die man weitergibt? Und dann: Wie kann ich da einen gewissen Richtungswechsel diesbezüglich organisieren? Das ist sehr vage formuliert, ich gebe es zu. (Es wirkt auch vielleicht auf manche nicht wirklich zukunftsträchtig, weil sie zu wissen meinen, dass Kritik ja schon immer systemstabilisierend wirken soll – der neue Geist des Kapitalismus, auch schon über zehn Jahre alt) Dennoch: Ich habe mir mit den Begriffen Postdemokratie und Finanzoligarchie/Finanzkapitalismus eine kleine Startlinie zurechtgelegt, von denen aus gewisse Herrschaftsräume unserer Zeit zu verstehen scheinen, also die Produktion von Herrschaft ganz im foucaultschen und marxschen Erbe, grob gesprochen, aus mitteleuropäischer Perspektive. Das ist sehr einfach, erzeugt aber einen Haufen vielleicht relevant zu nennender (von wem?) Probleme, (Relevanz ist eine heikle ja erschreckende Kategorie!) und kombiniert man diese mit der Frage nach Konstellations-, Informations-, Kontextfragen, Fragen nach Sprechräumen und Rhetoriken, Fragen nach medialen Tektoniken und Erzählperspektiven, hat man genug zu tun für ein ganzes Leben, immer noch. Die Entscheidung für ein geeignetes Medium sowie für die Veröffentlichungsform wird sich nicht selten am Stoff herausentwickeln, wenn die ganze Sache auch noch organisatorisch zu bewerkstelligen ist. Damit ist jetzt nicht die Literatur der Zukunft beschrieben (ich weiß! Ich habe ja gesagt, daraus wird nichts), und nein, ich gehe

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hier nicht davon aus, für alle AutorInnen zu sprechen. Früher hätte man gesagt: Das wäre auch eher ein Gewerkschaftsthema. Eigentlich ist es doch ein wenig abwegig an die Zukunft der Literatur zu denken, wenn die Menschen, die sie lesen könnten, keine mehr haben. Oder sprechen wir über Kassiber, Flaschenpost, Signale ins All, wie es vielleicht Alexander Kluge sehr metaphorisch tut? Wie gesagt: Die Zeit läuft nicht mehr nach vorne. Man muss schneller und langsamer als die Zukunft sein, die uns andauernd blüht.

Kathrin Röggla (A/D), geb. 1971. Freie Autorin, schreibt Prosa, Hörspiele und Theatertexte. War Mitglied des Netzradiokollektivs convextv.

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URSULA TIMEA ROSSEL

BABYLONISCHES BIER

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Babylonisches Bier

Ipiq-Aya war ein babylonischer Schreiber. Sein Epos Atrahasis aus dem zweiten Jahrtausend vor Christus wurde Literatur: die Sintflut (die Ipiq-Aya natürlich nicht selber erfand) schlug sich in unzähligen Mythen und Erzählungen nieder und wurde Baustein heiliger Texte von Weltreligionen. Darum wissen wir, dass wir Menschen erschaffen wurden, um die Götter von ihrer gewaltigen Arbeit zu entlasten, als Sklaven also. Wir erzürnen mit unserem Lärm die schlaflosen Götter, so dass sie uns durch Seuchen, Hungersnöte, Kriege und schliesslich durch die Flut, partielle Unfruchtbarkeit und die Einführung der Sterblichkeit in unsere Schranken weisen mussten und immer wieder müssen.

Hätten Sie Ipiq-Aya gefragt, was Literatur wird, er hätte sicher genausowenig eine Antwort gewusst wie ich heute. Jedenfalls dürfen wir Zeitgenossen nicht damit rechnen, dass man unsere Geschichten noch in 4000 Jahren liest und weiterverarbeitet, dass sie Eingang finden ins kollektive Bewusstsein der Menschheit. Ich unterstelle Ipiq-Aya einmal, dass auch er sich nicht mit solch vermessenen Ambitionen herumplagte; sicherlich tat er ebenfalls schlicht seine Arbeit, die ja stillsteht, sobald man sich auf die Metaebene begibt. Die Babylonier schauten ohnehin rückwärts, für sie lag das Goldene Zeitalter in der Vergangenheit. Wir heutigen Leser sind bedeutungslos für Ipiq-Aya. Doch immerhin hat er sein Werk signiert, eine überaus futuristische Anwandlung.

Die ZEIT entscheidet darüber, was Literatur wird. Ich meine nicht die Kalenderzeit, die verstreicht, damit man später siebe, was übrigbleibe. Die Zeit, die einen Schreiber umgibt (und seine Widerständigkeit gegen sie), ist gemeint, und die Zeit, die er in sich trägt, Zeit vor ihm, an die er sich erinnern kann. Es ist unabdingbar, dass der Schreiber sein Gedächtnis ausbildet. Es muss zurückreichen in unvordenkliche Zeiten, dannhin, wo längst noch keine Menschen existierten, noch nicht einmal Götter und Bakterien. Jeder Schreiber, so glaube ich, muss mindestens einmal in seinem Arbeitsleben eine Schöpfungsgeschichte schreiben, wobei er sich zwangsläufig komplett erschöpft. Nur so befähigt er sich auch zur Prophezeiung, zur Science Fiction, wenn wir Zukunftsliteratur so salopp bezeichnen wollen: ein weiteres Phänomen der Erinnerung. Die andere Zeit, die Kalenderzeit, die nach dem Ableben des Schreibers weitertickt, liegt dann natürlich noch weniger in seiner Hand. Ipiq-Ayas Epos war so lebendig, dass es kopiert, verbreitet, neu erzählt, übersetzt wurde. Es wurde bereits von Zeitgenossen aufgenommen, im Gilgamesch-Epos variiert, landete in assyrischer Version in der Palastbibliothek Assurbanipals zu Ninive, fand zu den Hebräern und so Eingang ins Alte Testament. Wir alle kennen noch Atrahasis den Extra-Weisen, wenn auch vielleicht unter anderen Namen. Wohlverstanden: Wir kennen Atrahasis! Nicht Ipiq-Aya; noch weniger die Sänger und Karawanenlagerfeuererzähler, die das Material vor ihm mündlich weiterreichten. Und so soll es sein.

Science Fiction! Spulen wir weitere knappe 4000 Jahre vorwärts, ins Jahr 5800 etwa, und nehmen wir an: es gibt noch Menschen, oder ein Menschenupgrade, oder eine andere Bewusstseinsform, die sich für unser „Goldenes Zeitalter“ (da lachen die Götter!) genug interessiert, um Archäologie zu betreiben. Nie ging die Weltbevölkerung dermassen aus dem Leim, nie war sie so durchalphabetisiert, nie wurde quantitativ so monströs viel geschrieben wie in den Zwei-Nuller-und-Folgejahren. Dennoch werden diese Archäologen Augen machen wie Suppenteller und trotzdem kaum noch schriftliche Zeugnisse finden. Nichts als ein paar

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gut erhaltene Bibeln und Korane, wie in den Jahrhunderten davor; vielleicht einige entsetzlich langweilige private Tagebücher, oder nicht einmal das. Denn wir schrieben nicht, wir tippten, ohne verlässliche Speichermedien...

Es gibt Momentgedichte, Minuten- oder Stundentexte. Spoken Word, ein Blogpost, eine Ballade gestegreift am Lagerfeuer, oder ein billiges Taschenbuch, das auf die Dekade zielt, kann beträchtlich in die Breite wirken. Das alles ist manchmal Literatur, nicht minder als Atrahasis. Es kann vom Augenblick, vom Ambiente, abhängen, ob etwas Ephemeres Literatur wird. Es verglüht gleich wieder. Zum Sterben schön: ein Mandala, von buddhistischen Mönchen hingehaucht und sogleich wieder weggefegt. Wir wissen nicht, wie so etwas kommt und vergeht.

Für langsam Reifendes mit Tiefenwirkung vom Typ Atrahasis aber können wir einige Bedingungen ableiten, die erfüllt sein müssen, damit Literatur im besten Fall werden kann: Es braucht die Schriftlichkeit, notabene die Handschriftlichkeit, denn Schreiben ist ein physischer Akt genau wie das Lesen. Mit Elektroden an der Schläfe wird dauerhafte Literatur weder verfasst noch rezipiert werden (Momentliteratur vielleicht). Es braucht ein handfestes Medium, denn haltbare Literatur ist ein physischer Gegenstand. Ipiq-Ayas Tontafeln haben sich schier konkurrenzlos bewährt, obschon sie offensichtliche Nachteile mit sich brachten (die Geschichte der sumerischen Büroklammer, die einem heutigen Wäscheständer gleichen musste, habe ich an anderer Stelle bereits erzählt). Der Buchdruck liegt seit bald 600 Jahren gut im Rennen, und ich denke, wir tun gut daran, weiterhin auf ihn zu setzen. Unsere Generation wird nicht mehr erfahren, ob das Digitale dereinst auch ein sicheres, simpel und immer gleich zu bedienendes sowie energieunabhängiges Medium bieten wird. Bisher zeichnet sich nichts dergleichen ab. Unsere ZEIT, Kraft, und Arbeit sind zu teuer dafür.

Viele von uns sind sicher vorübergehend der „Saumode“ zum Opfer gefallen, aus Bequemlichkeit direkt am Computer zu tippen; besser, je schneller man sich das wieder abgewöhnt! Erstens ist es eine Täuschung, dass dies schneller geht; zweitens nimmt es massiven Einfluss auf die Qualität des Geschriebenen. Teure Notizbücher mit schwerem Papier und lichtechte Tinte sind kein Luxus, sondern ein Bekenntnis zur eigenen Arbeit. Desgleichen zahlt es sich zwar vorerst nicht finanziell, aber sonst in allen Belangen aus, einen Verlag zu wählen, der ebenfalls auf zeitlose Qualität ausgerichtet ist, vom Lektorat bis hin zum physischen Gegenstand, dem sprichwörtlichen „Schönen Buch“.

Damit will ich nicht etwa sagen, dass jeder Furz, den wir notieren, ewiges Lesen verdienen würde. Doch in media res kann der Schreiber nicht einschätzen, ob der Text das Potential zu Literatur entwickeln wird. Das wird meist erst Jahre später ersichtlich, wenn die alten Fürze zur Überarbeitung hervorgekramt werden. Zumindest während der eigenen Lebensspanne sollte man doch seine Handschriften zur Verfügung haben und wiederfinden können! Man muss wirklich nicht alles selber sortieren und aufräumen; das hysterische „Ballastabwerfen“ ist auch nichts weiter als ein zeitgenössisches Symptom. Wichtiger ist, dass man seinen Nachlass regelt, jetzt, sofort!, diese Papiere jährlich überarbeitet, und eine Person des Vertrauens designiert, die im Falle unverhofften Ablebens die privaten Journale vernichtet. Den Rest können wir getrost der ZEIT überlassen. Wir müssen uns Zeit lassen, mehr denn je, unserer Zeit zum Trotz. Ein Buch, das sich in zwei Jährchen schreiben lässt, ist selten

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Literatur und bleibt es kaum je, das behaupte ich. Was Literatur wird, ist nicht unsere Sorge. Wir müssen nur unsere Arbeit tun.

Es ist aber nicht die ZEIT allein, die entscheidet. Es ist auch, obwohl Kulturmenschen es nicht gern hören, die NATUR. Ipiq-Aya hatte Wasser, Bier und Nahrung. Seine Gesundheit erlaubte ihm zu schreiben. Die Witterung war seinen Tontafeln wohlgesinnt. Vergessen wir nie, dass wir auf dem lebendigen Fleisch der Bäume schreiben: dann geben wir der möglichen Literatur ZEIT, unsere einzige Lebenszeit. Ich plädiere für mehr Demut, weniger Lärm, und vor allem dafür, dies alles nicht so babylonisch bierernst zu nehmen. Ohne Pathos keine Haltbarkeit!

Ursula Timea Rossel (CH), geb. 1975. Ingenieur-Agronom ETH, gründete 2006 die Kryptogeographische Gesellschaft (kryptogeographie.ch).

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CHRISTIANE ZINTZEN

WAS WIRD LITERATUR?

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Was wird Literatur?

Literatur wird. Sie wird ständig und überall, wenn man sie denn nur werden lässt. Sie wird, wenn die Leute, die als „Verantwortliche“ für das demokratische Werden der Literatur verantwortlich zeichnen nicht ständig am Verwalten von Früherem festhalten. Anders als die in Deutschland oder in den USA dynamisch sich organisierenden Literaturen und deren vielfältige Öffentlichkeiten, hält die generelle Organisation von „Literatur“ - Texte, Zeitschriften, Verlage, Veranstaltungslocations und -Modalitäten - in Österreich am Stand von 1975 ebenso eisern wie ängstlich und neurotisch fest: Stimmt, die Errungenschaften von Wiener Gruppe, Jandl, konkreter poesie, Neuer „Heimat“Literatur, Autobiographischer Modelle etc. sind achtenswert und entscheidende Stepping Stones für alle künftigen Schreibweisen. Aber Achtung: Sie sind für Jetziges Schreiben – für ein Schreiben, das Jetzige Menschen erfüllt und das anderen Jetzigen Menschen etwas „gibt“ und für sie Sinn & Form prägen kann – BASIS, nicht Ziel. Das ungemein reich alimentiert Österreichische Förderungswesen im Hinblick auf Autoren, Verlage, Distributionskanäle ist hoffnungslos falsch ausgerichtet: In skandalösem Ausmaß werden die Ewigen Nachahmer und Nachbeter gefüttert und wird somit jeder Weg ins Jetzige verstellt. Die Österreichische Literaturförderung stellt - zum jahrzehntelangen Unbehagen jener Menschen, die sich in ihren Dienst gestellt haben - eine immense Maschine der Unbegabten-Beihilfe dar. Der Karren sitzt fest und im Dreck, während an vielen anderen – nicht administrierten, nicht öffentlich alimentierten, sondern selbstorganisierten – Orten blühende Kreativität und fröhliches, sinnstiftendes Leben stattfindet: Literarisches Leben nämlich, das den Menschen jenseits elitärer, frustrierter, verquollener Zirkel buchstäblich und sinnlich etwas gibt. So, wie die derzeit beste Literatur des Landes. Sie stammt von Attwenger, von Nazar, von Skero und seinen Freunden des Neuen Wienerlieds.

Christiane Zintzen (A), geb. 1966. Literaturwissenschaftlerin, Autorin und Kuratorin, DJ „Red Dog“. Co-Herausgeberin von litblogs.net, Herausgeberin des Netzliteratur-Projekts in|ad|ae|qu|at.