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Claudia MoiselFrankreich und die deutschen Kriegsverbrecher

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Beiträge zur Geschichtedes 20. Jahrhunderts

Band 2

Herausgegeben vonNorbert Frei

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WALLSTEIN VERLAG

Claudia Moisel

Frankreich und diedeutschen Kriegsverbrecher

Politik und Praxis der Strafverfolgungnach dem Zweiten Weltkrieg

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Gefördert durch die VolkswagenStiftung

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2004 www.wallstein-verlag.de

Vom Verlag gesetzt aus der Adobe Garamond Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf

unter Verwendung eines Fotos aus dem Oradour-Prozeß Druck: Hubert & Co, Göttingen

ISBN-10 (Print) 3-89244-749-7 ISBN-13 (Print) 978-3-89244-749-8

ISBN-13 (E-Book, pdf) 978-3-8353-2059-8

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Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

I. Vom Waffenstillstand zur Befreiung:Die deutsche Besatzung und das Vichy-Regime (1940 bis 1944) 19

II. Kriegsverbrecherpolitik und Militärgerichtsverfahrenin Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

1. Die französische Kriegsverbrecherpolitik in Londonund Algier (1940 bis 1945) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

2. Die Verordnung vom 30. August 1944 . . . . . . . . . . . . 633. Der Service de recherche des crimes de guerre ennemis . . . . . 714. Die Anfänge der Strafverfolgung zwischen Libération

und Nürnberger Prozeß (1944 bis 1946) . . . . . . . . . . . 835. Der Prozeß gegen den Chef der Zivilverwaltung im Elsaß

Robert Wagner (1946) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 976. Die alliierten Konflikte um die Auslieferung (1947) . . . . . 1037. Das Gesetz vom 15. September 1948 . . . . . . . . . . . . . 1188. Die Kriegsverbrecherfrage zwischen Regierungsbeginn

in Bonn und Generalvertrag (1949 bis 1952) . . . . . . . . . 1289. Der Oradour-Prozeß in Bordeaux (1953) . . . . . . . . . . . 14810.Der Fall Oberg (1954 bis 1963) . . . . . . . . . . . . . . . . 15911. Das Gesetz über die Unverjährbarkeit von Verbrechen

gegen die Menschlichkeit vom 26. Dezember 1964 . . . . . 168

III. Die Strafverfolgung in der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . 183

1. Noch einmal Oradour: Kein Prozeß in der Bundesrepublik 1832. Der Fall des Lagerkommandanten Georg Hempen

(1962 bis 1969) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1963. Das deutsch-französische Zusatzabkommen (1964 bis 1975) 2114. Der Kölner Lischka-Prozeß (1965 bis 1980) . . . . . . . . . 229

Schluß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

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Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281Namenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284

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Einleitung

Einen Monat vor der Unterzeichnung des deutsch-französischen Freund-schaftsvertrags, im Dezember 1962, begnadigte Staatspräsident Charlesde Gaulle – in den Jahren der deutschen Besatzung die zentrale Füh-rungsgestalt der Résistance – die letzten in französischen Gefängnisseneinsitzenden deutschen Kriegsverbrecher. Es handelte sich dabei um denaus einem großbürgerlichen Hamburger Elternhaus stammenden CarlOberg, zwischen 1942 und 1944 Höherer SS- und Polizeiführer in Paris,und den promovierten Historiker Helmut Knochen, Befehlshaber derSicherheitspolizei und des SD im besetzten Frankreich1. Die Begnadi-gung der beiden Polizeichefs, die im Oktober 1954 von einem PariserMilitärgericht zum Tode verurteilt worden waren, bildete den Schlußakteiner seit Kriegsende schwelenden Auseinandersetzung zwischen den bei-den Nachbarstaaten – einer Auseinandersetzung, der besonders unmit-telbar nach dem Zweiten Weltkrieg erhebliche politische Bedeutung zu-gekommen war.

Die mit größtmöglicher Diskretion betriebene Entlassung der ehema-ligen SS-Führer löste in Deutschland und Frankreich widersprüchlicheReaktionen aus. Zustimmung ließen Interessengruppen wie der Verbandder Heimkehrer (VdH) erkennen, der nur wenige Monate zuvor seinerSorge um die »Kriegsverurteilten« in Frankreich erneut Ausdruck ver-liehen hatte2. Groß war dagegen die Erbitterung der französischen Wi-derstands- und Opferverbände, die im Fall von Oberg und Knochenauch zwanzig Jahre nach Kriegsende keinen Anlaß zur Milde erkennenkonnten3. Zum Handeln veranlaßt sahen sich schließlich die zuständigenStaatsanwälte der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Auf-klärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg, die seit An-fang der sechziger Jahre gegen die Verantwortlichen für die »Endlösungder Judenfrage« in Frankreich ermittelten4.

1 Vgl. Lappenküper, Schlächter von Paris, S. 129.2 Vgl. Der Heimkehrer vom 25.2.1962.3 Vgl. Steinberg, Libération d’Oberg.4 ZStL, 104 AR-Z 1670/61, Vorermittlungsverfahren gegen Werner Best u. a. wegen

Mordes und Beihilfe zum Mord.

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I.

Rund 20 000 deutsche Kriegsverbrechen – in den zeitgenössischen Quel-len werden mit diesem Pauschalbegriff sowohl Verstöße gegen das geltendeKriegsvölkerrecht als auch spezifische NS-Gewaltverbrechen bezeichnet5

– waren nach den Erkenntnissen der zuständigen Abteilung im franzö-sischen Justizministerium, dem Service de recherche des crimes de guerreennemis (SRCGE), während des Zweiten Weltkriegs in Frankreich verübtworden. Dabei deuteten die Angaben, die von den Außendienststellendes SRCGE zusammengestellt worden waren, auf große regionale Unter-schiede. Die meisten Kriegsverbrechen wurden aus Nancy gemeldet(2 655), gefolgt von Lyon (1 950), Dijon (1664), Orléans (1606), Rouen(1 530), Paris (1 482), Reims (1 321), Poitiers (1 113), Limoges (900), Lille(877), Rennes (795), Angers (613), Bordeaux (600), Nice (597), St. Quentin(537), Montpellier (409), Clermont-Ferrand (382), Marseille (355), Stras-bourg (322), Toulouse (319) und Metz (184)6.

Überraschend ist zunächst der Befund, daß der größte Teil der von derfranzösischen Justiz eingeleiteten Ermittlungsverfahren schließlich ein-gestellt wurde. In über 16 000 Fällen, so der Abschlußbericht der Militär-justizverwaltung, hatten sich die Untersuchungsrichter gegen eine An-klageerhebung entschieden, in der Regel deshalb, weil die Täter nichtermittelt werden konnten. Diese Entwicklung, die schon bald nachKriegsende begann, erreichte ihren Höhepunkt Anfang der fünfzigerJahre und zeugte von der politischen und juristischen Opportunität dieErmittlungsakten rasch zu schließen: 6 (1944), 170 (1945) 323 (1946),1 184 (1947), 2 235 (1948), 2 835 (1949), 3 487 (1950), 2 349 (1951), 3 577

(1952), 234 (1953), 7 (1954)7.Der Schlußbericht der Militärjustizabteilung aus dem Jahr 1956 wies

deshalb eine – gemessen an den eingangs genannten Zahlen – vergleichs-weise bescheidene Bilanz aus8: Insgesamt 2 345 Urteile hatten die französi-schen Militärgerichte gefällt, davon 1 314 in Abwesenheit der Angeklagten9.

5 Vgl. Pohl, Verfolgung und Massenmord, S. 36 f. Pohl plädiert dafür, Verstöße ge-gen das Kriegsvölkerrecht und spezifisch nationalsozialistische Verbrechen be-grifflich zu unterscheiden.

6 AN, BB 30/1787, Etat statistique des crimes de guerre, Juli 1946. Ohne Angabenvon Gründen weist die Statistik vom Februar 1947 niedrigere Zahlen aus.

7 AN, BB 18/7222, Etat statistique relatif à la répression des crimes de guerre, Januar1956.

8 Ebenda.9 Es handelt sich dabei um eine Besonderheit des französischen Rechtssystems, die

in ihrer Wirkung einem unbefristeten Haftbefehl entspricht.

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In 377 Fällen hatten sich die Richter für einen Freispruch entschieden.Die Todesstrafe war über 800mal von den französischen Militärgerichtenverhängt worden, wobei die meisten dieser Urteile in Abwesenheit derAngeklagten ergangen waren. Tatsächlich vollstreckt wurde die Todes-strafe nach Auskunft der deutschen Behörden in 47 Fällen10.

Unter den Hingerichteten waren keine der »großen« Kriegsverbrecher –mit Ausnahme Robert Wagners, des Chefs der Zivilverwaltung im Elsaß,der am 23. April 1946 von einem Militärgericht in Straßburg zum Todeverurteilt und wenige Monate später hingerichtet worden war. Von Wagnerabgesehen handelte es sich vor allem um Soldaten der Wehrmacht oderder Waffen-SS mit niedrigen Dienstgraden, die in bewaffnete Auseinan-dersetzungen mit Angehörigen des französischen Widerstandes verwik-kelt waren. Hatten die französischen Gerichte also zu hohe, ja ungerechteStrafen verhängt, wie es die deutschen Angeklagten und ihre Interessen-vertreter nicht müde wurden zu behaupten? Oder waren sie nachsichtigselbst gegenüber schwerbelasteten Tätern, wie die französischen Opfer-verbände immer wieder beklagten?

II.

Die Frage nach der Ahndung der deutschen Kriegsverbrechen in Frank-reich und nach der Wirkung der Kriegsverbrecherprozesse steht im Mit-telpunkt der vorliegenden Untersuchung. Bisherige Kenntnisse überFunktion und Wirkung der französischen Verfahren stehen unter demVorbehalt ihrer empirisch unzureichenden Absicherung. Vor welchenGerichten und auf welcher gesetzlichen Grundlage wurden deutscheKriegs- und NS-Verbrecher in Frankreich zur Verantwortung gezogen?Welche Dokumente und Zeugen standen den französischen Gerichten inden Jahren nach dem Krieg zur Verfügung? Welche Rolle spielten Inter-essenverbände? Waren die Prozesse ein Thema in der Presse?

Die vorliegende Studie greift dieses Desiderat auf und bewegt sich da-bei methodisch auf mehreren Untersuchungsebenen: Parallel zur Analyseder Rechtsprechung der französischen Militärgerichte werden die politi-schen Auseinandersetzungen um die Kriegsverbrecherfrage sowohl in ihreninnerfranzösischen als auch in ihren interalliierten und deutsch-franzö-sischen Bezügen in den Blick genommen. Die Untersuchung fragt nach

10 Die französische Militärjustizverwaltung sprach hingegen von 54 hingerichtetenDeutschen in den Jahren 1945 bis 1951. Vgl. meinen Versuch einer Zahlenbilanzim bulletin de l’IHTP, S. 98-101, hier S. 100.

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den spezifischen Intentionen, den politischen und gesellschaftlichenRahmenbedingungen und den Ergebnissen der französischen Kriegsver-brecherpolitik, nach ihrer Rezeption in der Öffentlichkeit und den Reak-tionen der Bündnispartner. Die Interdependenz von Justiz, Politik undöffentlicher Meinung wird exemplarisch an wichtigen Präzedenzfällenund Prozessen gegen zentrale Figuren der deutschen Besatzungspolitikaufgezeigt.

Die politischen Auseinandersetzungen um die Kriegsverbrecher gehör-ten ebenso wie die Prozesse selbst für lange Jahre zu den wenig beachte-ten Aspekten der deutsch-französischen Beziehungen, die sich – aus derPerspektive der Gegenwart – vor allem als Erfolgsgeschichte präsentie-ren: Anstelle der »Erbfeindschaft« trat trotz anfänglicher Widerständeeine Aussöhnungspolitik, die im deutsch-französischen Freundschafts-vertrag von 1963 festgeschrieben wurde und sich bis heute in Jugend-begegnungen und regelmäßigen Regierungskonsultationen äußert. Vordem Hintergrund der endlich erreichten bilateralen Harmonie nach den»Kosten« der deutsch-französischen Annäherung zu fragen war auch fürdie Historiographie lange Zeit nicht opportun.

Während die politischen Beziehungen sowie die deutsch-französischenKultur- und Wirtschaftsbeziehungen der Nachkriegsjahre seit längeremvielfältig thematisiert werden11, gibt es bislang keine Untersuchung zurFrage der strafrechtlichen Aufarbeitung der deutschen Besatzungszeit inFrankreich, und es scheint, daß dieser Umstand bislang nicht als Deside-rat erkannt worden ist. Saarfrage oder EVG-Krise werden bis heute alszentrale Konfliktfelder auf dem Weg zum Freundschaftsvertrag benanntund intensiv erforscht. Die – um mit Adenauer zu sprechen – »leidigeKriegsverbrecherproblematik« wird dagegen selbst in neueren Studien zuden deutsch-französischen Beziehungen, so beispielsweise in der mate-rialreichen Arbeit von Ulrich Lappenküper, auf »atmosphärische Störun-gen« reduziert und als Fußnote der Nachkriegsgeschichte bewertet12.

Die Fragen, die den Anstoß für die vorliegende Arbeit bildeten, habensich deshalb in einem anderen Diskussionszusammenhang entwickelt. Esist die neuere Forschung zur Frühgeschichte der Bundesrepublik, die die

11 Vgl. die Bibliographie von Manach u. a., France-Allemagne. Den Versuch einerGesamtdarstellung der deutsch-französischen Beziehungen in der Nachkriegszeitunternahm Anfang der siebziger Jahre erstmals Gilbert Ziebura, Deutsch-franzö-sische Beziehungen. Grundlegend jetzt die umfangreiche quellengestützte Studievon Lappenküper, Deutsch-französische Beziehungen.

12 Vgl. ebenda, Bd. 1, S. 118.

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Frage der deutschen Kriegsverbrecher als Kernproblem der Geschichteder Westintegration benannt hat. Eine erste Annäherung an das Themaunternahm Mitte der neunziger Jahre Ulrich Brochhagen, der die Zu-sammenhänge zwischen Westintegration und Vergangenheitsbewälti-gung in der Ära Adenauer untersuchte und die Auseinandersetzungenum Kriegs- und NS-Verbrecher, die von alliierten Gerichten verurteiltworden waren, einer neuen Bewertung unterzog13.

Brochhagen konnte zeigen, daß die Forderungen nach einer Amnestiefür Kriegsverbrecher, die Anfang der fünfziger Jahre die Verhandlungenum den Generalvertrag begleiteten, von den Alliierten mit größter Zu-rückhaltung aufgenommen wurden. Während aber die britische und dieamerikanische Besatzungsmacht, so das Ergebnis seiner Studie, unterdem Eindruck des Ost-West-Konflikts zu gewissen Zugeständnissen anden künftigen NATO-Partner bereit gewesen seien, habe die intransigen-te Haltung Frankreichs zu Konflikten mit der Bundesregierung und denBündnispartnern geführt14.

In seiner grundlegenden Studie zur Vergangenheitspolitik der frühenBundesrepublik hat Norbert Frei schließlich die politischen Auseinan-dersetzungen um die »Liquidierung« der alliierten Säuberungen unter-sucht. Insbesondere Adenauers Koalitionspartner FDP und DP hätten,so Frei, Anfang der fünfziger Jahre das Schicksal der »Kriegsverurteilten«mit der Frage der deutschen Wiederbewaffnung zu verknüpfen versucht.Der vergangenheitspolitische Erwartungsdruck der deutschen Wähler seiauch von den großen Volksparteien CDU und SPD aufgenommen wor-den und habe den Forderungen nach Gnade selbst für schwerbelasteteTäter erhebliche Breitenwirkung verschafft15.

Während sich die deutsche Zeitgeschichtsforschung also seit einigenJahren mit der Geschichte der Nachkriegsprozesse auseinandersetzt, sinddiese in Frankreich bislang kaum bearbeitet worden16. Lediglich zumOradour-Prozeß liegen – neben der grundlegenden Studie der amerika-nischen Historikerin Sarah Farmer17 – einige Aufsätze in französischerSprache vor18. Im Zentrum von Farmers Untersuchung, die methodisch

13 Vgl. Brochhagen, Nach Nürnberg.14 Vgl. ebenda, S. 128-150.15 Vgl. Frei, Vergangenheitspolitik.16 So auch das Ergebnis von Farcy / Rousso, Justice, répression et persécution.17 Vgl. Farmer, Oradour-sur-Glane.18 Vgl. Barral, Affaire d’Oradour; Rioux, Procès d’Oradour; Kappelhoff-Lançon,

Procès d’Oradour.

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an die Arbeiten Pierre Noras angelehnt ist19, steht die Frage nach demUmgang mit der Erinnerung an das wohl traumatischste deutscheKriegsverbrechen in Frankreich, das im Juni 1944 mehr als 600 Men-schen – Männer, Frauen und Kinder – das Leben kostete.

Allein der Umgang der französischen Nachkriegsrepublik mit den be-lasteten Funktionseliten des Vichy-Regimes ist bereits seit den fünfzigerJahren untersucht worden. Neben den beiden älteren Standardwerkenvon Robert Aron20 und Peter Novick21 sind seit der Öffnung der Archivein den letzten Jahren zahlreiche Spezial- und Regionalstudien publiziertworden22. Herausragende Bedeutung kommt in diesem Zusammenhangden Arbeiten des Pariser Zeithistorikers Henry Rousso zu, der seit denachtziger Jahren die Nachgeschichte von Vichy intensiv erforscht hat.Seine Arbeiten bieten grundlegende Einsichten über den Umgang Frank-reichs mit der Erinnerung an die années noires und ein Periodisierungs-konzept, das den Untersuchungszeitraum der vorliegenden Studie in vierPhasen gliedert: Auf eine Phase intensiver Auseinandersetzung mit denKriegsjahren, die bis Mitte der fünfziger Jahre angedauert habe (I), seienJahre der Verdrängung gefolgt (II). Ende der sechziger Jahre sei mit demRücktritt von Staatspräsident Charles de Gaulle eine öffentliche Debatteüber die verdrängte Vergangenheit aufgenommen worden (III), die nochheute geführt werde und zunehmend obsessive Züge trage (IV)23.

Die französische Kriegsverbrecherpolitik in Nürnberg ist bislang eben-falls kaum untersucht worden. In einer neueren Veröffentlichung vertritt

19 Vgl. Lieux de mémoire. Im Kontext der Erinnerungskultur haben sich histori-sche Studien in den vergangenen Jahren intensiv mit der Frage nach dem »kol-lektiven Gedächtnis« von Gesellschaften oder Nationen auseinandergesetzt. Mitden dreibändigen französischen »Erinnerungsorten« liegt für den französischenSprachraum ein Werk vor, das den Anspruch erhebt, das gesellschaftliche Be-wußtsein von französischer Nationalgeschichte mit Hilfe zentraler Orientie-rungspunkte erfassen zu können. Materielle und ideelle Erinnerungsorte – Ge-denkfeiern, Denkmäler, Mythen und Rituale, aber auch ›herausragende‹ Persön-lichkeiten, Gegenstände oder geschichtliche Ereignisse – bilden, so Nora, einengmaschiges Netz der oft heftig umkämpften Bezugspunkte der französischenNation. Vgl. Nora, Mémoire et histoire.

20 Vgl. Aron, Histoire de l’épuration.21 Vgl. Novick, Epuration française.22 Vgl. D’Abzac-Epezy, Armée de l’Air; Baudot, Epuration; Berlière, Epuration de

la police parisienne; Gailladt, Epuration dans les Bouches-du-Rhône; Hazan,Représentations de la persécution des Juifs dans les procès d’épuration; Olivier,Epuration des femmes; Rouquet, Epuration dans l’administration.

23 Vgl. Rousso, Syndrome de Vichy.

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die französische Forscherin Annette Wieviorka die These, Regierungs-chef Charles de Gaulle habe die Beteiligung Frankreichs am NürnbergerProzeß in erster Linie aus Prestigegründen durchgesetzt24. Imke Nien-haber, die als DAAD-Stipendiatin in französischen Archiven geforschthat, glaubt sogar nachweisen zu können, daß die Regierung de Gaulle diefranzösischen Juristen in Nürnberg ausdrücklich zu Zurückhaltung auf-gefordert habe, um eine Diskussion über die Verstrickung von Verwal-tung und Polizei in die NS-Verbrechen auf französischem Boden zuumgehen25.

Ähnliche Vermutungen leiten auch Ulrich Herbert, der im Rahmeneiner biographischen Studie über Werner Best, einen der führenden Köpfedes Berliner Reichssicherheitshauptamts, auf die französischen Kriegsver-brecherprozesse aufmerksam gemacht hat26. Ausgerechnet Best, zwischen1940 und 1942 Leiter der Verwaltungsabteilung beim Militärbefehlshaberin Paris und in dieser Funktion für das gesamte Polizeiwesen zuständig,sei in Frankreich nach dem Krieg strafrechtlich nicht zur Verantwortunggezogen worden. Herbert vermutet, Frankreich habe auf den Prozeß ver-zichtet, weil zu befürchten stand, daß in dem Verfahren die Kollabora-tion der französischen Polizei zur Sprache kommen werde27. Vor demHintergrund des mit großem Aufwand betriebenen Verfahrens gegenOberg und Knochen bedürfen solche Hypothesen einer sorgfältigenÜberprüfung.

Es ist wichtig, sich an dieser Stelle in Erinnerung zu rufen, daß die Er-forschung der deutschen Besatzungszeit in Frankreich, die mit dergrundlegenden Studie von Eberhard Jäckel lange Zeit als erschöpfend be-handelt galt28, seit kurzem erneut in Bewegung geraten ist. Die von demStuttgarter Zeithistoriker implizit vertretene Annahme, im Westen habedie deutsche militärische Führung das geltende Kriegsvölkerrecht respek-tiert, ist in den letzten Jahren verstärkt hinterfragt worden. Neuere Pu-blikationen haben eine Debatte über die Besatzung im Westen in Gang

24 Vgl. Wieviorka, Procès de Nuremberg.25 Imke Nienhaber hat ihre Göttinger Magisterarbeit auf einer gemeinsamen

Tagung des Centre Marc Bloch, des Centrum Judaicum und des Einstein-Fo-rums über »Die juristische und historische Aufarbeitung der Shoa in Deutsch-land und Frankreich« vorgestellt, die vom 25. bis 27. Januar 1998 in Berlin undPotsdam stattgefunden hat. Ein Teil der Vorträge liegt inzwischen auch gedrucktvor. Vgl. Génocide des juifs entre procès et histoire.

26 Vgl. Herbert, Best.27 Vgl. ebenda, S. 406 f.28 Vgl. Jäckel, Frankreich in Hitlers Europa.

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gesetzt, die noch lange nicht als abgeschlossen gelten kann. WährendUlrich Herbert29 und Regina Delacor30 insbesondere die Verantwortungdes Militärbefehlshabers für die Deportationen herausgearbeitet haben,verfolgt die Studie des Oldenburger Politologen Ahlrich Meyer das Ziel,die bislang nur in Ansätzen erforschten Zusammenhänge zwischen Wi-derstandsbekämpfung und Judenverfolgung in Frankreich zu untersu-chen31.

Trotz anfänglicher Rücksichtnahmen auf die französische Zivilbevöl-kerung und gewisser Bedenken der militärischen Führungselite gegen dieAnwendung »polnischer Methoden« im Westen habe die deutsche Füh-rung, so Meyer, auch in Frankreich einen Weltanschauungskrieg geführt.Die Entscheidung des Militärbefehlshabers, Attentate auf deutsche Sol-daten seit Herbst 1941 mit massiven Deportationen von »Juden undKommunisten« zu beantworten, illustriere ebenso wie die Schauprozessegegen kommunistische Widerstandskämpfer, daß der Alltag im besetztenFrankreich nicht vorrangig von militärstrategischen Prämissen, sondernvor allem von ideologischen Überzeugungen bestimmt gewesen sei. Wersich mit diesem zentralen Kapitel der deutsch-französischen Geschichtebeschäftigt, ist fortan gezwungen, alte Thesen und vertraute Interpreta-tionsmuster über die deutsche Okkupationspolitik in Frankreich kritischzu überdenken. Der Forschungsbedarf zu den deutschen Kriegsver-brechen in Frankreich – zur militärischen Befehlslage, den Hintergrün-den, Abläufen und Opferzahlen – bleibt jedoch weiterhin groß und dieBewertung der französischen Kriegsverbrecherprozesse entsprechendschwierig.

III.

Die Quellenlage zur Geschichte der französischen Kriegsverbrecher-prozesse kann – mit einer wichtigen Einschränkung, die die Akten derfranzösischen Militärjustiz betrifft – insgesamt als gut bezeichnet werden.Einen ersten Einblick in die oft dramatischen politischen Auseinander-setzungen um die deutschen Kriegsverbrecher bieten die Stenogra-phischen Berichte der Abgeordnetenhäuser in Bonn und Paris. Die ein-schlägigen Überlieferungen im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtsund im Archiv des französischen Außenministeriums am Quai d’Orsay

29 Vgl. Herbert, Militärverwaltung und Deportation.30 Vgl. Delacor, Attentate und Repressionen.31 Vgl. Meyer, Deutsche Besatzung.

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bilden eine unverzichtbare Quelle dafür, in welcher Weise die meistgegensätzlichen Forderungen der französischen und deutschen Parlamen-tarier in außenpolitisches Handeln umgesetzt und auf Regierungsebeneverhandelt worden sind.

Der hohe Stellenwert der Kriegsverbrecherfrage äußerte sich in derunmittelbaren Nachkriegszeit in der Einrichtung eigener Dienststellen:In Bonn wurde mit Gründung der Bundesrepublik die Zentrale Rechts-schutzstelle (ZRS) tätig, die zunächst im Justizministerium und späterbeim Auswärtigen Amt ressortierte. Jahrelang haben die Mitarbeiter derZRS laufende Verfahren im Ausland begleitet, Ermittlungsakten, Rechts-gutachten und Prozeßprotokolle gesammelt, die Verteidigung der Ange-klagten organisiert und sich für ihre Begnadigung eingesetzt. Die Aktender ZRS geben somit einen aufschlußreichen Einblick in das Selbst-verständnis einer staatlichen Behörde, die sich mit größtem Einsatz für»Kriegsverurteilte in fremdem Gewahrsam« – so der gängige Terminus –einsetzte, darunter schwerbelastete Täter wie den Höheren SS- undPolizeiführer Carl Oberg. Darüber hinaus hat der frei zugänglicheBestand im Bundesarchiv Koblenz vor allem zu Beginn der Archivarbeiteinen schnellen Zugriff auf französische Gerichtsakten ermöglicht.

Für die Erforschung der bundesdeutschen Ermittlungsverfahren sinddagegen die Akten der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen inLudwigsburg von besonderem Interesse. Das Aktenstudium in den Räu-men der bis heute arbeitenden Ludwigsburger Behörde, die seit 1958 mitder Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in den besetzten Län-dern beauftragt war, ist wohl für jeden Historiker ein intensives Er-lebnis32. Die überaus dichte Überlieferung zum Frankreich-Komplex inLudwigsburg lehrt, die Akten der deutschen Besatzungsbehörden mitden Augen der ermittelnden Juristen zu lesen und ein feines Sensoriumfür apologetische Deutungen und die immer gleichen Entlastungsar-gumente der Beschuldigten zu entwickeln, die im Mittelpunkt der in densechziger Jahren eingeleiteten bundesdeutschen Ermittlungsverfahren stan-den.

Auf französischer Seite ist insbesondere der umfangreiche BestandService de recherche des crimes de guerre ennemis (SRCGE) von großer Be-deutung. Die Akten des SRCGE im Pariser Justizministerium, wo in denJahren 1944 bis 1948 die Vorermittlungen gegen deutsche Kriegsver-brecher zentral geführt wurden, bieten wichtige Einblicke in regierungs-

32 Zur Gründungsgeschichte der Zentralen Stelle vgl. jetzt die Studie von Marc vonMiquel, Ahnden oder amnestieren?

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interne Entscheidungsprozesse und gesetzgeberische Maßnahmen. Nebenden hier fast vollständig überlieferten Protokollen der interministeriellenKriegsverbrecherkommission erwies sich die Korrespondenz des SRCGEmit der Militärjustizverwaltung als wichtige Quelle für die zentrale Fragenach der praktischen Umsetzung der französischen Kriegsverbrecher-politik.

Schließlich sind für die vorliegende Arbeit Militärgerichtsakten imDépôt Central des Archives de la Justice Militaire in größerer Zahl ausge-wertet worden, die üblicherweise einer Sperrfrist von 100 Jahren unter-liegen. Neben Anklageschriften und Urteilen enthalten sie Verhörproto-kolle und Zeugenaussagen sowie die Korrespondenz der ermittelndenBehörden. Dabei ist die Auswahl der Fallbeispiele bis zuletzt auch davonabhängig geblieben, welche Ermittlungsakten vom französischen Vertei-digungsministerium zur Einsichtnahme freigegeben werden würden. DieArchivverwaltung in Le Blanc hat sich schließlich kooperativ gezeigt,doch von einer abschließenden Behandlung des Untersuchungsgegen-standes kann an dieser Stelle noch nicht gesprochen werden. Erst dann,wenn die Gesamtheit der Prozeßakten für die Forschung zugänglich seinwird, werden die hier vorgestellten Thesen und Ergebnisse auf ihre Trag-fähigkeit überprüft werden können.

IV.

Die Arbeit ist, einer chronologischen Gliederung folgend, in drei Haupt-kapitel unterteilt. Dabei wird die Darstellung der politikgeschichtlichenZusammenhänge durch exemplarisch ausgewählte Einzelfallstudien er-gänzt. Nach einem knappen Überblick über vier Jahre deutscher Besat-zung in Frankreich (Kapitel I) werden im zentralen Teil der Arbeit diefranzösischen Militärgerichtsverfahren untersucht (Kapitel II). Dabeisteht zunächst die bislang kaum erforschte Kriegsverbrecherpolitik derfranzösischen Résistance in London und Algier im Mittelpunkt der Be-trachtung. Der Frage nach den treibenden Kräften wird in diesem Zu-sammenhang ebenso nachgegangen wie der Entstehungsgeschichte dergrundlegenden »Verordnung über die Strafverfolgung von Kriegsverbre-chen der Feindmächte« aus dem Jahr 1944. Das folgende Kapitel geht derUmsetzung und Anwendung dieser Verordnung in den Jahren 1944 bis1946 und den Besonderheiten dieser Umbruchsphase nach.

Die Veränderungen der französischen Kriegsverbrecherpolitik »nachNürnberg« werden vor dem Hintergrund des beginnenden Ost-West-Konflikts seit 1947 analysiert. Neben den alliierten Konflikten um die

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Auslieferung, die eine wichtige Zäsur im Jahr 1947 begründen, wird andieser Stelle die Politisierung der Kriegsverbrecherfrage seit Gründungder Bundesrepublik untersucht. Eingehend werden insbesondere zweigroße Verfahren – der Prozeß gegen die Täter des Massakers in Oradourund gegen den Höheren SS- und Polizeiführer Oberg – in den Blick ge-nommen. Es folgt abschließend die Entstehungsgeschichte des franzö-sischen Gesetzes über die Unverjährbarkeit von Verbrechen gegen dieMenschlichkeit vom Dezember 1964, das im Kontext der bundesdeut-schen Verjährungsdebatte analysiert wird.

Der letzte Teil der Studie ist schließlich den späten NS-Verfahrengegen Frankreich-Täter gewidmet, die seit den sechziger Jahren in derBundesrepublik geführt wurden (Kapitel III). Ausgehend von einem Ein-zelfall, dem Hempen-Prozeß, wird die langwierige und komplizierteEntstehungsgeschichte des deutsch-französischen Zusatzabkommens un-tersucht, das die bis weit in die siebziger Jahre hineinreichenden Wider-stände bei der Ahndung von NS-Verbrechen beispielhaft vor Augenführt. Somit versteht sich die Arbeit auch als Studie über Folgen undWirkungen der Kontinuität von NS-Eliten in der BundesrepublikDeutschland.

*

Die vorliegende Studie wurde im Sommersemester 2002 von der Fakultätfür Geschichtswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum als Dissertationangenommen und für den Druck anschließend überarbeitet. NorbertFrei hat bei der Suche nach dem Thema die entscheidenden Anstöße ge-geben und die Arbeit schließlich über viele Jahre betreut. Dafür möchteich ihm danken, ebenso wie meinem Zweitgutachter, Henry Rousso inParis, der sich immer wieder Zeit für klärende Gespräche genommenund darüber hinaus wichtige Kontakte vermittelt hat.

Unterstützt wurde ich in diesen Jahren von der VolkswagenStiftung,die mir im Rahmen des Projekts »Ahndung, Verjährung, Amnestie. Stu-dien zur strafrechtlichen Verfolgung von Kriegs- und NS-Verbrechen inDeutschland und Frankreich 1945-1969« zwei Jahre lang ein Doktoran-denstipendium gewährte und die Drucklegung der Arbeit förderte. Fürdie Finanzierung der aufwendigen Archivreisen in Frankreich danke ichdem Deutschen Historischen Institut Paris und dem Deutschen Aka-demischen Auslandsdienst. Danken möchte ich auch den Mitarbeiternder besuchten Archive und Bibliotheken, insbesondere des Centre de laMémoire d’Oradour und des Instituts für Zeitgeschichte. Mein besonderer

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Dank gilt dort Hans Woller; wenn aus einem schwerfälligen Text schließ-lich ein lesbares Buch geworden ist, so ist dies vor allem seinem kritischenBlick auf mein Manuskript geschuldet.

Bernhard Brunner, Dirk Pöppmann und Peter Lieb haben sich zeit-weise mit ähnlichen Fragen beschäftigt. Ihnen verdanke ich wichtigeAnregungen, ebenso wie Beate und Marc von Miquel und Dietmar Süß,die mich in diesen Jahren auch als gute Freunde begleitet haben. Am Hi-storischen Seminar in München hat mir Hans Günter Hockerts den not-wendigen Freiraum eingeräumt, um die Überarbeitung des Manuskriptsabschließen zu können; dafür danke ich ihm und den Mitarbeitern sei-nes Lehrstuhls. Den Mühen der Schlußkorrektur hat sich Reinhild Kreisunterzogen. Julia und Markus, Régis und Emile sind in diesen Jahrenmein Zuhause gewesen. Gewidmet aber ist das Buch meinen Eltern,denen ich auf diesem Weg für ihr Vertrauen, ihre Geduld und uner-schöpfliche Gesprächsbereitschaft danken möchte.

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I. Vom Waffenstillstand zur Befreiung:Die deutsche Besatzung und das Vichy-Regime

(1940 bis 1944)

Als der radikalsozialistische Ministerpräsident Edouard Daladier am30. September 1938 von der Münchner Konferenz nach Paris zurückkehr-te1, schlug ihm große Erleichterung entgegen2. Fast geschlossen stimmtendie französischen Parlamentarier für das Vertragswerk, einzig die kom-munistische Partei kritisierte das Münchner Abkommen3. Auch bei denpolitisch einflußreichen Anciens Combattants fand der Ausgang derdramatischen Verhandlungen vorbehaltlose Unterstützung4. »Feige Er-leichterung«, so charakterisierte der ehemalige Premierminister LéonBlum den Gefühlszustand seiner Zeitgenossen5. Die große Zustimmung,die französische Politiker für ihre Appeasementpolitik in weiten Kreisender Bevölkerung auch noch im Herbst 1938 erfuhren, war nur vor demHintergrund der kollektiven Angst vor einer Wiederholung des Massen-sterbens im Ersten Weltkrieg zu erklären6. Bereits im ersten Kriegsjahrwaren 400 000 französische Soldaten gefallen, am Ende hatte die Repu-blik 1,3 Millionen Tote zu beklagen7. Die Kriegsversehrten prägten in denfolgenden Jahren nicht nur das Straßenbild, sondern auch das politischeBewußtsein einer ganzen Generation8.

In der Bildsprache der Mahnmale, die in Frankreich Anfang der zwan-ziger Jahre in fast jeder Gemeinde zum Gedenken an die Toten des Ersten

1 Vgl. Daladier, Chef du gouvernement, S. 209-227. »Radikal« war die Partei Dala-diers allein in ihrem kompromißlosen Bekenntnis zur Trennung von Staat undKirche und in ihrer Zustimmung zur republikanischen Staatsform. Vgl. Berstein,Parti radical-socialiste.

2 Zur Reaktion der französischen Öffentlichkeit auf das Münchner Abkommenvgl. Lacaze, Opinion publique.

3 AdaP, Serie D, Bd. 4, S. 379 f.4 Vgl. Prost, Anciens Combattants. Histoire, S. 193-200.5 Lacouture, Léon Blum, S. 434 f.6 Zur französischen Sicherheitspolitik in den dreißiger Jahren vgl. Deutschland

und Frankreich. Vom Konflikt zur Aussöhnung, S. 139-177.7 Diese Zahlen nach Bernard, Fin d’un monde, S. 108 f.8 Zum »europäischen Nachkrieg« vgl. Berghahn, Untergang des alten Europa,

S. 127-189.

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Weltkriegs errichtet wurden, waren die widerstreitenden Schlußfolge-rungen präsent, die französische Politiker aus dem Massensterben gezo-gen hatten9. Von weinenden Müttern und friedenmahnender religiöserSymbolik bis hin zu siegesfrohen »Mariannen« und martialisch gerüste-ten Kriegshelden reichten die Stein gewordenen Ausdrucksformen derkollektiven Trauer einer ganzen Nation. Für die Entscheidung der Regie-rung, den 11. November 1918, an dem in Compiègne der Waffenstillstandunterzeichnet worden war, zum staatlichen Feiertag zu erklären, herrschteüber parteipolitische und ideologische Gräben hinweg uneingeschränkteZustimmung10. Es war la Grande Guerre, der fortan den Ausgangspunktfür alles Nachdenken über den Umgang mit dem deutschen Nachbarnbilden sollte11.

Mit dem Angriff auf Polen am 1. September 1939 war schlagartig klar-geworden, daß die Politik der Verständigung mit Hitler gescheitert undein neuer Krieg unvermeidbar war. Auf die französische Kriegserklärungvom 3. September folgten lange Monate untätigen Wartens. »Drôle deguerre«, einen merkwürdigen Krieg, nannten die Zeitgenossen den »Sitz-krieg« entlang der vermeintlich uneinnehmbaren Maginot-Linie12. An-fang Mai 1940 überrannten die deutschen Truppen dann in nur sechsWochen die einst mächtige Armee und besetzten am 14. Juni 1940 diefranzösische Hauptstadt13. Paul Reynaud von der Demokratischen Al-lianz, der Daladier im März 1940 als Ministerpräsident abgelöst hatte,und sein Kabinett hatten Paris am 10. Juni in Richtung Bordeaux verlas-sen14. Am 16. Juni kündigte Reynaud, der sich in den hitzigen Debatten

9 Vgl. Prost, Monuments aux morts; Becker, Monuments aux morts.10 Vgl. Rousso, Syndrome de Vichy, S. 254. Ergänzend die Fallstudie von Bourdin,

Les Anciens Combattants et la Célébration du 11 novembre 1938. Bis heute ist inFrankreich der 11. November ein staatlicher Feiertag.

11 Vgl. zusammenfassend Hüser, Frankreichs doppelte Deutschlandpolitik, S. 45-51.12 Vgl. zusammenfassend Bédarida, Huit mois d’attente; Heimsoeth, Zusammen-

bruch der Dritten Französischen Republik.13 Vgl. Les Armées Françaises pendant la seconde guerre mondiale. Die Führungs-

fehler des französischen Generalstabs betonen Crémieux-Brilhac, France de l’an40; Azéma, L’année terrible. Vgl. dagegen den Essay des im Widerstand engagier-ten Annales-Historikers Marc Bloch, der weniger die taktischen Versäumnisseder Armee untersucht als den Versuch unternimmt, die mentalen und bildungs-geschichtlichen Ursachen für den Defätismus der militärischen Führung zuanalysieren, Ders., Seltsame Niederlage. Eine wertvolle Interpretationshilfe zuBlochs Essay bietet die Studie von Ulrich Raulff, Ein Historiker im 20. Jahrhun-dert, S. 31-65.

14 Vgl. Paxton, France de Vichy, S. 15-58.

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mit seinem Plädoyer für eine Fortführung der Kampfhandlungen nichthatte durchsetzen können, seinen Rücktritt an15. Nur Stunden später er-suchte sein Nachfolger Marschall Philippe Pétain, der greise Kriegsheldvon Verdun, die deutsche Regierung um ihre Waffenstillstandsbedin-gungen. Für die Neuordnung Europas nach dem erwarteten deutschenSieg glaubte Pétain mit diesem Entgegenkommen seinem Land eine gün-stige Ausgangsposition zu verschaffen.

Am 22. Juni 1940 unterzeichneten im Wald von Compiègne, wo 1918

die deutsche Niederlage besiegelt worden war, der französische GeneralCharles Huntziger und der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht(OKW), Generaloberst Wilhelm Keitel, nach nur zwei Verhandlungs-tagen das deutsch-französische Waffenstillstandsabkommen16. Die Bedin-gungen waren härter, als die französische Regierung erwartet hatte. DieDeutschen verlangten die umgehende Einstellung der Kampfhandlun-gen, die Waffenniederlegung und Demobilmachung der französischenVerbände, die Auslieferung von Kriegsgerät, Kriegsflugzeugen und Mu-nition. Sie bestanden darüber hinaus auf weitreichenden Eingriffen indie inneren Angelegenheiten des Landes, die unter anderem das franzö-sische Asylrecht vollständig außer Kraft setzten. Betroffen waren davoninsbesondere deutsche und österreichische Emigranten, die in den drei-ßiger Jahren in Frankreich Schutz vor dem nationalsozialistischen Un-rechtsregime gesucht hatten. Sie waren nicht mehr sicher, seit Huntzigersein schriftliches Einverständnis gegeben hatte, »alle in Frankreich sowiein den französischen Besitzungen, Kolonien, Protektoratsgebieten undMandaten befindlichen Deutschen, die von der Deutschen Reichsregie-rung namhaft gemacht werden, auf Verlangen auszuliefern«17.

Vor allem aber teilte das Abkommen Frankreich in ein »besetztes« Ge-biet im Norden und entlang der Atlantikküste sowie ein »unbesetztes«Gebiet im Süden, das zum Zeitpunkt der Verhandlungen für den Kriegs-verlauf strategisch kaum von Bedeutung war. Die Regierung Pétainmußte sich verpflichten, »alle französischen Behörden und Dienststellendes besetzten Gebietes […] unverzüglich anzuweisen, den Anordnungen

15 Vgl. Grüner, Reynaud, S. 317-349, der eine differenzierte Analyse des Regie-rungshandelns Reynauds in den Krisenmonaten Mai und Juni 1940 vorlegt.

16 Vgl. AdaP, Serie D, Bd. 9, S. 554-558. Über die Waffenstillstandsverhandlungennoch immer grundlegend Jäckel, Frankreich in Hitlers Europa, S. 32-45.

17 Die Auseinandersetzungen um diesen Paragraphen untersuchte zuletzt ReginaDelacor in einer Fallstudie zur Auslieferung der sozialdemokratischen Exilpoliti-ker Rudolf Breitscheid und Rudolf Hilferding. Vgl. Dies., »Auslieferung aufVerlangen«?, S. 218-220, hier S. 218.

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der deutschen Militärbefehlshaber Folge zu leisten und in korrekter Weisemit diesen zusammenzuarbeiten«18.

Es war eine keineswegs zwangsläufige Entwicklung, daß auf die militä-rische Niederlage nur wenige Wochen später auch der Zusammenbruchdes politischen Systems folgte. Nicht die deutschen Besatzer, sonderndie französischen Parlamentarier und Senatoren selber beschlossen am10. Juli 1940 das endgültige Ende der Dritten Republik19. Im Casino vonVichy, das als provisorisches Abgeordnetenhaus fungierte, setzten sie dieVerfassung außer Kraft und übertrugen Pétain mit einer Mehrheit von569 zu 80 Stimmen bei 20 Enthaltungen die »pleins pouvoirs«. In ihrerWirkung war diese Entscheidung mit der Selbstentmachtung des deut-schen Parlaments durch das »Ermächtigungsgesetz« vom 23. März 1933

vergleichbar20.Die Entscheidung der Regierung für eine enge Zusammenarbeit mit

den Besatzern wurde somit innenpolitisch von intensiven und von einerbreiten parlamentarischen Mehrheit getragenen Anstrengungen flan-kiert, mit den demokratischen Traditionen der französischen Republikzu brechen. Die Etablierung einer vermeintlich ursprünglichen, vorrevo-lutionären Sozialordnung, die sich die Regierung Pétain auf ihre Fahnenschrieb und unter dem Schlagwort »Nationale Revolution« propagierte,war untrennbar mit repressiven Maßnahmen gegen vermeintliche gesell-schaftliche Außenseiter verknüpft. Zu den ersten, die von den diskrimi-nierenden Gesetzen der Regierung Pétain betroffen waren, gehörten dieFreimaurer. Bereits am 13. August 1940 wurden die Freimaurer-Logen,die als Hort des Antiklerikalismus galten, aufgelöst21. Rund 60 000 Frei-maurer wurden von den Behörden registriert und annähernd 1 000 Per-sonen deportiert; mehr als die Hälfte von ihnen sollte die Lagerhaft nichtüberleben22.

Der Parti Communiste Français (PCF) war durch einen Minister-ratsbeschluß bereits mit Kriegsbeginn, am 26. September 1939, verbotenworden23. Unter Pétain wurden die repressiven Maßnahmen fortgeführt,

18 AdaP, Serie D, Bd. 9, S. 555.19 Vgl. Paxton, France de Vichy, S. 15-58; ergänzend die Spezialstudie zu den 80

»Aufrechten« von Sagnes, Refus républicain. Als Beitrag zum Verständnis derKrise des parlamentarischen Regierungssystems in den dreißiger Jahren verstehtRoman Schnur seine komparatistische Studie über das »Ende einer Republik«.

20 Vgl. Frei, Führerstaat, S. 54 f.21 Vgl. Halls, Politics, Society and Christianity in Vichy France, S. 58-61.22 Vgl. Rossignol, Vichy et les francs-maçons, S. 214.23 Vgl. Communistes Français de Munich à Châteaubriant, S. 145-198.

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obwohl die Kommunisten im Widerstand noch nicht aktiv engagiertwaren. Die Partei, der durch das Bündnis zwischen Hitler und Stalinvom 23. August 1939 die Hände gebunden waren, hatte ihre Mitgliederzunächst zum Stillhalten aufgefordert. Erst der Angriff auf die Sowjet-union am 22. Juni 1941 sollte eine Wende einleiten und den Beginn einerorganisierten kommunistischen Résistance markieren24.

Besonders dramatische Folgen aber hatten die »Judengesetze«, die dieRegierung Pétain Anfang Oktober 1940 verabschiedete. Mit dem Statutdes Juifs vom 3. Oktober 1940 betrieb die mehrheitlich antisemitisch ein-gestellte Machtelite Vichys gezielt die Ausgrenzung der Juden aus derfranzösischen Gesellschaft25. Wie in den Nürnberger Gesetzen wurde dieZugehörigkeit zur jüdischen Religionsgemeinschaft nach rassischen Kri-terien definiert. Von den Judengesetzen waren somit zahlreiche Personenbetroffen, die sich im eigenen Selbstverständnis der jüdischen Religions-gemeinschaft nicht zugehörig fühlten. Die Ausübung bestimmter Berufeund insbesondere die Wahrnehmung leitender Funktionen in Redaktio-nen und Verlagen, in Armee, Justiz und im Unterrichtswesen war allen,die auf Grund der neuen Rechtslage als Juden galten, fortan untersagt.Lediglich verdiente Veteranen konnten Ausnahmen von dieser Regelgeltend machen26.

Den deutschen Besatzern waren diese Maßnahmen von Anfang annicht weitreichend genug. Bereits im Sommer 1940 hatten Robert Wag-ner und Josef Bürckel, die Chefs der Zivilverwaltungen im Elsaß und inLothringen, die Abschiebung der jüdischen Bevölkerung über die De-markationslinie verlangt27. Von den »Säuberungen« im Rahmen der»Germanisierungspolitik« in den elsässisch-lothringischen Départementswaren mindestens 22 000 französische und mehr als 6 500 Juden aus denangrenzenden badischen und saarpfälzischen Gebieten betroffen28.

Für die besetzte Zone hatte eine Verordnung des Militärbefehlshabersvom 27. September 1940 eine Meldepflicht eingeführt29. Seit dem 18. Ok-

24 Vgl. Baruch, Vichy-Regime, S. 135.25 Vgl. grundlegend Paxton, France de Vichy, S. 171-182.26 Vgl. Baruch, Vichy-Regime, S. 50.27 Vgl. Kettenacker, Nationalsozialistische Volkstumspolitik, S. 249-267.28 Vgl. Herbert, Best, S. 265.29 Vgl. Hilberg, Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 2, S. 649. Zum Départe-

ment Charente-Inférieure in der besetzten Zone liegt eine Fallstudie vor. Vgl.Guéraiche, Administration et répression sous l’occupation.

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tober 1940 mußte die Leitung »jüdischer Betriebe« in die Hände »ari-scher« Treuhänder übergeben werden30. Wenige Monate später, im März1941, gab Pétain schließlich den massiven Forderungen von TheodorDannecker, »Judenberater« beim Kommandeur der Sicherheitspolizei inParis, nach einer zentralen Dienststelle für Judenfragen nach31. Das Com-missariat Général aux Question Juives (CGQJ) in Vichy war ein ersterSchritt auf dem Weg zu einer einheitlichen Behandlung der »Judenfrage«in der besetzten wie auch der unbesetzten Zone. Zum Leiter der neuenBehörde ernannte die Regierung den notorischen Antisemiten XavierVallat32, dessen verbaler Angriff auf den sozialistischen PremierministerLéon Blum am 6. Juni 1936 in das historische Gedächtnis der DrittenRepublik eingegangen war33. Innerhalb weniger Wochen erarbeitetenVallats Mitarbeiter ein neues »Judengesetz«, das am 2. Juni 1941 verab-schiedet wurde34. Nachdem jüdische Bürger bereits im Jahr zuvor ausstaatlichen Funktionen ausgeschlossen worden waren, führte das zweiteGesetz nun auch einen Numerus clausus für freie Berufe ein, der die Zahljüdischer Anwälte, Ärzte und Studenten begrenzte. Damit war der »jü-dischen« Bevölkerung nahezu jede Beteiligung am französischen Wirt-schafts- und Gesellschaftsleben unmöglich geworden.

Die Anwendung nicht nur der französischen Gesetze, sondern auchder deutschen Verordnungen lag dabei weitgehend in der Hand franzö-sischer Behörden. Daß sich die Regierung Pétain unter dem Eindruckder vollständigen militärischen Niederlage auf unvorteilhafte Waffenstill-standsbedingungen eingelassen hatte, statt – wie beispielsweise die Regie-rungen Belgiens oder der Niederlande – den Weg ins Exil zu wählen, unddie französische Verwaltung ihre Tätigkeit auch im besetzten Paris fort-führte, eröffnete den deutschen Besatzern die Möglichkeit, das gesamteLand mit einem verhältnismäßig geringen Aufwand an Kosten und Per-sonal zu kontrollieren. Gerade einmal 1 200 Offiziere und Beamte stan-den der Militärverwaltung in der besetzten Zone zur Verfügung, um diedeutschen Forderungen in Frankreich durchzusetzen35.

30 Zur »Arisierung« der französischen Unternehmen vgl. Verheyde, Mauvais comptesde Vichy.

31 Vgl. Billig, Commissariat Général aux Questions Juives, Bd. 1, S. 85-93.32 Vgl. Joly, Vallat.33 Vgl. ebenda, S. 153 f.34 Vgl. Paxton, France de Vichy, S. 175.35 Vgl. Herbert, Deutsche Militärverwaltung in Paris, S. 429. Geringfügig höhere

Zahlen zitiert Burrin, France à l’heure allemande, S. 95.

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An der Spitze der deutschen Militärverwaltung stand seit dem 25. Ok-tober 1940 General Otto von Stülpnagel36. Seine Dienststelle war ineinen Kommandostab und einen zweigeteilten Verwaltungsstab geglie-dert. Zum Chef des Kommandostabs wurde Hans Speidel ernannt37, derVerwaltungsstab wurde von Jonathan Schmidt geleitet, ehemals würt-tembergischer Innen- und Wirtschaftsminister, langjähriges Mitglied derNSDAP und Träger des goldenen Parteiabzeichens. Leiter der Abteilung»Wirtschaft« im zweigeteilten Verwaltungsstab wurde Elmar Michel ausdem Reichswirtschaftsministerium; in seinen Arbeitsbereich fielen Fra-gen betreffend »Entjudung« und »Feindvermögen«. Die Abteilung »Ver-waltung«, zuständig insbesondere für das Justiz- und Polizeiwesen, leiteteSS-Brigadeführer Werner Best38. Der Name des Verwaltungsjuristen Bestwar untrennbar mit der Gründung des Reichssicherheitshauptamtes unterReinhard Heydrich verknüpft. Im Sommer 1939 hatten sich die Span-nungen zwischen dem Chef des Reichssicherheitshauptamtes und sei-nem zunehmend eigenständig agierenden Stellvertreter Best verschärft.Sie entluden sich schließlich in einer personalpolitischen Auseinander-setzung über den Führungsnachwuchs der Sicherheitspolizei, in der Bestwenig Interesse an der Förderung verdienter Kämpfer ohne juristischeVorbildung erkennen ließ. In Frankreich hatte Best, dessen Stellung inBerlin unhaltbar geworden war, vorübergehend ein neues Betätigungs-feld gefunden.

Dem Militärbefehlshaber war in der französischen Hauptstadt schonbald Konkurrenz erwachsen. Auch das Auswärtige Amt hatte einen Ver-treter nach Paris entsandt: Otto Abetz, ein enger Mitarbeiter des Reichs-außenministers Joachim von Ribbentrop39. Bereits vor dem Krieg hatteder im badischen Schwetzingen geborene Abetz enge Kontakte nachFrankreich unterhalten. Zunächst als bündischer Jugendführer im Rah-men deutsch-französischer »Jugendaussprachen« engagiert, pflegte er seit1934 Kontakte zu führenden Persönlichkeiten aus den Kreisen der AnciensCombattants40. Zu seinen engen Vertrauten gehörte auch der Journalist

36 Vgl. zum Folgenden die grundlegende Studie von Umbreit, Militärbefehlshaber.Umbreit konnte für seine in den sechziger Jahren publizierte Pionierstudie zahl-reiche Akteure befragen, darunter Werner Best und Helmut Knochen.

37 Vgl. Krautkrämer, Speidel.38 Vgl. die grundlegende Studie von Herbert, Best, S. 251-322.39 Vgl. Jäckel, Frankreich in Hitlers Europa, S. 66-71; jetzt auch die biographische

Studie zu Abetz von Ray, Annäherung, die jedoch mit dem Jahr 1942 abbricht.40 Vgl. ebenda, S. 108-155.

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und Generaldelegierte der französischen Regierung in der besetztenZone, Fernand de Brinon41.

Zu den Abteilungsleitern in der deutschen Botschaft zählte derRechtsprofessor und Anwalt Friedrich Grimm, der sich während derfranzösischen Rheinlandbesetzung in den zwanziger Jahren lautstark fürdeutsche Rheinland-Kämpfer und Freikorps-Mörder engagiert hatte42.Der nachmalige FDP-Abgeordnete Ernst Achenbach43, in den dreißigerJahren zeitweilig Geschäftsführer der »Adolf-Hitler-Spende der deut-schen Wirtschaft«44, leitete die Politische Abteilung der Botschaft. Carl-theo Zeitschel45, sein Referent für »Judenfragen«, stand in engem Kon-takt zu den Mitarbeitern des Reichssicherheitshauptamtes, das in derPerson von Sturmbannführer Helmut Knochen in Paris vertreten war.

Dem Kommandeur der Sicherheitspolizei gelang es innerhalb nur einesJahres, seinen politischen Einfluß systematisch auszubauen. Anläßlichder sogenannten »Synagogenaffäre« im Oktober 1941 mußte Stülpnagelerkennen, daß sich die Machtverhältnisse einschneidend zu seinen Un-gunsten zu verschieben begannen: Auf insgesamt sieben Synagogenwaren am 3. Oktober 1941 in der französischen Hauptstadt Sprengstoff-anschläge verübt worden. Sechs Gebäude wurden vollständig zerstört,zahlreiche Zivilisten und zwei deutsche Soldaten verletzt. Schon nachwenigen Tagen wurde offenkundig, daß es sich bei den Anschlägen kei-neswegs um eine spontane Aktion aus den Reihen der französischen Be-völkerung gehandelt hatte, sondern vielmehr um einen von langer Handvorbereiteten Anschlag unter Beteiligung der Dienststelle Knochens.Stülpnagel forderte die Absetzung von Knochen, dessen Alleingänge dieAutorität des Militärbefehlshabers beschädigen mußten. Heydrich aberstellte sich offen vor seinen Mitarbeiter und ließ erkennen, daß Knochenmit seiner ausdrücklichen Billigung gehandelt hatte. Knochen konnte soseine Position in Paris nicht nur halten, sondern sogar ausbauen. SeineDienststelle – zuvor dem Befehlshaber der Sicherheitspolizei in Nord-frankreich und Belgien unterstellt – wurde Anfang 1942 selbständig46.

41 Vgl. Franz, de Brinon, S. 224-227.42 Vgl. Herbert, Best, S. 450.43 Zu Achenbachs Engagement in den Nachkriegsjahren und seinem »Vorbereiten-

den Ausschuß zur Herbeiführung einer Generalamnestie« vgl. Frei, Vergangen-heitspolitik, S. 106-110 und 256-268; Herbert, Best, S. 444-476.

44 Vgl. Ray, Annäherung, S. 291.45 Vgl. ebenda, S. 370 f.46 Vgl. Umbreit, Militärbefehlshaber, S. 109 f. Ausführlicher, jedoch mit sehr

weitreichenden Schlußfolgerungen über die Bedeutung des Pariser Synagogen-

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Es zeigte sich schon bald, daß Hitler zu keinem Zeitpunkt die Absichthatte, die französische Regierung als gleichwertigen Verhandlungspartneranzuerkennen, wie es sich Staatschef Pétain und sein RegierungschefPierre Laval ursprünglich erhofft haben mochten. Der französischen Re-gierung sollte es nur dann gelingen, ihre Forderungen durchzusetzen,wenn sich diese mit den deutschen Interessen in Einklang befanden. Soließ sich die deutsche Waffenstillstandskommission in Wiesbaden aufeine vorsichtige Öffnung der Demarkationslinie ein, weil Deutschlandvon den nachteiligen Folgen für die französische Wirtschaft indirekt be-troffen war. Und während die Regierung in Vichy in stetem Bemühen,ihre Handlungsspielräume zu erweitern, immer wieder auf die Aufnahmevon Gesprächen über politische und wirtschaftspolitische Zugeständnis-se drängte, zeigte die deutsche Führung Pétain die kalte Schulter. Diedeutschen Dienststellen waren zwar auf die Kooperationsbereitschaft derfranzösischen Verwaltung und vor allem der französischen Polizeikräfteangewiesen, doch Hitler war nicht bereit, der französischen Regierungauf Kosten der eigenen wirtschaftspolitischen, militärstrategischen undweltanschaulichen Ziele entgegenzukommen.

Eine rücksichtslose Ausbeutungspolitik, überzogene Besatzungskostenund ein künstlich hoher Wechselkurs zur Finanzierung der deutschenKriegswirtschaft setzten die französische Wirtschaft massiv unterDruck47. Auch die steigende Nachfrage des Deutschen Reichs nach Ar-beitskräften gab Anlaß zu Konflikten zwischen der deutschen und derfranzösischen Führung. Bereits im Frankreichfeldzug waren mehr alseine Million französische Kriegsgefangene gemacht worden, die inDeutschland als Arbeitskräfte eingesetzt wurden48. Mit der Ernennungdes thüringischen Gauleiters Fritz Sauckel zum Generalbevollmächtigtenfür den Arbeitseinsatz im März 1942 erhöhten sich die Forderungen nachArbeitskräften aus Frankreich noch einmal drastisch49. Die auf Druckder Militärverwaltung von der Regierung in Vichy verabschiedeten Ge-setze über den Service de travail obligatoire (STO) im September 1942 und

attentats im Gesamtzusammenhang der »Endlösung« vgl. Steur, Dannecker,S. 59-67.

47 Vgl. zusammenfassend Baruch, Vichy-Regime, S. 119-123. Grundlegend die ältereStudie von Milward, New Order and the French Economy. Zur industriellenKollaboration jetzt Radtke-Delacor, Verlängerte Werkbank im Westen.

48 Zum Einsatz der französischen Kriegsgefangenen in der deutschen Kriegswirt-schaft vgl. Durand, Vichy und der Reichseinsatz; Herbert, Fremdarbeiter, S. 96-98.

49 Zur Zwangsanwerbung im Westen vgl. ebenda, S. 180-184; 251-255.

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im Februar 1943 waren schließlich einer der wichtigsten Gründe dafür,daß die Résistance in breiten Kreisen der französischen Bevölkerung mitwachsender Zustimmung rechnen konnte, denn kaum eine Familie bliebvon den Zwangsmaßnahmen zur Rekrutierung neuer Arbeitskräfte ver-schont50.

Zeitgleich mit dem Beginn der Sauckel-Aktionen im Frühjahr 1942

verließ am 27. März um 17 Uhr der erste französische Deportationszugden Bahnhof von Drancy bei Paris in Richtung Auschwitz. Nur 23 der1 112 Männer in den drangvoll engen Personenwagen dritter Klasse soll-ten die Jahre im Lager überleben51. Wer aber hatte vor Ort den Befehl fürdiesen ersten »Transport« gegeben, mit dem die Juden in Frankreich, diein den vergangenen Monaten registriert, verhaftet und interniert wordenwaren, in das zentrale Projekt der nationalsozialistischen Führung, dieVernichtung der europäischen Juden, einbezogen wurden? Wer hatte dieSonderfahrten veranlaßt, die Häftlinge ausgewählt, die Transportlistenzusammengestellt?

In Paris waren drei Dienststellen vorrangig mit der »Judenfrage« be-faßt: Werner Best im Verwaltungsstab des Militärbefehlshabers52, CarltheoZeitschel an der Deutschen Botschaft53 und »Judenberater« TheodorDannecker, Leiter der Abteilung IV der Pariser Sicherheitspolizei54. Derkontinuierliche Machtzuwachs der Sicherheitspolizei in der französi-schen Hauptstadt brachte Dannecker allmählich seinem Ziel näher, inFrankreich in der »Judenpolitik« selbständig tätig zu werden. Seit demFrühjahr 1941 traf er zu regelmäßigen Dienstbesprechungen mit Ver-tretern von Botschaft und Militärbefehlshaber in der Avenue Foch zu-sammen55. Insbesondere Botschaftsmitarbeiter Zeitschel wurde von »Ju-denreferent« Dannecker eine »wirklich umfassende, kameradschaftlicheUnterstützung unserer Arbeit« bescheinigt56.

Es war schließlich Militärbefehlshaber Otto von Stülpnagel selbst, derEnde 1941 erstmals vorschlagen sollte, die Internierten aus Frankreich zudeportieren57. Die Initiative des Militärbefehlshabers stand in engem Zu-

50 Vgl. die Fallstudie von Silvestre, STO, Maquis et Guérilla dans l’Isère.51 Vgl. Klarsfeld, Calendrier, S. 191-195.52 Vgl. Herbert, Best, S. 298-314.53 Vgl. Ray, Annäherung, S. 370-374.54 Vgl. Steur, Dannecker, S. 45-91.55 Vgl. ebenda, S. 55.56 Ray, Annäherung, S. 355.57 Vgl. zum Folgenden Jäckel, Frankreich in Hitlers Europa, S. 180-189; Herbert,

Deutsche Militärverwaltung und die Deportation der französischen Juden;

vom waffenstillstand zur befreiung