chemische bindung ii. wellen-partikel-dualität der elektronen und variationsprinzip

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Hans Kuhn Chemische Bindung 11 Wellen-Partikel-DualitHt der Elektronen und Variationsprinzip In Teil I wurde am Beispiel des Wasser- stoffmolekul-Ions gezeigt, wie die che- mische Bindung dadurch zustande kommt, daB die beiden positiv geladenen Kerne in die negativ geladene Wolke des Elek- trons hineingezogen werden, und zwar so weit, bis ihre gegenseitige Coulombsche AbstoBungskraft der Anziehungskraft die Waage halt. Offengelassen wurde die Frage, wie Form und GroBe der Elek- tronenwolken in Atomen und Molekulen zustande kommen. Diese Frage ist nicht ohne eine grund- satzliche Betrachtung der Problematik zu beantworten, die sich aus der Wellen- Partikel-Dualitat der Elektronen ergibt, und die die Physiker und Philosophen dieses Jahrhunderts besturzt hat. Ver- suche, bei der Begrundung der Sachver- halte die begrifflichen Schwierigkeiten zu umgehen, die sich durch die Wellen- Partikel-Dualitat ergeben, fuhren zu Scheinerklarungen und sind die Ursache fur viele Miherstandnisse uber die Natur der chemischen Bindung. Wir mussen die Hurde, die das mechanistische Weltbild des 19. Jahrhunderts vom quantenmecha- nischen Denkmodell des 20. Jahrhunderl trennt, zu uberspringen suchen. 1. Laufende Elektronenwellen Das Elektron ist seit Ende des letzten Jahrhunderts als Partikel bekannt; eine Vielfalt von Versuchsergebnissen konnte dadurch gedeutet werden, daB man die Existenz von Teilchen ganz bestimmter Masse m = 9,107 * g und ganz bestimmter elektrischer Ladung - eo = -4,802 * 10-lo abs. elst. E . voraussetzte, die sich nach den Gesetzen der klassischen Mechanik verhalten; also so, wie es an makroskopischen Korpern beobachtet worden war. Solche Elektro- nen konnen aus einer Elektronenquelle mit ganz bestimmter Geschwindigkeit v herausgeschossen werden. (Die Elektro- nenquelle kann etwa aus einem Gluh- draht bestehen; aus der Metalloberflache werden die Elektronen ,,verdampft" und in einer Beschleunigungsvorrichtung durch ein elektrisches Feld auf die ge- wunschte Geschwindigkeit gebracht.) Die von einer Elektronenquelle Q herausge- schossenen Elektronen kann man auf eine Photoplatte S aufprallen lassen, wo das Auftreffen jedes einzelnen Elektrons durch Schwarzung an der EinschuRstelle registriert werden kann, oder auf einen Fluoreszenzschirm, auf dem die EinschuR- stelle durch einen Lichtblitz sichtbar wird. Wird nun ein fur Elektronen undurch- lassiger Korper I< zwischen Elektronen- quelle Q und Schirm S eingeschoben, so entsteht auf dem Schirm ein SchattenriB, wie dies fur geradlinig sich fortpflanzende Geschosse zu erwarten ist. Fuhrt man aber diesen Versuch sehr sorgfaltig aus, indem man eine moglichst punktformige Elektronenquelle verwendet, so beobach- tet man, daB der Schattenrand nicht scharf ist, wie man es fur Teilchen, die wie Ge- wehrkugeln den Gesetzen der klassischen Mechanik folgen, erwarten wurde. Viel- mehr treten parallel zum Schattenrand helle und dunkle Streifen auf (Abbildung 1 und 2a), also Zonen, wo die Elektronen haufiger auftreffen, und andere, wo sie seltener hingelangen. Der entsprechende Versuch gelingt auch mit Licht, wenn die Elektronenquelle durch eine monochro- matische Iichtquelle ersetzt wird (Abbil- dung 2b). Solche ,,Beugungsexperimente" dienten vor knapp 300 Jahren zum Nachweis der Wellennatur des Lichtes. Die hellen und dunklen Streifen am Schattenrand sind Interferenzerscheinungen, wie sie fur alle Arten von Wellen, z. B. auch fur Oberflachenwellen von Wasser, charak- teristisch sind. Also muR man den Elek- tronen ebenfalls Wellennatur zuschreiben. Man registriert zwar in den einzelnen Lichtblitzen oder Schwarzungspunkten jeweils nur das Auftreffen einzelner Elektronen ; zur Deutung des Interferenz- bildes aufdemFluoreszenzschirm mu13 man aber annehmen, daB von der Elektronen- quelle Elektronenwellen (,,Materiewel- Ien'') ausgehen. Das Quadrat der Ampli- tude der Elektronenwelle an einer heraus- gegriffenen Stelle des Schirmes gibt an, wie wahrscheinlich es ist, daB ein von der Quelle ausgesandtes Elektron an dieser Stelle als Teilchen registriert wird, d. h. welcher Bruchteil aus einer groBen An- zahl Elektronen, die von der Quelle emittiert werden, an die betrachtete Stelle (etwa die kleine Flache a in Abbildung 1) gelangt. Um das Interferenzbild der Elektronen quantitativ zu deuten, haben wir der Materiewelle eine Wellenlange (de Broglie-Wellenlange) zuzuschreiben. Die in Gleichung (1) auftretende GroBe h, das Plancksche Wirkungsquantum, ist eine Naturkonstante der Dimension Ener- gie ma1 Zeit, die den Wert 6,624. erg . sec besitzt; m und v sind, wie er- wahnt, Masse und Geschwindigkeit des Elektrons. Auch das Licht wirkt stets in ganzen ,,Portionen" (Lichtquanten). Die Wahr- scheinlichkeit dafur, daR ein Lichtquant an einer herausgegriffenen Stelle des Schirms auftritt, ist proportional dem Quadrat der Amplitude der zugehorigen Lichtwelle an dieser Stelle. Man kann also uber ein Einzelereignis, das Auftreten eines Elektrons oder Licht- quants an einer bestimmten Stelle des Leuchtschirms, nur eine Wahrscheinlich- keitsaussage, jedoch keine bestimmte Aus- sage machen. Wir konnen von einem einzelnen ausgesandten Elektron nicht voraussagen, wo es auftreffen wird. Das Interferenzbild ist ein Zufallsbild, das man mit einer sehr hohen Teilchenzahl erhalt. Es ware an sich nicht ausge- schlossen, daB bei vielfacher Wieder- holung des Einzelprozesses alle Elek- tronen beispielsweise in der gleichen kleinen Flache a (Abbildung 1) auftreten. Ein solches Ergebnis ware aber HuBerst unwahrscheinlich. Eine merkliche Ab- weichung vom betrachteten Interferenz- bild kommt bei groRen Teilchenzahlen aus Wahrscheinlichkeitsgrunden praktisch nicht vor, und je groBer die Teilchenzahl ist, umso unwahrscheinlicher wird eine 49

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Page 1: Chemische Bindung II. Wellen-Partikel-Dualität der Elektronen und Variationsprinzip

Hans Kuhn Chemische Bindung 11 Wellen-Partikel-DualitHt der Elektronen und Variationsprinzip

In Teil I wurde am Beispiel des Wasser- stoffmolekul-Ions gezeigt, wie die che- mische Bindung dadurch zustande kommt, daB die beiden positiv geladenen Kerne in die negativ geladene Wolke des Elek- trons hineingezogen werden, und zwar so weit, bis ihre gegenseitige Coulombsche AbstoBungskraft der Anziehungskraft die Waage halt. Offengelassen wurde die Frage, wie Form und GroBe der Elek- tronenwolken in Atomen und Molekulen zustande kommen.

Diese Frage ist nicht ohne eine grund- satzliche Betrachtung der Problematik zu beantworten, die sich aus der Wellen- Partikel-Dualitat der Elektronen ergibt, und die die Physiker und Philosophen dieses Jahrhunderts besturzt hat. Ver- suche, bei der Begrundung der Sachver- halte die begrifflichen Schwierigkeiten zu umgehen, die sich durch die Wellen- Partikel-Dualitat ergeben, fuhren zu Scheinerklarungen und sind die Ursache fur viele Miherstandnisse uber die Natur der chemischen Bindung. Wir mussen die Hurde, die das mechanistische Weltbild des 19. Jahrhunderts vom quantenmecha- nischen Denkmodell des 20. Jahrhunderl trennt, zu uberspringen suchen.

1. Laufende Elektronenwellen

Das Elektron ist seit Ende des letzten Jahrhunderts als Partikel bekannt; eine Vielfalt von Versuchsergebnissen konnte dadurch gedeutet werden, daB man die Existenz von Teilchen ganz bestimmter Masse

m = 9,107 * g

und ganz bestimmter elektrischer Ladung

- eo = -4,802 * 10-lo abs. elst. E .

voraussetzte, die sich nach den Gesetzen der klassischen Mechanik verhalten; also so, wie es an makroskopischen Korpern beobachtet worden war. Solche Elektro- nen konnen aus einer Elektronenquelle mit ganz bestimmter Geschwindigkeit v herausgeschossen werden. (Die Elektro- nenquelle kann etwa aus einem Gluh- draht bestehen; aus der Metalloberflache werden die Elektronen ,,verdampft" und in einer Beschleunigungsvorrichtung durch ein elektrisches Feld auf die ge- wunschte Geschwindigkeit gebracht.) Die von einer Elektronenquelle Q herausge- schossenen Elektronen kann man auf eine Photoplatte S aufprallen lassen, wo das Auftreffen jedes einzelnen Elektrons durch Schwarzung an der EinschuRstelle registriert werden kann, oder auf einen Fluoreszenzschirm, auf dem die EinschuR- stelle durch einen Lichtblitz sichtbar wird.

Wird nun ein fur Elektronen undurch- lassiger Korper I< zwischen Elektronen- quelle Q und Schirm S eingeschoben, so entsteht auf dem Schirm ein SchattenriB, wie dies fur geradlinig sich fortpflanzende Geschosse zu erwarten ist. Fuhrt man aber diesen Versuch sehr sorgfaltig aus, indem man eine moglichst punktformige Elektronenquelle verwendet, so beobach- tet man, daB der Schattenrand nicht scharf ist, wie man es fur Teilchen, die wie Ge- wehrkugeln den Gesetzen der klassischen Mechanik folgen, erwarten wurde. Viel- mehr treten parallel zum Schattenrand helle und dunkle Streifen auf (Abbildung 1 und 2a), also Zonen, wo die Elektronen haufiger auftreffen, und andere, wo sie seltener hingelangen. Der entsprechende Versuch gelingt auch mit Licht, wenn die Elektronenquelle durch eine monochro- matische Iichtquelle ersetzt wird (Abbil- dung 2b).

Solche ,,Beugungsexperimente" dienten vor knapp 300 Jahren zum Nachweis der Wellennatur des Lichtes. Die hellen und dunklen Streifen am Schattenrand sind Interferenzerscheinungen, wie sie fur alle Arten von Wellen, z. B. auch fur Oberflachenwellen von Wasser, charak- teristisch sind. Also muR man den Elek- tronen ebenfalls Wellennatur zuschreiben. Man registriert zwar in den einzelnen Lichtblitzen oder Schwarzungspunkten jeweils nur das Auftreffen einzelner Elektronen ; zur Deutung des Interferenz- bildes aufdemFluoreszenzschirm mu13 man

aber annehmen, daB von der Elektronen- quelle Elektronenwellen (,,Materiewel- Ien'') ausgehen. Das Quadrat der Ampli- tude der Elektronenwelle an einer heraus- gegriffenen Stelle des Schirmes gibt an, wie wahrscheinlich es ist, daB ein von der Quelle ausgesandtes Elektron an dieser Stelle als Teilchen registriert wird, d. h. welcher Bruchteil aus einer groBen An- zahl Elektronen, die von der Quelle emittiert werden, an die betrachtete Stelle (etwa die kleine Flache a in Abbildung 1) gelangt.

Um das Interferenzbild der Elektronen quantitativ zu deuten, haben wir der Materiewelle eine Wellenlange

(de Broglie-Wellenlange) zuzuschreiben. Die in Gleichung (1) auftretende GroBe h, das Plancksche Wirkungsquantum, ist eine Naturkonstante der Dimension Ener- gie ma1 Zeit, die den Wert 6,624. erg . sec besitzt; m und v sind, wie er- wahnt, Masse und Geschwindigkeit des Elektrons.

Auch das Licht wirkt stets in ganzen ,,Portionen" (Lichtquanten). Die Wahr- scheinlichkeit dafur, daR ein Lichtquant an einer herausgegriffenen Stelle des Schirms auftritt, ist proportional dem Quadrat der Amplitude der zugehorigen Lichtwelle an dieser Stelle.

Man kann also uber ein Einzelereignis, das Auftreten eines Elektrons oder Licht- quants an einer bestimmten Stelle des Leuchtschirms, nur eine Wahrscheinlich- keitsaussage, jedoch keine bestimmte Aus- sage machen. Wir konnen von einem einzelnen ausgesandten Elektron nicht voraussagen, wo es auftreffen wird. Das Interferenzbild ist ein Zufallsbild, das man mit einer sehr hohen Teilchenzahl erhalt. Es ware an sich nicht ausge- schlossen, daB bei vielfacher Wieder- holung des Einzelprozesses alle Elek- tronen beispielsweise in der gleichen kleinen Flache a (Abbildung 1) auftreten. Ein solches Ergebnis ware aber HuBerst unwahrscheinlich. Eine merkliche Ab- weichung vom betrachteten Interferenz- bild kommt bei groRen Teilchenzahlen aus Wahrscheinlichkeitsgrunden praktisch nicht vor, und je groBer die Teilchenzahl ist, umso unwahrscheinlicher wird eine

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Page 2: Chemische Bindung II. Wellen-Partikel-Dualität der Elektronen und Variationsprinzip

solche Abweichung. Wahrend also fur das Einzelereignis nur Wahrscheinlich- keitsaussagen gemacht werden konnen, ist fur eine grone Anzahl von Einzelereig- nissen, die unter denselben Versuchsbe- dingungen auftreten, das Gesamtverhalten streng determiniert (keine strenge Icausa- litat fur das Einzelereignis, strenge I<ausa- litat im Gesamtverhalten bei groBen Teilchenzahlen). Darin unterscheidet sich das Verhalten der Elektronen und der Lichtquanten grundsatzlich vom Verhal- ten irgendwelcher Korper nach der klas- sischen Mechanik, in der auch das Ein- zelereignis streng determiniert ist.

2. Wellen-Partikel-Dualitat und Grundfragen naturwissenschaftlicher Erkenntnis

Die Frage: ,,Konnen wir die Wellen- Partikel-Dualitat verstehen ?I' beruhrt die Grundfrage, was ,,Verstehen" im natur- wissenschaftlichen Sinn uberhaupt be- deutet .

Etwas neu auf uns Zukommendes ver- suchen wir dadurch zu verstehen, daB wir es auf unser gewohntes Denkschema zuriickxufuhren trachten. Das aus unserer Alltagserfahrung gewonnene und sich immer wieder bestatigende Denkschema ist das der klassischen Physik: die Vor- stellung, daB in unserer Umwelt Korper existieren, deren Lage und Bewegung im Raum exakt beschreibbar sind. Auf dieses Denkschema kann das betrachtete Ver- halten von Elektronen und Licht nicht zuruckgefuhrt werden. Wir konnen keine Bahn des Elektrons oder Lichtquants angeben. Wir konnen zwar fur jede Stelle des Schirms in Abbildung 2 die Wahr- scheinlichkeit angeben, mit der sich hier Elektronen oder Lichtquanten als Teil- chen manifestieren, konnen aber keine dariiber hinausgehenden Angaben machen. Da wir keine bestimmte Bahn des Elek- trons angeben konnen, verliert auch der Begriff eines im Sinn der klassischen Mechanik stets existierenden Teilchens seinen Sinn. Wir konnen nicht sagen, das Elektron sei ein Teilchen oder eine Welle. Wir konnen nur sagen, daB es sich so benimmt, als ob es in gewissem Sinn ein Teilchen, in anderem Sinn eine Welle sei. Die naturwissenschaftlichen Begriffe wie ,,Teilchen" und ,,Welle" sind Fiktionen, d. h. Hilfsbegriffe, die man einfuhrt, um ein Schema zu beschreiben, auf das

der Erscheinungsablauf zuruckgefuhrt werden kann.

Wenn wir mit ,,Verstehen" ein Zuruck- fuhren der neuen Tatsachen auf das gewohnte Denkschema meinen, so sind die betrachteten Eigenschaften von Elek- tronen und Licht nicht zu verstehen. Nun ist aber das Schema, nach dem diese Erscheinungen ablaufen, im Grunde nicht unbegreiflicher als das Schema, auf das sich die Alftagserscheinungen zuruck- fuhren lassen; nur haben wir uns an das Denkschema des Alltags schon sehr lange gewohnt. Wir miissen nur einem Saugling zuschauen, wenn er die ersten Gegen- stande seiner Umwelt entdeckt und im- mer wieder neu verwundert priift, ob sie noch da sind, um zu erkennen, daB die Vorstellung, die Gegenstande unserer Umwelt existierten unabhangig von der Wahrnehmung, erst allmahlich in uns dadurch entsteht, da13 wir immer wieder Erfahrungen machen, die dieser Vorstel- lung nicht widersprechen und sie zu be- statigen scheinen.

Mit ,,Verstehen" im naturwissenschaft- lichen Sinn meint man daher nicht ein Zuriickfuhren neuer Tatsachen auf das unbegreifliche, aber gewohnte Denk- schema des Alltags, sondern ein bloRes Erkennen des Schemas, nach dem die Naturvorgange ablaufen. In diesem Sinne sind die Eigenschaften von Elektronen und Lichtquanten nicht weniger verstand- lich als die Erscheinungen unseres Alltags.

Die weitergehende Frage nach dem ,,Sinn" des Schemas, also nach dem Hintergrund eines allgemeinen Natur- gesetzes, kann mit naturwissenschaftlichen Methoden nicht beantwortet werden, da es im Wesen einer naturwissenschaftlichen Fragestellung liegt, Zusammenhange zwi- schen Naturerscheinungen unvoreinge- nommen zu erforschen. Fragen, die uber eine bloRe Beschreibung des Schemas hinausgehen, nach der die Ereignisse ablaufen, liegen auBerhalb des Bereichs naturwissenschaftlicher Erkenntnis. Sie beruhen auf Minverstaindnissen im sprach- lichen Ausdruck fur diese Beschreibung und sind daher sinnlos. Eine solche Frage ist: ,,Worms besteht das Medium, in dem sich Elektronenwellen oder Licht- wellen ausbilden ?" Ein solches Medium denkt man sich nur eingefuhrt, um in sinnfalliger Weise den mathematischen

Formalismus des Erscheinungsablaufs zu umschreiben. Wie die Begriffe ,,Welle" und ,,Teilchen" ist der Begriff eines solchen ,,Mediums" eine Fiktion: Das Verhalten des Elektrons ist in gewissem Sinn so, als ob ein Medium existierte, in dem sich Elektronenwellen ausbilden. So betrachtet ist auch die Frage sinnlos, ob das Elektron oder Lichtquant, wenn es sich zwischen Quelle und Schirm in Abbildung2 befindet, sich also nicht gerade als Teilchen manifestiert, trotzdem als Teilchen existent ist, auch wenn dies nicht durch ein Experiment gepriift werden kann. Die Frage kann man nur stellen, wenn man den Begriff ,,Teilchen"

nicht als Fiktion nimmt. Fiktionen wie ,,Teilchen", ,,Welle" oder ,,Medium" fuhrt man ein, um eine Leiter zu haben, an der man uber die Hurde auf Seite 49 hochklettern kann, ohne den Sprung machen zu mussen, von der man sich aber dam, nachdem man hochgeklettert ist, befreien muB.

3. Stehende Elektronenwellen

In Atomen und Molekulen bilden sich nicht, wie in dem beschriebenen Beu- gungsversuch, laufende, sondern stehende Elektronenwellen aus. Um sie zu ver- stehen, wollen wir zunachst stehende Elektronenwellen einfacherer Art be- trachten, wie sie sich zwischen parallelen Wand en aus bilden .

a) Stehende Wellen entlang einer gespann- ten Saite

Die Eigenschaften stehender Wellen kann man sich anhand der Schwingungszu- stande einer gespannten Saite vergegen- wartigen. Werden an einer Saite peri- odische Storungen hervorgerufen (Ab- bildung 3a), so entstehen laufende Wel- len, die an den Enden reflektiert werden.

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Im allgemeinen storen sich Primarwelle und reflektierte Welle, und die Saite zeigt nur schwache Zitterbewegung. Nur wenn man die Saite mit ganz bestimmten Frequenzen erregt, verstarken sich Pri- marwelle und reflektierte Welle: es bilden sich stehende Wellen aus. Und zwar ist dies dann der Fall, wenn die der Frequenz entsprechende halbe Wellenlange 1/2 (Strecke zwischen zwei aufeinanderfol- genden Knoten) entweder gleich der Lange L der Saite (Abbildung 3b) oder gleich L/2 (Abbildung 3c) oder gleich L/3 (Abbildung 3d) ist. Die Wellen- lange 1 ist also im Falle stationarer Schwingungszustande der Saite gegeben durch die Beziehung

n = 1 , 2 , 3 . . . (2) 2 L n

~~

Die Schwingungsamplitude y (x) eines Punktes P' (Abbildung 3d) der Saite, dessen Gleichgewichtslage P in einem Abstande x vom Fixpunkt Fl liegt, ist

y (x) = A sin z -2 L n (3)

(A = Maximalamplitude in der Mitte eines Wellenbauches).

Gleichung (3) gibt die GroRe der Schwin- gungsamplitude als Funktion des Ortes an; man bezeichnet y dementsprechend haufig als ,,Wellenfunktion".

b) Stehende Wellen eines Elektrons zwi- schen zwei Wanden und in einem Kasten

Betrachten wir nun ein Elektron, das sich zwischen zwei parallelen Wanden be- findet und sich senkrecht auf die Wande zu bewegt. Die zugehorige Materiewelle wird an den Wanden reflektiert. Wie bei der schwingenden Saite entstehen nur bei ganz bestimmten Wellenlangen ste- hende Wellen. Man sagt, daB nur solche Zustande (,,Quantenzustande") des be- trachteten Elektrons stationar sind, bei denen sich stehende Wellen ausbilden. Die Elektronenwellenlange kann also nicht beliebige Betrage annehmen, son- dern nur Betrage, die der Bedingung (2) genugen, worin nun L den Abstand der beiden Wande darstellt. Da die Ge- schwindigkeit v des Elektrons mit der Wellenlange 1 durch die Beziehung (1) verknupft ist, folgt, daR v nicht beliebige, sondern nur die durch Gleichsetzen von (1) und (2) sich ergebenden Werte

Abb. 3. Saite. a) Hervorrufen periodischer Storungen. Primarwelle und reflektierte Welle storen sich; keine stehende Welle. b-d) Ausbildung stehender Wellen bei ganz bestimmten Frequenzen der Erregung.

Wellen entlang einer gespannten

1/2 = L (b), 1/2 = L/2 (c), 4 2 = L/3 (d).

annehmen kann. Ebenso gibt es fur die mit der Geschwindigkeit verknupfte kine- tische Energie des Elektrons nur ganz bestimmte mogliche Werte :

n = 1 , 2 , 3 . . . (4)

n-3

e, .- f? s

W

n=2 t n = l

Diese Energiewerte stellt man gewohnlich in einem Strichdiagramm (,,Termschema") dar, wie es ahnlich bereits in der Ab-

d

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n = l

n = 2

n=3

/

- a ,= 0,529. 10.' cm

Abb. 4. Elektron zwischen zwei Wanden. Energiearmste Quantenzustande (Quantenzahlen 1 bis 3). Mit groRer Wahrscheinlichkeit ist das Elektron in den schraffierten Bereichen (an den Bauchen der stehenden Welle) anzutreffen.

Abb. 5. Energiearmster Quantenzustand eines Elektrons. a) Elektron zwischen zwei Wa,nden. b) Elektron in einem Wurfelkasten. c) Elektron im Wasserstoffatom. Schraffiert ist jn (a) der Bereich gronter Antreffwahrscheinlichkeit des Elektrons ; in (b) und (c) sind diese Bereiche als ,,Elektronenwolke" dargestellt. 1st im Fall b) L=6 ao, so stimmt die Elektronen- wolke fast uberein mit der Wolke im Fall c), und daher ist auch die kinetische Energie des Elektrons in den beiden Fallen fast gleich groR.

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Abb. 6. Energiearmster Quantenzustand eines Elektrons. a) in einem Quaderkasten b) im Wasserstoffmolekul-Ion. 1st im Fall a) L, = 8 a,, L, = L, = 5 a,, so stimmt die Elektronenwolke fast uberein mit der Wolke im Fall b); daher ist auch die kinetische Energie des Elektrons in beiden Fallen fast gleich grok

bildung 4 im ersten Teil dieses Berichtes geschehen ist. Man spricht von Energie- niveaus und nennt die Zahlen n Quanten- zahlen; je groner die Zahl n, umso hoher liegt nach Gleichung (4) das zugehorige Energieniveau.

Die Wahrscheinlichkeit, das Elektron in einem betrachteten Bereich anzutref- fen, ist, wie erwahnt, proportional dem Quadrat der Wellenfunktion y. Diese Wellenfunktion hat bei einem zwischen zwei parallelen Wanden eingesperrten Elektron die gleiche Form wie bei einer schwingenden Saite. Es ist besonders wahrscheinlich, das Elektron dort anzu- treffen, wo die Wellenfunktion einen besonders gro8en Wert hat, also am Bauch der Elektronenwelle. Die Bereiche, in denen man das Elektron in den ver- schiedenen Quantenzustanden mit be- sonders groRer Wahrscheinlichkeit an- trifft, sind in Abbildung 4 schraffiert dar- gestellt.

Wenn man nun ein Elektron allseits von Wanden einschlieat, also in einen quader- formigen I<asten (Kantenlangen L,, L,, L,) bringt, ergibt sich aus einer ganz ahn-

lichen Rechnung wie obeii, da8 das Elektron nur ganz bestimmte Werte der kinetischen Energie annehmen kann:

Ebenso kann man wieder die Wellen- funktion y berechnen, und daraus die Aufenthaltswahrscheinlichlreiten des Elek- trons in den verschiedenen Quantenzu- standen. In Abbildung 5 b ist fur ein Elek- tron in einem Wiirfelkasten (L, = L, = = L, = L), das sich im untersten Quan- tenzustand (n, = n, = n, = 1) befindet, der Bereich, in dem das Elektron mit groRter Wahrscheinlichkeit anzutreffen ist, als ,,Wolke" dargestellt.

c) Kinetische Energie des Elektrons im H-Atom

In TeilI wurde dem Elektron des H- Atoms neben seiner potentiellen (Cou- lombschen) Energie eine kinetische Ener- gie von 13,603 eV zugeschrieben. Nach dem Vorangehenden ist nun sofort er- sichtlich, warum eine kinetische Energie von etwa dieser Grone auftreten muR: Wahrend das Elelitron in einem Wurfel-

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kasten durch die Wande in einem ge- wissen raumlichen Bereich eingegrenzt ist, wird es im H-Atom durch die Cou- lombsche Anziehung des Kerns in einem gewissen Bereich urn den Kern festge- halten. Die beiden Falle sind sich also sehr ahnlich. Hat der E’urfelkasten die ICantenlange L = 6 a, (a, ist die in Teil I aus praktischen Grunden eingefuhrte Langeneinheit vomBetrag 0,529. 10-8cm), so ist die wahrscheinliche Verteilung des Elektrons urn die Mitte des Wurfels (Elektronenwolke in Abbildung 5 b) praktisch gleich wie die wahrscheinliche Verteilung des Elektrons des H-Atoms um den Kern (Abbildung 5c). (In beiden Fallen ist die Wahrscheinlichkeit, das Elektron im Innern einer um die Wiirfel- mitte bzw. um den Kern gelegten Kugel vom Radius a, zu finden, 70%). Die kinetische Energie des betrachteten Elek- trons im Wurfelkasten ist nach Gleichung (5) fur n = 1 gleich

oder gleich 11 eV. Es ist zu erwarten, daR dem Elektron des H-Atoms rnit der nahezu gleichen Verteilung etwa der gleiche Wert der kinetischen Energie zukommt, und dies ist, wie wir gesehen haben, auch der Fall.

d) Aufenthaltswahrscheinlichkeit des Elektrons und Elektronenwolke

Die thermische Bewegung der Molekule erfolgt mit einer Geschwindigkeit von groBenordnungsmaRig lo4 cmlsec. Bei die- ser Geschwindigkeit dauert eine merk- liche Atomverschiebung, also etwa um einen i4tomdurchmesser (10W cm), 10-s/104 = 10-l2 Sekunden. Der kine- tischen Energie (m/2) v2 = 13,603 eV des Elektrons im H-Atom entspricht dagegen eine Geschwindigkeit v von der GroBen- ordnung lo8 cmisec, also eine 104mal groBere Geschwindigkeit. Das Elektron des H-Atoms verhalt sich also so, als ob es in diesem Zeitintervall von 10-l2 sec das Atom etwa 104mal durchlaufen wurde. Es wirkt daher auf seine Umgebung, als ob es uber eine Ladungswolke verteilt ware, wobei die Ladungsdichte D pro- portional der Aufenthaltswahrscheinlich- keit, also proportional y2 ist. Entspre- chendes gilt fur alle anderen Atome und Molekule. Das Bild der Wolke, uber die die Ladung des Elektrons verteilt ist, ist

fur alle chemischen Belange angemessen. Dieses Bild wurde daher allen Betrach- tungen in Teil I zugrundegelegt.

e) Kinetische Energie im H,+-Ion

Irn H2+-Ion wird das Elektron im Cou- lombschen Anziehungsbereich der beiden Kerne gehalten. Die Wolke des Elektrons (Abbildung 6 b) stimmt in diesem Fall naherungsweise uberein mit der Wolke eines Elektrons in einem Quaderkasten geeigneter Kantenlangen, namlich der Langen L, = 8 a,, L, = L, = 5 a, (Ab- bildung 6a). Die Elektronenwolke im H2+-Ion dehnt sich im Vergleich zu der im H-Atom in Richtung der ICernver- bindungslinie aus und zieht sich in der Richtung quer zur Kernverbindungslinie zusammen. Der erste Effekt bewirkt nach Gleichung (5) eine Verkleinerung, der zweite Effekt eine VergroRerung der kinetischen Energie des Elektrons. Der zweite Effekt wirkt sich starker aus als der erste, und die kinetische Energie ist daher im H,+-Ion groRer als im H-Atom.

4. Variationsprinzip

a) Begrundung, warum die Wolke des Elektrons im H-Atom und im H,+-Ion die beschriebene Form und GroRe hat

Der Vergleich der Elektronenwolken von H-Atom und H,+-Ion mit den Wol- ken eines im Kasten eingeschlossenen Elektrons beinhaltet naturlich keine Er- klarung. Im folgenden sol1 daher die Frage betrachtet werden, warum die Wolke des Elektrons im Wasserstoffatom die Ausdehnung gemaB Abbildung 5 c hat und nicht groRer oder kleiner ist. Wir werden zeigen, daR das aus Elektron und Wasserstofiern bestehende System im Fall von Abbildung 5c den kleinsten Wert der Energie hat. Ware die Elektro- nenwolke ausgedehnter oder kompri- mierter, so besaBe das System eine groBere Energie. Die Natur verwirklicht von allen denkbaren den energiearmsten Zustand. Um ihn naherungsweise zu finden, mu8 manGroRe und Form der gedachten Wolke des Elektrons, die die Energie bestimmen, solange variieren, bis die Energie zum Minimum wird (Variationsprinzip).

Wurde sich die Wolke des Elektrons um einen sehr kleinen Bereich um den Kern erstrecken, so ware zwar die potentielle

Energie stark negativ, da die Elektronen- ladung in groBer ICernnahe konzen- triert ware. Die kinetische Energie, die nach Abschnitt 3 umso groRer ist, je kleiner die Ladungswolke ist, ware da- gegen so groI3, daR die Gesamtenergie des Systems (die Summe aus kinetischer und potentieller Energie) groB, das Sy- stem energiereich und damit instabil sein m u k . Ware umgekehrt die Elektronen- wolke ausgedehnter als gemaI3 Abbil- dung 5c, so ware zwar die kinetische Energie klein, die potentielle Energie aber nur schwach negativ, da sich fast die ganze Elektronenladung weit weg vom Kern befinden wurde. Bei einer mittleren GroBe der Elektronenwolke ergibt sich ein KompromiB zwischen diesen beiden entgegengesetzten Tendenzen, und damit wird der energiearmste Zustand des Systems erreicht, den man sich denken kann, und der von der Natur verwirklicht wird.

Es laRt sich zeigen, daB dieser Kompro- mil3 dann erreicht wird, wenn die in Teil I vorausgesetzte Beziehung E,,, = - 2 Ekin gilt.

Wir denken uns eine kugelsymmetrisch den Kern des H-Atoms umhullende Elektronenwolke. Die GroBe der Wolke charakterisieren wir durch den Radius a einer Kugel, in deren Innerem das Elek- tron mit 70 yo Wahrscheinlichkeit anzu- treffen ist. Es interessiert die Energie dieser gedachten Elektronenwolke in Ab- hangigkeit von a. Nach Teil I, Gleichung (2) kann fur die potentielle Energie der Wolke im Coulombfeld des Kerns

Epot = - eo2 a

und nach Gleichung (6) fur die kinetische Energie nach der Kastennaherung

- 3h2 h2 Ekin = ~~~ - x z 8m (6a)2 96m a2

gesetzt werden. Die Gesamtenergie ist also naherungsweise gleich

- A B - - E = ‘pot + &in = - a + a 2

hZ 96m . rnit A = eo2, B =

Wir variieren a solange, bis E zum Minimum wird, die gedachte Wolke also nach dem Variationsprinzip eine beson- ders gute Naherung fur die tatsachlich

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Page 7: Chemische Bindung II. Wellen-Partikel-Dualität der Elektronen und Variationsprinzip

verwirklichte Wolke darstellt. Nach den Regeln der Differentialrechnung ist das der Fall, wenn d E ~~ .. = 0 da

oder - A(-l)a-z + B(- 2)a-3 = 0 2B oder a = .- A

ist, wenn also - B B A A 1 Egin == Bi = - - - _. - - - - -y Epot

a 2B 2a

ist. Fur a ergibt sich der Wert 2B A 48me,2

a = = ~ - h2 - 0,44 . 10-8 cm ,

der vom tatsachlichen Wert a = a,, = 0,529 cm nicht sehr verschieden ist. Die Wolke des Elektrons im H-Atom hat etwa die Form, welche ein Mucken- schwarm nachts um eine StraBenlaterne bildet, und dieses Bild veranschaulicht auch das Zustandekommen eines ent- sprechenden Kompromisses zwischen An- ziehung der Mucke zur Lichtquelle (analog zur Coulombschen Anziehung des Elek- trons zum Kern) und dem Bestreben, herumzufliegen (analog zu der durch die Wellen-Partikel-Dualitat gegebenen Not- wendigkeit, daB das Elektron kinetische Energie besitzen muB).

Wird die Kernladung vergroBert (uber- gang vom H-Atom zum He+-Ion), so verkleinert sich die Wolke des Elektrons, da die durch die Coulombsche Anziehung des Elektrons an den Kern gegebene Tendenz den KompromiR starker be- stimmt. Analog wurde im Fall der Mucke eine Verstarkung der Lichtquelle wirken.

Ein entsprechender KompromiR bestimmt die Form und GroBe der Elektronenwolke

des Wasserstoffmolekul-Ions. Auch in diesem Fall ist die Form der Wolke ver- gleichbar mit der Form eines Mucken- schwarms, der sich hier um zwei etwa einen halben Meter voneinander ent- fernte Lampen bildet. Da das Elektron des Wasserstoffmolekul-Ions im Coulomb- schen Anziehungsfeld beider Kerne, also in einem starkeren Coulombschen Feld steht als im H-Atom, ist die Wolke im H,+-Teilchen schmaler als im H-Atom. Darauf wurde schon in Abschnitt 3e bei Besprechung des Kastenmodells von H,+ Bezug genommen. Wir verstehen jetzt, warum in diesem Model1 den Kantenlan- gen L,, L,, L, etwa die Werte in Abbil- dung 6a zuzuschreiben sind. Es sind die Werte, die sich aufgrund des Variations- prinzips ergeben.

b) Bindungsenergie im Wasserstoffmole- kul-Ion nach dem Kastenmodell

Nach dem Kastenmodell des H-Atoms ist Ekin, = 7,9 eV (Gleichung 5 mit L, = L, = L, = 7,12 a, nach Abbildung 5 *) und Ekin, H,+ = 10,Z eV (Gleichung 5 mit L, =

7,75 ao, L, = L, = 5,82 a, nach Ab- bildung 6*). Somit ist Ekin, - EM,,, = 10,2 - 7,9 = 2,3 eV. Nun ist nach Abschnitt 4a Epot = - 2 Ekin. Die Ge- samtenergie ist also E = Ekin + EpOt =

Ekin - 2 Ekin = - EBin. Danach nimmt die Gesamtenergie bei der Bildung des H$-Ions gerade um den gleichen Betrag ab, wie die kinetische Energie zunimmt (da genau doppelt so vie1 Energie als Coulombsche Energie gewonnen wird, wie zur VergroBerung der kinetischen Energie des Elektrons aufgewendet wird). Nach dem betrachteten rohen Kastenmo- dell betragt daher die Bindungsenergie im H,+-Ion 2,3 eV, wahrend sie tatsachlich den Wert 2,639 eV hat.

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c) Elektronenwolken in angeregten Zu- standen des H-Atoms

Das Wasserstoffatom kann nicht nur im betrachteten Grundzustand (1s-Zustand ;

* Die hier angegebenen Werte von L,, L, und L, folgen bei exakter Durch- fuhrung aus der Kastennaherung [H.Kuhn und W. Huber, Helv. chim. Acta 35, 1155 (1952)l und unterscheiden sich gering- fiigig von den im vorangehenden gegebe- nen abgerundeten Werten.

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Energie El = - eO2/ 2 a,), sondern auch in bestimmten angeregten Zustanden existieren, wenn ihm die zur Anregung notige Energie von auBen (beispielsweise als Lichtenergie) zugefuhrt wird - ahn- lich wie ein Elektron zwischen zwei Wanden neben dem Quantenzustand n = 1 die energiereicheren Quantenzu- stande n = 2 ,3 . . . annehmen kann (Ab- bildung 4). Der energiearmste Anregungs- zustand ergibt sich wiederum aufgrund des Variationsprinzips, jetzt unter der Nebenbedingung, da8 zwischen der Wel- lenfunktion dieses Zustandes und der Wel- lenfunktion des Grundzustandes eine be- stimmte, hier nicht naher betrachtete Bedingung (Orthogonalrelation) erfullt sein muB. Man denkt sich also eine Elek- tronenwolke, die dieser Bedingung ge- niigt, solange unter Einhaltung der Be- dingung in ihrer Form und GroBe veran- dert, bis der zugehorige Wert der Energie zum Minimum wird.

Dies ist beim Wert E, = - (eo2/2a,) der Fall. Die Energie E, ist also dem ener- gieniedrigsten Anregungszustand des H- Atoms zuzuschreiben. Alle weiteren An- regungszustande findet man ebenfalls

aufgrund des Variationsprinzips - immer unter der Nebenbedingung der Ortho- gonalitat mit allen vorangehenden Wellen- funktionen*.

Wahrend bei der Energie E, nur der Zustand von Abbildung 5c auftritt, sind unendlich viele Zustande der Energie E, moglich. Es zeigt sich aber, daB nur je vier dieser Zustande orthogonal zueinander sind und daB die Wellenfunktion jedes beliebigen Zustandes der Energie E, durch Uberlagerung der vier Wellenfunktionen eines solchen Satzes mathematisch be- schreibbar ist; welchen Satz man zur Be- schreibung auswahlt, ist gleichgultig, da jeder den gleichen Dienst tut. Im folgenden Abschnitt wird gezeigt, da8 bei Atomen und Molekulen mit mehreren Elektronen ahnliche Zustande wie beim H-Atom auf- treten und daB gewisse Satze von ortho- gonalen Elektronenzustanden des H- Atoms fur die Beschreibung solcher Zu- stande besonders zweckma8ig sind. Es sind dies z. B. die ,,unhybridisierten Zu- stande" 2 s, 2p,, 2 p , und 2p,, deren Wolken schematisch in Abbildung 7a gezeigt sind, und die vier Tetraederhybrid- zustande 2 t,, 2 t2, 2 t, und 2 tq (Ab-

bildung 7 b). Beim H-Atom entsprechen all diese Zustande der Energie E,.

d) Elektronenwolken in Atomen und Molekulen mit mehr als einem Elektron

Im Fall aller ubrigen Atome und Molekule findet man die Elektronenzustande wie beim H-Atom unter Zugrundelegung des Variationsprinzips. Die Atome der hohe- ren Elemente denkt man sich dadurch zustandegelrommen, da8 diese Zustande in der Reihenfolge zunehmender Energie von den vorhandenen Elektronen aufge- fullt werden, wobci nach dem Pauli-

* Das mathematische Problem, alle Wel- lenfunktionen zu finden, die die Energie unter der Nebenbedingung der Ortho- gonalitiit mit allen vorangehenden Funk- tionen zum Minimum machen, kann auf jenes zuruckgefuhrt werden, bestimmte Losungen einer Differentialgleichung, der bekannten Schrodinger-Gleichung, zu fin- den. Die Losungen nennt man Eigen- funktionen der Schrodinger-Gleichung oder, wie in diesem Aufsatz, Wellen- funktionen.

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prinzip ein Zustand von hochstens zwei Elektronen besetzt werden kann. Die Wellenfunktion jedes neu hinzutretenden Elektrons mu8 immer orthogonal zu den Wellenfunktionen der schon vorhandenen Elektronen sein.

Die Elektronen besetzen, wie man sich ausdriickt, einzelne Orbitale. ,,Orbit" heiBt Bahn, und unter Orbital versteht man etwas Bahnahnliches, einen Platz, den ein Elektron einnehmen kann, wobei es eine Wolke von ganz bestimmter Form und Gro8e bildet.

Die Orbitale in Atomen oder Molekulen darf man sich naherungsweise aus Wolken zusammengesetzt denken, die den Wolken von Elektronenzustanden des H-Atoms (Abbildung 5c und 7) ahnlich sind, und die man wiederum mit Is, 2s, 2p, usw. bezeichnet. Allerdings haben bei Atomen mit mehr als zwei Elektronen z. B. die Zustande 2s nicht mehr die gleiche Energie wie die Zustande 2p,, 2p, und 2p,. Treten Atome zu Molekiilen zusammen, so ent- stehen aus den Atomorbitalen Mole- kulorbitale (,,MOs") *, ebenso wie bei der Bildung des H,+-Ions aus der l s -

Wolke des H-Atoms eine sich uber beide Wasserstoffkerne erstreckende Gesamt- wolke entsteht.

Welche der oben beschriebenen unendlich vielen Zustande der Bindungselektronen zu verwenden sind, um eine moglichst gute Beschreibung eines Molekulorbitals zu erreichen, laRt sich wiederum aufgrund des Variationsprinzips durch Aufsuchen des Energieminimums entscheiden, wobei das Ergebnis von Molekul zu Molekul verschieden ist. So kann ein bestimmtes Atom in einer Verbindung die unhybri- disierten Zustande von Abbildung 7a, in einer anderen die Tetraederhybridzu- stande von Abbildung 7 b verwenden. Beispielsweise kann man den Elektronen- aufbau von Methan (CH,), wie schon in Teil I erwahnt wurde, naherungsweise so beschreiben, dal3 man die vorhandenen 10 Elektronen (von denen vier von den H-Atomen und sechs vom C-Atom stammen) gemaB Abbildung 8 (oder Ab- bildung 5f von Teil I) verteilt denkt: Zwei Elektronen sind im 1s-Orbital des C-Atoms, und zwei in einem Orbital, das man sich aus einem Tetraederhybrid- orbital des C-Atoms und einem ls-

Links : Abb. 7. Wasserstoffatom im Anregungs- zustand der Energie E,. Wahrend im Grundzustand der Energie El nur die Elektronenwolke gemaB Abb. 5c auftritt, sind hier unendlich viele Wolken moglich, von denen je vier orthogonal zueinander sind. 2s bis 2p,: Nichthybridisierte Zustande 2t, his 2,: Tetraederhybridzutande

Rechts : Abb. 8. Molekulorbitale in Methan (CHJ ; schematische Darstellung. Die Molekiilorbitale denkt man sich aus Atomorbitalen zusammengesetzt. Die Atomorbitale sind durch ahnliche Wolken gegeben wie die Elektronen- zustande des WasserstoAatoms (Abb. 5 c, Abb. 7). Welche dieser Atomorbitale zu verwenden sind, ergibt sich nach den1 Variationsprinzip durch Aufsuchen des Energieminimums. In CH, befinden sich die vier Bindungselektronenpaare in Orbitalen, die sich aus den Tetraederhybridorbitalen (Abb. 7 b) des C-Atoms und den 1s-Orbitalen der H-Atome zusammensetzen.

Orbital des H-Atoms t( zusammengesetzt denkt. Die ubrigen Elektronen denkt man sich entsprechend in Orbitale ge- bracht, die sich aus den drei anderen Tetraederhybridorbitalen am C-Atom und den 1s-Orbitalen der drei H-Atome @, y und 6 zusammensetzen. Dem Modell in Abbildung 8 ist eine kleinere Energie zuzuschreiben als einem Modell, in dem anstelle der Tetraederhybridorbitale an- dere Atomorbitale des C-Atoms, z. B. die nichthybridisierten Orbitale, zugrundege- legt sind. Das Modell liegt daher im Sinne des Variationsprinzips dem tatsachlich von der Natur als Methanmolekul verwirk- lichten System naher als andere Modelle.

* Fur die Entwicklung der Theorie der Molekulorbitale (,,MO-Theorie") hat 1966 R. S. Mulliken den Nobelpreis erhalten.

Zwei Valenzelektronen in einem Orbital, der sich aus einem Tetraederhybrid - Orbital und dem Is Orbital des H -Atoms a zusammensetzt

n Innenelektronen

H-Kern 6

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