chemiker und chemische industrie im ausland

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Aufaatztail. Diehl: Chemiker und chemische Industrie im Ausland. 441 _________ - . _._______ ~.__._______ - ~ _ _ _ _ _ _ _ ~ ?8. Jahrgang 1816.1 Zeitschrift ftir angewandte Chemie I. Band, Seite 441-448 I Ads a tz t eil 1 9.November 1916 Chemiker und chemische Indtist'rie im Aiisland 1 ) . Von Dr. TH.DIEHL. (Eingeg. 23.p 1916.) Die Veroffentlichungen einer Anzahl von AuBerungen englischer Fachmanner uber die Lage cler Chemiker und der chemischen Industrie in England, die unsere Kollegen, Herr Prof. Dr. H e s s e und Dr. G r o 13 m a n n , in der ,,Chemi- schen Industrie" vorgenommen haben, veranlaBten mich vor einiger Zeit, den. Lesern unserer Vereinszeitschrift2) eine Auslese aus diesen AuBerungen mit einer Anzahl begleiten- der Bemerkungen zu geben. Seit Niederschrift nieines damaligen Artikels i d nun noch eine Reihe weiterer Veroffentlichungen aus dem Aus- land bekannt geworden, von denen ich Ihnen heute im Auszug Kenntnis geben mochte. Es ist besonders bemerkens- wert, daB diese Ausspriiche fast siinitlich vor einem groBeren Kreis von Sachverstandigen aus Wissenschaft wid Industrie - erfolgt sind. I. Was zuniichst die enclische Hochschulbildung betrifft, so ist d e n A u s f u h r u n 2 s n von Prof. P e r k i n in der Jahresversammlung der Chemical Society noch folgendes nachzutragen : Prof. P e r k i n beklagt auf das tiefste, daB nicht nur in der Zeit der 70er ud 80er Jahre mahrend der bedeutsamen Entwicklung der chemischen Industrie Deuhchlands das Chemiestudiuin an den englischen Universitaten unbeachtet geblieben sei, sondern daB es jetzt noch nicht in ahnlicher Weise zur Entwicklung gelangt ist wie fast auf jeder Univer- sitat und Hochschule Deutschlaiids. Viele der bestehenden englichen Bildungsstatten, wic z. B. Oxford und Cambridge, hatten praktisch zur Entwicklung der organischen Chemie in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts nichts beigetragen, und die Ausbeute an wissenschaftlicher For- whung, die Zahl der Originalarbeiten, die Anzahl tuchtiger Forscher, sei auch jetzt noch meit geringer, als sie sein sollte. Es sei unverstandlich, daB die englischen Universitaten sich so hartnackig dem Fortschritte verschlieaen konnten und kein Verstindnis fiir die Wichtigkeit neu eroffneter Gebiete besaoen, von denen vielfach die Wohlfahrt des ganzen Lan- des abhange. Nur die Verbindung zwischen Universitat und Industrie, wie sie in Deutschland schon langst besteht, konne wichtige praktische Erfolge zeitigen. Eine solche Verbindung miisse stets fur beide Teile einen fordernden EinfluB haben. Sie fiihre zur Erorterung von Problemen, die in rein akademischen Kreisen anderenfalls iiberhaupt nicht erortert worden waren : sie verhindere, daB infolge der jetzt herrschenden Tendenz des englischen Universitiititwystems, die Professoren unpro- duktiv und akaclemische Fossilien wurden. Ganz im gleichen Sinne und in ahnlich scharfer Weise hat Rich Herr Prof. A r m s t r o n g neuerdings am 14.17. in der Versammlung der S o c i e t y of chemical I ii d u s t r y in Manchester ausgesprochen. Den Grund fur das Zuriickbleiben Englands sieht er in dem zu rein akademischen, niit den praktischen Bediirfnissen absolut nicht in Beriihrunq stehenden Unterriohkqmtem. Seit H o f in a n n England verlassen hatte, sei in England an den Universitaten nicht mehr richtig Chemie gelehrt uncl gelernt worden. In den Universitaten und hoheren Schulen werde man mit Gelehrtenkram iiberfuttert. Die Oxforder Tradition hatte die Situation beherrscht, wonach es ge- niige, nur gut belesen zu sein und nachmittaga Sport zu treiben. DaB man aber auch etwas Tiichtiges fur das prak- 1) Vortrag, gehalten in der Sitzung des Miirkischen Bezirksvereins 2) dgl. Angem. Chem. 28, I, 309-313 [1915]. am 21. 9. 1915. tische Leben gelernt habe, werde nicht verlangt, zumal Oxford ja seit 40 ,Jahren ohne ein richtiges chemisches In- stitut sei. Der Oxford-Grad fur Chemie sei fiir praktische Endzwecke ganz wertlos. Denn in Oxford konnten die Studierenden hierfiir nicht die richtige Erziehung bekom- nien, dazu fehle Oxford die geeignete Atmosphare. Der game Ton der Universitiit mkse von Grund aus geiindert werden, wenn man Erfalg haben wolle. Neue Laboratmien allein genugten hierzu aber nicht. C a. m b r i cl g e sei zwar besser daran. Man habe dort zuviel herumexperimentiert, iind das Itesultat sei bei weiterii auch noch nicht befriedigend. Me fur das Studinm ver- wenclete Zeit sei vie1 zu gering, um den Studenten einen praktischen Uberblick zu geben. Gerade Oxford und Cambridge miifiten aber mit dem guten Beispiel vorangeheii ; wegen ihrer sozklen Vorteile uncl ihres Ansehens konnten beide Universitaten das beste Material des Landes an Rich ziehen, und deshalb mUBte vor allem gerade dort das Studium in die richtigeii Bahnen ge- leitet werden. An den von der Londoner Universitat beeinflu Bten Anstalten werde es den Studierenden ebensowenig moglich gemacht; etwas Praktisches zu lerfien; sie waren zum Biif- feln gezwungen und zwar auf so lange Zeit, daB sie fiir die Praxis verloren seien und unter geistiger Strophie litteii. Man rniisse die Universitatslaufbahn und die Universitateii selbst reformieren, aber diese Reform miiiwe von iiinen her- auskommen, wenn sie etwas nutzen solle. Um den Ruin voll zii niachen, sei dann noch der bose Feind der Exariien tlazii gekoinmen, zusammen . mit eineni System von Auszeichnungen und Graden, die ebenso un- notig als unerwuiischt und aiiBer Verhaltnis seien. Exa- men, wie z. B. die an der L o n c! o n e r UtiiverFitat, fordern einen qanz falschen Typus von Menschen zutage, die ihre In- dividualitat unter dem erdriickenclen Einflu13 der Einpauke- reien verloren hatten. Und zu dern allen komnie noch der vorgeschriebene obligatorische Studiengang ohne eine wirkliche geistige Richtschnur, der nur die Abneigung gegen das Studium he- fordert habe. In Deutschland dagegen hatten die Hochschulen ihren Zweck in vollem Ma13 erfiillt, und zwar unter Lebensbedin- gungen, die eine grundliche Arbeit gewahrleisteten, namlich der L e h r - und L e r n f r e i h e i t. Die deutschen Uni- versitaten bildeten daher auch geeignete. Chemiker ' fiir die spatere Fabriktatigkeit heran und hatten der Industrie die groBten Dienste geleistet, ohne die Einrichtungen der Ehrengrade, der Fellowship usw. Dabei genossen die deut- schen Akademiker die volle Anerkennung der Industrie, weil sie eben ini Durchschnitt Wertvolles geleistet hatten. Dazu komme, daB die chemische Wissenschaft in weitere Kreise eingedrungen sei, daB sie in der 6ffentlichkeit geach- tet und als nationaler Wert betrachtet werde, weil sie de1n praktischen ..Leben zugute komme. Mit den AuBerungen der beiden eben zitierten englischen Professoren deckt sich auch die von Herrn Professor L o u i s , der lebhaft beklagt, daB die englischen Hochschulen die Be- deutung einer grundlichen Fachbildung der Chemiker iminer ubersehen hatten, und daB die chemische Technologie stets das Aschenbrodel der chemischen Hochschule gewesen sei. Es hat sich schliefilich auch die Tagespresse in England der Erorterung der Hochschulausbildnng zugewandt. Die ,,D a i 1 y N e w s" , bekanntlich eines der gro13ten Hetz- blatter gegen Deutschland, haben vor kurzem in einem Leitartikel darauf hingewiesen, wie auBerordentlich unklug es gewesen sei, da13 sich die englische Industrie bis jetzt nahezu vollstandig und hartnackig der grundlegenden Wich- tigkeit der Erziehnng und rler Wissenschaft verschlossell MI Angew. Chem. 1916. Aafuatsteil (I. lhnd) mi Nt. 90.

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Page 1: Chemiker und chemische Industrie im Ausland

Aufaatztail. Diehl: Chemiker und chemische Industrie im Ausland. 441 _________ - . _._______ ~ . _ _ . _ _ _ _ _ _ _ - ~ _ _ _ _ _ _ _ ~ ?8. Jahrgang 1816.1

Zeitschrift ftir angewandte Chemie I. Band, Seite 441-448 I Ads a tz t eil 1 9.November 1916

Chemiker und chemische Indtist'rie im Aiisland 1). Von Dr. TH. DIEHL.

(Eingeg. 2 3 . p 1916.)

Die Veroffentlichungen einer Anzahl von AuBerungen englischer Fachmanner uber die Lage cler Chemiker und der chemischen Industrie in England, die unsere Kollegen, Herr Prof. Dr. H e s s e und Dr. G r o 13 m a n n , in der ,,Chemi- schen Industrie" vorgenommen haben, veranlaBten mich vor einiger Zeit, den. Lesern unserer Vereinszeitschrift2) eine Auslese aus diesen AuBerungen mit einer Anzahl begleiten- der Bemerkungen zu geben.

Seit Niederschrift nieines damaligen Artikels i d nun noch eine Reihe weiterer Veroffentlichungen aus dem Aus- land bekannt geworden, von denen ich Ihnen heute im Auszug Kenntnis geben mochte. Es ist besonders bemerkens- wert, daB diese Ausspriiche fast siinitlich vor einem groBeren Kreis von Sachverstandigen aus Wissenschaft wid Industrie - erfolgt sind.

I. Was zuniichst die enclische Hochschulbildung betrifft, so ist d e n A u s f u h r u n 2 s n von Prof. P e r k i n in der Jahresversammlung der Chemical Society noch folgendes nachzutragen :

Prof. P e r k i n beklagt auf das tiefste, daB nicht nur in der Zeit der 70er ud 80er Jahre mahrend der bedeutsamen Entwicklung der chemischen Industrie Deuhchlands das Chemiestudiuin an den englischen Universitaten unbeachtet geblieben sei, sondern daB es jetzt noch nicht in ahnlicher Weise zur Entwicklung gelangt ist wie fast auf jeder Univer- sitat und Hochschule Deutschlaiids. Viele der bestehenden englichen Bildungsstatten, wic z. B. Oxford und Cambridge, hatten praktisch zur Entwicklung der organischen Chemie in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts nichts beigetragen, und die Ausbeute an wissenschaftlicher For- whung, die Zahl der Originalarbeiten, die Anzahl tuchtiger Forscher, sei auch jetzt noch meit geringer, als sie sein sollte. Es sei unverstandlich, daB die englischen Universitaten sich so hartnackig dem Fortschritte verschlieaen konnten und kein Verstindnis fiir die Wichtigkeit neu eroffneter Gebiete besaoen, von denen vielfach die Wohlfahrt des ganzen Lan- des abhange.

Nur die Verbindung zwischen Universitat und Industrie, wie sie in Deutschland schon langst besteht, konne wichtige praktische Erfolge zeitigen. Eine solche Verbindung miisse stets fur beide Teile einen fordernden EinfluB haben. Sie fiihre zur Erorterung von Problemen, die in rein akademischen Kreisen anderenfalls iiberhaupt nicht erortert worden waren : sie verhindere, daB infolge der jetzt herrschenden Tendenz des englischen Universitiititwystems, die Professoren unpro- duktiv und akaclemische Fossilien wurden.

Ganz im gleichen Sinne und in ahnlich scharfer Weise hat Rich Herr Prof. A r m s t r o n g neuerdings am 14.17. in der Versammlung der S o c i e t y o f c h e m i c a l I ii d u s t r y in Manchester ausgesprochen. Den Grund fur das Zuriickbleiben Englands sieht er in dem zu rein akademischen, niit den praktischen Bediirfnissen absolut nicht in Beriihrunq stehenden Unterriohkqmtem. Seit H o f in a n n England verlassen hatte, sei in England an den Universitaten nicht mehr richtig Chemie gelehrt uncl gelernt worden. In den Universitaten und hoheren Schulen werde man mit Gelehrtenkram iiberfuttert. Die Oxforder Tradition hatte die Situation beherrscht, wonach es ge- niige, nur gut belesen zu sein und nachmittaga Sport zu treiben. DaB man aber auch etwas Tiichtiges fur das prak-

1) Vortrag, gehalten in der Sitzung des Miirkischen Bezirksvereins

2) dgl. Angem. Chem. 28, I, 309-313 [1915]. am 21. 9. 1915.

tische Leben gelernt habe, werde nicht verlangt, zumal Oxford ja seit 40 ,Jahren ohne ein richtiges chemisches In- stitut sei. Der Oxford-Grad fur Chemie sei f i i r praktische Endzwecke ganz wertlos. Denn in Oxford konnten die Studierenden hierfiir nicht die richtige Erziehung bekom- nien, dazu fehle Oxford die geeignete Atmosphare. Der game Ton der Universitiit mkse von Grund aus geiindert werden, wenn man Erfalg haben wolle. Neue Laboratmien allein genugten hierzu aber nicht.

C a. m b r i cl g e sei zwar besser daran. Man habe dort zuviel herumexperimentiert, iind das Itesultat sei bei weiterii auch noch nicht befriedigend. Me fur das Studinm ver- wenclete Zeit sei vie1 zu gering, um den Studenten einen praktischen Uberblick zu geben.

Gerade Oxford und Cambridge miifiten aber mit dem guten Beispiel vorangeheii ; wegen ihrer sozklen Vorteile uncl ihres Ansehens konnten beide Universitaten das beste Material des Landes an Rich ziehen, und deshalb mUBte vor allem gerade dort das Studium in die richtigeii Bahnen ge- leitet werden.

An den von der Londoner Universitat beeinflu Bten Anstalten werde es den Studierenden ebensowenig moglich gemacht; etwas Praktisches zu lerfien; sie waren zum Biif- feln gezwungen und zwar auf so lange Zeit, daB sie fiir die Praxis verloren seien und unter geistiger Strophie litteii. Man rniisse die Universitatslaufbahn und die Universitateii selbst reformieren, aber diese Reform miiiwe von iiinen her- auskommen, wenn sie etwas nutzen solle.

Um den Ruin voll zii niachen, sei dann noch der bose Feind der Exariien tlazii gekoinmen, zusammen . mit eineni System von Auszeichnungen und Graden, die ebenso un- notig als unerwuiischt und aiiBer Verhaltnis seien. Exa- men, wie z. B. die an der L o n c! o n e r UtiiverFitat, fordern einen qanz falschen Typus von Menschen zutage, die ihre In- dividualitat unter dem erdriickenclen Einflu13 der Einpauke- reien verloren hatten.

Und zu dern allen komnie noch der vorgeschriebene obligatorische Studiengang ohne eine wirkliche geistige Richtschnur, der nur die Abneigung gegen das Studium he- fordert habe.

In Deutschland dagegen hatten die Hochschulen ihren Zweck in vollem Ma13 erfiillt, und zwar unter Lebensbedin- gungen, die eine grundliche Arbeit gewahrleisteten, namlich der L e h r - und L e r n f r e i h e i t. Die deutschen Uni- versitaten bildeten daher auch geeignete. Chemiker ' f i i r die spatere Fabriktatigkeit heran und hatten der Industrie die groBten Dienste geleistet, ohne die Einrichtungen der Ehrengrade, der Fellowship usw. Dabei genossen die deut- schen Akademiker die volle Anerkennung der Industrie, weil sie eben ini Durchschnitt Wertvolles geleistet hatten. Dazu komme, daB die chemische Wissenschaft in weitere Kreise eingedrungen sei, daB sie in der 6ffentlichkeit geach- tet und als nationaler Wert betrachtet werde, weil sie de1n praktischen ..Leben zugute komme.

Mit den AuBerungen der beiden eben zitierten englischen Professoren deckt sich auch die von Herrn Professor L o u i s , der lebhaft beklagt, daB die englischen Hochschulen die Be- deutung einer grundlichen Fachbildung der Chemiker iminer ubersehen hatten, und daB die chemische Technologie stets das Aschenbrodel der chemischen Hochschule gewesen sei.

Es hat sich schliefilich auch die Tagespresse in England der Erorterung der Hochschulausbildnng zugewandt. Die ,,D a i 1 y N e w s" , bekanntlich eines der gro13ten Hetz- blatter gegen Deutschland, haben vor kurzem in einem Leitartikel darauf hingewiesen, wie auBerordentlich unklug es gewesen sei, da13 sich die englische Industrie bis jetzt nahezu vollstandig und hartnackig der grundlegenden Wich- tigkeit der Erziehnng und rler Wissenschaft verschlossell

MI Angew. Chem. 1916. Aafuatsteil (I. l h n d ) mi Nt. 90.

Page 2: Chemiker und chemische Industrie im Ausland

[ Zemchrlft fur Diehl: Chemiker und chemische Industrie im Ausland. angewandte Chemie. 442 _ _ ~~

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habe. Wenn der Krieg etwas bewiesen habe, so sei es gerade dies. Es sei selbst fiir den einfachsten Laien vollstandig klar, da13 die ungehcure Starke Deutschlands hauptsgchlich von seiner Wissenschaft und seiner wissenschaftlichen Or- ganisation hcrstamme.

11. Ich gche dann iiber Zuni zweitcn Punkt, namlich der Kritik, welchc aus dem Verhalten der chemischen Indu- striellen Englands gcubt worden ist.

Prof. P e r k i n sprach dic Ansicht aus, daI3 die eng- lische Nation und die englischen Fabriksntcn leider nicht verstanden hatten, wie anl3crordentlich konipliziert die wissenschaftliche Grundlage cier organischen chemischen Industrie sei. Sie hatten geglaubt, man lronne sic hetreiben ctma wie cine Schwefelsgurefabrik. Die Fabrikanten hatteri niemals eingcsehen, claD die Vcrnachliimigung dcr Wisscn- schaft in ihren Unternehmen die wahre Ursache dafiir ge- wescn ist, ds13 man nicht inistande war, in England einc Industrie wie die Farbstoffindustrie dauernd mit Erfolg zu pflegen. Es sei zu furchten, daB Iange Zeit vergehen werde, ehe die englischen Fabrikanten ihrc veralteten, nur anf Routine gegrmdeten Arbeitsmethoclen aufgeben und den Wcrt der wissenschaftlichcn Arbeit wirklich erfasseii. Die deiit,aclien Fabrikanten wiiDten dagegen sehr wohl, daB die hitring ihrer Werke in der Hand von Chcmikern liegen musse. Sie scien deshalb aiich darauf bedacht., ihre Chemiker gut zu bczahlcn, ihiien Bnteil an cleni Gewinr! zu geben und ihre Aufrnerksmnkeit auf rieue Gebiete ZLI lenken.

Prof. I1 e n cl e r s o n , der Prasident der Society of Chemical Industry, hat in seiner BegruRungsrede am 14./7. 1915 die gleichen Gcdariken ziim Ausdruck gebracht. Eng- land sei stehen geblieben , und zuriicl<gegange!i, wahrcncl Ileutschland in den letztcn 40 Ja,hren in seiner chemischen Industrie stanciig Fortschrittc geniacht habe. Manche Zweige der organischen Industrie, speziell die Farbindustrie, scien fast ganz in die Hiindc Deutschlands ubergega.ngen, und auch die fruhere cnglischc Suprematie in tler Indnstric der schwcrcn Cheniikalien sei ernstlich crschuttert. Schuld daran sei die Vernachlassigung der wisscnschaftlichen Arbcit und der Mangcl an Biihlung zwischcn den Universitaten und cler Industrie. Anstatt Zusammcnarbeiten bestehe in Eng- land eine Zuruckhaltung und ein absichtliches Fernhalten voneinsnder. Deswegcn konne auch nur ein sehr kleiner Teil der in den chemischen Universitatsinstituten geleiste- ten Arbcit der Industrie zugute kommen.

Nicht minder zutreffend sirid auch in dieser Beziehung die Ausfiihrungen von Professor A r rn s t r o n g. Er er- blickt den Grund fur die fllberlegenhcit Deutschlands clarin, daB die Fabrikcn ron wirklich sachverstandigen Chennikern geleitet seien, da13 dort Ansta.lten getroffen sind; urn wissen- schaftliche Untersuchungen in voniiglich ausgestatteten Fabriklaboratoricn zn iuachen.

England musse hieraus die Lehrc ziehen, daB der Che- miker, cbenso wie andere Berufsklasscn, ein Reruf fiir das praktischc Leben werclen miissc. Der akademische Chcmi- ker sollte von den Fabrilten unterstiitzt und angeregt wcr- den, der reine Akadeniiker niiisse verschwincleii.

Ich mochte hier noch eine Aunerung It a m s a y s an- fiihren, die zeigt, da13 dieser Gelehrte auch cinxnal ein vorur- teilsfreies Urteil abgeben kann. Hr macht es den englischen Fabrikanten zuin Vorwurf, dsl3 sie so sehr geneigt seien, den Chemiker l~ls einen Teil ihrer groDen Maschinerie zu betrachteii? ohne ihm uberhaupt Einblick zu geben, was in der Pabrik eigentlich vor sich gehe. Dieses System habe der cnglischen htlustrie mehr geschadct als igerid etwas andercs.

Sehr Iehrreich ist auch das Urteil, das Ilr. F o r s t e r in seinem Vortrag iiber , ,Wissenschaft und chemische Indu- strie" in cler bereits erwahntcn Versammlung abgegeben hat. P o r s t e r ist der Ansicht, da13 die Kluft zwischen Industrie und Universitat mchr als alles andere Schuld an der schlimmcn Lage sei, in der sich die englische Industrie befindet, wahrcnd in Deutschland und in Amerika diese Kluft iiberbruckt sei. Die Entfremdung in England bewege sich in eiuern unheilvollen Zirkel. Die Fabriken kiinimerten sich nicht um dio Universitaten, und die Professoren ver- alteten infolgedessen in ihren Anschauungen, da sie sich nur mit theoretischen Problemen beschaftigten, technische Pro- b l em scheuten und so die Studenten von der Ekarbei-

tung technischer Bkagen abhielten. Aridererseits sahcn die Fabriken auf diese rein wissenschaftliche Arbeit herab, und auch dies sei wieder ein Ungliick, denn rastlose wissenschaft- liche Tatigkeit, die Erlernung von Genauigkeit in der Ar- beit und von Verantwortungsgefiihl seien doch wieder die Vorbedingungen fur spatere industrielle Tiitigkeit.

In Deutschland sei dies anders. Es sei ganz tori&, und zwar unverantwortlich Mricht. zii behaupten, Deutschland habe seine chemische Industrie anderen Nationen entwen- det nnd nicht aus eigeiier Arbeit gescheffen. Toricht, wed es nicht wahr sci, unit unverantwortlich: wed man hierdurch nur der nationalen RiteIkeit uncl dem Mil3t.rauen gegcn das Imnen Vorschub leiste, die wahre Ursache des Ubels aber unberiicksichtigt liefie. In Wirklichkeit habe Deutschland vie1 friiher als England erkannt, daI3 auch in der Wiasen- schaft Sicherung der Fundamente der erste Schritt zur Er- richtung cines Iiauses ist, uiid dal3 man hierzu geeignete Architekten rind Baumeistey haben miisse.

Die chemische Industrie Englancls musse sieh irnmer dariiber uiiterrichtet halten, was auf den einzelncn Univer- sitiiten besonders bearbeitet wird, tlaniit sic sich ihre Hilfs- krafte danach aussuchen konne. Sie miisse ferner den auf den Uriiversitaten Arbeitendcn durch Itohmaterial uiid Stellung von Aufgabcn Unterstiitzung zu tcil werdcn lassen, dcnn damit niitze sie sich nicht nur selbst, sondern auch den UIiiversitat.slehrern, denen sie clainit eine Witterung fur tcchnische Arbeiten @be. Durch ein solches Vcrfahren murdc ehi Anreiz fur das Studinin der Technologie auf den Universitaten gegeben, uncl es wiirdcn dadarch der Indu- strie eine gro13e Anzahl von Cheinikern zugefiihrt, die ihr jetzt durch das Pehlen eincr nahcrcn Puhlung verloren gingen. Um ciieses Ziel zii erreichcn, empfehlcn H c n d e r - s o n , R a m s a y u. a. die Errichtung sog. industrieller Fellowships, wonach die Fabrikanten geeignete Personen an den Hoclischulen auf g e n k e Zeit gcgcn Honorar und Gewinubeteiligung niit dcr Ausfuhrung von Unt,ersuchun- gen auf bestinimten Gebicten bctrauen sollen. Dcr Vor- schlag liiuft auf t l a ~ hinaus, was in Deutschland schon seit Jahren bckannt ist, namlich daB chemische Fabriken an Rochschulen sog. auswartige Mitarbeiter haben. Es ist bczeichnend, da13 rnit dem Gedanken an diese Einrichtung, die sich in Deutschland. vielfach bewahrt hat, England auch wieder nachhinkt.

111. Besondere neachtung verdienen vom Gesichtspnnkt der Standc,siiiteressen au5 noch folgcnde AuJ3erungea.

So sagt Professor A r ni s t r o n g , es konne nicht oft genug betont werden, claD die Chemie schon seit Iangen Jahren keiiie Nknner von weitem Hick, hervorragcnder Piihigkeit und Repriiyentationsgabo anzuzichen vermocht habe. Es fehle eben dem Chemikerstand an dem richtigen Menschenmaterial. Wie gut koime ein groficr Teil derje- nigen gebraucht und zu Ifiistungen in der Industrie hcran- gezogen werden, die sich jetzt z. €3. als Anwalte ohne Praxis herumtrieben. Wahrend andere Berufsklassen organisiert seien, 'bildeten die Chemiker einen unorganisierten Haufen.

Sehr offen spricht sich auch Dr. F o r s t e r iiber diese Fragc aus. Er glaubt, daB an den iuigiinstigen Verhiiltnissen in England die englischen Chemiker selbst mit Sehuld seien. Sic hatten nicht mitcinander harmoniert, so wie ea hiitte scin sollefi. Schon F a r a d a y habe diese Ent- tauschung erfahren. Man sci gewiI3 in England nicht weniger ehrlich und wohlwollend gegeneinander , oder eitler und miflgiinstiger, nls es die Menschen im grol3en und ganzen seicri, aber man habe sich in England nie auf eiilen hoheren St.andpunlit stellen komien, und bei dem jetzigen Zusam- meiischlufi aller nationalen Kraftc miisse auch der Chemiker lernen, da13 Organisation, Zusammenarbeit, vor allem aber Hingabe an die wissenschaftliche Forschmng die Losung werden miisse. Wenn man jetzt nicht die eigenen Schwacheri erkenne nnd sic abschiittlc wie alte Lumpen, konne ma.n nicht im schininlernden Gewand vor den Itichterstuhl cler Nachwelt treten.

-Sodam, miisse die offentliche Mcinung niehr fur die Chemie interessiert werden. Die Bcgierung iniisse den An- teil dcr Cheinie an nationalem Fortschritt mehr zur allge- meinen Kenntnis bringen, uin dadurch junge h u t e Quni Studium der Chemie anzuloeken..

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Page 3: Chemiker und chemische Industrie im Ausland

Aufsstzteil. Diehl: Chemiker und chemische Industrie im Ausland. 443 28. Jahrgang 1816.1

Ich mochte diesen Ausspriichen F o r s t e r s noch einige Worte aus einer Zuschrift anfugen, die ein Chemiker, der selbst Angestellter einer Fabrik ist, an den Herausgeber dea C h e m i c a 1 T r a d e J o u r n a 1 s gerichtet hat (Nurnmer voin 5./7. 1915). Es hei13t dort:

Der deutsche Chemiker hat allgemein eine gute soziale Stellung und ist von seinem Berufe begeistert. Daher die gut,en Ergebnisse der Arbeit, die von den Unternehmern denn auch in angemessener Weise beza.hlt werden. Das ganze Verhalten der Majoritat der englischen Fabrikanten steht aber im Gegensatz zu demjenigen der deut,schen Unter- nehniungen. Die deutschen Fabriken besitzen wissenschaft- liche Laboratorien, geeignete Apparate und Fabrikbiblio- theken so gut wie eine Universitat. Dagegen gibt es weiiige englische Firmen, welche die Notwendigkeit solcher Ein- richtungen begreifen. Englische Cheniiker, die in Deutsch- land stud.iert haben uud spater in englische Fabrikeri ein- getreten sind, niiiBten nur zu haufig erkennen, da13 sie dort die von ihnen erworbenen Erfahrungen nicht geniigend ausuben konnen. Sie erhalten auch keinen Gewinnanteil, sondern nur ein festes Gehalt, welches zugleich da.s Ent.gelt fur alle von ihnen gemachten Erfindungen sei.

IV. Aus den mitgeteilten Stimmen englischer Sach- verstiindiger geht hervor, da.13 man die Wurzeln des Cbels er- kannt hat und dariiber klar ist, da13 Wantlel geschaffen werden muB. Die Frage, welche die Gemiiter Englands be- wegt, ist aber die: wo und wie anfangen.

Wenn inan die englischen Chemiker hort, 'dis bisher zu Wort gekommen sind, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, als ob hierbei das Herd beim Schw-anz aufge- zaumt wird. Wie A r m s t r o 11 g , R a in s a y und aiiclere beklagen, lassen sich die grol3en ~~~isuenscliaftlicheri Vereini- gungen entweder auc.h jetzt noch nicht a.us ihrein akade- niischen Schlummer aufrutteln, oder aber jerler dieser Ver- eine handelt fiir sich, anstatt init anderen zusanimenzupehen. Das Resultat sei, wie A r m s t r o n g sagt, eiiifach ein Chaos. Das Eingreifen des Boa,rd of Trade zur Griinclung einer englischen Farbenfabrik wird in . d e n Stadien fiir einen vollkomnienen Fehlscldag gehalten. Als Hanptfehler cler seitherigen Bestrebungen wird seitens hervorragender Chemiker bezeichnet, dalj man an die leitenden Stellen nicht Fachmanner berufen habe, sondern Juristen. So ge- schickt und bedeutend hervorragende Juristen, wie z. B. hf o u 1 t o n , sein mochten, so hatten sie doch fur technische Fragen nicht da.s richtige Gefuhl.

Wie man im Leben bei vielen Anlassen falschlicherweise geneigt ist, gleich nach der Polizei zu schreien, so ruft man in England nun von allen Seiten nach der Hilfe der Regie- rung. Sie SOU die Lehrplane der Universitat umgestalten, die finanziellen Unterstutzungen hierfur geben. Sie sol1 mit ITilfe eines dem Board of Trade beizugebenden Industrierats die Kluft zwischen Wissenschaft und Industrie uberbriicken und die Vermittlung der gesamnielten Erfahrungen in den einzelnen Industriezweigen iibernehnien. Eine Deputation cler Royal Socity und der Chemical Society habe dem Han- delsmiilister und dem Unterrichtsminister bereits eine Denk- schrift in diesem Sinlie uberreicht.

Als ob eine Regierung, selbst wenn sie den besten Willen hatte, dies nun alles zustande bringen oder gar aus dem Arniel schutteln konnte ! 1st etwa unsere bliihende chemische Indiistrie ein AusfluB der Tatigkeit oder der Anregung der Regierung oder eines Industrierats 1 Bei weitem nicht ! Sie ist durch eigene Kraft und aus sich selbst heraus gro13 geworden, und zwar trotz mancher Schwierigkeiten, die sie gegeniiber den Regierungen und Behorden ZLI iibermiiiden hatte. GewiS mu13 anerkannt werden, da,B die Schaffung unserer mustergultigen Universitaten und technischen Hochschulen den R.egierungen zu verdanken ist. Wir diirfen aber nicht vergessen, d213 auch hier die Industrie haufig als treibende Kraf t hat dahinterstehen mussen. Unser Verein hat sich bekaiintlich gleichfalls schon seit vielen Jahren rnit der Frage des Chemiestudiums an den Hochschulen befa,Bt und ist wiederholt fur Verbesserung des Unterrichts cler Universitaten, insbesondere dea Unterrichts in cheniischer Technologie,"eingetreten. Und zulet,zt diirfen wir nicht iintersch3tzen , da13 .der Sinn fur wissenschaftliche Forschung unserem Volke ganz besondess eigen ist,. und daIS ,alles, was

fur die Hochschulbildung in Naturwissenschaf t geschieht, zugleich eiiiem Drange entspricht, der ails dem Volke heraus- kam .

Professor A r rn s t r o n g hat daher wohl nicht Unrecht,, wenii er sagt, da13 das schlechteste Zeichen fur den Tiefstand der chemischen Industrie Englands gerade das standige Rufen nach deni Eingreifen der Regierung sei, der doch der wissenschaftliche Stab in den meisten Fallen fehle. Das Wichtigste sei die Mitwirkung der Industrie selbst.

Erwahnt sei iioch, da13 gegen den vorgeschlagenen In- dustriebeirat geltend gemacht wird, es werde wohl kein Fabrikant seine Geschaftserfahrungen ohne weiteres anderen preisgeben oder sie etwa der Kritik eines akademischen Ausschusses aussetzen, von wem dieser auch immer ernannt sei.

V. Ich lnochte im ArischluB an vorstehendes nicht unter- lassen, noch einige interessante englische Urteile ails neuerer Zeit iiber unseren Handel mitzuteilen.

Wir sind ja leider liingst gewohnt, da13 es ein beliebtes Mittel unserer englischen Gegner ist, u119 in Wort und Schrift Geschaftsunehrlichkeit vorzuwerfen und uns zu beschul- digen, wir verdankten unseren geschaftlichen Erfolg lediglich der Anwendung aller moglichen uiilauteren Mittel. Es liegt in solchen Vorwurfen natiirlich nur die ohnmachtige Wut iiber den technischen Niedergang Englands, iiber den Mangel an technischern Unternehmungsgeist und die eigene tech- nische U~izulanglichkeit~).

In erfreulicheni Gegensatz zu derartigen Kriegshetze- reien steht ein Urteil von H i 1 t o n im Dezeinberheft der Zeitschrift ,,W a r a n d p e a c e". Es hei13t dort:

,,Der deutsche Handel hat seine Stellung nicht durch Riinke und Gaunerei erworben, sondern dadurch, daB Deutschland es verstanden hat, in wirkungsvoller Weise die Wissenschaft zur Dienerin der Industrie zu inachen. Eine leideiischaftslose Beurteilung der allgeineinen Sachlage zeigt, da13 kein Versuch Englands, den deutschen Handel dauernd an sich zu reioen, Ergebnisse zeitigen kann, cler nicht gleichzeitig auch dazu fuhrt, die englischen Pro- duktions-, Konsumtions- und Verkaufsmethoden zu ver- bessern, so da13 England nach dem Kriege Waren anbieten kann, die ebenso vorzuglich~und~ebenso billig sind wie die deutschen."

Auch die Zeitschrift ,,E n g i n e e r i n g" , die sich friiher nicht genug tun k0nnt.e in Hetzereien gegen Deutschland, zieht in einem am 5. /2 . 1915 veroffentlichten Artikel: ,,Deutsche Systeme und deutsche Methode," andere Seiten auf. Sie schreibi : ,,Die industrielle Expansion Deutsch- lands ist in weit systematischerer Weise erfolgt, obwohl sie spater eingesetzt hat, als in England. Sie hat dadurch das Land unabhangiger gegeniiber fremder Hilfe gemacht. Unter den schwierigsten Bedingungen des Krieges hat sich der Wert des deutschen Systems und der deutschen Methode voll erwiesen, und es hat sich herausgestellt, welche Vorteile cliese Arbeitsweise einer Nation bringt, sofern sie von den Gebieten abgeschnit,ten ist, aus clenen sie gewohnlich ihr Rohmaterial bezog."

VI. Den englischen Stimmen hat sich vor kurzesn auch ein Urteil aus F r a 11 k r e i c h angereiht.

E r n e s t F o u r II e a u hat am 17./4. 1915 in der Ge- sellschaft zur Forderung cler nationalen Industrie einen Vor- trag gehalten iiber die ,,Tndustrie der pharmazeutischen Produkte und die Mittel, ihre Entwicklimg in Frankreich sicherzustellen" 4).

F o u r n e a u , der auch Mitglied unseres Vereins ist, galt bisher als eine ernst zu nehmende Personlichkeit und als ein Mann, der im besonderen uber die Industrie der

3) Einen Beweis hierfiir gibt u. a. auch die Statistik der Patent- anmeldungen. Von der Gesamtzahl der in den Jahren 1912 und 1913 in England jiihrlich eingereichten ca. 30 OOO Patenten kommen je- meils ca. 18000 auf Englinder und iiber 3000 auf Deutsche. Die Znhl der englischen Anmeldungen in Deutschland ist gegen friiher gesunken; 1912 und 1913 kamen auf ca. 25000 deutsche Anmel- dungen pro Jahr nur ca. 1300 englische.

4) Da der Vortrag F o u r n e a u s inzivischen in der Vereins- zeitschrift (28, I, 389--396,401-404 [1915]) im Wortlaut abgedrockt ist, seien an dieser Stelle nur kritiwhe Remerkungen zu demselhen wiedergegeben.

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pharmazeutischen Produkte wissenschaftlich wie technisch vollkommen unterrichtet ist. Es ist daher um so mehr be- achtenswept, daB F o u r n e a u uber die franzosische Universi- tatsbildung der Chemiker, iiber die Lage der fraiizosischen chemischen Industrie und im besonderen die der pharma- zeutisch-chemischen Produkte ganz offen die gleichen leb- haften Klagen fiihrt, wie man sie von den Englandern uber die Lage in ihreni Land gehort hat. Mange1 in der Organi- sation des Unterrichtswesens, Verstanindnislosigkeit fiir die Bedeutung chemischer Forschung uncl die Leistungen der Chemiker sowie ungenugende finanzielle Unterstiitzung seitens des Staats, Sparsamkeit am falschen Platz - auch in cler Industrie selbst - hatten auch in Frankreich dazu gefiihrt, wichtige Gebiete der chemischen Industrie in Ab- hangigkeit von Deutschland zu bringen.

Ob der Ruf nach Abhilfe, den F o u r 11 e a u an die Re- gierung richtet, Erfolg haben wird, scheint angesichts des uriglaublich verstandnislosen Verhaltens des franzosischen Kriegsministeriums gegen namhafte, weltbekannte fran- zosische Chemiker recht zweifelhaft.

Was den von F o u r 11 e a u angeregten wirtschaftlichen ZusammenschluB aller Gegner Deutschlands betrifft, so ist dieser Gedanke ja schon seit geraumer Zeit eine be- liebte Drohung gegen Deutschland, und vor kurzem hat in Cernobbio am Comersee eine Zusammenkunft von Ver- tretern Frankreichs und Italiens stattgefunden , als erster Schritt unserer Gegner zur Anbahnung einer wirtschaft- lichen Verbriiderung gegen Deutschland. Ob den tonenden Phrasen, die dort geredet wurden, entsprechende Taten spater folgen werden, konnen wir wohl mit Ruhe abwarten. Tinmerhin ist es bemerkenswert, da13 unter den Wiinschen, die dort laut geworden sind, sich auch wieder derjenige der Errichtung chemischer Lehrstatten nnd einer besonderen Pflege der wissenschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Landern befand.

Ein trauriger Beweis dafiir, wie auch bei sonst einsich- tigen Mannern durch Verhetzung cler Sinn fur Recht und Anstand leiden kann, ist der Rat, den F o u r n e a u seinen Landsleuten gibt, sich iiber die Patentrechte s, der Deut- when in Frankreich hinwegzusetzen, und durch eingehende Resichtigung der zurzeit in franzosischer Macht befind- lichen Filialen deutscher Fabriken sich moglichst vie1 In- formation zu verschaffen.

Dem gleichen blinden Ha13 entspringen F o u r n e a u s Urteile uber die deutschen Handelsgebrauche, die sich den gehlssigen Stimmen aus England ebenbiirtig anreihen.

Wenn F o u r n e a u schon ails der Nibelungensage den Sinn fiir Lug und Trug als einen Grundzug der Deutschen ableiten will, so fallen solche AuBerungen der Lacherlichkeit anheim, und es wirkt doppelt komisch, daB F o u r n e a u selbst seinen Landsleuten als Vorbild des kiinftigen Mi& trauens gegen Deutschland den altdentschen Gott Loge hinstellt .

VII. Auf I t a l i e n war vorhiii gelegentlich der Er- wahnung der Zusammenkunft in Cernobbio bereits kurz hingewiesen. Es liegt nun auch aus diesem Land eine ein- gehende und ungeschminkte AuBerung vor und zwar in einem Vortrag, den Dr. G. M o r s e 11 i an1 27./3. d. J. vor cler Societh Chimica Italiana di Milano gehalten hat6).

Da13 Italien infolge des Fehlens von Steinkohle und anderer naturlicher Rohstoffe in seiner chemischen Industrie, insbesondere in der Industrie organischer Produkte wie Farb- stoffe, pharmazeutische Produkte entweder vom Ausland abhangig oder aber riickstandig und erst im Anfangssta- dium ist, wird von M o r s e l l i ohne weiteres zugegeben. Die Bilanz der chemischen Industrie Italiens ist daher auch in hohem MaBe eine passive.

5 ) Es mag bei dieser Gelegenheit darauf hingewiesen werden, daB von den ca. 16 000 Patenten, die im Zeitraum von 1911-1913 jiihr- Iich in Frankreich erteilt worden sind, nur jeweilig ca. 7500 auf Frank- reich und seine Kolonien fallen, dagegen im Jahr ca. 3000 auf Deutsch- land. Der letztgenannten Ziffer standen in Deutschland in dem gleichen Zeitraum jahrlich aber nur etwa 1900 Anrneldungen von Franzosen gegenuber.

8) Vgl. H e s s e u. G r o B m a n n. Englands Handelshieg und die Cheinische Industrie. S. 294 ff. Verlag von Ferdinand Enke, Stuttgart.

Als schwache Seite Italiens, die auch die Ausbreitung der Industrie erschwert, wird aber von M o r s e l 1 i die Ruckstandigkeit und Veniachlassigung des chemisch-tech- nischen Unterrichts bezeichnet. Ebenso wird der geringe Zusammenhang zwischen der Industrie und den Forschungs- instituten und das geringe Verstandnis der Behorden fiir die Bedeutung der chemischen Industrie beklagt. Er be- furwortet die groaten Anstrengungen zu machen, uin fur die wirtschaftlichen Verhaltnisse nach dem Krieg moglichst groBe Vorteile zu erlangen.

Wenn ich die Reihe unserer Gegner weiter durchgehe, so hatte ich noch B e 1 g i e n zu erwahnen. Zurzeit ist der groBte Teil dieses Landes in deutschem Besitz, und deutsche Manner sind bemiht, die industriellen Krafte des Landes wieder nutzbar zu machen. Wir wollen hoffen, daB dieses mit deutschem Blut getrLnkte Land nach deni Kriege in irgendeiner Form Deutschland angegliedert wird, und daB deutscher Geist dann die Bildungs- uncl Industriestatten dieses Landes durchdringt ').

Was R u B l a n d betrifft und die Lage der clortigen chemischen Forschung und Industrie, so liegt seit Beginn des Krieges nur eine AuBerung vor, und zwar in einein Vor- trag, den W. P o c h n i t o \v am 24.19. auf der Versamm- lung der Russischen Chemischen Gesellschaft gehalten hat. P o c h n i t o w beklagt die ungeheuer groBe Abhangigkeit vom Ausland, insbesondere von Deutschland namentlich in den Produkten fiir Textilindustrie und fur pharmazeutische Zwecke. Was den Stand der chemischen Forschung in Rufiland

betrifft, so wissen wir ja aus den alljahrlichen Berichten in unseren Hauptversammlungen iiber das Auslanderstu- dium, daB unter der Zahl der Auslander, die an deutschen Hochschnlen studieren, die Russen mit einer sehr erheb- lichen Zahl in erster Linie stehen. Der RiickschluB hieraus auf die Bildungsmoglichkeiten an russischen Hochschulen liegt auf der Hand. Es ist ja selbstverstandlich, daB bei den in RuBland herrschenden politischen Verhaltnissen Lehr- und Lernfreiheit nicht vorankommen konnen, und daB auch die chemische Industrie RuBlands sich nicht frei entwickeln und aus eigener &aft nicht in erfolgreichen Wettbewerb mit urn treten kann.

Die vorstehenden Au Berungen aus dem Ausland besta- tigen nach allen Richtungen hin in vollem Umfange die SchluDfolgerungen, welche in ineinem friiheren Artikel ge- zogen worden waren. Sie beweisen erneut den groBen Vor- sprung Deutschlands gegenuber England und Frankreich, Italien usw., was die Ausbildung der Chemiker, die wissen- schaftliche Arbeit, das Zusammenwirken von Hochschulen und Industrie betrifft ; sie zeigen ferner, daB der Chemiker- stand bei uns eine ganz andere Rolle spielt, und daB seine Bedeutung fur die nationale Krafteentfaltung vollauf aner- kannt wird.

Derartige Anerkennung seitens unserer Gegner, so ehren- voll sie f i i r uns ist, darf uns sber nicht dazu fiihren, im Ge- f iihl unserer Uberlegenheit in der Anspannung unserer IGafte nachzulassen. Wir sehen, da13 von uilseren Gegnern alle Hebel angesetzt werden, um das Verlorene einzholen. Das Dichterwort lehrt uns zwar: ,,Was man der Minute aus- geschlagen, bringt keine Ewigkeit zuruck", uiid wir diirfen in der Tat beruhigt sein, daB der Vorsprung, den wir auf deni Gebiet der chemischen Wissenschaft und Industrie besitzen, iiicht so leicht einziiholen ist. Unser Streben mu8 aber da- hin gehen, ihn anfrecht zu erhalten und dafiir nicht nur jetzt, sondern auch iiach dem Kriege alle Krafte einzusetzen. Fur unseren Verein erwachst besonders auf dem sozialen Gebiet ein Feld fruchtbarer Arbeit, denn auf diesem wird eiii wich- tiger Teil des friedlichen Wettbewerbs der Nationen ausge- fochten werden, wenii der Kampf mit kriegerischen Waffen erst aufgehort haben wird. [A. 108.1 -j

7) Was wir iibrigens von Belgien bei einem Sieg unserer Gegner zu erwarten gehabt hatten, zeigen die unglaublich msDlosen For- derungen, die Rob. B i l l a r d In seinem Buch ,,La Belgique indu- strielle e t commerciale de demain" (Verlag von Berger-Nivrault Paris-Nancy, 1915) erhebt, urn auf Kosten Deutschlende belgischea Gebiet, sowie Handel und Industrie zu vergro8ern.