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D as hier ist sein Land, die Heimat seines Vaters, es ist: Recep Tayyip Erdoğans Türkei. Eine hinreißende Berglandschaft am Schwarzen Meer, satt- grüne Hänge, an denen Menschen Teeblät- ter pflücken. Ihr Werk unterbrechen sie nur, um zu beten. Für diese Menschen, die er „meine Leute“ nennt, hat der Prä- sident auf einem der höchsten Gipfel eine Moschee nach osmanischem Vorbild er- richten lassen. So hoch über den Dörfern, dass sie von unten kaum zu erkennen ist. Ein halsbrecherischer Weg schlängelt sich empor, im Auto braucht man eine Drei- viertelstunde. Aber viele hier erklimmen den Berg zu Fuß, um sich Gott näher zu fühlen, und Erdoğan, ihrem geliebten Prä- sidenten. „Ich wünschte, ich könnte seine Hand küssen!“, ruft Aysel Aksay, 40, etwas au- ßer Atem, aber strahlend. Aksay stammt aus Güneysu, dem Ort am Fuße der Berge, wo auch Erdoğans Familie herkommt. Sie trägt Kopftuch und einen schwarzen Man- tel, sie blickt auf den weißen Marmorbau, der in der Sonne leuchtet. Aufgeregt und glücklich ist sie, gleich wird sie hier beten, wenn auch nur in dem fensterlosen Zim- mer für die Frauen. „Am Tag der Eröff- nung sah ich den Helikopter, mit dem der Präsident über unser Land flog“, erzählt sie, „wir sind so stolz auf ihn.“ Wie Aysel Aksay denken viele Menschen hier. Sie verehren Erdoğan, sie sehen den Präsidenten als einen von ihnen, als einen frommen, einfachen Mann, der es mit har- ter Arbeit ganz nach oben geschafft hat. Wäre der Rest der Türkei wie Güneysu, hätte der 61-jährige Erdoğan, der das Land seit 13 Jahren quasi im Alleingang regiert, bei der Wahl am 7. Juni einen weiteren triumphalen Sieg errungen. Doch weil es auch andere Türken gibt, kam seine Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) nur auf 40,9 Prozent der Stimmen und ver- 88 DEr SpiEgEL 39 / 2015 FOtO: EmiN OzmEN / LE JOurNaL / DEr SpiEgEL Ein Land im Wahn Türkei Kein Staat hat sich in so kurzer Zeit so schnell in die Zukunft katapultiert – und ist so schnell in die dunkle Vergangenheit abgestürzt. Auf die Modernisierung folgt nun ein neuer Bürgerkrieg. Eine Reise durch eine von Misstrauen und Hass gespaltene Nation.

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Das hier ist sein Land, die Heimatseines Vaters, es ist: Recep TayyipErdoğans Türkei. Eine hinreißende

Berglandschaft am Schwarzen Meer, satt-grüne Hänge, an denen Menschen Teeblät-ter pflücken. Ihr Werk unterbrechen sienur, um zu beten. Für diese Menschen,die er „meine Leute“ nennt, hat der Prä-sident auf einem der höchsten Gipfel eineMoschee nach osmanischem Vorbild er-richten lassen. So hoch über den Dörfern,dass sie von unten kaum zu erkennen ist.Ein halsbrecherischer Weg schlängelt sichempor, im Auto braucht man eine Drei-viertelstunde. Aber viele hier erklimmen

den Berg zu Fuß, um sich Gott näher zufühlen, und Erdoğan, ihrem geliebten Prä-sidenten.

„Ich wünschte, ich könnte seine Handküssen!“, ruft Aysel Aksay, 40, etwas au-ßer Atem, aber strahlend. Aksay stammtaus Güneysu, dem Ort am Fuße der Berge,wo auch Erdoğans Familie herkommt. Sieträgt Kopftuch und einen schwarzen Man-tel, sie blickt auf den weißen Marmorbau,der in der Sonne leuchtet. Aufgeregt undglücklich ist sie, gleich wird sie hier beten,wenn auch nur in dem fensterlosen Zim-mer für die Frauen. „Am Tag der Eröff-nung sah ich den Helikopter, mit dem der

Präsident über unser Land flog“, erzähltsie, „wir sind so stolz auf ihn.“

Wie Aysel Aksay denken viele Menschenhier. Sie verehren Erdoğan, sie sehen denPräsidenten als einen von ihnen, als einenfrommen, einfachen Mann, der es mit har-ter Arbeit ganz nach oben geschafft hat.

Wäre der Rest der Türkei wie Güneysu,hätte der 61-jährige Erdoğan, der das Landseit 13 Jahren quasi im Alleingang regiert,bei der Wahl am 7. Juni einen weiterentriumphalen Sieg errungen. Doch weil esauch andere Türken gibt, kam seine Parteifür Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP)nur auf 40,9 Prozent der Stimmen und ver-

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Ein Land im WahnTürkei Kein Staat hat sich in so kurzer Zeit so schnell in die Zukunft katapultiert – und ist so schnell in die dunkle Vergangenheit abgestürzt. Auf die Modernisierung folgt nun ein neuer Bürgerkrieg. Eine Reise durch eine von Misstrauen und Hass gespaltene Nation.

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schar al-Assad stürzen wollte und dannden „Islamischen Staat“ (IS) zu lange igno-rierte. Und der jetzt die Kurden bekämpft,die einzigen Partner des Westens imKampf gegen die Extremisten. Der alteFronten aufreißt, Misstrauen und Nationa-lismus schürt, Journalisten und Kritikereinsperren lässt, Soldaten ganze kurdischeStädte abriegeln und beschießen lässt.

Dabei hatte Erdoğan einst große Ziele:Er wollte den Kurdenkonflikt lösen, dieWirtschaft voranbringen, das Land moder-nisieren und an Europa heranführen. Under hatte ja auch Erfolge.

Der Nato-Partner Türkei galt vor nichtallzu langer Zeit als demokratische Hoff-nung der islamischen Welt, als Vermittlerzwischen Ost und West, als baldiger EU-Beitrittskandidat. Doch was sich nun zeigt,ist das Gegenteil: ein Land, das durch Fa-natismus, übertriebenen Nationalstolz undbizarre Verschwörungstheorien in einenkollektiven Wahn zu verfallen droht.

Wer in diesen Wochen durch die Türkeireist, der erlebt ein gespaltenes Land. Aufder einen Seite ist da die Türkei Erdoğans:seine Heimat am Schwarzen Meer, anato-lische Wirtschaftswunderstädte wie Kay-seri und natürlich Ankara, das Zentrumder Macht. Und auf der anderen Seite dasLand seiner Gegner: das kurdische Diyar-bakır, wo die Menschen um ihr Lebenfürchten müssen, die Kandil-Berge jenseitsder Grenze, wo sich kurdische Kämpferverschanzt haben, und Istanbul, Keimzelleder türkischen Demokratie.

Diyarbakır: Der neue BürgerkriegGültan Kışanak schließt die Augen, dieFensterscheiben in ihrem Büro vibrieren,alle paar Minuten donnern Kampfflugzeu-ge über das Rathaus von Diyarbakır. Siefliegen Richtung Kandil-Berge. Dort, inder Autonomen Region Kurdistan, bom-bardiert die türkische Luftwaffe seit dem24. Juli Stellungen der verbotenen Arbei-terpartei Kurdistans (PKK).

Kışanak, 54, ist eine kräftige Frau mitschulterlangen grauen Haaren und in ei-nem rosafarbenen Blazer. Seit dem Früh-jahr 2014 ist sie Kobürgermeisterin vonDiyarbakır, die erste Frau in diesem Amt.Die prokurdische Partei HDP, die hier beider Wahl im Juni über 80 Prozent erreichthat, schreibt vor, dass alle wichtigen Postendoppelt besetzt werden müssen, mit einemMann und einer Frau.

Im Wahlkampf hatte sich die HDP nichtnur als Partei der Kurden positioniert, son-dern für die Gleichstellung von Mann undFrau und für die Rechte Homosexuellergeworben. Vor allem aber versprach sie,Erdoğans Plan, ein Präsidialsystem einzu-führen, zu bekämpfen. Als am Abend des7. Juni klar war, dass die HDP gut 13 Pro-zent erhalten hatte, feierten die Menschenhier, in der größten Stadt im Südosten. Sie

tanzten in den Straßen, hupende Autosfuhren durch die Stadt, es gab ein Feuer-werk. All das ist gerade mal drei Monateher. Doch heute ist die Stimmung düster.Mit Einbruch der Dunkelheit wird es still,die Läden schließen früh, die Menschenbleiben aus Angst lieber zu Hause.

Fast täglich kommt es in Diyarbakır, wiein vielen kurdischen Städten, zu Kämpfenzwischen Anhängern der PKK und den Si-cherheitskräften. In Cizre, einer Stadt naheder syrisch-irakischen Grenze, wurde An-fang September eine Ausgangssperre ver-hängt, die 113000 Einwohner waren ein-gesperrt, mindestens 30 Zivilisten wurdennach Angaben der Bewohner erschossen.Es ist wieder wie im Bürgerkrieg, der seit1984 mehr als 40000 Menschen das Lebengekostet hat. Und der doch eigentlich über-wunden schien.

Auch Kışanak hat für die kurdische Sa-che gekämpft, aber nie mit Gewalt, wiesie sagt. Und gleichzeitig spricht sie kaumKurdisch. 1983, nach einem Militärputsch,wurde die kurdische Sprache verboten.Kurz darauf begann die PKK ihren Kampffür einen eigenen Staat und gegen dentürkischen Staat. Kışanak, die sich nochheute unwohl fühlt, wenn sie Kurdischspricht, ist ein Beispiel für diese Politikder Repression, für den Versuch, alles Kur-dische auszulöschen, Sprache, Traditio-nen, Identität.

Dass die jüngere Generation es leichterhat als sie, ist ein Verdienst Erdoğans. Alserster Regierungschef sprach er im August2005 von einem „Kurdenproblem“. Er ent-schuldigte sich für die Fehler des Staatesim Umgang mit der größten Minderheitund kündigte einen Neuanfang an. DerFriedensprozess war Erdoğans mutigstesProjekt: Er investierte Milliarden Euro indie Infrastruktur im Südosten, lockerte dasVerbot der kurdischen Sprache und erlaub-te kurdische Radio- und Fernsehsender.

2012 begannen Friedensgespräche mitdem inhaftierten PKK-Gründer AbdullahÖcalan; noch im Februar 2015 forderte die-ser seine Anhänger auf, der Gewalt abzu-schwören. Öcalan sprach von einer „his-torischen Entscheidung“. Ein halbes Jahrspäter gelten seine Worte nicht mehr. Er-doğan hat den Friedensprozess abge -brochen.

Warum der plötzliche Rückfall in dieGewalt? Weil die HDP ins Parlament ein-gezogen sei, steuere die AKP das Landnun zurück in den Bürgerkrieg, sagtKışanak. Erdoğan brauche die Eskalation,um die absolute Mehrheit zu erringen –und die HDP aus dem Parlament zu wer-fen. So wie die Bürgermeisterin sehen esviele Kurden. Und nicht nur sie. Es gibtinzwischen viele, die glauben, die Gewalt-eskalation käme Erdoğan wie gerufen – er-möglichte sie es ihm doch, sich vor denNeuwahlen als Garant für Stabilität zu

lor die absolute Mehrheit. Das war dasEnde von Erdoğans Traum, aus der Türkeieine Präsidialrepublik zu machen, mit ihmals allmächtigem Präsidenten bis ins Jahr2019. Und nicht nur das, mit der Demo-kratischen Partei der Völker (HDP) nahmerstmals in der Geschichte eine prokurdi-sche Partei die Zehnprozenthürde und zogins Parlament ein.

Doch Erdoğan klammert sich an dieMacht und an seinen Traum. Koalitions-verhandlungen ließ er scheitern, am 1. No-vember will er erneut wählen lassen. Daseinzig akzeptable Ergebnis für ihn: eineabsolute Mehrheit der AKP. Und dafür ris-kiert Erdoğan alles.

Aus Recep Tayyip Erdoğan, dem gläu-bigen Muslim, begnadeten Populisten, Mo-dernisierer der Türkei, Vater des Wirt-schaftswunders, droht nun, als letzteWandlung, ein Autokrat zu werden. Einer,der sein eigenes Land in einen Bürgerkriegreißt – und der außenpolitisch Konfliktestiftet. Der erst den syrischen Diktator Ba-

Straßenszene in Kayseri

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„Beleidigung von Staatsmännern“ ange-zeigt. Der Mann hatte während der Trau-erfeier geklagt, dass Erdoğan „diesen jun-gen Menschen ins Grab geschickt“ habe.

In Çaykara hängt das Bild des Märtyrersan den Türen der Geschäfte – doch wersich nach ihm erkundigt, wird misstrauischbeäugt. Der Wirt eines Teehauses, ein alterMann mit Schirmmütze, ist einer der we-nigen, die reden, er sagt: Ahmet Çamursei ein guter Mann gewesen, er habe, wiedie meisten hier, die AKP unterstützt. „Wirsind religiös, deshalb lieben wir Erdoğan.Aber diese Beerdigungen werden ihm beider Wahl keine Punkte bringen.“

Plötzlich verstummt der Wirt, seine Au-gen weiten sich. Zwei Polizisten sind auf-getaucht, einer in Uniform, einer in Zivil.Sie wollen wissen, was die Fragen sollen.Dann wollen sie Ausweise sehen. Ein Poli-zist verschwindet damit, als er zurück-kommt, notiert er etwas in seinen Unter-lagen, dann gibt er die Pässe zurück. „Ihrkönnt jetzt gehen“, sagt er drohend.

Fast so wichtig wie der eigentlicheKampf im Südosten scheint der Regierungder Kampf um die Deutungshoheit zu sein.Daher werden ausländische Korresponden-ten und unabhängige türkische Journalis-ten daran gehindert, an „Märtyrerbegräb-nissen“ teilzunehmen. Zugelassen sind nurVertreter linientreuer Medien.

Mit der Rede- und Meinungsfreiheit istes nicht mehr weit her in Erdoğans Türkei:Schon seit Jahren werden Redaktionendurchsucht und Journalisten eingesperrt,doch so schlimm wie jetzt war es noch nie.Ende August wurden zwei britische Repor-ter in Diyarbakır verhaftet und der „Ver-wicklung in terroristische Aktivitäten“ beschuldigt. Sie wurden erst in ein Hoch-sicherheitsgefängnis gebracht, dann außerLandes geschafft. Ähnlich erging es wenigspäter einer niederländischen Journalistin.

Die Türkei führe einen Krieg gegen aus-ländische Medien „wie Reuters, BBC, CNNund den SPIEGEL“, sagte Kultur minister Yal-

çin Topçu. Und fügte hinzu: Dieser Krieg seivergleichbar mit der Schlacht von Gallipoli.

Das zeigt, wie groß die Nervosität derRegierung ist. Wie groß die Angst davor,bei den Neuwahlen wieder die absoluteMehrheit zu verfehlen, die jahrelang ga-rantiert zu sein schien. Denn auch jetzt istkeineswegs gewiss, dass Erdoğans Strategieaufgeht. Den Umfragen zufolge ist es we-der der AKP noch den anderen Parteienseit dem 7. Juni gelungen, deutlich mehrWähler zu gewinnen.

Istanbul: Wo alles begannWenn man nach einem Ort sucht, an demErdoğans Niedergang begann, dann istman hier richtig: ein Park im Zentrum Istanbuls, weder groß noch hübsch, einpaar Bäume und Rasenflächen, umgebenvon Asphalt. Aber je nachdem mit wemman in der Türkei spricht, ist er der Ur-sprung alles Bösen oder die Keimzelle derHoffnung. Einig sind sich beide Seiten nur,dass das, was im Frühling 2013 hier ge-schah, das Land verändert hat.

Der Name Gezi steht heute für einenWendepunkt in der Ära Erdoğan. Vor denProtesten im Gezi-Park erschien er wieein übermächtiger, beinahe überirdischerStaatenlenker – der Einzige, der die Türkeizusammenhalten und in eine erfolgreicheZukunft führen konnte. Nach Gezi stander entblößt da: als machtbesessener, para-noider Autokrat, der Gezi zu einer Ver-schwörung feindlicher Mächte erklärte, diedie Türkei schwächen wollten.

Es begann mit ein paar Umweltschüt-zern, die für den Erhalt des Parks demons-trierten. Dieser sollte einem Einkaufszen-trum weichen, einem von Erdoğans un-zähligen Infrastrukturprojekten. Allein inIstanbul plant er einen dritten Flughafen,den größten der Welt, eine dritte Bospo-rusbrücke, eine riesige Moschee mit sechsMinaretten und einen „künstlichen Bos-porus“, eine zweite Verbindung zwischenSchwarzem Meer und Marmarameer.

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I R A K

I RAN

G EORG I E N

ARME -N I E N

SY R I E N

T Ü R K E IT Ü R K E I

von Kurden kontrollierte Gebietein Syrien und im Irak

kurdischeSiedlungsgebiete

Ankara

Istanbul

Kayseri

Diyarbakır

CeylanpınarSuruçCizre

Çaykara

Güneysu

200 km

Kandil-Berge

Schwarzes Meer

inszenieren. Oder die Wahl aus Sicherheits-gründen zu verschieben.

Die Regierung wiederum wirft den kur-dischen Rebellen vor, sie hätten mit derGewalt angefangen: „Die PKK hat denFriedensprozess missbraucht, um heimlichihre Waffenlager zu füllen und Minen zulegen“, sagt der AKP-Abgeordnete MuhsinKızılkaya, selbst kurdischer Abstammung.

Auch wenn die Gründe umstritten sind,lässt sich doch zumindest ein Anfangs-punkt der Gewalt ausmachen: der 20. Juli.An diesem Tag tötete ein mutmaßlich demIS nahestehender Selbstmordattentäter inSuruç, nahe der Grenze zu Syrien, mehrals 30 Menschen, überwiegend Kurden.

Zwei Tage später töteten PKK-Leutezwei Polizisten in ihrer Wohnung in Cey-lanpınar, etwa 200 Kilometer östlich vomAnschlagsort. Die PKK verbreitete im In-ternet, die Tat sei ein Racheakt für denAnschlag von Suruç. Die Beamten hättenden IS unterstützt. Weitere zwei Tage spä-ter begann die Regierung mit dem Bom-bardement von PKK-Stellungen.

Seither sind laut Regierung 2000 kurdi-sche Kämpfer getötet worden, hinzu kom-men wohl unzählige kurdische Zivilisten;außerdem türkische Sicherheitskräfte, dievon der PKK getötet wurden.

Çaykara: Märtyrer und MeinungsfreiheitWenige Tage nachdem Erdoğan die Mo-schee auf dem Berg über Güneysu einge-weiht hatte, trat er ganz in der Nähe, indem kleinen Ort Çaykara, bei der Beerdi-gung eines Polizisten namens Ahmet Ça-mur auf. Fast täglich finden irgendwo imLand Trauerfeiern für Gefallene statt, dieim Südosten umgekommen sind. Zur Be-erdigung Çamurs versammelten sich inÇaykara Tausende Menschen.

Vor ihnen erschien Erdoğan, hinter ihmwar eine türkische Flagge aufgespannt. Erstützte sich mit der einen Hand auf Ça-murs Sarg, in der anderen hielt er ein Mi-krofon: „Wir verabschieden uns von unse-rem Märtyrer, der, wie wir glauben, Mär-tyrertum erlangt hat“, sagte Erdoğan. „Wieglücklich ist seine Familie, wie glücklichsind seine Nächsten!“ Denn Märtyrer, soverkündete der Präsident, säßen im Para-dies neben den Propheten.

Ist das ein Trost? Mehmet Çamur, derZwillingsbruder des Polizisten, winkt ab.Er steht unter einer türkischen Flagge undeinem Transparent mit dem Gesicht seinesBruders. Seit Tagen empfängt Çamur Be-sucher, er wolle nicht reden, sagt er, schongar nicht mit ausländischen Journalisten.Er sagt nur einen einzigen, bitteren Satz:„Mein Bruder hat sein Leben dem Süd -osten der Türkei gewidmet.“

Denn Angehörige von „Märtyrern“müssen aufpassen, was sie sagen: Bei einerBeerdigung im August wurde ein Ver-wandter eines getöteten Soldaten wegen

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Die Aktivisten übernachteten im Park,Erdoğan ließ den Protest von der Polizeiniederschlagen. Die Sicherheitskräfte ver-brannten die Zelte, gingen mit Wasserwer-fern und Tränengas gegen die Aktivistenvor. Bilder der Gewalt verbreiteten sich,und Hunderttausende Türken solidarisier-ten sich mit den Umweltschützern. Inner-halb weniger Tage wuchs der Protest zueinem Aufstand an. Zum ersten Mal arti-kulierte da plötzlich eine breite Masse einGefühl, das schon länger in der Luft lag:ihre Unzufriedenheit mit Erdoğans auto-ritärem Regierungsstil, mit seiner Arro-ganz und Intoleranz.

„Gezi hat alles verändert“, sagt GökhanBiçici, ein 36-jähriger Aktivist. Von Anfangan sei er dabei gewesen, erzählt Biçici, erarbeitete damals für einen regierungskriti-schen Fernsehsender. Viele Türken hättendamals erst begriffen, dass die meisten Medien „verlängerte Arme der AKP“ seien,sagt Biçici. Die Zahl türkischer Twitter-Nut-zer sei nach Gezi von 1,8 auf über 9 Millio-nen hochgeschnellt. Er beschloss danach,sich selbstständig zu machen. Er baute einNetzwerk aus über 200 Bürger-Journalistenin 45 Städten auf. „Bis Ende des Jahres wol-len wir eine neuartige Nachrichtenagenturgründen.“ Wenn Journalisten daran gehin-dert würden, ihre Arbeit zu tun, müsstendie Nachrichten eben auf anderem Weg zuden Bürgern gelangen – über soziale Me-dien, von Bürger zu Bürger.

So hat Gezi nicht nur Erdoğans Nieder-gang eingeläutet, sondern auch eine alter-native Öffentlichkeit geschaffen, die nichtmehr alles glaubt, was die Regierung sagt.

Kayseri: Erdoğans fromme KaufleuteAber natürlich hat der Präsident noch im-mer Anhänger, besonders viele davon fin-det man in Kayseri. Mahmut Hiçyılmaz,58, ist der Präsident der Handelskammer,er vertritt die Interessen von 17000 Unter-nehmen in Kayseri. Die Stadt ist der größteder „anatolischen Tiger“, jener Aufsteiger-metropolen, in denen unter Erdoğans Herr-schaft eine neue Mittelschicht entstand.

Für Hiçyılmaz ist die Lage klar und ver-worren zugleich. „Bis Mai 2013 gingen un-sere Geschäfte gut“, sagt er. „Aber seitGezi ist die Türkei aus dem Gleichgewichtgeraten.“ Die Proteste seien keine gewöhn-lichen Demonstrationen gewesen, sagt er.Was sie mit der derzeitigen Krise verbinde,sei, dass „Akteure von außen“ versuchten,die Türkei zu schwächen. Denn: „WelcherTürke, der sein Land liebt, kann gegen diedritte Brücke oder den dritten Flughafenin Istanbul sein?“ Natürlich keiner.

Auch in Kayseri gab es in der vergange-nen Woche ein Märtyrerbegräbnis – undan den folgenden beiden Tagen nationalis-tische Kundgebungen, zu denen sich Tau-sende im Stadtzentrum versammelten, einrotes Meer aus türkischen Flaggen.

Bevor die AKP an die Macht kam, wur-den Politik und Wirtschaft in der Türkeivon einer säkularen Elite aus Generälen,Richtern und Bürokraten kontrolliert. Siebetrachteten sich als Hüter des Erbes vonStaatsgründer Kemal Atatürk und küm-merten sich kaum um die gläubige, kon-servative Mehrheit der Bevölkerung. Imarmen Anatolien wurde kaum investiert,gut dotierte Posten gingen an die Elite –und mit Kopftuch zu studieren war from-men Frauen ohnehin verboten.

Doch Erdoğan versprach den Gläubigen:Ihr könnt religiös sein und reich. Er öffnetedie Märkte für Unternehmer aus Anato-lien. Er privatisierte große staatliche Un-ternehmen wie Türk Telekom, den Groß-teil der Stromerzeuger, Häfen und Flughä-fen, er liberalisierte den Arbeitsmarkt undbekämpfte erfolgreich die Inflation. Under erlaubte Kopftücher an Hochschulen.

In den ersten Jahren von Erdoğans Re-gierung wuchs die Wirtschaft um bis zuneun Prozent pro Jahr. In Städten wie Kay-seri wurden viele Menschen zu Millionären,neue Industrien entstanden, eine neue tür-kische Exportwirtschaft für Möbel undHightech. Der Boom sicherte Erdoğan dieUnterstützung frommer Kaufleute wie je-ner in Kayseri. Aber auch die Armen wähl-ten ihn, die erstmals in vom Staat gebauteSozialwohnungen ziehen konnten.

In Hiçyılmaz’ Büro hängt an einer Wandein goldener Rahmen mit dem Wort Allahin arabischer Kalligrafie, an einer anderenein großes Foto von Hiçyılmaz mit Er-doğan. Die AKP habe die Türkei voran -gebracht, sagt der Handelskammerchef.Außerdem habe sie die Türken davon über-zeugt, dass Kurden dieselben Rechte habensollten wie alle anderen. „Wir haben denKurden ihre Rechte gegeben, wir haben in

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Nationalisten in Kayseri: Eine Verschwörung feindlicher mächte?

Aktivist Biçici in Istanbul: „gezi hat alles verändert“

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ihren Städten investiert“, sagt er. „Wasfehlt ihnen denn noch? Mit welchem Rechttöten sie jetzt unsere Polizisten?“

Kandil-Gebirge: Der Feind in den BergenDer Weg ins Hauptquartier der PKK führtüber eine kurvige Passstraße durch eineschroffe Felslandschaft. Kämpfer mit Kalasch -nikows kontrollieren die Fahrzeuge. Insnordirakische Kandil-Gebirge gelangen Be-sucher nur mit Erlaubnis der PKK. An einemBergrücken prangt ein Porträt ihres inhaf-tierten Führers Abdullah Öcalan, am Stra-ßenrand klaffen Krater von Bombeneinschlä-gen. In einem Steinhaus wartet Ali HaydarKaytan, 65, und hat vor allem einen Wunsch:Er möchte in die Türkei zurückkehren, injenes Land, in dem er geboren wurde unddas er seit seiner Studentenzeit bekämpft.

Er gründete einst gemeinsam mit Ab-dullah Öcalan und weiteren Aktivisten1974 eine Untergrundorganisation, aus derspäter die PKK hervorging. Von den Grün-dern ist er der Einzige, der noch kämpft.Öcalan sitzt seit 1999 im Gefängnis, dieanderen haben sich von der Organisationabgewandt. Der PKK-Anführer trägt Tarn-kleidung, Vollbart, einen Schal, er wirdvon Leibwächtern beschützt und hält sichkaum länger als einen Tag am selben Ortauf. Er weiß, dass eine Rückkehr in dieTürkei in den vergangenen Wochen aus-sichtslos geworden ist.

Die PKK kämpft in diesen Wochen anzwei Fronten: Sie liefert sich Schlachtenmit dem türkischen Militär. Und sie kämpftim Norden des Irak und Syriens gegen denIS. Seit einigen Wochen befindet sie sichin der merkwürdigen Situation, dass sichihre Feinde – der türkische Staat und derIS – nun auch gegenseitig den Krieg erklärthaben. Lange hatte die Türkei die Terror-gruppe ungestört wachsen lassen, Dschi-hadisten wurden in türkischen Kranken-häusern behandelt, in Istanbul und Ankararekrutierte die Terrorgruppe neue Kämp-

fer, auch der Nachschub an Waffen undLebensmitteln kam über die Türkei.

Doch als die Regierung Ende Juli Luft-schläge gegen die Terroristen ankündigte,bombardierte sie nicht den IS. Oder so gutwie nicht. Sie bombardierte vor allemPKK-Stellungen. Der Kampf der Türkeigegen den IS wirkt wie ein Alibi für denKrieg gegen die Kurden. Denn die Rebel-len haben in Nordsyrien die Assad-Trup-pen vertrieben und eine eigene Verwal-tung aufgebaut. Im Nordirak gibt es ohne-hin bereits ein kurdisches Autonomiege-biet. Die Furcht der Türken: dass in unmit-telbarer Nachbarschaft vielleicht eines Ta-ges ein kurdischer Staat entstehen könnte.

Dem aber widerspricht Ali Haydar Kay-tan: Die PKK habe sich im Laufe der Jahreverändert. Sie strebe nicht mehr nach ei-nem eigenen Staat, sondern lediglich nachAutonomie. Die Schuld für die neue Es-kalation sieht er allein bei Erdoğan. DieGewalttaten der PKK, die Attentate, dasMorden, all das, behauptet Kaytan, sei nureine Reaktion auf die Angriffe durch dieTürkei. „Erdoğan hat uns den Krieg er-klärt. Und wir verteidigen uns.“

Eine Rückkehr zu Friedensverhandlun-gen hält er für möglich, aber nur unterdrei Bedingungen: Die Türkei müsse dieLuftschläge gegen PKK-Stellungen einstel-len. Öcalan müsse aus der Haft entlassenwerden. Und ein neutraler Vermittler müs-se einberufen werden, etwa die USA.

Erdoğan verlangt seinerseits von derPKK, dass sie die Waffen niederlegt, ohneBedingungen zu stellen. Andernfalls, sodrohte der Präsident vergangene Woche,werde der Staat nicht ruhen, bis die PKKendgültig zerstört sei.

Wieso sollte er sich auf Kaytans Forde-rungen einlassen? „Er hat keine Wahl“,sagt der PKK-Anführer und lächelt müde.Die jungen Kämpfer seien noch viel radi-kaler als seine Generation: „Wir Alten sinddie Letzten, die einen Kompromiss aus-

handeln können. Andernfalls erleben wirweitere 30 Jahre Krieg.“

Ankara: Der Minister und die EU Das Zentrum der Macht ist eine gewaltigeBaustelle. Erdoğans Regierungssitz in An-kara sieht aus wie eine Stadt in der Stadt,eine Ansammlung trutziger Gebäude, diestetig wächst, mit einer großen Moschee,umgeben von kilometerlangen Gittern undMauern, die schwer bewacht werden. Esist dreidimensionaler Größenwahn, einbisschen wie die Pyramiden von Gizeh.

Was wird aus diesem Ungetüm, wennErdoğan es eines Tages verlassen muss?Möglich ist ja, dass er bei den Neuwahlenwieder keine absolute Mehrheit gewinntund sich aus der Tagespolitik zurückzieht.Vielleicht lässt er sich, gegen alle Erwar-tungen, auf eine Koalition ein. Wahrschein-licher aber ist, dass er verliert und dasLand erst recht in Brand setzt.

Europa ist zum Zusehen verdammt, sooder so. Dabei hätten es die Europäer wo-möglich in der Hand gehabt, die Geschichtein eine andere Richtung zu lenken.

Kein anderer EU-Beitrittskandidat muss-te so lange in Wartestellung ausharren wiedie Türkei, kein anderer stieß auf so vielAblehnung. Vor zehn Jahren wollten Um-fragen zufolge noch über 70 Prozent derTürken zu Europa gehören. Heute sind esweniger als 40 Prozent.

Es gibt in Ankara kaum jemanden, mitdem man über Europa reden kann, erstrecht nicht mit Politikern der AKP. Aberes gibt einen kleinen, freundlichen Mann,er sitzt in einem Büro so groß wie eineSchwimmhalle, ist Mitglied der HDP – undEuropaminister der Interimsregierung. AliHaydar Konca heißt er, ist 65 – und hat ei-gentlich nichts zu sagen. Er ist hier nur ausformalen Gründen. Und doch ist er schonjetzt eine historische Figur: Er ist einer derersten beiden Vertreter einer prokurdi-schen Partei in einem türkischen Kabinett.

Mit diesem Europa, für das er nun zu-ständig sei, habe er bisher nicht viel zu tungehabt, sagt Ali Haydar Konca. Aber etwashat er doch zu sagen: dass er sich wünschte,die Europäer hätten sich der Türkei gegen-über nicht so sehr von Vorurteilen leitenlassen. „Das größte Hindernis bei den Bei-trittsverhandlungen war die Sorge der EU,was es bedeuten würde, ein muslimischesLand zu integrieren“, sagt er.

„Aber stellen Sie sich einmal vor, dieEU wäre bereit gewesen, die Türkei auf-zunehmen.“ Der Nahe Osten, die ganzeWelt könnte heute anders aussehen.

Hasnain Kazim, maximilian popp, Samiha Shafytwitter: @samihashafy

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Video: Die schwierige Partner-schaft zwischen EU und Türkei

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Dritte Brücke am Bosporus: Erdoğan versprach, ihr könnt religiös und reich sein