beilage der salzburger nachrichten zu den salzburger festspielen 2015

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SALZBURGER FESTSPIELE Bühnenbildskizze von Julian Crouch zu Mackie Messer – Eine Salzburger Dreigroschenoper 18. JULI – 30. AUGUST 2015

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Information about the Salzburg Festival saison 2015

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Page 1: Beilage der Salzburger Nachrichten zu den Salzburger Festspielen 2015

SALZBURGERFESTSPIELE

Bühnenbildskizze von Julian Crouch zu Mackie Messer – Eine Salzburger Dreigroschenoper

18. JULI – 30. AUGUST 2015

Page 2: Beilage der Salzburger Nachrichten zu den Salzburger Festspielen 2015

SALZBURGER FESTSPIELE

Oft kommen wir in die Situation, erklären zumüssen, was die Festspiele sind und wozu essie denn eigentlich gibt. Natürlich berichtenwir dann aus Überzeugung schwärmend undwortreich, um was es uns zu tun ist, wenn-gleich wir manchmal insgeheim mit demErklärungsbedarf hadern und im Stillen derMeinung sind, dass diese Frage sich seit überneunzig Jahren in der Realität doch jedes Jahraufs Wunderbarste selbst beantwortet:Weit über 200.000 Zuschauer kommen imSommer und zu Pfingsten in Ihre und unsereherrliche Stadt, um die Festspiele zu besu-chen. Wie es unser Name schon besagt, sinddie Salzburger Festspiele daher längst mehrals nur Festspiele in Salzburg! Und schonunsere Gründerväter wollten in dieser Stadt,„dem Herz vom Herzen Europas“ (Hugo vonHofmannsthal), nicht bloß ein Festival grün-den, sondern sie haben zu einem Friedens-werk mit internationaler Ausstrahlung aufge-rufen. Gewiss aber sind die Festspiele keinselbstversorgendes System, das, um seineExistenz fortdauern zu lassen, identitätslosvor sich hin produziert, sondern das im Ge-genteil immer im ideellen, im kulturellen undnicht zuletzt auch im wirtschaftlichen Inte-resse der Stadt und des Landes Salzburg zuhandeln versucht.

Investition, nicht SubventionSie, die Salzburger, und ihre Festspiele sinddabei aber mehr als nur eine Interessen-gemeinschaft – wir gemeinsam tragen wech-selseitig zu unserer Identität und damit zuunserer Attraktivität bei! Salzburg und seineFestspiele sind inzwischen die vielleicht wert-vollste Visitenkarte, die Österreich zu ver-geben hat. Dies bezieht sich nicht nur auf dieQualität des künstlerischen Programms:Fachleute schätzen, dass die Umwegrentabili-tät sich auf zirka 350 Millionen Euro jährlichbeläuft. Der Bund erhält von den Festspielen,die im Sommer über 5000 Menschen be-schäftigen, allein durch die Besteuerung weitmehr Geld zurück, als er den Festspielen zu-kommen lässt. Man darf also sagen, dass dieBeiträge der Steuerzahler nicht für eine Sub-vention, sondern für eine in jeder Hinsichtüberaus ertragreiche Investition verwendetwerden, denn die Festspiele sind nicht nur fürdie Stadt und das Land Salzburg, sondernauch für die Republik Österreich ein enorm

wichtiger Wirtschaftsfaktor. Kurzum: Es gibtviele Gründe, auf die Festspiele und damitauch auf die Stadt Salzburg stolz zu sein.

Dies sagen wir nicht, um uns – und Sie – zuloben, sondern um populistischen Stimmenzu entgegnen, die aus wirtschaftlicher, sozia-ler, politischer und kultureller Kurzsichtig-keit dazu beitragen wollen, die einmalige Kul-turlandschaft Österreichs zu Tode zu sparen.Es wäre eine für uns alle verhängnisvolle undunumkehrbare Fehlentwicklung.

So glücklich wir über die Internationalitätder Festspiele sind – im letzten Jahr kamen271.301 Besucher aus über 74 Ländern, davon35 außereuropäische –, so wichtig sind unsdie Salzburger selbst als unser Publikum.Daher nun eine kleine Einführung in das Pro-gramm 2015, in der Hoffnung, Sie neugierigzu machen und Sie bald in einer, am besten inallen unseren 14 Festspielstätten begrüßen zudürfen. Dabei soll Sie der Gedanke begleiten,dass Sie gewissermaßen bei sich selbst zuGast sind!

Das heimliche MottoWie Sie vielleicht wissen, unterziehen wir un-ser Programm keinem Motto. Dennoch ver-ordnen wir uns jedes Jahr ein Thema, das dieeinzelnen Programmpunkte miteinanderverbinden soll, ohne sie herrisch zu bestim-men. Im Jahr 2015 ist dieses heimliche Mottodie „Ungleichheit“. Es könnte auch „Obenund unten“ heißen oder „Herr und Knecht“,„Aufbegehren und Gehorsam“, wobei diesesich bedingenden Gegensatzpaare nicht un-bedingt vordergründig nur politisch zu ver-stehen sind, sondern auf allen Ebenen desmenschlichen Lebens, den öffentlichen undden intimsten, wirksam werden.

Den Beginn macht ein Werk der neuen Mu-sik, der sich die Salzburger Festspiele beson-ders verpflichtet fühlen: Die Eroberung vonMexico von Wolfgang Rihm. Aus Texten vonAntonin Artaud und Octavio Paz hat Rihmsein Libretto collagiert und lässt in einer dra-matischen Begegnung den ConquistatorenHernán Cortez und den unglücklichen Azte-kenkönig Montezuma aufeinandertreffen.Regie führt der Altmeister der Regieprovoka-teure – im besten Sinne des Wortes – PeterKonwitschny. Es singen und spielen u. a.

Angela Denoke und Bo Skovhus, die musika-lische Leitung hat Ingo Metzmacher inne.Weiter geht es mit Le nozze di Figaro, demSchlusspunkt im Salzburger Mozart/Da-Ponte-Zyklus. Bei dieser Opera buffa, die miteiner utopischen Versöhnung zwischenMännern und Frauen, zwischen Herren undDienern endet, steht Dan Ettinger am Pult derWiener Philharmoniker. In den Hauptpartiensind Genia Kühmeier, Martina Janková, LucaPisaroni und Adam Plachetka zu erleben.

Bei der Befreiungsoper Fidelio von Ludwigvan Beethoven in der Neuinszenierung vonClaus Guth übernimmt Franz Welser-Möstdie musikalische Einstudierung mit AdriannePieczonka und Jonas Kaufmann als Protago-nisten.

Zwei Paraderollen für BartoliMit Bellinis Norma, der persönlichen, religiö-sen und politischen Tragödie einer kolonia-len Unterwerfung, sowie Glucks Iphigénie enTauride, in der die Autoren den Ungehorsamder Protagonisten gegenüber den Götternund der weltlichen Macht schildern, ist Ceci-lia Bartoli gleich in zwei berührenden Partienihres Fachs in diesem Festspielsommer zu er-leben. Welche vernichtenden Konsequenzendie Leidenschaft zeitigen kann, insbesonderewenn sie die Mächtigen befällt, lässt Verdi inseinem Trovatore erfahren, der mit FrancescoMeli in der Titelpartie an der Seite von AnnaNetrebko zur Aufführung kommt.

Den Reigen der szenischen Opernproduk-tionen beschließt die hochgelobte SalzburgerInszenierung des Rosenkavalier von HarryKupfer mit Franz Welser-Möst am Pult – nachFigaro, Fidelio und Il trovatore die vierte Oper,die die Wiener Philharmoniker heuer zurWiedergabe bringen. Und hier sind es der ab-wesende und doch das Geschehen überschat-tende Feldmarschall von Werdenberg, derauf aristokratische Vorrechte pochende Ochsauf Lerchenau und selbst der junge Octavian,der die Marschallin verzweifelt sagen lässt:„Sei er nur nicht wie alle Männer sind.“

In unseren konzertanten Aufführungenvon Verdis Ernani mit Riccardo Muti amDirigentenpult, Massenets Werther mit PiotrBeczala in der Titelrolle und Elīna Garanča alsCharlotte sowie Purcells Dido and Aeneasbleiben wir unserem Thema auf der Spur.

Auch im Schauspiel verfolgen wir den Gedan-ken der Abhängigkeiten in hierarchischenVerhältnissen weiter: In Shakespeares Komö-die der Irrungen geht es um zwei Zwillings-paare, die einander zu Herren und Dienernhaben und in irrwitzige, komische und zu-gleich existenziell bedrohliche Verwechs-lungskatastrophen gestoßen werden. Regieführt Henry Mason, der 2013 mit einem ande-ren Werk Shakespeares, dem Sommernachts-traum, bei uns einen Riesentriumph feierte.Mit dem Clavigo beschreibt Goethe den ruch-losen Ehrgeiz eines Karrieristen, und inMackie Messer, der Dreigroschenoper vonBrecht und Weill in der exklusiven musikali-schen Neubearbeitung für die Festspiele,werden die Verhältnisse zur Verdeutlichungauf den Kopf gestellt: Der Sozialdarwinismuswird ausgerechnet vom Bettlerkönig Peachumgepredigt. Im Jedermann schließlich sind dieLobpreisungen der Geldwirtschaft, die derverblendete reiche Mann vornimmt, immernoch von entlarvender Schärfe.

Ein Fest für Pierre BoulezDie Ouverture spirituelle, die sich in derWoche vor der offiziellen Eröffnung derFestspiele der geistlichen Musik widmet, hatin diesem Sommer den Hinduismus zumSchwerpunkt.

Im Konzertprogramm präsentieren wir u. a.die sich 2016 fortsetzende Reihe „Die WienerPhilharmoniker und ihre Komponisten“ undbringen damit Werke zu Gehör, die im Auf-trag der Wiener Philharmoniker komponiertwurden oder eine besondere historische Be-deutung für sie haben. Pierre Boulez, der denFestspielen seit 1960 als Dirigent und Kompo-nist verbunden ist, schenken wir in der ReiheSalzburg contemporary unsere besondereAufmerksamkeit.

Auf den nächsten Seiten werden Sie Näheresüber unsere Produktionen in Oper, Schau-spiel und Konzert erfahren und wir hoffen,Sie mit unserer SN-Beilage auf die eine oderandere Veranstaltung neugierig zu machen,die Sie noch nicht gebucht haben.

Helga Rabl-StadlerSven-Eric Bechtolf

Liebe Leserinnen und Leser der „Salzburger Nachrichten“,

Helga Rabl-Stadler, Sven-Eric Bechtolf BILD: SN/LUIGI CAPUTO

Page 3: Beilage der Salzburger Nachrichten zu den Salzburger Festspielen 2015

Liebe Leserinnen und Leser,Ich darf über den Figaro schreiben! In den SalzburgerNachrichten! Fünftausend Zeichen habe ich zur Verfügung.Was gleichzeitig zu viel und zu wenig ist, wenn man be-denkt, dass ich jetzt schon – oder erst – 269 meiner kost-baren Zeichen verbraucht habe.

Dabei fällt mir, buchstäblich „schlagartig“, diese Sottisevon Adorno ein, der einen Fürwitzigen mit folgenden Wor-ten verhöhnte: „Intelligent wollen Sie sein? Dann erzählenSie mal das Finale 2. Akt Figaro nach.“ „Könnte ich“, denkeich reflexhaft aufmüpfig und bereit, meine subalternen Ge-fühle gegenüber diesem Alleswisser mit Aggression zu kom-pensieren, aber gleichzeitig beschleicht mich die Gewiss-heit, dem Adorno’schen Intelligenzbegriff nicht wirklich zugenügen. Wer ist schon so intelligent wie Adorno? Ich kauedaher ratlos am Bleistift und schreibe Reime wie diesen:

Es ist ja sowiesozu Mozarts Figarolängst alles schon gesagt.Mit Pauken und Trompetenbehaupten Interpreten,was ihnen grad behagt.Sie bleiben ihm nichts schuldig,Papier ist ja geduldig –ein Lump, wer hinterfragt.

Aber mit solchen Pennäler-Versen ist nichts gewonnen,sondern sind nur wieder kostbare Zeichen für nichts undwieder nichts verplempert. Dergestalt entmutigt setzte ichmich ins Finale des vierten Akts. Schon schließt sich derVorhang und ich bleibe im leeren Saal allein zurück. Washabe ich gerade gesehen und gehört?

Wer hat da wen verletzt, betrogen, düpiert, wer ist hin-ters Licht geführt, wessen Pläne sind durchkreuzt worden,wer hat gewonnen und wer verloren? Allesamt scheinen siemir betrogene Betrüger zu sein, die Herren und Diener, dieFrauen und Männer. Die Vergebung, die der Graf, noch ebenvor Eifersucht rasend, allen anderen verwehrte, muss ersich abgewiesen, übertölpelt und bloßgestellt von seinerbetrogenen Gräfin erbitten – und sie gewährt sie ihm, sogroßzügig, dass wir erst recht all die Bitterkeit schmecken,die darin für sie lag, liegt und liegen wird. Welches Glückoder Unglück wird hinter dem geschlossenen Samt nunseinen Lauf nehmen?

Fühlte sich Susanna geschmeichelt von den Avancen desGrafen? Hat er ihr gefallen? Hat sie sich vor der Gräfin, dieihre Schwester sein könnte, wäre sie eben nicht ausgerech-net eine Gräfin, geschämt für diese Gefühle? Wie wäre esaufzusteigen, vom Dienstmädchen zur geheimen Botschaf-terin in London? Und was wäre der Preis gewesen? Susannaahnt es wohl. Oder weiß sie noch gar nichts Genaueres, hatdas der Graf nur gegenüber Figaro erwähnt und ist FigarosAhnungslosigkeit, was die Pikanterie der Lage des neuenSchlafzimmers angeht, nicht ganz so blauäugig, wie er sich

und Susanna glauben machen will? Kennt er nicht seinenGrafen? Und: Wofür hat er das Geld gebraucht, das ihmMarcellina nur gegen ein Heiratsversprechen als Pfand ge-liehen hatte? Hat vielleicht Bartolo Marcellina gegen denDiener seines Erzfeindes instrumentalisiert? Ist sie wirklichnur die Haushälterin dieses Mannes, der das gemeinsameuneheliche Kind, womöglich gegen ihren Willen, ausgesetzthat? Warum bleibt sie bei ihm? Warum wird uns ein ödi-pushaftes Verhängnis als Farce in Aussicht gestellt? Undwas ist mit Cherubino? Warum ist er im Schloss? Seitwann? Welche Fantasien wollten Mozart und Da Ponte evo-zieren, wenn Susanna ihn, den jungen Beau, der von einerFrau gesungen und gespielt wird, als Frau verkleidet – einedramaturgische und psychologische Anzüglichkeit und Tie-fenperspektive zugleich, der sich später auch Hofmannsthalund Strauss im Rosenkavalier bedienen. Ist das eine Über-legenheitsgeste der erwachsenen Frauen? Spielt es auf eineerotische Möglichkeit an? Ist es eine Art utopische Versöh-nung mit dem anderen Geschlecht durch das, was C. G.Jung die „Anima“ des Mannes nannte? Seinen weiblichenAnteil. Oder nur die Sehnsucht der Frauen danach? Odererwacht hier ihr „Animus“, im Spiel hervorgebracht durchdie erotische Macht, die sie über den Knaben in Mädchen-gestalt haben? Ist Cherubino, wie es ein anderer Klugerschrieb, tatsächlich ein junger Don Giovanni? Oder liegtsein Geheimnis ganz offen in seinem Namen zutage? Ist erein kleiner Cherub? Die Cherubim waren Engel, Mischwe-sen, halb Tier, halb Mensch. Sie standen vor den Pfortendes Garten Eden und verwehrten dem ersten Paar die Rück-kehr in das Paradies und die Unschuld. Aber auch im altenOrient sind sie schon bekannt. Sind sie Allegorien der vonPlato beschriebenen Trennung des Urmenschen in Mannund Frau, der, auseinandergerissen, sich immer wieder zuvereinigen sucht, um die Ganzheit, das Ende der Dualität,zu erlangen? Oder weisen sie nur auf unsere tierische undtriebhafte Herkunft hin? Und was ist eigentlich das Sozi-al-Revolutionäre an dem Stück des Aufsteigers Beaumar-chais, von dem die Weisen so viel raunen? Wiegenerös, wie verzeihend, wie humorvoll, wie verspielt wardagegen Mozart? Und wie hat das dem gewiss strengerenL. Da Ponte gefallen? Aber Sie müssen wohl selbst kommenund sich ansehen, was ich zu sagen hätte. Denn die 5000Zeichen sind nun erreicht. Mit all den Leerzeichen!

Sven-Eric Bechtolf

Luca Pisaroni – der Graf Almaviva 2015 BILD: SN/MARCO BORGGREVE

LE NOZZE DI FIGARO

IPHIGÉNIE EN TAURIDEIm Theater zu weinen war im Paris der 1770er-Jahre selbstfür männliche Zuschauer kein Grund zur Scham. Im Ge-genteil: Tränen der Empfindsamkeit rangierten in der Hie-rarchie der körperlichen Anzeichen des Wohlgefallens anoberster Stelle. Christoph Willibald Gluck konnte also stolzdarauf sein, dass man am 18. Mai 1779 bei der Uraufführungseiner „Tragédie“ Iphigénie en Tauride „einige Zuschauervom Anfang bis zum Ende schluchzen sah“ (wie dieMémoires secrets vermerken). Die Heftigkeit dieser Reaktionsollte sich vor Augen halten, wer den Komponisten heutevorschnell zum Klassizisten stempelt – ein Etikett, das zwarder formalen Perfektion und konzentrierten Dichte vonGlucks sogenannten Reformopern gerecht wird, aber dochauch den Vorwurf einer gewissen emotionalen Distanz undsteifen Leblosigkeit in sich birgt. Dabei bezweckte Gluck,wenn er sich dem theatralischen Erbe der klassischen An-tike verschrieb, völlig Gegenteiliges: An Aristoteles’ Poetikinteressierten ihn weniger die drei Einheiten der Tragödieals das Ziel, im Zuschauer Rührung und Schauder unddamit eine innere Läuterung hervorzurufen – eine Wir-kung, die kraft der Musik noch unendlich gesteigertwerden konnte.

Euripides’ Tragödie Iphigenie bei den Taurern bot in die-ser Hinsicht einen idealen Stoff. Denn wem würde dasSchicksal dieser Frau nicht nahegehen: Iphigenie, die injungen Jahren von ihrem Vater Agamemnon im Interessedes Krieges geopfert wurde und in Aulis schon dem Tod insAuge sah; die, von Artemis in letzter Sekunde gerettet, seitvielen Jahren ein freudloses Dasein im Land der barbari-schen Taurer fristet; die ihr Trauma umso weniger verges-sen kann, als König Thoas sie zwingt, nun selbst als Pries-terin Menschen – nämlich alle nach Tauris gelangendenFremden – zu opfern; und die sich schließlich mit ihremseit Langem herbeigesehnten Bruder Orestes wiedervereintsieht, als ihr Opfermesser bereits über diesem neuenTodeskandidaten schwebt.

Gerade auf französische Dramatiker übte die Figur derIphigenie seit dem späteren 17. Jahrhundert eine große Fas-zination aus. Racine etwa schrieb eine aulidische Iphigénie,die sogleich in den Rang des Klassikers aufstieg. Und derehemalige Jesuit Claude Guimond de la Touche machte sich1757 mit der Tragödie Iphigénie en Tauride einen Namen,

in der er Euripides’ Modell im Sinne aufklärerischer undempfindsamer Ideale „aktualisierte “: Im Namen von Naturund Menschlichkeit widersetzt sich Iphigénie nicht nurdem tyrannischen Thoas, sondern begehrt auch gegenGötter und Schicksal auf. De la Touches Stück lieferte dieGrundlage für das Libretto von Glucks Oper, deren Titel-figur mit der Protagonistin von Goethes gleichzeitig ent-standenem Schauspiel Iphigenie auf Tauris (bei den Salz-burger Pfingstfestspielen in einer Lesung zu erleben) inner-lich durchaus verwandt ist.

Gluck verleiht Iphigénie eine musikalische Charakte-ristik, die Carl Dahlhaus treffend als „Humanitätston“ be-zeichnet hat. Dessen „Pathos der Einfachheit“ hat es CeciliaBartoli seit Jahren angetan: Ihr enthusiastisch rezensiertesAlbum mit Arien aus Glucks frühen italienischen Seria-Opern enthält auch jene berührende Arie aus La clemenzadi Tito („Se mai senti spirarti sul volto“), die Gluck 27 Jahrespäter in Iphigénie en Tauride als „Ô malheureuseIphigénie“ wiederverwertete: Wer diese Aufnahme gehörthat, kann der Produktion von Iphigénie en Tauride, die beiden Pfingstfestspielen herauskommt und im Sommer wie-deraufgenommen wird, nur voller Vorfreude entgegenfie-bern. Fragt man Cecilia Bartoli, was sie an der ersten Gluck-Partie, die sie auf der Bühne singen wird, besonders reize,antwortet sie: „Einerseits die genaue Behandlung des Wor-tes bzw. das Austarieren von Text und Musik, andererseitsdie überzeugende, menschliche Darstellung einer Figur, dieeben keine kalte griechische Statue ist, sondern eine Frauvoller Zweifel und Gefühle. Im Vergleich zu Goethes Iphi-genie wirkt Glucks Iphigénie lebendiger, leidenschaftlicher,rebellischer.“

Gluck verstand sich vor allem als Theatermann undverkündete, seine Musik strebe „ausschließlich nach derhöchsten Kraft des Ausdrucks und nach Verstärkung derDeklamation der Dichtung“. Kein Wunder also, dass seineWerke für Regisseure dankbare Herausforderungen darstel-len: Nach der mit dem Opera Award ausgezeichneten Pro-duktion von Bellinis Norma setzt das Regieduo Moshe Lei-ser und Patrice Caurier nun mit Glucks Iphigénie en Taurideseine langjährige Zusammenarbeit mit Cecilia Bartoli fort.

Christian ArseniCecilia Bartoli BILD: SN/ULI WEBER/DECCA

Page 4: Beilage der Salzburger Nachrichten zu den Salzburger Festspielen 2015

SALZBURGER FESTSPIELE

Herr Rihm, die Schriften des französischenTheatervisionärs Antonin Artaud haben Sie inIhrer Arbeit für die Bühne entscheidend ange-regt und zu mehreren Werken inspiriert. SeineTheorien besagen, vereinfacht gesprochen,dass das Theater nicht die Wirklichkeit abbil-den, sondern seine eigene Wirklichkeit er-schaffen soll. War das für Sie eine Art von Be-freiung, was den dramaturgischen Zugangzum Musiktheater betrifft? Ergaben sich da-raus neue Optionen jenseits von Psychologieund linearer Handlung?

Diese „eigene Wirklichkeit“ ist ja keineder Wirklichkeit entgegengesetzte, sonderneher doch die wirklichere Wirklichkeit; sohabe ich das verstanden. Sie bezieht dieVoraussetzungen des Theaters im Körperdes Menschen mit ein. Das ist näher an derPsychosomatik als an symbolorientierterPsychologie. Die Organe der Physis sindnichts vom Text Verhülltes. Der Menschtritt in seiner physischen Verfasstheit her-vor und gebiert das Theater, das keines derThesen oder moralischen Standpunkte ist,sondern die Präsenz nervlicher Prozessesichtbar macht. Ich empfand das als einenEntwurf des Theaters – ja, wenn Sie sowollen – aus dem Geist der Musik.

Die Eroberung von Mexico entstand in denJahren 1987 bis 1991. Damals galten Sie in derzeitgenössischen Szene als „junger Wilder“.Ist es aus heutiger Sicht ein „wildes“ Stück?

Was heißt schon „wild“? Was sich demeinen als grundstürzende Erfahrung desWilden zeigt, kann für den anderen schondeshalb nichts Wildes sein, weil es „Kunst“ist. Mir ging – und geht – es immer umKunst. Das wird jeweils verschieden wahr-genommen und interpretiert. Ein Stück wieDie Eroberung von Mexico ist deutbar alsklassisch strenger vieraktiger Prozess oderals organisch-freie Wuchsform.

Artaud behandelt in La conquête du Mexiqueein brisantes Thema: die brutale Vernichtungder exotischen Hochkultur der Azteken durchdie christlichen Eroberer. Was hat Sie an die-sem Text aus dem Jahr 1933 interessiert?

Sehr anziehend war für mich, dass es kei-neswegs um Schwarz-Weiß-Zeichnung geht:

mit edlen Azteken, die – als wären sie „Grü-ne“ vor der Zeit – in friedlichem Einklanguntereinander und mit der Natur eine be-schauliche Kultur realisieren, und auf deranderen Seite „die Bösen“: hochgerüsteteEuropäer, goldgierig und syphilisbefallen,die alles kurz und klein schlagen. Die Azte-ken befanden sich vielmehr in einem hoch-problematischen Zustand, waren ein repres-sives Herrschervolk, das seine Nachbarnimmer wieder überfiel, ausraubte, versklav-te, als Menschenopfer-Material verschlepp-te. Über allem thronte eine theokratischsich legitimierende Priesterschaft mit einerArt Gottkönig – vielleicht sogar nur einePuppe? Auf jeden Fall sehr komplexe Ver-hältnisse, zusätzlich kompliziert durch Na-turphänomene, die als beunruhigend wahr-genommen wurden – etwa eine Sonnen-finsternis. Und plötzlich fremdartige Ein-dringlinge . . .

Es gibt im Stück nur zwei Protagonisten,besser: Antagonisten – Montezuma und denEroberer Cortez. War es für die Kompositionein Problem, dass die emotionale Sprengkraftbei diesem Stück nicht, wie in der Oper üblich,aus einem psychologischen Konflikt resultiert,sondern aus politisch-moralischen Fragen?

Über Artauds Formel „männlich – weib-lich – neutral“, die an anderer Stelle seinertheatertheoretischen Schriften aufscheint,konnte eine Art Vertiefung ins Affektiv-Bezogene erfolgen, konnte ein Kampf, einRingen um diese Gefühlssphären in dasGeschehen eingeblendet werden. Mir fielauf, dass Artauds Theorietexte, die in hoch-dichterischer Weise verfasst sind, sich wieÄußerungen lesen lassen, die von ihm ima-ginierte Gestalten von sich geben. Theorieund Praxis des Theaters lösen sich ineinan-der auf. Das eine wird zum anderen.

Wie ist diese Formel „männlich – weiblich –neutral“ zu verstehen?

Dieser Zauberformel sind alle Beteiligtenunterworfen. Sei es, dass sie mit ihrer Hilferepressive Ordnungsstrukturen etablierenwollen wie die Eroberer, sei es, dass sie kul-turelle Auflösungsrituale dieser Antinomiepraktizieren wie die Azteken. Sei es aber

auch, dass Bereiche erkennbar werden, wo-rin das Antinomische neutralisiert scheint,in Ritualen, Naturereignissen, Zauber. Jederder Protagonisten birgt die Ambivalenz insich. Es fragt sich nur, wie er sie interpre-tiert. Es bleibt vieldeutig. Die Umwertungs-energie der Formel reicht vom Sexuellen bisins Politische – und noch viel weiter.

Artauds Begriff vom „Theater der Grausam-keit“ bezieht sich auf die schicksalhafte Tragik,die Unausweichlichkeit, mit der das Gesche-hen abläuft wie im antiken Drama. WelcheBedeutung hatte diese Prozesshaftigkeit fürIhre Komposition?

Ich folgte ihr wie einem unausweich-lichen Sog.

In dem spezifischen musikalischen Duktus,den Ihre Oper entwickelt, prallen zwar einer-seits die gegensätzlichen Welten aufeinander,aber das klangliche Geschehen ist in sich sehrheterogen, es gibt „unsichtbare“ Stimmen,einen schreienden Mann, eine stummeTänzerin, einen Bewegungschor,einen Chor vom Tonband etc.

Wenn ich den Schaffensprozess richtigerinnere, entstand alles „zu seiner Zeit“.Das heißt, ich traf Entscheidungen überklangliche Geschehnisse und Verläufe nieim Voraus, sondern meist an „Ort und Stel-le“. Das Stück entstand, indem ich sein Ent-stehen beobachtete und niederschrieb. Dasist bei einigen meiner Kompositionen derFall, es scheint meinem Wesen zu entspre-chen, etwas entstehen zu lassen, nicht weilich es kenne, sondern weil es mir unbe-kannt ist. Unbekannt in der Gestalt, in deres sich dann als Ganzes zeigt, nicht im par-tikularen Bereich der jeweiligen Kunstmit-tel. Die Mittel können gelegentlich sehr ver-traut, geschichtssatt sein. Dass ich zum Bei-spiel den menschlichen Gesang sehr liebeund sehr gerne für Stimmen schreibe, hatin gewissen Momenten sogar dazu geführt,meine Musik als altmodisch zu werten.

Welche Kriterien waren für die Orchesterbe-setzung entscheidend, in der tiefe Streicher –sechs Celli und vier Kontrabässe – und Schlag-zeug dominieren?

Die Orchesterbesetzung und natürlich diePositionen der Instrumentalgruppen undSchallquellen im Raum habe ich wie eineSkulptur aufgefasst: der Komponist alsKlang-Bild-Hauer.

Die Partie des Montezuma, dessen Kulturdem Untergang geweiht ist, haben Sie füreinen dramatischen Sopran geschrieben –betörende Vokalisen. Drückt sich darin auchso etwas wie Sprachverlust aus?

Im Gegenteil: Das ist die Sprache. Spracheim Musiktheater ist ja nicht „Text“, sondernaffektive Äußerung einer individuellenLautlichkeit. Außerdem ist es möglich,diesen Gesang aus der Position von Cortezzu hören, der den anderen nicht verstehenkann, weil er seine Sprache nicht kennt.Deshalb bedarf es der physischen Umset-zung, der Übersetzung. Das ist die Rolle derTänzerin Malinche, die stumm bleibt undalles in Bewegung einschreibt.

Die Konstellation zwischen Montezuma/Sopran und Cortez/Bariton impliziert denGedanken an einen Kampf zwischen denGeschlechtern, in dem das Matriarchat zumScheitern verurteilt ist. Inwiefern war das fürSie ein Thema?

Sicher war das ein starkes Movens. Aberich glaube nicht, dass ich dem Matriarchateine schwächere Position zugewiesen habe.Zumindest musikalisch nicht. Außerdem:Ums Matriarchat ging es, glaube ich, nichtso sehr, sondern eher um die Kraft desWeiblichen auch jenseits der Arterhaltung.

Klaus Umbach hat anlässlich der Urauffüh-rung 1992 im Spiegel geschrieben: „ModerneMusik erscheint selten so zartbesaitet.“Können Sie sich damit identifizieren?

Sehen Sie: Jeder hört etwas anderes.Dem einen tönt’s wild, dem anderen„zartbesaitet“. Wahrscheinlich war ich vor25 Jahren ein wilder Zartbesaiteter.

Oder ein zartbesaiteter Wilder?Das ist doch völlig unerheblich. Wie sagt

Freud: „Das Werk gerät, wie es kann.“

Das Gespräch führte Monika Mertl.

DIE EROBERUNG VON MEXICO

Wolfgang Rihm BILD: SN/MARION KALTER/AKG-IMAGES

Nach der umjubeltenUraufführung von

Dionysos im Jahr 2010zeigen die Salzburger

Festspiele ein weiteresMusiktheaterwerk von

Wolfgang Rihm:Die Eroberung von Mexico

hat in den 24 Jahren seit derUraufführung nahezu den

Status eines Klassikerserlangt. In zwei Interviews

kommen der Komponistund seine Interpreten zu

Wort: der Dirigent IngoMetzmacher und der

Regisseur PeterKonwitschny, der mit

diesem fesselnden Werksein Festspieldebüt feiert.

Page 5: Beilage der Salzburger Nachrichten zu den Salzburger Festspielen 2015

DIE EROBERUNG VON MEXICO

Herr Metzmacher, da György Kurtág seineOper Fin de partie, deren Uraufführung Siebei den Salzburger Festspielen 2015 leiten soll-ten, noch nicht vollendet hat, wurde stattdes-sen Die Eroberung von Mexico von WolfgangRihm ins Programm aufgenommen. Was warendie Gründe dafür?IM: Die Eroberung von Mexico ist von mir1992 in Hamburg mit aus der Taufe gehobenworden. Als Dirigent habe ich mich für die-se Uraufführung besonders eingesetzt undsehe es als Erfolg, dass die Oper später nochmehrfach aufgeführt wurde. So viele Nach-inszenierungen hatten in den letzten Jahr-zehnten sehr wenige zeitgenössischeOpern. Das ist ganz ungewöhnlich. Diemeisten kommen über eine einzige Insze-nierung nicht hinaus. Insofern ist RihmsOper schon fast ein moderner Klassikergeworden, und inzwischen interessiert esmich, was nun, nach all den Jahren, miteinem anderen Regieteam, vor einem ande-ren Publikum an dem Stück Neues entdecktwerden kann.

Was gefällt Ihnen persönlich an dem Stück?IM: Mir gefallen das Experimentelle und dieunglaublich vielen Nuancen klanglicherArt. Der Komponist hat viele neue musika-lische Wege ausprobiert. Zum Beispiel gibtes eine Stelle, wo wir das Orchester vorherauf Tonband aufgenommen haben unddann spielt es noch einmal live dazu –dadurch entsteht eine akustische Irritation,eine Art klangliche Unschärfe, die ein sehraktuelles Lebensgefühl unserer Zeit wider-spiegelt. Interessant finde ich z. B. auch denAnfang. Das Publikum wird erst zehn Minu-ten vor Beginn eingelassen und da erlebt essofort schon perkussiven Klang im Raum,dann kommt der Orchesterauftritt unddann erst der Dirigent. Damit wird das Pub-likum schon auf etwas Ungewöhnlicheseingestimmt. Außerdem sind Besetzungund Aufstellung des Orchesters im Raumsehr ungewöhnlich. Es gibt fünf verschiede-ne Klangquellen aus dem Raum, dazu nochder aufgenommene Chor. Das Publikum,umgeben von Klang, sitzt mittendrin.Darum ist die Felsenreitschule geradezuprädestiniert für dieses Stück.

Herr Konwitschny, der Anfang der Musik istvon Trommeln beherrscht und in einer Regie-anweisung schreibt der Komponist von einer„Landschaft, die das Gewitter kommen spürt“.Ist damit Mexiko gemeint?PK: Auch, aber viel mehr: die Musik be-schreibt eine Spannung, eine Erwartungs-haltung. Die „Landschaft“ meint eher einenglobalen Zustand, und das Gewitter ist na-türlich die Revolution, von der im Text auchdie Rede ist. Viel zu eng wäre, die Oper alsein Historiendrama zu interpretieren. Dashat Wolfgang Rihm selbst oft betont, unddas wird sofort klar, wenn man in die Par-titur schaut.

Der Komponist hat sich das Libretto selbstzusammengestellt aus Texten, die zum Teil mitMexiko zu tun haben. Er benutzt zum einenSchriften von Antonin Artaud, der in Mexikotraditionelle Rauschmittel einnahm und einesurreale Theateraufführung halluzinierte, desWeiteren Stellen aus Briefen des spanischenEroberers Hernán Cortez und schließlich Lie-beslyrik von Octavio Paz, einem mexikanischenBotschafter und Literaturnobelpreisträger.Was ist das Verbindende zwischen diesenText-Fragmenten?IM: Das Verbindende ist natürlich die Mu-sik. Sie gibt dem Abend eine Struktur undeine Ordnung. Formal ist das Stück sehrausbalanciert. Alles tritt paarweise auf. DieBesetzung mit einer Sopranistin und einemBariton, jeweils zwei weiblichen und zweimännlichen Solisten im Orchester (dieFrauen fürs Lyrische und die Männer fürsBrachiale) und die Teilung des Chors ineinen, der vom Tonband singt, und einen,der sich auf der Bühne bewegt, all das deu-tet auf den Ordnungssinn des Komponistenhin, der angesichts einer chaotischen Weltfür das Individuelle Partei ergreift, undzwar sowohl das männliche als auch dasweibliche Element.

Die bei Artaud in einem traumhaften Zusam-menhang ausgestoßenen Worte „männlich –weiblich – neutral“ ziehen sich mit vielen Wie-derholungen durch das ganze Stück. Ist diesePolarisierung der Grund, dass eine der beidenHauptfiguren, die nach dem Aztekenfürst

Montezuma heißt, von einer Frau gesungenwird?PK: Offensichtlich war dem Komponistendie Polarisierung wichtig. Er lässt – stimm-lich und szenisch – einen Mann und eineFrau aufeinanderprallen, den Mann als Er-oberer, die Frau als Beute. Es gibt Behaup-tungen, nach denen Cortez einerseits Mon-tezuma ausgeraubt, benutzt und vielleichtermordet habe, andererseits aber mit einerSchwester von Montezuma ein Kind hatte.Aber das alles spielt 1520 und ist durchnichts wirklich bewiesen. Denn alle Berich-te über die Azteken sind von Europäerngeschrieben, von christlichen Missionaren.Das heißt, wir haben allen Grund, an derObjektivität dieser Aufzeichnungen zuzweifeln. Ebenso gut könnte Cortez’berühmter Brief an den spanischen Königerfunden sein wie die Einhörner, fliegendenDrachen und Zaubertränke, die in dermittelalterlichen Literatur gang und gäbewaren und damals auch geglaubt wurden.Auch Artauds Text La Conquête du Mexiqueist alles andere als ein historischer Bericht,es ist eine hochgradig surreale Dichtung.Was aber bleibt, ist die Bedeutung desEroberns auf einer Metaebene, die ebennicht nur für Mexiko, sondern für dieganze Welt gilt. Und auch nicht nur 1520,sondern seit eh und je bis heute. Das istwohl gemeint, wenn der Komponist sagt,man solle sich nicht in folkloristischenDetails verlieren.

Artaud ist ja berühmt für sein Schlagwortvom „Theater der Grausamkeit“. Haben wiralso etwas besonders Bluttriefendes zuerwarten?PK: Für mich geht es in dieser Oper wenigerum äußerliche Gewalt als um verpassteKommunikation. Trotz der mit den Paz-Ge-dichten beschworenen großen und leiden-schaftlichen Liebe, die deutlich in der Mu-sik spricht, finden die beiden ProtagonistenCortez und Montezuma nicht zueinander.Sie haben eben keine gemeinsame Sprache.Auch die Dolmetscherin Malinche – die inder Oper stumm ist – kann ihnen nichthelfen. Sie sind beide viel zu sehr in ihrengesellschaftlichen Verhältnissen gefangen,

viel zu stark in ihren Rollen verhaftet, wasRihm durch seine Musik ebenfalls unüber-hörbar macht. In den vier Paz-Passagen istdie Rede von der Trauer über unsere Ein-samkeit, ja Vereinsamung, und von derSehnsucht nach der Aufhebung eines ent-fremdeten Seins. In der vierten Paz-Passage,dem letzten Wort des Stücks, ist endlichHarmonie: Der ermordete (?) Montezumaund der Mörder (?) Cortez singen ein klei-nes Duett, a cappella, endlich befreit vomLärm des Orchesters, vom Lärm der Welt,vom Zwang der Destruktion. Für mich warzur Entschlüsselung von Artauds Textenseine Schrift über van Gogh als „Selbstmör-der durch die Gesellschaft“ erhellend. Ar-taud schrieb darin 1935: „Was ist ein wahrerGeisteskranker? Das ist ein Mensch, der esvorgezogen hat, verrückt zu werden, im ge-sellschaftlichen Sinne des Wortes, statt einebestimmte höhere Vorstellung von mensch-licher Ehre zu verletzen, [. . .] denn ein Geis-teskranker ist ein Mensch, den die Gesell-schaft nicht hören wollte und den sie daranhindern wollte, unerträgliche Wahrheitenzu äußern.“ Das beschreibt sehr gut die Ver-antwortung, die die Gesellschaft trägt. AuchArtaud ist ins Irrenhaus gesperrt wordenund musste am eigenen Leibe erleiden, wieunsere Zivilisation mit den nicht normge-rechten Menschen umgeht.

Also geht das Stück nicht gut aus?PK: Das mag jeder Zuschauer für sich ent-scheiden. Jedenfalls endet es sehr ähnlichwie Aida oder L’incoronazione di Poppeamit einem Liebesduett, das sehr, sehr zartgegen die vorher auftrumpfende mächtigeKlanggewalt steht. Etwas sehr Besonderesist, wie sich in diesem schwebenden, vomOrchester nicht mehr gestützten Duett diebeiden Stimmen umeinanderwinden. Dasind die Protagonisten zwar eigentlichschon tot, aber ihre Sehnsucht zueinanderlebt sich erst hier richtig aus. Im surrealenSchluss der Oper liegt für mich etwas Hoff-nungsvolles. Sicher, die ganze Zeit vorherwar es nur Kampf, aber am Ende erfährtman etwas, wofür sich wirklich zu kämpfenlohnt.

Das Gespräch führte Bettina Bartz.

Peter Konwitschny BILD: SN/WERNER KMETITSCHIngo Metzmacher BILD: SN/HARALD HOFFMANN

Page 6: Beilage der Salzburger Nachrichten zu den Salzburger Festspielen 2015

SALZBURGER FESTSPIELE

Die von Publikum und Kritik gleichermaßen gefeierte Neuproduk-tion von Richard Strauss’ Rosenkavalier – inszeniert von Harry Kup-fer und dirigiert von Franz Welser-Möst – bildete 2014 nicht nureinen Höhepunkt der Salzburger Festspiele, sondern des gesamtenStrauss-Jahres überhaupt. Zum ersten Mal in der Festspielgeschich-te war dabei das Werk ohne die auch andernorts üblichen Kürzun-gen zu erleben, was vor allem dem faunischen Baron Ochs auf Ler-chenau zugutekam: In aller Ausführlichkeit und ohne einen Anflugvon Scham konnte er der Marschallin von seinen ländlichen ero-tischen Abenteuern berichten. Günther Groissböck, der die Rolleerstmals verkörperte, riss nicht nur die Rezensentin der FAZ hin,die befand: „Dieser schöne junge Ochs, mit seinem Charme undseinem Furor, ist der Mittelpunkt und die Entdeckung des Salz-burger Rosenkavalier.“ Nicht weniger Begeisterung entfachteKrassimira Stoyanova mit ihrer ersten Marschallin: Sie „lotetUntiefen und Tiefen der Figur aus, als singe sie ihre Paraderolle“,urteilte die Opernwelt. Komplettiert wird die Besetzung auch heuerwieder durch Sophie Koch als Octavian und Adrian Eröd als Fani-

nal. Als dessen Tochter Sophie gibt die junge südafrikanische Sop-ranistin Golda Schultz ihr Festspieldebüt.

Für Harry Kupfer erzählt der Rosenkavalier eine Geschichte, dieklar auf die Entstehungszeit des Werks – eine vom Ende der k. u. k.Monarchie geprägten Wendezeit – bezogen ist: Rokoko-Ornamentund gepuderte Perücken, wie sie die Aufführungstradition desRosenkavalier lange bestimmten, hat er aus seiner Inszenierunggetilgt, um sich fern von musealer Übertünchung ganz auf die dif-ferenzierte Zeichnung der Charaktere und ihrer Beziehungen zu-einander zu konzentrieren. Das Ganze in Hans Schavernochs weit-räumigen Bühnenbildern, die das Wien der Ringstraßenzeit mittelsProjektionen und architektonischer Versatzstücke suggestiv herauf-beschwören. Die vor allem dank des Wiener Walzers von lokalemKolorit durchtränkte Partitur wird Franz Welser-Möst am Pult derWiener Philharmoniker erneut in ihrem ganzen Reichtum zum Blü-hen bringen. Darüber hinaus dirigiert er im Sommer 2015 die Neu-produktion von Beethovens Fidelio, für die der Regisseur ClausGuth nach Salzburg zurückkehrt.

DER ROSENKAVALIER

Krassimira Stoyanova und Sophie KochBILD: SN/MONIKA RITTERSHAUS

Werther, Ernani,Dido and Aeneas:

konzertante Höhepunkteim Opernprogramm.

OHNEKOSTÜM

UNDMASKE

„Wenn sich der Zuschauer bei einem Bilder-rätsel erst fragen muß, was es bedeutet, soüberhört er einen Teil der Musik. Das magihm zwar angenehm sein, aber mir ist esunerwünscht.“ Kein geringer Teil desOpernpublikums wird sich mit diesen Zei-len identifizieren können – und dürfte zu-gleich überrascht sein, von wem sie stam-men . . . Doch dazu später. Die Frage nachFreud und Leid mit mehr oder minder mo-dernen Inszenierungen erhitzt jedenfallsdie Gemüter wie kaum eine andere: Dasalte, die Gattung seit ihren Anfängen beglei-tende Ringen um die Vormacht von Wortoder Ton, es ließe sich längst umdeuten indas wechselvolle Zusammenspiel von Augeund Ohr, das vom Einklang bis zum Wider-spruch reicht – so wie freilich auch Konso-nanz und Dissonanz gemeinsam erst dieMusik machen . . .

Neben gänzlich neuen und teils in ande-rer Besetzung erarbeiteten szenischen Aus-einandersetzungen mit bedeutenden musik-dramatischen Werken leisten sich die Salz-burger Festspiele auch in diesem Sommerwieder konzertante Aufführungen ausge-wählter Opern: Das Wesen der Kunstformliegt ja doch in der Musik begründet. Glaub-würdigkeit, Intensität und Spannung kön-nen ebenso stark durch den Gesang und dasstützende, deutende, intensivierende Or-chester vermittelt werden wie mit den Hilfs-mitteln Bühnenbild, Kostüm und Maske: Ja,auch und gerade das Schauspiel muss da inKlang übersetzt werden – stilecht, verstehtsich, ohne unpassende Übertreibungen.

WERTHEREin Werk vom mitreißenden emotionalenKaliber eines Werther freilich mit seineraufwühlenden, aber vorwiegend innerenHandlung eignet sich glänzend für eine reinmusikalische Darstellung. Jules Massenetsherzzerreißende Vertonung von Goethesautobiografischem Briefroman fesselt dasPublikum seit der Uraufführung an derWiener Hofoper 1892 – zumal dann, wennwie in Salzburg eine Starbesetzung nichtnur dem Namen nach, sondern auch nachden Fähigkeiten der Protagonisten und derspeziellen Eignung für ihre Partien am Werk

ist. Für den schwärmerischen, unglücklichliebenden jungen Dichter darf Piotr Beczalamit seinem auf ganz eigene Art strahlendenTenor als ideal gelten: Er hat schon 1997 inder Felsenreitschule als Tamino debütiertund konnte in den letzten Jahren an derSalzach große Erfolge als Rusalka-Prinz,Roméo, Vaudémont in Iolanta oder Rodolfofeiern. Sein Werther „fasziniert durch dieSpannung zwischen konzentrierter Energieund scheuem Zartgefühl, zwischen Emp-findsamkeit und auflodernder Leiden-schaft, die sich immer deutlicher ins Selbst-zerstörerische wendet: ein der Welt Frem-der von Anfang an“, jubelte etwa die Zeit-schrift Opernwelt. Die pflichtbewussteCharlotte gibt an seiner Seite Elīna Garanča,der die Partie nach eigener Aussage sehrnahe ist, „sowohl musikalisch als auch emo-tionell“. Für den Tenor wie für die Mezzo-sopranistin handelt es sich um eine Wieder-begegnung mit diesen Charakteren nachlängerer Pause. Aber, merkt die Mutterzweier kleiner Töchter an, gewisse Rollen„reifen durch das Liegenlassen. Das ist wiebei einem edlen Wein: der braucht auch sei-ne Ruhe, man muss ihn nicht täglich dre-hen. Und mit guter Musik ist es genau so:Sie entwickelt sich in einem weiter, manbringt Erlebtes, Persönliches hinein.“ Fürneue Impulse sorgt freilich auch der jungeargentinische Dirigent Alejo Pérez, der mitdem Werther sein Festspieldebüt feiert.

ERNANIRiccardo Muti hingegen zählt in Salzburglängst zum Kern der gleichsam unverzicht-baren Künstler: Neben alljährlichen Konzer-ten und vielen denkwürdigen Mozart-Pro-duktionen sind es vor allem die Opern desitalienischen Repertoires, mit denen er hierimmer wieder Maßstäbe gesetzt hat – zu-letzt etwa mit einem gleichfalls konzertantrealisierten Nabucco, einem Höhepunkt imSommer des Verdi-Jahres 2013. Damalsschon mit dabei: Francesco Meli als Ismaele,der in der Zwischenzeit als laut Kritiken„edel und differenziert“ singender Manricoim Trovatore an der Seite von Anna Netreb-ko und Plácido Domingos spätem Lunagleichsam die höheren Tenorweihen emp-

fangen hat. Doch nicht nur als Troubadour,auch in der Titelrolle von Ernani kehrt derSänger nun zurück – einem Werk, das draufund dran ist, seine einstige enorme Popula-rität wiederzugewinnen: Nicht von unge-fähr nannte es George Bernard Shaw „jenesultra-klassische Produkt der Romantik, diegrandiose italienische Oper, in der dieKunst der Aufführung aus einer blenden-den Entfaltung individuellen Heldenmutsbesteht und das Drama aus den einfachstenund allgemeinsten Auslösern für diesen er-wächst“. Muti setzt sich ja für die Stückeaus der frühen Periode seines „Lebenskom-ponisten“ Giuseppe Verdi mit der gleichenVerve, Genauigkeit und Leidenschaft ein,die etwa seine Traviata, seinen Macbethoder Otello auszeichneten, die er ebenfallsin Salzburg erarbeitet hat.

Kaum zu glauben, dass die Primadonnaseinerzeit mit einem solistischen Finalron-do brillieren wollte. Stattdessen schuf Verdischließlich ein ungeheuer spannungsrei-ches, sich über alle Konventionen erheben-des Terzett, das in Ernanis Tod kulminiert.Drama statt sängerischer Eitelkeit, das warauch immer Mutis Devise. Von jeher stelltder Maestro sich dem Zirkus zum Selbst-zweck werdender hoher Töne entgegen, diegar nicht in der Partitur stehen, verbietetverstümmelnde Striche und die Tonarten-dramaturgie zerstörende Transpositionen.So entfaltet auch Ernani seine ganzedüstere Kraft – nicht nur, aber besonderseindringlich im zu einer Einheit verschmol-zenen dritten Teil („La clemenza“), der inder Krypta des Aachener Doms spielt:Bisher hatte sich der spanische König DonCarlo, als Bariton der Rivale des zum Rebel-len gewordenen Edelmannes Ernani um dieGunst der adeligen Elvira, einer höchstanspruchsvollen, verzierten Sopranpartie,eher als skrupelloser erotischer Desperadohervorgetan. Am geschichtsträchtigen Ortaber wandelt er sich in seinem Inneren zumverantwortungsbewussten, seine Triebe zü-gelnden Herrscher, schon bevor die Kundean sein Ohr dringt, die Kurfürsten hättenihn zu Kaiser Karl V. gewählt – und die mi-nutiöse Musik lässt uns diese Wandlung aufpackende Weise miterleben. Luca Salsi hat

die Partie schon in Rom unter Muti gesun-gen und komplettiert eine Besetzung, in derneben der aus Südkorea stammendenSopranhoffnung Vittoria Yeo, einerSchülerin von Raina Kabaivanska, auchIldar Abdrazakov als unerbittlicher alterSilva zu erleben ist.

DIDO AND AENEASWährend Ernani, seinem Schwur gemäß,sich den Dolch in die Brust rammen muss,stirbt Dido in Henry Purcells Dido andAeneas, ohne Hand an sich legen zu müs-sen, qualvoll an gebrochenem Herzen: DasLamento der von ihrem Geliebten Aeneasverlassenen karthagischen Königin, ange-stimmt über dem universalen Klagesymboldes „passus duriusculus“ im Bass, zählt zuden bewegendsten Arien nicht bloß des Ba-rock, sondern der ganzen Operngeschichte.„Remember me!“, fleht die Bejammerns-werte – und mit ihr wurde auch PurcellsMeisterwerk nie vergessen. Dass freilichzwischen Entstehung (um 1688) und ältes-ter erhaltener Abschrift eine Lücke von gut60 Jahren klafft und wir genau genommenüber die Originalgestalt der mit Tänzen undschaurigen Hexenszenen abwechslungs-reich bunten, zugleich jedoch ungeheuerkonzentrierten, fesselnden Partitur nichtBescheid wissen, eröffnet den InterpretenFreiräume. Der Dirigent Thomas Hengel-brock hat ein Konzept erarbeitet, das eineSchauspielerin in Gestalt des Burgtheater-stars Johanna Wokalek ins Geschehen in-tegriert: Man darf gespannt sein, wie sieetwa mit der zauberhaften Kate Lindsey alsDido interagiert.

Ob es da, trotz konzertanter Aufführung,doch zu Bilderrätseln kommen wird? Vonkeinem anderen als Arnold Schönbergstammen die eingangs zitierten Worte. ImBriefwechsel mit Kandinsky heißt es aberauch, dass „unsere Schöpferkraft solcheRätsel den Rätseln“ nachbilden möge, „vondenen wir umgeben sind. Damit unsere See-le den Versuch mache – nicht sie zu lösen– sondern sie zu dechiffrieren.“ Und dasverlangt letztlich die Musik von uns genau-so – auch ohne Kostüm und Maske.

Walter Weidringer

Johanna Wokalek BILD: SN/ANDREAS KOLARIKRiccardo MutiBILD: SN/SILVIA LELLI BY COURTESY OF WWW.RICCARDOMUTIMUSIC.COM

Piotr Beczala BILD: SN/JOHANNES IFKOVITS

Page 7: Beilage der Salzburger Nachrichten zu den Salzburger Festspielen 2015

IRREN IST MENSCHLICH . . .Michael Billington, Journalist des Guardianund graue Eminenz unter den britischenTheaterkritikern, ist ein Mann, der die Ko-mödie der Irrungen schon oft gesehen hat.Seiner Meinung nach ist das Stück „fast im-mer für einen vergnüglichen Theaterabendgut“. In England hat diese frühe Shakes-peare-Komödie mit dem sachlichen Titelden Ruf, eines der populärsten und erfolg-reichsten Stücke des Autors zu sein – ge-meinsam mit Werken wie Romeo und Julia,dem Sommernachtstraum oder Macbeth,jener Tragödie, die von den Schauspielerntraditionell als „das schottische Stück“ be-zeichnet wird. Im deutschsprachigen Thea-ter wurde die Komödie der Irrungen in denletzten Jahren allerdings kaum je aufgeführt– jedenfalls auf keiner der größeren undnamhafteren Bühnen. Es scheint, als wäredas Stück in Vergessenheit geraten.Diesen Sommer bietet Henry Mason denFestspielbesuchern auf der Pernerinselalso die seltene Gelegenheit, dieses Werk indeutscher Sprache in einer eigenen neuenÜbersetzung zu sehen. Was ist an diesemStück nun so besonders und worauf könnenwir uns freuen?

Die Komödie der Irrungen erzählt die Ge-schichte von Zwillingen. Shakespeare fanddie Originalvorlage dazu bei Plautus undmachte sie gleich noch um einen Grad ver-wirrender. Sein Stück handelt nämlich vonzwei Zwillingspaaren – quasi von Zwillin-gen hoch zwei. Zwillings-Herren und ihreZwillings-Diener. Die Herren tragen beideden Namen Antipholus, die Diener heißenbeide Dromio. (Sie wollen wissen, warumdie Zwillinge jeweils denselben Namen ha-ben? Nicht fragen – bitte einfach zusehen!)Die beiden Herr-und-Diener-Paare werdenfrüh voneinander getrennt; eines wächst inEphesus auf, das andere in Syrakus. Den Be-wohnern von Syrakus ist das Betreten vonEphesus verboten. Jedem Einwohner vonSyrakus, der in Ephesus angetroffen wird,droht die Todesstrafe – es sei denn, er ist inder Lage, ein sehr hohes Lösegeld zu zah-len. Das Stück beginnt mit der Ankunft desPaars aus Syrakus in Ephesus, wo es – unteranderem – nach den lange verschollenenBrüdern sucht.

Ephesus hat einen sehr speziellen Ruf. Esist eine Hafenstadt, ein Ort, der berühmt istfür seinen Reichtum und seine Gewalt, fürChance und Gefahr, für Geld und Sex. Da-rüber hinaus ist es aber auch ein Ort derMagie, des Aberglaubens und der Hexen.Ziemlich bald nachdem die beiden Fremdenangekommen sind, geschehen die seltsams-ten Dinge. Dromio leugnet jegliche Kenntnisvon einer großen Summe Geldes, die Anti-pholus ihm gerade übergeben hat. Sodann

erklärt Dromio im Brustton der Überzeu-gung, dass Antipholus von seiner Frau zuHause erwartet wird. Antipholus weiß, dassDromio weiß, dass er weder/ noch besitzt.Obwohl sich beide inkognito in Ephesusaufhalten, werden sie vonFremden erkannt. (Warum die beiden nichtbegreifen, dass sie mit ihren Brüdernverwechselt werden? Bitte nicht fragen –einfach weiter zusehen!)

Diese Verwechslungen werden mithilfeeiner sehr fein ausbalancierten Skala kon-trastierender Stimmungen sichtbar gemacht– das reicht von hemdsärmeligem Slapstickmit klassischen Szenen, die sich um einzentrales Requisit drehen: eine Seilrolle,eine goldene Kette . . ., über introspektiveMomente metaphysischer Krisen, diespätere Protagonisten wie Hamlet oderMacbeth vorwegnehmen, bis hin zuAntipholus’ plötzlich entflammender tiefenLiebe – allerdings nicht zu der Frau, die sichfür seine Gattin hält – nein, sondern zuderen Schwester.

In der Gestalt von Adriana, der Gattin desAntipholus von Ephesus, und ihrer Schwes-ter Luciana führt Shakespeare ein drittesPaar in die Handlung ein. Diese beiden sindallerdings ganz eindeutig keine Zwillinge –obwohl Antipholus aus Syrakus sich viel-leicht wünschte, sie wären austauschbar. Inder Darstellung dieser beiden weiblichenHauptfiguren, die sich – obwohl emotionellviel reifer – ihren männlichen Gegenspie-lern theoretisch unterzuordnen hätten, ent-faltet Shakespeare die gesamte Raffinesseseines schriftstellerischen Könnens. Erstellt die unschuldige Freude an der Entde-ckung einer neu gefundenen idealen Liebeden Alltagsspannungen einer seit Längeremschon bestehenden Ehe und dem morali-schen Dilemma eines Seitensprungs gegen-über. Es geht hier um durchaus komplexeLebensgeschichten von Erwachsenen, undes bedarf einer komplexen, erwachsenenSprache, um sie zu erzählen.In einem dichten und kompliziertenHandlungsgefüge, das nachzuerzählenscheint’s wesentlich mehr Zeit in Anspruchnimmt als beim Betrachten, gelingt esShakespeare, seinen Zusehern immer umeinen Schritt voraus zu sein: Nie ist er solangsam, dass man vorausahnen könnte,was als Nächstes passiert – aber er preschtauch nicht so weit vor, dass man ihm nichtmehr folgen kann. Es gelingt ihm nicht nur,die unterschiedlichsten Elemente desStücks im Griff zu behalten – er tut es spie-lerisch und unterhält das Publikum mitkühnen Kontrasten in Tonfall und Tempo.

Stanley Wells, viele Jahre hindurchProfessor an der Universität Oxford,beschreibt die Komödie der Irrungen als

„Shakespeares Meisterwerk, wenn wir dasWort im Sinne einer Arbeit verwenden, inder sich die Meisterschaft des Handwerkserstmals offenbart“. Dem lässt sich schwerwidersprechen. Das Stück wirkt fast wie einDemo-Band aus dem 16. Jahrhundert – einWerbespot, der weitere Schreibaufträge ein-bringen soll. Obwohl der Titel das Wort„Komödie“ enthält und es das kürzeste allerShakespeare-Stücke ist, beginnt es miteinem langen Beinahe-Monolog, der abso-lut nicht zum Lachen ist. Hier spricht einBürger von Syrakus – wie sich später he-rausstellen wird, Vater der beiden Antipho-lüsse –, der zum Tode verurteilt ist. Auf die-se Gefängnisszene folgen eine Farce, Sex-szenen, romantische Liebe, Gangster, Män-ner, die sich über Frauen lustig machen,und Frauen, die sich ernsthaft über Männerunterhalten. Die Energie, Leidenschaftlich-keit und schiere Lust am Geschriebenenbleibt das gesamte Stück hindurch unwider-stehlich. Es markiert einen Punkt in Shakes-peares Entwicklung als Schriftsteller, andem er sich seiner Fähigkeiten voll bewusstwird – ebenso wie der Möglichkeiten, diedem Theater zur Verfügung stehen. Es istdie Arbeit eines jungen Mannes, der weiß,dass er außerordentlich begabt ist, und derbegierig darauf ist, sich als Neuankömmlingin der Großstadt in dem von ihm erwähltenBeruf zu profilieren.

Die Vorstellung einer großen Stadt, die soweitläufig ist, dass man sich in ihr verlaufenkann, macht die Komödie der Irrungen zueiner der ersten Darstellung dessen, wasmittlerweile zu einem klassischen Mythosder Moderne geworden ist: jener des Frem-den in der Großstadt. Das Bemühen vonShakespeares Hauptfiguren geht in ersterLinie dahin, die eigene Identität zu bewah-ren, von anderen im Innersten erkannt zuwerden – nicht nur an Äußerlichkeiten. Indiesem Sinne fragt Dromio aus Syrakus sei-nen Herrn: „Kennt Ihr mich, Herr? Bin ichDromio? Bin ich Euer Mann? Bin ich ichselbst?“

Dieses neue urbane Umfeld liefert einegroße Bandbreite an Begegnungen undSignalen – eine Renaissance-Version desheutigen Informationsüberangebots. Diezahlreichen Irrungen im Stück, die Ver-wechslungen, beruhen auf fehlerhaftemVerständnis, das in den meisten Fällen aufdas Fehlen wesentlicher Informationen zu-rückzuführen ist. Das Stück ist auf ein sehrtemporeiches Spiel hin angelegt. (Nichtfragen – bitte einfach zusehen!) Währenddie großen Tragödien, die Shakespeare zehnJahre später verfasste, oft um ein Zögernkreisen, das vom Zweifel herrührt, zeigt dieKomödie der Irrungen die bitteren Konse-

quenzen, die sich ergeben, wenn man nichtzögert, nicht genug zweifelt.

Wenn auch alle Personen des Stücks darinübereinstimmen, dass Boshaftigkeit und Be-trug auf der Welt existieren, sind die Figu-ren dennoch alle von einer anrührendenUnschuld. Niemand unternimmt gezielteAnstrengungen, jemand anderen hintersLicht zu führen. Für Antipholus und Dro-mio aus Syrakus bedeutet die simple Tatsa-che, dass sie so aussehen wie sie selbst, dasssie in größere Schwierigkeiten verwickeltwerden, als wenn sie sich aufwendig ver-kleidet hätten. Wenn die entscheidendenZusammenhänge schließlich hergestelltund die Verwirrungen der Personen im letz-ten Akt zerstreut werden – gerade rechtzei-tig, bevor es zu nicht wiedergutzumachen-dem Unheil kommt –, dann wirkt diese ver-söhnliche Schlussszene glücklicher undglaubhafter als jene zwischen den einanderbefehdenden Brüdern im Sturm oder denerotisch ambivalenten Protagonisten in Wasihr wollt. Dass Fremde einander so gleichenund gleichzeitig einander so fremd seinkönnen, kann hier zum Gegenstand amü-sierter Neugierde werden – und nicht zueiner Belastung oder gar Bedrohung. Wirsind an jenem Punkt angelangt, wo jedesIndividuum aufgrund seiner persönlichenEigenheiten geschätzt wird – aufgrundseiner eigenen Geschichte.

Irrtümer, von denen es im Stück so vielegibt, können gemeistert werden: selbst dieschlimmsten, die zeitweise so scheinen, alswären sie unüberwindlich. Allen realen undimaginierten Gefahren zum Trotz zeigt unsdas Stück eine Welt, in der alles letztlichgut ausgeht – vorausgesetzt, wir habenausreichende Informationen. Und das isteine Welt, in der zumindest ich gern lebenwürde.

David TushinghamÜbersetzung: Vera Neuroth

Henry Mason BILD: SN/RITA NEWMAN

„Wir wissen, was Bert Brecht eigentlich ist. Er ist die kulturbolsche-wistische Atombombe, die versuchsweise ausgerechnet auf Öster-reich abgeworfen wurde.“

Diese Sätze waren in der Zeitung Die Presse anlässlich des Skan-dals um die Einbürgerung von Bertolt Brecht zu lesen.

Dass einem Dichter eine derartige Sprengkraft zugetraut wurde,ist schon fast wieder schmeichelhaft, jedenfalls aber ermöglichendiese Zeilen deutliche Rückschlüsse auf die geistige Verfassung je-ner Zeit. Der „Fall Brecht“ war ein hysterischer Eklat und eine Pro-vinzposse zugleich, die noch dazu eng mit Salzburg und den Fest-spielen verknüpft war: Gottfried von Einem, damals Direktoriums-mitglied der Festspiele, wurde ob seines Eintretens für Brecht gardie Mitarbeit aufgekündigt. Einen derartigen Skandal hätte sich derDichter 1928 gewiss für seine Dreigroschenoper gewünscht, statt-dessen wurde die Premiere im Theater am Schiffbauerdamm zueinem ungeheuren Triumph. Das Werk schrieb Theatergeschichteund Brecht setzte sich endgültig als neuer Stern am Literaturhim-mel durch. Brecht selbst war die Sache nicht ganz geheuer und erglaubte an ein Missverständnis seitens des noch nicht genügendanalytisch geschulten Publikums. Dabei war es die Musik seinesPartners Kurt Weill, die jede weltanschauliche Differenz margina-lisierte. Hier war ein neuer Klang, ein neues Genre geboren, unddas Publikum war hingerissen. 4000 Vorstellungen erlebte dasWerk zwischen 1928 und 1933 allein in Berlin, bis die National-

sozialisten die Aufführung verboten. Brecht und Weill flohen insExil. Weill starb erst fünfzigjährig in New York, Brecht kehrte, nachseiner Aussage im McCarthy-Ausschuss, 1952 nach Europa zurückund starb 1956 in seiner Wahlheimat, der DDR.

Der Siegeszug der Dreigroschenoper hält bis heute an. Weill wares gelungen, den Geist der Weimarer Republik einzufangen, Jazzund Tanzmusik, Blues, Schlager, gewagte Tonalität und neue Sach-lichkeit, Revue und abgeklärte Verruchtheit, Lebenshunger, Protest,Chaos und Aufbruch des großstädtischen Berlins der Zwanziger-jahre, kurz: das Selbstverständnis einer Epoche wurde für alle Zei-ten durch seine Komposition konserviert. Gerade diese Verdienstehaben uns nun paradoxerweise bewogen, die unsterblichen Melo-dien Weills für dieses eine Mal aus ihrer Zeitgebundenheit zu lösenund sie in die musikalische Sprache unseres Jahrhunderts zu über-setzen.

Wir haben Martin Lowe, Grammy-, Tony- und Olivier-Award-Gewinner, eingeladen, die Musik von Kurt Weill neu zu adaptieren.In Absprache mit der Kurt Weill Foundation in New York nennenwir dieses einmalige Experiment: Mackie Messer – Eine SalzburgerDreigroschenoper; und wirklich wird sie nur acht Mal, ausschließ-lich in Salzburg, und dann nie wieder zu sehen sein. Regie führenJulian Crouch und Sven-Eric Bechtolf, es spielen unter anderemMichael Rotschopf, Sonja Beißwenger, Sona MacDonald, GrahamF. Valentine und Pascal von Wroblewsky.

MACKIE MESSER

Michael Rotschopf BILD: SN/JEANNE DEGRAA

Page 8: Beilage der Salzburger Nachrichten zu den Salzburger Festspielen 2015

SALZBURGER FESTSPIELE

ZUM TEUFEL!Als ich noch der Teufel war, wohn-te Gott in der Hölle. Das muss icherklären: Gott wurde, in Personal-union mit dem Glauben, von demwunderbaren, leider 2013 verstor-benen Schauspieler Peter Fitz ge-spielt. Der logierte in Salzburg im„Gasthof Hölle“. Diese Koinzidenzbegeisterte ihn stets aufs Neue. Icherzählte ihm, dass ich, der Teufel,in Salzburg studiert habe, am Mo-zarteum, dessen Schauspielabtei-lung damals im Ort Himmelreichuntergebracht war. Verkehrte Welt,aber interpretatorisch nicht ganzuninteressant: Der Teufel lernt imHimmelreich, der Glaube wohnt inder Hölle.

Fitz und ich zwitscherten daraufnoch ein Gläschen und sangen dasbeliebte Trinklied: „Wir sind allekleine Sünderlein!“ Die theologi-schen Himmelsrichtungen sind

mir in Salzburg daher bis heute all-gegenwärtig!

Im Himmel und in der Hölle gibtes keine Abgänge – nur das Fege-feuer und die Erde erleben regeFluktuation. Und der Jedermann:Simon Schwarz, der bisher groß-artig den Teufel spielte, kann zwarmit keiner höllischen oder jensei-tigen Adresse aufwarten, wennman Berlin nicht inkriminierenwill, aber ich finde den Nach-namen passend. Nun gibt er,nachdem er sich glorreich in dieAnnalen der Jedermann-Chronikeingetragen hat, seine Rolle weiter.Sein Nachfolger sorgt regelmäßigam Deutschen Theater in Berlinfür Begeisterung. Es ist ChristophFranken, der 2013 bei den Festspie-len als schwächlicher Franzosen-könig in der Jungfrau von Orleansbeeindruckte.

Seine Widersacherin, die GutenWerke, verkörperte bis 2014 diegroßartige Sarah Viktoria Frick,die zugleich auch eine begnadetePuppenspielerin sein durfte. IhreNachfolgerin ist Johanna Bantzer.Diese junge Schauspielerin ist inHannover engagiert und ihr Name„wetterleuchtet von Zukunft“, wiees der Kritiker Alfred Polgar einmalüber eine junge Schauspielerinschrieb, die sich dann tatsächlichals Elisabeth Bergner entpuppte.Der gute Gesell, sehr komisch undskurril bis letzten Sommer von Pat-rick Güldenberg gespielt, hat eben-falls einen würdigen Nachfolgergefunden: den hochbegabten SvenDolinski, der am Burgtheaterreüssierte und letzten Sommer invielen Rollen in Die letzten Tageder Menschheit im Landestheaterzu bestaunen war.

Eine neue Generation von jun-gen Schauspielern macht sich alsoauf, den Domplatz zu erobern! Daswundersame Stück Jedermannbietet nämlich tatsächlich allenSchauspielern die Möglichkeit, ausihren Rollen eine überraschendeAttraktion zu machen. Und daswollen sie gewiss, denn auch siesind, wie es der legendäre Jeder-mann Klaus Maria Brandauerunnachahmlich formulierte, „nichtans Theater gegangen, um unauf-fällig zu bleiben“. Wir danken euchjedenfalls: Simon, Sarah, Patrickfürs Auffällig-gewesen-Sein, undbitten Sie, verehrtes Publikum,unsere Neubesetzung beim Auf-fällig-Werden auf das Herzlichstezu begrüßen.

Der Chef unseres Kartenbürosheißt übrigens Engel.

Ihr Sven-Eric BechtolfChristoph Franken BILD: SN/WALDEMAR SALESSKI

Karriere und Liebe – zwei Koordi-naten, die den Dichter Goethe seinganzes Leben beschäftigen und de-ren Unvereinbarkeit er nicht müdewird zu beschreiben. Umso bemer-kenswerter, dass Goethe sie bereitsals 24-jähriger Jungstar in seinemrasant geschriebenen TrauerspielClavigo als diametrale Lebensent-würfe zeigt. Seine Titelfigur Clavi-go, offensichtlich Alter Ego Goe-thes, Autor unterschiedlichsterSchriften, attraktiv und erfolg-reich, braucht die Liebe, um krea-tiv sein zu können: Sie beflügeltund berauscht, ist Balsam für seinekünstlerische Seele. Ohne sie er-scheint sein Werk uninspiriert undausdruckslos – so zumindest Cla-vigos Freund und Berater Carlos.Doch sobald das romantische Ge-fühl mit Treue, Versprechen odergar Ehe einhergeht, wie für seineBraut Marie selbstverständlich, istes mit dem Zauber schnell wiedervorbei und der Künstler erstickt inSpießbürgerlichkeit und Enge.Braucht er doch den erotischenKitzel und: absolute Freiheit!Ein weiterer zentraler Begriff inGoethes Leben und Werk.

Wenn Goethe in den Gesprä-chen zwischen den Freunden Cla-vigo und Carlos die Vereinbarkeitvon Karriere und Liebe zur Diskus-sion stellt, hinterfragt er damitoffensichtlich das aufklärerischebürgerliche Ideal seiner Zeit undzeigt dessen Widersprüche undDoppelmoral auf. Zugleich wirdsein eigenes gespaltenes Ich sicht-bar, weiß man doch, dass der Dich-ter schon in jungen Jahren seineKarriere im Gegensatz zu seinenzahlreichen Geliebten nie aus denAugen verliert. Der junge Goethekennt das alles: die Wechselhaftig-keit der Gefühle, das Glück alsPhänomen von Augenblicklichkeit,die Triebhaftigkeit des Mannes . . .Und nicht zu vergessen den Glau-ben an so etwas wie Genie – wirdihm doch seit seinem Werther ge-spiegelt, dass er sich so nennendarf.

Und so wird dem genialenKünstler (und Mann) alles verzie-hen und werden die allgemeinenMoralvorstellungen verbogen –wenn er nur Einsicht zeigt. Goe-thes Held ist reuig, leidet, verzwei-

felt und stirbt schließlich einendramatischen Tod. Seine Geliebte,deren Herz längst unter den Exer-zitien dieses Diskurses zerbrochenist, erhält zwar ihren Teil Mitleid,bleibt aber eine Nebendarstellerin,„bleich“ und „ausgezehrt“. Dieschwächliche Vertreterin vonTreue, Moral und Güte bietet wenigReibung, wenig Interesse, währendder schuldbewusste Held im Zen-trum aller Aufmerksamkeit steht.

Diese seit damals in allen mög-lichen Varianten in Literatur, Filmund Theater gezeigte Geschichtedes egoistischen Mannes und derihn liebenden und zugrunde ge-henden Frau birgt heute kaumnoch Sprengstoff. Der Verlauf istbekannt, der Egoismus des Man-nes langweilig, seine jammerigeReue noch langweiliger und dieFrau sowieso längst woanders an-gekommen. Was in Goethes Zeitenfast ausschließlich Männern vor-behalten war, erotische Abenteuer,beruflicher Aufstieg und egozen-trisches Freiheitsstreben, ist längstauch eine Domäne der Frauen ge-worden. Clavigo wird in StephanKimmigs Inszenierung von einerFrau – Susanne Wolff – gespielt:ihre libidinöse Unabhängigkeitund erfolgreiche Karriere werdenals selbstverständlich gezeigt,Faktoren wie Mann, Frau, Zeit,Biologie spielerisch genommen,Begriffe wie Freiheit, Leidenschaft,Schmerz oder Widerspruch ohnefeste Rollenzuschreibungen unter-sucht.

Goethes Text dient in seinerKomplexität als Spiegeltext – mit-samt der historischen und rollen-spezifischen Differenz – und wirdim Spiel mit der Welt von heute ge-kontert. Was das Verhalten der Fi-guren nicht besser oder schlechtermacht, nur eben Fragen ans Heutestellt: solche nach gesellschaftli-chem Fortschritt, nachBigotterie und Rollenzuschreibun-gen, aber auch nach Selbstbetrug,Lüge und Leere. Es sind Fragen, dieauch Goethe in seinen Dramengestellt hat. Warum können wirnicht ohne einander und nichtmiteinander leben und lieben? Istdie romantische Vorstellung vondauernder Liebe nur eine Illusion?Das Glück nur ein Augenblick?

Schöpfer des guten GeschmacksClavigos größte Sehnsucht offen-bart sich gleich zu Beginn des Stü-ckes: Sie will ganz nach oben, „eineder Ersten in Europa“ werden,„Schöpfer des guten Geschmacks“.Bei Goethe ist seine Titelfigur Au-tor, Journalist und Archivarius desKönigs. Kometenhaft ist ClavigosAufstieg, aus dem Nichts bis direktins Firmament, ganz ähnlich demdes jungen Dichters selbst. RüdigerSafranski bezeichnet Goethe als ei-nen Popstar seiner Zeit, dem eineganze Generation zu Füßen lag,der sein Leben zum Kunstwerkmachte. Zeigt man Clavigo heutein diesem Sinne, mit umgekehrterRollenverteilung, erfüllt der Le-bensstil der jungen Künstlerin invieler Hinsicht das gegenwärtigePostulat der Individualisierung: Sieist erfolgreich, hat alle Möglichkei-ten und strebt nach größtmögli-cher Unabhängigkeit. Zugleich

treibt sie die Sehnsucht nachPopularität fast manisch um. Unddoch scheint diese junge autonomeFrau irgendwie einsam inmittender Selbstverwirklichungsgesell-schaft, der sie entsprang und fürdie sie sich produziert. So wunderteinen die Sehnsucht nach dem ro-mantischen Liebeskonzept nicht,die sie umtreibt – tut diese Liebedem Selbstwertgefühl doch fast sogut wie beruflicher Erfolg. Nochweniger wundert einen ihre man-gelnde Ausdauer, dies Konzept,dauerhaft zu leben. Gibt es doch soviele Möglichkeiten der Ablenkungund Zerstreuung, Anforderungender Selbstoptimierung und desAuthentisch-Seins, des Aufsteigensund der Popularität.

Pop als ein sich ständig selbstoptimierendes Format kapitalisti-scher Kulturindustrie ist aus unse-rer Welt und unserem Denkennicht mehr wegzudenken. SeineProtagonisten sind Objekte derWünsche und des Begehrens, derFrustrationen und Träume derLeute, die sie überhaupt erst zuPop machen: der Konsumenten(Dietrich Diederichsen). Radikalitätund Hybris, Subjektivität und in-nere Freiheit sind für die Kunstund den Künstler Privileg und Lastzugleich. Und doch lebt und liebtauch der Künstler innerhalb derGesellschaft – kein leichter Spagat.Die Kunst sollte frei sein, frei vonZensur und moralischem Rechtfer-tigungsdruck, frei von kommer-ziellem Kalkül und Erfolgsdenken.Aber die Freiheit der Kunst istnicht so absolut, wie wir es gernehätten. Von welcher Art also ist dieFreiheit der Kunst heute? Und umauf die zwei Freunde Clavigo undCarlos zurückzukommen: Was hatKunst mit Karriere zu tun?

Die Freiheit des IdiotenNur ein Jahr nach seinem Clavigoverfasst Goethe 1775 die FarceHanswursts Hochzeit oder derLauf der Welt – Ein mikrokosmi-sches Drama. Das Fragment geblie-bene Stück ist trivial und grob inseinem Witz und steckt vollersexual- und fäkalsprachlicherEruptionen und Provokationengegen gesellschaftliche Heuchelei.Dementsprechend hat Goethe es

Susanne Wolff BILD: SN/STEFAN KLÜTER

der Zensur vorenthalten, unter dieimmer wieder Teile seiner Dramenfielen, es wurde zu seinen Lebzei-ten weder gedruckt noch aufge-führt. Auf den ersten Blick istHanswurst das Gegenteil vom fastzeitgleich entstandenen sentimen-talen Sittengemälde Clavigo, mankönnte es aber auch wie die Kehr-seite desselben lesen. GoethesSehnsucht nach dem Verlassengesellschaftlicher Begrenztheiten,nach dem Nicht-Bürgerlichen, Ab-gründigen, der schmutzigen, abervielleicht auch wahrhaftigerenSeite des Menschen scheint bei ge-nauem Hinsehen auch in Clavigodurch. Im Sinne der bürgerlichenAufgeklärtheit seiner Zeit verur-teilt Goethe hier das, was er imHanswurst mit fast anarchistischerEnergie verteidigt: Triebhaftigkeit,Exzentrik, Destruktivität undGefährdetheit. Zugleich ahnt manseine Sympathie für den wankel-mütigen Clavigo. Und tatsächlichist sie ja reizvoll, diese Ambivalenzgegenüber den Exzentrikern, denEgomanen, den an unsere über-domestizierte westliche Welt Un-angepassten. Wäre Clavigo nurnicht so feige, würde er der Moralder Spießer entschieden trotzen,wie auch den kalten Verlockungender Karrierewelt – vielleicht mit ei-ner Portion Humor! Goethe gönntdem Idioten Hanswurst ein StückAutarkie, von der Clavigo nur träu-men kann. In seinem Buch Lichterdes Toren zeigt Botho Strauß dieMöglichkeit auf, im Rückzug ausder Gesellschaft, hinein in die Idio-tie, zu einer tieferen Wahrheit zugelangen: „Der Idiot dreht sich wieeine abgerissene Rose im Flußstru-del zielstrebiger Menschen – Men-schen im Konsens. EingemeindeteZugehörige eines wundersamenEinvernehmens.“ Die Freiheit desIdioten als Alternative, um demIrrsinn unserer vernetzten und aufSelbstoptimierung, Individualitätund Konformität getrimmten Ge-sellschaft zu entkommen und viel-leicht für Momente bei sich selbstanzukommen. Es ist die Freiheit,nicht verwertbar, nicht angesagt,nicht Pop sein zu müssen – Hans-wurst zumindest hat sie Clavigovoraus.

Sonja Anders

DIE FREIHEIT, NICHT POP SEIN ZU MÜSSENJohann Wolfgang von Goethes Trauerspiel Clavigo in der Regie von Stephan Kimmig.

Page 9: Beilage der Salzburger Nachrichten zu den Salzburger Festspielen 2015

„Ich hätt’s mein Leben nicht glaubt, dasder menschliche Blasbalg und d’ Schafdarm,und ’s Kalbfell solche Wunder machenkönnten. Da hat bloß d’ Musik den Donnerund den Blitz ausdruckt, und da hat derHerr Vetter den Regnguß und ’s Wasser rau-schen ghört, und da haben d’ Vögel wirklichgsungen, und der Löw hat brüllt, und da hatman so gar hörn können, wie d’ Würmerauf der Erden fortkriechen. Kurz, Herr Vet-ter, ich bin noch nie so vergnügt ausn Thea-ter fortgangen, und hab auch die ganzeNacht von der Erschaffung der Welt tramt“:So begeistert berichteten 1799 die alsWochenblatt verbreiteten satirischen Briefeeines Eipeldauers an seinen Herrn Vetter inKakran. Wirklich war der spontane Jubelenorm, der Joseph Haydns Schöpfung vonBeginn an entgegenschlug – weil das Werk,typisch für Haydns Musik, Kenner undLiebhaber gleichermaßen erfreut, indem eshandwerkliche Meisterschaft, Fantasie undwachen Verstand mit einer Hörlust und zu-gleich einem Staunen verbindet, die wir imbesten Sinne kindlich nennen dürfen.

Bis heute zählt die Schöpfung zu den be-liebtesten geistlichen Oratorien überhaupt.Wie viel Vergnügen im Kleinen und Opu-lenz im Großen in ihr steckt, wird sich beider festlichen Eröffnung der Ouverture spi-rituelle mit Marc Minkowski, den um Mit-glieder des Mozarteumorchesters verstärk-ten Musiciens du Louvre Grenoble, demSalzburger Bachchor und jungen Solistenerneut zeigen. Und wenn es zum Schlussheißt „Singt dem Herren alle Stimmen“,dann wird nochmals klar, was Musikfreun-de aus aller Welt längst wissen: dass unsnämlich keine Kunstform eine so starke Ah-nung von der Idee des Göttlichen oder all-gemein der Transzendenz vermitteln kannwie die Musik – jenseits aller konfessionel-len Bindungen. Die Ouverture spirituellemacht das auch von der europäisch-christ-lichen Tradition her erfahrbar. Architekto-nisch großartige Aufführungsorte wie Fi-scher von Erlachs Kollegienkirche oder dieStiftskirche St. Peter bringen die erhabenenKlänge zudem gleichsam an ihre Original-schauplätze zurück – wenn auch der wahreSchauplatz in der Seele liegen mag: Der

Lobgesang sei nämlich „notwendig nichtwegen Gott“, wusste schon Thomas vonAquin, denn dieser bedürfe seiner nicht,„sondern wegen des Lobenden selbst“.

Wir sind also letztlich, wie immer bei gro-ßer Musik, mit unserem eigenen Innerenkonfrontiert, wenn wir uns etwa von denglänzenden vokalen und instrumentalenKräften des tschechischen Collegium 1704durch Johann Sebastian Bachs monumen-tale h-Moll-Messe geleiten lassen – einWerk, das der Komponist gegen Ende seinesLebens aus teils wesentlich älteren Stückenzur erhabenen Summe seines sakralenSchaffens zusammenfügte. Je nach liturgi-schen Gepflogenheiten, so vermutlichBachs Intention, sollte aus 27 intimen bisprunkvollen Einzelsätzen über den kom-pletten lateinischen Messtext ausgewähltwerden können, von Katholiken ebenso wievon Protestanten. Zusammengenommensprengte das Werk freilich den Rahmen je-des Gottesdienstes ebenso wie die großenKathedralen das Verständnisvermögen derzeitgenössischen Gläubigen überschritten.

Das 19. Jahrhundert erblickte bereits „dasgrößte musikalische Kunstwerk aller Zeitenund Völker“ in dieser dann sogenanntenHohen Messe, welcher erst in BeethovensMissa solemnis ein (knapper gefasstes) Pen-dant vergleichbarer Tiefe zuwachsen sollte.So wie Bach bis auf Palestrinas Vokalpoly-phonie zurückgegriffen, aber auch „moder-ne“ Arien und Duette komponiert hatte, indenen nicht nur das Kollektiv zu Wortkommt, sondern auch die einzelne Seele,lieferte Beethoven in dieser Messe geradezuein Kompendium aller Stile von der Grego-rianik bis in seine Zeit und zwang sie zueinem vielstimmigen Gotteslob zwischenerhabener Strenge, banger Beklemmungund regelrechter Ekstase zusammen. KeinGeringerer als Nikolaus Harnoncourt wirddieses atemberaubend expressive Werkgemeinsam mit seinem Concentus MusicusWien, dem Arnold Schoenberg Chor undnamhaften Solisten neu interpretieren undes dabei gewiss nicht an Inbrunst undAndacht fehlen lassen. Zeitlos beklemmenddie schmetternden Kriegsfanfaren über

düster brutalen Paukenklängen im „Donanobis pacem“: Die flehentliche Bitte umFrieden, nie klang sie dringlicher, not-wendiger und zugleich zweifelnder.

Ohne Zweifel bedeutet der Glaube nichts.Dass Franz Schubert den Messtext niemalsvollständig vertont und im Credo die Zeile„et unam, sanctam, catholicam et apostoli-cam ecclesiam“ in jedem Fall ausgelassenhat, wird immer wieder als eindeutig kriti-sche Haltung interpretiert, für die sich auchweitere Belege finden lassen. Nein, an die„eine heilige katholische und apostolischeKirche“ wollte er nicht glauben, und viel-leicht fehlen in der großartigen, in zweiFassungen vorliegenden As-Dur-Messeauch der „allmächtige Vater“, das „gezeugt,nicht geschaffen“ und die „Jungfrau Maria“in voller Absicht. Dennoch oder geradedeshalb ist die ohne bekannten Auftragin längerer Arbeit geschaffene Messe, mitder er sich erfolglos um die Stelle des Vize-Hofkapellmeisters beworben hat, eines derpackendsten Beispiele für Schuberts fein-fühlig-kontrastreiche, groß dimensionierteKirchenmusik. Der mit Wien eng verbunde-ne Dirigent Andrés Orozco-Estrada wird siemit Bachchor und Mozarteumorchesterzum Klingen bringen.

Anton Bruckner hat nicht etwa Schubertskirchenkritische Tendenzen, wohl aber des-sen musikalische Tradition fortgeführt. Sei-ne große f-Moll-Messe, Höhepunkt und zu-gleich Schluss seiner Messkompositionen,wurde denn auch schon als „Sinfonie mitGesang“ bezeichnet: Motivische Verklam-merungen, unzählige lautmalerische, denText direkt ausdeutende Passagen, Episodenverzückter Andacht, großartige Fugen undim Zentrum ein monumentales Credo, dasauf den harmonisch kühnen Säulen wieder-kehrender „Credo“-Rufe ruht, machen dasWerk zu einem enorm anspruchsvollen,aber eindringlichen Beispiel imperialer Kir-chenmusik. Seit seinem Salzburg-Debüt2008 mit Roméo et Juliette zählt YannickNézet-Séguin zu den Lieblingen des Fest-spielpublikums. Durch seinen Mentor CarloMaria Giulini ist der junge Kanadier aber

auch begeisterter Anwalt für Bruckner –und weiß dabei die Wiener Philharmoniker,den Chor des Bayerischen Rundfunks undeine prominente, von Dorothea Röschmannangeführte Solistenriege auf seiner Seite.

Wenn es ein Symbol für den Zweifel gibt,dann vielleicht das Fragment. Schubert hatbei Weitem nicht nur seine „Unvollendete“liegen lassen, sondern etwa auch das reli-giöse Drama Lazarus oder: Die Feier derAuferstehung. Trotz kontemplativer Grund-stimmung trifft der Komponist darin mehr-fach Töne von packender Dramatik, die dasVorurteil seinen Bühnenwerken sonst gerneabspricht, und scheint in der Verwischungder Grenzen zwischen Arie und Rezitativdas durchkomponierte Musikdrama Wag-ner’scher Prägung vorwegzunehmen. SeineAffinität zu Schubert hat Ingo Metzmacherim Vorjahr schon mit Fierrabras bewiesen,nun setzt er sich für dieses faszinierendeWerk ein, das mitten in einer Arie abbricht:Dass gerade der letzte Teil mit der Toten-erweckung fehlt, verleiht dem Lazarus viel-leicht noch tiefere Symbolkraft. Eine solchesteckt auch in Mozarts von barocker Stren-ge geprägten, gleichfalls unvollständigenc-Moll-Messe – und in Bachs MusikalischemOpfer, einer elaborierten Sammlung imZeichen des Kontrapunkts, ein Geschenkfür Friedrich II. von Preußen, dessen„Königliches Thema“ in d-Moll Bach aufverschiedenste Weise verarbeitet hat, zu-letzt in einem monumentalen sechsstimmi-gen Ricercar. Jordi Savall wird die bunteVielgestaltigkeit dieses weltlichen, aberins Transzendente weisenden Werks mitLe Concert des Nations erlebbar machen.

Wie schrieb schon der eingangs zitierte„Eipeldauer“ über Haydn und seine Schöp-fung? „Ich wünscht selber, dass der grosseTonkünstler uns durch sein Musik ein andreWelt erschaffen könnt; denn d’ jetzige Weltist so nicht mehr viel nutz.“ 216 Jahre spätersind wir mehr denn je versucht, ihm zuzu-stimmen. Vielleicht mag uns aber gerade dieOuverture spirituelle neue Hoffnung geben.

Walter Weidringer

LOBPREIS, ZWEIFEL UND HOFFNUNGIn der Ouverture spirituelle erklingen einige der monumentalsten Werke des christlichen Abendlandes,

interpretiert von Größen wie Nikolaus Harnoncourt, Marc Minkowski oder Jordi Savall: Ahnungen des Göttlichen.

Nikolaus Harnoncourt BILD: SN/MARCO BORGGREVE Marc Minkowski BILD: SN/MARCO BORGGREVE

Andrés Orozco-Estrada BILD: SN/MARTIN SIGMUND Jordi Savall BILD: SN/DAVID IGNASZEWSKIYannick Nézet-Séguin BILD: SN/HOFFMANN/DG

Page 10: Beilage der Salzburger Nachrichten zu den Salzburger Festspielen 2015

SALZBURGER FESTSPIELE

Einer Persönlichkeit wie Pierre Boulez ge-recht zu werden ist nicht ganz leicht. Sovielfältig sind seine Verdienste, die er sichin mannigfachen Bereichen der Musik er-warb. Zunächst ausgebildet als Pianist undKomponist in Paris bei so prominenten Leh-rern wie René Leibowitz und Olivier Mes-siaen, entdeckte Boulez in den 1950er-Jah-ren auch sein Talent als Dirigent und Orga-nisator. Ein praktisches Erfordernis drängteihn dazu, 1954, als die Moderne noch weit-gehend verbannt war aus dem traditionel-len Musikbetrieb, die KonzertgesellschaftDomaine musicale zu gründen, um zeitge-nössische Werke in adäquaten Aufführun-gen präsentieren zu können – die er baldauch selbst dirigierte. Mit der Gründung desIRCAM, des Institut de Recherche et deCoordination Acoustique/Musique in Paris,folgte 1975 ein weiterer Markstein in Boulez’Tätigkeit als Organisator und Initiator, derdamit entscheidende Impulse für dieEntwicklung der elektronischen Musik inEuropa gab. Kurze Zeit später, 1976, rief ermit dem Ensemble intercontemporaineines der ersten europäischen Kammer-orchester ins Leben, das sich ganz demRepertoire des 20. Jahrhunderts und demzeitgenössischen Komponieren verschreibt.

Damit nicht genug, wurde Boulez auchrasch vom klassischen Musikbetrieb ent-deckt: 1959 bei den Donaueschinger Musik-tagen für den erkrankten Hans Rosbaudeingesprungen, hatte sein Auftritt mit demSüdwestfunk-Orchester Baden-Baden solchein Aufsehen erregt, dass zahlreiche Einla-dungen unter anderem nach Los Angeles,Cleveland, London und New York folgten,wo er von 1971 bis 1977 das New York Phil-harmonic Orchestra leitete. Gleichzeitig,von 1971 bis 1975, war Boulez auch Chef-dirigent des BBC Symphony Orchestra inLondon. In die Musikgeschichte eingegan-gen sind nicht nur seine Deutungen derWerke Mahlers und Debussys, sondern vorallem auch seine Interpretation von Wag-ners Ring des Nibelungen in der BayreutherInszenierung von Patrice Chéreau Ende der1970er-Jahre. Stets ohne Taktstock dirigie-rend, vertraut Boulez ganz der Magie seinerHände, in denen sich tatsächlich alle feinenRegungen, alle dynamischen Schattierun-gen, alle agogischen Subtilitäten der Musikzu konzentrieren scheinen.

All dies wird noch überstrahlt durchBoulez’ Kompositionen, mit denen er

bereits in den 1950er-Jahren musikge-schichtliche Wegmarken setzte: 1951komponierte er mit Polyphonie X für 18Soloinstrumente und ein Jahr später mitStructures I für zwei Klaviere Schlüsselwer-ke der sogenannten seriellen Musik. An-knüpfend an Arnold Schönbergs Zwölfton-technik, hatte Boulez die Organisation derverwendeten Reihen um einige entschei-dende Komponenten bereichert: Nicht nurdie Tonhöhen, sondern auch Klangfarben,Tondauern und Dynamik wurden nun zurKonstruktion der Reihen herangezogen.Polyphonie X und Structures I enthaltenalso verschiedene Reihenstrukturen, dieeinander kreuzen und in einem Umkehr-und Austauschvorgang befindlich sind.Das klangliche Resultat der mit geradezumathematischer Genauigkeit konstruiertenKompositionen ist nüchtern, streng,puristisch.

Abkehr vom strengen SerialismusNicht zuletzt deshalb waren die beidenStücke beim Publikum zunächst auf Wider-stand gestoßen. Auch Boulez selbst war sichdes Problems bewusst, wie er in einemInterview mit dem Autor einmal bekannte:„Anfang der 1950er-Jahre, als man nachdiesen teilweise absurd strengen Gesetzengearbeitet hatte, tendierte man dazu, einSkelett zu zeigen. Deshalb war es nach die-ser kurzen Periode des strengen Serialismusmeine Hauptsorge, Spontaneität, Ausdruckund Freiheit innerhalb der Disziplin zu fin-den. Das Konstruktive sollte nicht mehr zuspüren sein, auch wenn es noch verstecktwaltet.“ Methodisch gesehen, so Boulez,hatte die Strenge der seriellen Musik der1950er-Jahre für ihn aber auch eine be-freiende Wirkung: „Der Serialismus hatmich von allen Klischees und von altenGewohnheiten befreit. Für mich war daswie die Fahrt durch einen Tunnel, um einneues Land zu finden: Man musste danachwirklich etwas Neues schreiben.“

Beginnend mit Le Marteau sans maître,einer zwischen 1954 und 1957 entstandenenkammermusikalischen Komposition aufsurrealistische Texte von René Char, die be-reits eine frische, exotisch angehauchteLuft neuer Unmittelbarkeit atmet, versuch-te Boulez seither seinem Ziel nahezukom-men, eine sinnliche Musik zu schaffen, diesubkutan jedoch strengen konstruktivenPrinzipien gehorcht. In Le Marteau sans

maître ist es vor allem die Behandlung derSingstimme, die auf neue Wege führt. Nichtmehr zur musikalischen Illustration desTextes dient Boulez der Gesang seit damals,sondern als gleichberechtigtes Moment immusikalischen Gesamtkontext, das dieRhythmik eines Gedichts je nach musikali-schen Erfordernissen umwandeln kann,ohne das Eigenrecht der Poesie zu brechen.

Diese Transformierung der Dichtung inmusikalischen Klang verfolgte Boulez kon-sequent in seinem nächsten Meisterwerkweiter: Pli selon pli, zwischen 1957 und 1962sukzessive entstanden, ist ein fünfteiligesPortrait de Mallarmé, dem der Komponistschon früher die Inspiration zu einemanderen Werk, dem Livre pour quatuor(1948/49), verdankte. Wichtige Orchester-stücke, wie Eclat/Multiple (1965) oder Rituelin memoriam Bruno Maderna (1974/75),folgten. Darin knüpfte Boulez wieder anIdeen an, die er schon in Poésie pour pou-voir (1958), einem Stück für Tonband unddrei Orchester, exponiert hatte: Die Aufspal-tung des Klangs durch Kontrastierung ver-schiedener Instrumentalgruppierungen –in Rituel sind es sogar acht Orchestergrup-pen – und die Verräumlichung des Klangsstanden im Zentrum dieser Stücke. DieseForm von dialogartigen Responsorien, be-reits in Poésie pour pouvoir mithilfe elekt-ronischer Mittel verfolgt, sollte zum zentra-len Motiv von Boulez’ bedeutendstem Spät-werk werden, dem rund dreiviertelstündi-gen Ensemblestück Répons.

Elektronische KlangwanderungenDas 1981 entstandene Werk markiert einenWendepunkt in der Entwicklung der elek-tronischen Musik: Nicht mehr werdenvorproduzierte Tonbänder oder Samplesverwendet, sondern die live erzeugtenKlänge der Instrumentalisten in Echtzeitdurch den Computer verwandelt und berei-chert. Boulez’ Hinwendung zur Technikwurzelt in seiner Überzeugung, dass nur diekonsequente Weiterentwicklung des künst-lerischen Materials zu echten Neuschöp-fungen führen kann. „Wenn man ein neuesMaterial gewinnt“, erläutert Boulez, „dannverlieren auch alte Denkprozesse ihreGültigkeit. Ich ziehe einen Vergleich zurArchitektur: Solange man nur mit Holz, Zie-gel oder Stein gearbeitet hatte, konnte maneine bestimmte, sehr begrenzte Architekturschaffen. Als Eisen, Glas und Beton als Bau-

stoffe hinzutraten, da ließen sich Formenkonstruieren, die vorher nicht möglichgewesen wären. Das neue Material unddie neue Technologie haben also erlaubt,künstlerisch völlig anders zu denken.“

Ähnlich verhält es sich auch mit Répons,das mithilfe neuer elektronischer Techni-ken die Ideen aus den Fünfzigerjahren wei-terspinnt. Mithilfe des IRCAM-Equipmentsgelingt Boulez eine räumliche Auffächerungdes Klangs, die schon durch die Aufstellungder Musiker signalisiert wird: In der Mittedes Konzertsaals ist das 24-köpfige Ensem-ble platziert, rundherum sitzt das Publi-kum, in dessen Rücken sechs Solisten insechs Ecken spielen: zwei Klaviere undSynthesizer, Harfe, Vibraphon, Cymbalon,Glockenspiel und Xylophon.

Durch die elektronische Steuerung kreistjeder Instrumentalklang nach einem durch-dachten Schema verfremdet zwischen vierLautsprechern im Saal. Das Publikum hörtdie Klänge gleichsam durch den Saal wan-dern. Hinzu tritt die antiphonale Beziehungzwischen der Zentralgruppe in der Mitteund den rund um diese aufgeteilten Solis-ten, sodass dem Auditorium die räumlichenDimensionen zwischen Ensemble und So-listen, aber auch zwischen den Solistenuntereinander bewusst werden.

Vertieft hatte Boulez die Idee von mäan-dernden Klängen in seinen – gleichfallslive-elektronischen – Dialogues de l’ombredouble für Soloklarinette (1984) und in. . . explosante-fixe . . . für MIDI-Flöte, zweiSoloflöten und Ensemble (1991/93), indenen gleichsam fiktive innermusikalischeDialoge entsponnen werden. Selbst in reininstrumentalen Werken, wie in Dérive 1 fürEnsemble (1984) und Dérive 2 für elf Spieler(1988/93), erzeugt Boulez mit wirbelndenArpeggien einen tönenden Sog, dessenBann sich wohl niemand entziehen kann.Kein Zweifel: Mit der Franzosen eigenenEloquenz gelang es Boulez, die intendierteSinnlichkeit im Laufe seines Schaffenspro-zesses zu verwirklichen. Zumal sich dieTechnik in seinen elektronischen Werkennie über den Instrumentalklang stülpt,sondern auf faszinierende Weise mit diesemvermischt. Im prismatischen Licht derBoulez’schen Klangwelt wird für Momentespürbar, was Technik alles vermöchte –wüsste man sie recht zu nutzen.

Reinhard Kager

Im Brennpunkt von Salzburg contemporary: das Schaffenvon Pierre Boulez zu dessen 90. Geburtstag1992 war der französische Komponist und Dirigent PierreBoulez erstmals mit einer großen Retrospektive bei denSalzburger Festspielen präsent. Eine Werkschau mitFolgen, denn im Anschluss daran entdeckten die WienerPhilharmoniker ihre Liebe zu Boulez, unter dessen Leitungzahlreiche Referenzaufnahmen mit Werken Mahlersund der klassischen Moderne entstanden. Aus Anlassseines 90. Geburtstags, den Boulez am 26. März diesesJahres feiern konnte, steht er im kommenden Sommererneut im Fokus der Festspiele.

Pierre Boulez bei den Salzburger Festspielen 2015Rituel in memoriam Bruno Maderna sowie Gustav Mahler: Symphonie Nr. 1 D-Dur • ORF Radio-Symphonieorchester Wien/Cornelius Meister • 30. 7.. . . explosante-fixe . . . sowie Olivier Messiaen: Couleurs de la Cité Celeste • Gérard Grisey: Jour, Contre-Jour • Matthias Pintscher: Verzeichnete Spur • Klangforum Wien/Sylvain Cambreling • 31. 7.Le Marteau sans maître sowie Olga Neuwirth: Lonicera Caprifolium • Eleanor Suite (Uraufführung) • Klangforum Wien/Sylvain Cambreling • 7. 8.Das gesamte Klavierwerk von Pierre Boulez Pierre-Laurent Aimard, Klavier • Tamara Stefanovich, Klavier • 8. 8.Dérive 2 sowie Claude Debussy: Prélude à l’après-midi d’un faune • Peter I. Tschaikowski: Symphonie Nr. 4 f-Moll op. 36 • West-Eastern Divan Orchestra/Daniel Barenboim • 12. 8.sur Incises sowie Richard Wagner: Siegfried-Idyll WWV 103 • Arnold Schönberg: Kammersymphonie Nr. 1 E-Dur op. 9 • Mitglieder des West-Eastern Divan Orchestra/Daniel Barenboim • 13. 8.Répons Ensemble intercontemporain/Matthias Pintscher • 15. 8.Livre pour quatuor sowie Anton Webern: Streichquartett op. 28 • John Cage: String Quartet in Four Parts • JACK Quartet • 19. 8.Anthèmes I • Messagesquisse sowie Werke von Claude Debussy, Maurice Ravel, Jörg Widmann, Arnold Schönberg, Anton Webern, Alban Berg • Michael Barenboim, Violine •Jean-Guihen Queyras, Violoncello • Florent Boffard, Klavier • 21. 8.

SINNLICHE KLÄNGE, KOMPOSITORISCHE DISZIPLIN

Pierre Boulez BILD: SN/MONIKA RITTERSHAUS

Page 11: Beilage der Salzburger Nachrichten zu den Salzburger Festspielen 2015

DER BARBIER VON SEVILLA FÜR KINDERAuch diesen Sommer laden dieFestspiele ihr jüngstes Publikumwieder zu einem Opernerlebnisder besonderen Art ein: DerBarbier von Sevilla für Kinder indeutscher Sprache.

Der Barbier von Sevilla erzähltnicht nur die Vorgeschichte zuMozarts Figaros Hochzeit, die indiesem Sommer bei den Salzbur-ger Festspielen zur Neuinszenie-rung gelangt, sondern ist auch einMeilenstein der Operngeschichteund damit ein perfekter Opern-einstieg für unser junges Publi-kum.

Nachwuchsförderung wird beiden Salzburger Festspielen gleichdoppelt großgeschrieben: Die jun-gen Sängerinnen und Sänger desYoung Singers Project singen diemitreißenden Arien aus RossinisMeisterwerk in einer eigens zu die-sem Anlass geschriebenen Fassungmit Dialogen, und die jungen Zu-hörer werden dabei federleicht indie Welt der Oper und in eine derturbulentesten Handlungen derOperngeschichte eingeführt.

Die Handlung des Barbier istschnell erzählt: Der Graf Almavivaist unsterblich in die hübsche Ro-

sina verliebt, auf die aber auch ihrVormund, der geldgierige DoktorBartolo, ein Auge geworfen hat, dersie daher streng bewacht. Er möch-te Rosina gegen ihren Willen mitder Unterstützung des Gesangsleh-rers und Standesbeamten Basilioso schnell wie möglich heiraten.Aber mit der Hilfe des gewitztenBarbiers Figaro gelingt es Almavi-va, diese Hochzeit im letzten Au-genblick zu verhindern und dieAngebetete zu befreien.

Regisseurin Elena Tzavara, dieschon als Regieassistentin und Pro-duktionsleiterin bei den Salzbur-ger Festspielen gearbeitet hat undlangjährige Leiterin der Kinder-oper in Köln war, weiß über dieHerausforderung, eine Oper kind-gerecht zu adaptieren bzw. zu in-szenieren, zu berichten: „Kinder-oper bedeutet nichts anderes alsMusiktheater in einem kleinerenFormat und mit den Themen-schwerpunkten von Kindern zugestalten! Man muss Kinder ernstnehmen und den Kontakt aufAugenhöhe finden. Der Barbiervon Sevilla besteht augenschein-lich aus einem einfachen Plot, ist

aber so vielschichtig von kleinenHandlungen durchsetzt, dass manleicht den Überblick verlierenkann. Die Handlung einer Operund vor allem die Situationenmüssen für Kinder klar undeindeutig skizziert werden. Dasbedeutet allerdings nicht, dassman die Oper banalisieren dürfteoder gar vermeintlich verwirrendePersonenkonstellationen streichensollte. In unserer Inszenierung

zeigen wir die Rosina als kleines,von Bartolo ,gefangenes Vögel-chen‘ und haben das Bühnenbildso gestaltet, dass die Grundsitua-tion sofort verständlich ist.

Meiner Erfahrung nach liebenKinder Oper, weil es ihnen möglichist, die Bildsprache und die Musikunbewusst zu verstehen. KomplexeSinneseindrücke, die Erwachseneoft überfordern, sind für Kinderkein Wahrnehmungshindernis,denn sie rezipieren alle Eindrückeviel emotionaler.

Der große Vorteil am Gesamt-kunstwerk Oper besteht meinerMeinung nach darin, dass man livein alle Künste eintaucht. Die Musikspielt dabei die größte, weil unmit-telbarste Rolle.

Mein Ziel wäre, dass unserejungen Zuschauer die Musik zu-sammen mit den Bildern und derGeschichte mit nach Hause neh-men. Jedes Kind nimmt andereBilder und damit Botschaften mit.Aber schön wäre es, wenn dieseBilder zusammen mit der Musik imKopf bleiben, sodass die gesungeneGeschichte, welche man eben nurin der Oper erleben kann, positivin Erinnerung bleibt.“

Zusammen im Team mit ElisabethVogetseder und Conrad MoritzReinhardt, die für Kostüme undBühnenbild verantwortlich zeich-nen, sowie Uwe Sochaczewsky,dem die musikalische Bearbeitungübertragen ist, und dem DirigentenDuncan Ward wird Elena Tzavaraalles daran setzen, dieses Opern-abenteuer für Kinder ab zirka vierJahren zu einem unvergesslichenErlebnis werden zu lassen.

Die Aufführungen finden am25., 26. Juli, 3., 5., 13., 15., 19. und22. August jeweils um 15:00 Uhr inder Großen Universitätsaula statt,davor gibt es um 13:30 Uhr dieMöglichkeit, einen szenischen Ein-führungsworkshop zu besuchen,den Monika Sigl-Radauer gestaltet:Spiel und Spaß mit Rossini sinddabei garantiert.

Xenia Hofmann

Karten für die Kinderoper sind imKartenbüro der Salzburger Festspielezu erhalten.Nähere Informationen unter:www.salzburgerfestspiele.at/jugend/oper-fuer-kinder

Vorentwurf zur Figurine Rosinavon Elisabeth Vogetseder

Wie viel mehr bringen Worte in uns zumKlingen, wenn sie gesungen werden? Wieviel deutlicher spricht Musik, die einen Textmitteilt? Ihr Gatte habe durch seine Kom-positionen den „Liedern erst Leben ge-geben“, bekannte einst der Dichter Josephvon Eichendorff im Gespräch mit ClaraSchumann. Was aber fügen dann im Lied-gesang die Interpreten der lebendigenVerbindung aus Wort und Ton hinzu, einweiser, sensibler Begleiter etwa und eineder Intimität Klang verleihende Singstim-me? Im idealen Fall dürfen wir es getrostSeele nennen – und umgekehrt betrachtetkönnen wir dieser künstlerischen Seele aufkeinem Weg näherkommen als in einemLiederabend.

„In der Vorbereitung geht es gar nicht sosehr um Singen und Spielen, sondern mehrum ein sich Einstimmen, ein Nachdenkenüber Text und Musik, ein neu Lesen –gerade mit einem Partner wie ChristophEschenbach, mit dem ich schon so oftzusammengearbeitet habe“, erklärt etwaMatthias Goerne, einer der führenden Lied-sänger unserer Zeit. Mit seinem charakte-ristisch weichen Bariton widmet er sich inSalzburg ganz Robert Schumann und stelltdabei erneut und ganz bewusst den Kerner-Liedern und der stimmungsvoll-unglückli-chen Dichterliebe nach Heine den sonstmeist Frauenstimmen vorbehaltenen ZyklusFrauenliebe und -leben gegenüber. Das ent-hüllt den männlichen Sprecher des heuteoft inkriminierten Textes und verleiht ihmeinen neuen Sinn. Auch musikalisch gese-hen ist Goerne ein Künstler, der immer wie-der neue Wege zu beschreiten versucht:

„Mit Eschenbach existiert da eine nonver-bale innere musikalische Übereinstimmung,die uns an bestimmten Stellen in vollkom-men neue Welten geführt hat. In einem ge-meinsam erarbeiteten Rahmen nicht allesin Beton zu gießen, sondern Platz für Spon-taneität offen zu lassen – das fühlt sich an,als wären wir in einem Körper miteinanderverbunden.“

Eine solche Intimität erweist sich auchkünstlerisch als Atout. Das ist gleichfallsund in besonderem Maße bei ChristianGerhaher und Gerold Huber zu spüren, dieals festes, seit Studienzeiten aufeinandereingespieltes Duo längst zu den Fixsternenam Himmel des Liedgesangs zählen. Imletzten Jahr gab es dafür nach einem unver-gesslichen Goethe-Liederabend im Haus fürMozart den Preis der Deutschen Schall-plattenkritik. Als sie einmal für ein Fernseh-porträt eine Probensituation nachstellensollten, berichtete Gerhaher unlängst ineinem Interview, habe sich herausgestellt,dass sie beide ganz bildschirmuntauglich„fast nur aufeinander hören und nur wenigsprechen. Es lässt sich auch kaum heraus-destillieren, welche Ideen von ihm, welchevon mir wären. Es ist wie ein gemeinsamerOrganismus.“ Diesmal steht bei ihnen ex-klusiv Gustav Mahler auf dem Programm –die Liebesklage der Lieder eines fahrendenGesellen, die herzzerreißenden Kindertoten-lieder und Lieder aus Des Knaben Wunder-horn, hinter deren oft humoristisch odernaiv anmutender Fassade sich freilichAbgründe auftun. „Mahlers Liedtexte kenntjeder ein bisschen aus der eigenen Kindheit.

Wie Märchen werden Volkslieder einemvon klein auf mitgegeben, mehr als mangemeinhin annimmt. Diese Saite wird zumSchwingen gebracht“, erklärt Gerhaher, derin den düsteren Liedern wahre „Fratzen undGrotesken“ entdeckt: „Mahlers bizarreFarben, seine unverhofften formalenBrüche und gleichzeitig der Versuch, dieschäbige äußere Welt mit dem Mensch-Seinin Einklang zu bringen, kann man nicht nurrein emotional vermitteln.“ Eine gewisseintellektuelle Distanz sei also vonnöten –doch die zeichnet den Vortrag dieses klugenMeistersingers mit dem atemberaubendpräzisen, hellen Bariton ohnehin aus, ohnedass dadurch die Intensität litte.

Der Zauber des Liedes entfaltet sich frei-lich auch in anderen Sprachen – und einMotto wie „Nostalgia – Sehnsucht – Fern-weh“ bewirkt sogleich eine Fülle von Asso-ziationen. Christiane Karg hat es für ihrenFestspiel-Liederabend mit Malcolm Marti-neau am Klavier gewählt, jene hervorragen-de junge deutsche Sopranistin, die in Salz-burg in den letzten Jahren etwa als Amorein Glucks Orfeo ed Euridice unter RiccardoMuti oder als Zerlina in Don Giovannireüssieren konnte. Es sei „ein Sommerpro-gramm“, erzählt sie, „eine Reise durch vieleSprachen und Länder. Ich bin viel unter-wegs, reise auch gern, wünsche mir aber inder Karibik unseren Frühling mit Schnee-glöckchen herbei, während ich hier vonStrand und Palmen träume . . .“ Und weilniemand mehr Sehnsucht in sich trage alsGoethes Mignon, ist Hugo Wolfs Vertonungdieser Verse der Ausgangspunkt. Amourös-

heitere Stationen aus seinem Italienischenund dem Spanischen Liederbuch werdenabgelöst vom Drang nicht nur in die Ferne,sondern auch in die Vergangenheit, etwamit der Antikenbeschwörung eines MauriceRavel: eine wahre Entdeckungsreise.

Ein buntes Bukett aus italienischen undfranzösischen vokalen Blumen stellt hin-gegen Maria Agresta zusammen, die zuPfingsten 2014 schon mit Rossinis StabatMater unter Antonio Pappano in Salzburgzu hören war und mit diesem Liederabendan der Seite von Julius Drake ihr Debüt beiden Sommerfestspielen gibt. Dabei wartetsie neben zauberhaften Canzonen vonGiacomo Puccini, Luigi Denza, Paolo Tostiund anderen auch mit einigen Raritäten auf:zum Beispiel Mozart und Wagner – inoriginalem Französisch!

Darüber hinaus gibt sich auch das im Vor-jahr frenetisch gefeierte Protagonistenpaarder konzertanten Favorite von GaetanoDonizetti auf dem Liedpodium die Ehre.Juan Diego Flórez wird mit Liedern undArien die Melomanen gewiss ebenso zuBegeisterungsstürmen hinreißen wie ElīnaGaranča, die Lieder von Brahms, Duparcund Rachmaninow interpretiert. AngelaDenoke schließlich spürt in ihremProgramm mit Triobegleitung „Städte-bewohnern“ bei und rund um Kurt Weillund Bert Brecht nach und nimmt damitBezug auf die diesjährige SalzburgerProduktion der Dreigroschenoper.

Walter Weidringer

SEELENBESPIEGELUNGEN IN WORT UND TONDer Reigen der Festspiel-Liederabende vereint neue und längst gefeierte Stars des Genres in schillernden

Programmen zwischen Liebesleid, Fernweh, Totenklagen und sonniger Lebensfreude.

Maria AgrestaBILD: SN/ALESSANDRO MOGGI

Angela DenokeBILD: SN/JOHAN PERSSON

Elīna GarančaBILD: SN/GABO/DG

Christian GerhaherBILD: SN/JIM RAKETE/SONY CLASSICAL

Matthias GoerneBILD: SN/MARCO BORGGREVE

Christiane KargBILD: SN/GISELA SCHENKER

Page 12: Beilage der Salzburger Nachrichten zu den Salzburger Festspielen 2015

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IMPRESSUM • Herausgeber: Salzburger Nachrichten • Redaktion und Gestaltung: Salzburger Festspiele – Ronny Dietrich, Christian Arseni, Christiane Klammer • Grafik: Walter BrandDruck: Druckzentrum Salzburg • Redaktionsschluss: 24. März 2015 • Änderungen vorbehalten

PLÁCIDO DOMINGOGalakonzert zum 40-jährigen Salzburg-Bühnenjubiläum

Am 30. Juli 2015 um 18 Uhr wird Plácido Domingo sein 40-jähriges Bühnenjubiläumin Salzburg mit einem Galakonzert bei den Festspielen feiern. Es werden MariaAgresta, Ana María Martínez, Krassimira Stoyanova und Rolando Villazón mit Arienund Duetten aus Werken von Verdi und Puccini sowie des Verismo auftreten.Gianandrea Noseda dirigiert das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks.

In Salzburg sang Plácido Domingo erstmals 1975: die Titelpartie in Verdis Don Carlounter der musikalischen Leitung und in der Inszenierung von Herbert von Karajan.Er kam, sang und siegte. Publikum und Presse waren gleichermaßen begeistert.Domingo gehört seither zu jenen Künstlerpersönlichkeiten, die den SalzburgerFestspielen den Ruf eintragen, das wichtigste Festival der Klassikwelt zu sein:

Er stand in Don Carlo, Les Contes d’Hoffmann, Un ballo in maschera und Il trovatoreauf der Bühne des Großen Festspielhauses, sang darüber hinaus in fünf konzertantenOpernaufführungen (Parsifal, Pique Dame, Samson et Dalila, Tamerlano, Giovannad’Arco) und in acht Konzerten (u. a. eine Wagner-Gala, Beethovens Missa solemnis undVerdis Messa da Requiem).

Karten für dieses Galakonzert sind ab 30. März 2015 im Direktverkauf im SalzburgerFestspiele Shop, Hofstallgasse 1, Salzburg sowie im Online-Kartenverkauf unterwww.salzburgfestival.at erhältlich.

Plácido Domingo BILD: SN/©ROLEX/FADIL BERISHA