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Norbert Finkenbusch Aufhebung von Verwaltungsakten
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Aufhebung von Verwaltungsakten durch den Sozialversicherungsträger
Inhalt
2.1 Rechtswidrige nicht begünstigende Verwaltungsakte 3
2.1.1 Zielsetzung 3
2.1.2 Voraussetzungen 4
2.1.3 Aufhebung für die Vergangenheit 6
2.1.4 Aufhebung für die Zukunft 7
2.1.5 Ermessen 7
2.1.6 Verfahren 7
2.1.7 Rückwirkende Sozialleistungen 8
2.1.8 Zuständige Behörde 9
2.2 Rechtswidrige begünstigende Verwaltungsakte 9
2.2.1 Sachlicher Geltungsbereich 10
2.2.2 Voraussetzungen für die Aufhebung 11
2.2.3 Zeitliche Befristung bei Verwaltungsakten mit Dauerwirkung 14
2.2.4 Zeitpunkt der Aufhebung 15
3.1 Rechtmäßige nicht begünstigende Verwaltungsakte 18
3.2 Rechtmäßige begünstigende Verwaltungsakte 18
3.2.1 Zugelassener oder vorbehaltener Widerruf 18
3.2.2 Nicht oder verspätet erfüllte Auflage 19
3.2.3 Zweckverfehlung 19
4.1 Sachlicher Geltungsbereich 20
1 Allgemeines ........................................................................................................ 2
2 Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte .................................................. 3
3 Widerruf rechtmäßiger Verwaltungsakte ....................................................... 17
4 Aufhebung von Verwaltungsakten mit Dauerwirkung .................................. 19
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4.2 Voraussetzungen für die Aufhebung 21
4.3 Zeitliche Befristung der Aufhebbarkeit 23
4.4 Zeitpunkt der Aufhebung 23
4.4.1 Änderung zugunsten des Betroffenen 24
4.4.2 Verletzung einer Mitteilungspflicht 25
4.4.3 Erzielung von Einkommen oder Vermögen 25
4.4.4 Bösgläubigkeit 26
4.5 Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung 26
4.6 Abschmelzen von Leistungen 27
1 Allgemeines
Die Aufhebung eines Verwaltungsakts beseitigt seine Wirksamkeit (vgl. § 39 Abs. 2
SGB X). Gleichzeitig wird damit die formelle Bestandskraft bzw. Unanfechtbarkeit
durchbrochen (vgl. § 77 SGG). Damit hat der Sozialversicherungsträger auch nach
dem Eintritt der Unanfechtbarkeit des Verwaltungsakts die Möglichkeit, die
Bindungswirkung zu beseitigen. Der Begriff „Aufhebung“ ist dabei als Oberbegriff zu
verstehen, der sowohl die Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte (vgl. §§ 44, 45
SGB X) als auch den Widerruf rechtmäßiger Verwaltungsakte (vgl. §§ 46, 47 SGB X)
erfasst. Außerdem werden rechtmäßige oder rechtswidrige Verwaltungsakte mit
Dauerwirkung aufgehoben, wenn sich die rechtlichen oder tatsächlichen Verhältnisse
ändern (vgl. § 48 SGB X; vgl. Abb. 1).
Abb. 1: Aufhebung von Verwaltungsakten
nicht begünstigendeVerwaltungsakte
§ 44 SGB X
begünstigendeVerwaltungsakte
§ 45 SGB X
Rücknahmerechtswidriger
Verwaltungsakte
nicht begünstigendeVerwaltungsakte
§ 46 SGB X
begünstigendeVerwaltungsakte
§ 47 SGB X
Widerrufrechtmäßiger
Verwaltungsakte
nicht begünstigendeVerwaltungsakte
§ 48 SGB X
begünstigendeVerwaltungsakte
§ 48 SGB X
Aufhebung vonVerwaltungsaktenmit Dauerwirkung
(rechtmäßig oder rechtswidrig)
Aufhebungvon Verwaltungsakten
5 Rücknahme und Widerruf im Vorverfahren ................................................... 29
Verzeichnis der Abbildungen ................................................................................ 31
Verzeichnis der Beispiele ...................................................................................... 31
Verzeichnis der Tabellen ........................................................................................ 31
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Bei der Anwendung der Aufhebungsvorschriften ist zu beachten, dass die Aufhebung
von Amts wegen oder aufgrund eingeräumten Ermessens erfolgt. Die Aufhebung
erfolgt mit Wirkung für die Vergangenheit oder mit Wirkung für die Zukunft.
Entscheidend ist in diesem Zusammenhang der Zeitpunkt, zu dem der
Aufhebungsbescheid bekannt gegeben wird. Vergangenheit und Zukunft sind
ausgehend von diesem Zeitpunkt zu beurteilen.1
2 Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte
2.1 Rechtswidrige nicht begünstigende Verwaltungsakte
Die Rücknahme eines von Anfang an rechtswidrigen und den Adressaten
belastenden (nicht begünstigenden) Verwaltungsakts regelt § 44 SGB X2. Die
Vorschrift ist anzuwenden, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines
Verwaltungsakts das Recht unrichtig angewendet oder von einem Sachverhalt
ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist (vgl. § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB
X).3 Ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt wird jedoch dann nicht
aufgehoben, wenn er auf Angaben beruht, die der Betroffene vorsätzlich in
wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat (vgl. § 44 Abs. 1
Satz 2 SGB X). Die Voraussetzungen für eine Rücknahme sowie die entsprechenden
Zeitpunkte sind in § 44 Abs. 1 und 2 SGB X geregelt; § 44 Abs. 3 SGB X enthält eine
Aussage zur Zuständigkeit für die Rücknahme; § 44 Abs. 4 SGB X regelt die
nachträgliche Erbringung von Sozialleistungen.
2.1.1 Zielsetzung
§ 44 SGB X bezweckt die Herstellung der materiellen Gerechtigkeit. Der erstrebte
Zustand wird hergestellt, indem der rechtswidrige Verwaltungsakt aufgehoben und
ggf. gleichzeitig ein Bewilligungsbescheid oder Neufeststellungsbescheid erlassen
1 Die Bekanntgabe des Aufhebungsbescheids ist der Zeitpunkt, der Zukunft und
Vergangenheit trennt.
2 Das Sozialgesetzbuch enthält vorrangig zu berücksichtigende Spezialvorschriften (u. a.):
§ 40 SGB II, § 300 SGB VI, § 160 SGB VII, § 44 SGB XII
3 BSG, Urteil vom 2.10.2008, B 9 VH 1/07 R
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wird. Die Aufhebung erfolgt unabhängig davon, ob der Verwaltungsakt bereits
formelle Bestandskraft (Unanfechtbarkeit) erreicht hat oder nicht.4
2.1.2 Voraussetzungen
Die Rücknahme nach § 44 SGB X setzt voraus, dass der Sozialversicherungsträger
einen nicht begünstigenden Verwaltungsakt erlassen hat, der rückschauend
betrachtet bereits bei seinem Erlass (Zeitpunkt der Bekanntgabe) rechtswidrig ist. Die
Rechtswidrigkeit ergibt sich durch
falsche Rechtsanwendung des materiellen oder formellen Rechts5 oder
Subsumtion eines falschen oder unvollständigen Sachverhalts.
Die Rücknahme dient der Herstellung des materiellen Rechts. Deshalb wird eine
Korrektur nicht durchgeführt, wenn die Rechtswidrigkeit ausschließlich auf
Formverstößen beruht. Das gilt auch bei einer unterlassenen Anhörung.
Der Begriff des nicht begünstigenden Verwaltungsakts wird im Gesetz nicht definiert.
Es wird lediglich beispielhaft aufgezählt, dass ein Verwaltungsakt nicht begünstigend
ist, wenn deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu
Unrecht erhoben worden sind (vgl. § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X).
Der Begriff des nicht begünstigenden Verwaltungsakts erfasst alle Verwaltungsakte,
die nicht ausschließlich begünstigend wirken. Dazu gehört sowohl der belastende
Verwaltungsakt als auch der Verwaltungsakt, der weder begünstigend noch
belastend wirkt. Außerdem ist in diesem Zusammenhang der Verwaltungsakt zu
erwähnen, der sowohl begünstigend als auch belastend wirkt. Dieser Verwaltungsakt
setzt unterschiedliche Rechtsfolgen für eine Person (Verwaltungsakt mit
Doppelwirkung oder Mischwirkung) oder für mehrere Personen (Verwaltungsakt mit
Drittwirkung).
Beim Verwaltungsakt mit Doppelwirkung ist ausschließlich die Aufhebbarkeit des
nicht begünstigenden Teils nach § 44 SGB X zu beurteilen. Das ist aber nur möglich,
wenn der Verwaltungsakt mehrere Rechtsfolgen setzt oder eine Rechtsfolge setzt,
die teilbar ist. Wenn der Verwaltungsakt nur eine Rechtsfolge setzt, die nicht teilbar
ist, kann seine Aufhebbarkeit nicht nach § 44 SGB X beurteilt werden.
4 Die Aufhebung wird in den meisten Fällen vorkommen, nachdem der Verwaltungsakt
unanfechtbar geworden ist, da dem Sozialversicherungsträger vor dem Eintritt der
Unanfechtbarkeit andere Korrekturmöglichkeiten zur Verfügung stehen.
5 BSG, Urteil vom 5.9.2006, B 2 U 24/05 R
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Ein Verwaltungsakt mit Doppelwirkung kann darin bestehen, dass mehrere teils
belastende, teils begünstigende Rechtsfolgen gesetzt werden (vgl. Bsp. 1).
Bsp. 1: Verwaltungsakt mit Doppelwirkung - mehrere Rechtsfolgen
Eine Krankenkasse konnte eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen
und erstattet dem Versicherten die Kosten für die selbst beschaffte Leistung (vgl. §
13 Abs. 3 SGB V). Gleichzeitig setzt der Sozialversicherungsträger die vom
Versicherten zu tragende Kostenbeteiligung fest (vgl. § 40 Abs. 5 Satz 1 SGB V). Die
Entscheidung über die Kostenerstattung ist ein begünstigender Verwaltungsakt; die
Festsetzung der Kostenbeteiligung ist ein nicht begünstigender Verwaltungsakt. Die
Krankenkasse hat einen Verwaltungsakt mit Doppelwirkung erlassen. Die
Aufhebbarkeit der Entscheidung über die zu tragende Kostenbeteiligung ist (bei
Rechtswidrigkeit) nach § 44 SGB X zu beurteilen.
Ein Verwaltungsakt kann auch dann Doppelwirkung haben, wenn er nur eine
Rechtsfolge setzt. Die Entscheidung ist teilbar, wenn sich Belastung und
Begünstigung voneinander trennen lassen (vgl. Bsp. 2).
Bsp. 2: Verwaltungsakt mit Doppelwirkung - teilbare Rechtsfolge
Ein Versicherter beantragt bei der Krankenkasse die Erstattung von Kosten für eine
selbst beschaffte Haushaltshilfe (vgl. § 38 Abs. 4 Satz 1 SGB V). Die Krankenkasse
entspricht dem Antrag nur teilweise und erstattet nur die Kosten in angemessener
Höhe. Die Entscheidung über die Kostenerstattung ist ein Verwaltungsakt mit
Doppelwirkung, der eine Rechtsfolge setzt. Die Rechtsfolge ist allerdings teilbar. Sie
ist in dem Maße begünstigend, in dem die Kostenerstattung bewilligt wird. Sie ist in
dem Maße belastend, in dem dem Antrag über die bewilligte Kostenerstattung hinaus
nicht entsprochen wird. Die Aufhebbarkeit der Entscheidung, die Differenz zwischen
der bewilligten Leistung und der beantragten Leistung nicht zu erstatten, ist (bei
Rechtswidrigkeit) nach § 44 SGB X zu beurteilen.
Ein Verwaltungsakt mit Doppelwirkung, der nur eine Rechtsfolge setzt, kann auch
unteilbar sein (vgl. Bsp. 3).
Bsp. 3: Verwaltungsakt mit Doppelwirkung - unteilbare Rechtsfolge
Die Krankenkasse stellt fest, dass ein Versicherter Anspruch auf Versorgung mit
einem bestimmten orthopädischen Hilfsmittel hat (vgl. § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V).
Sie bewilligt die Übernahme der Kosten in Höhe des festgesetzten Festbetrags (vgl.
§ 33 Abs. 2 Satz 1 SGB V), obwohl sich der Antrag des Versicherten auf
Überlassung des Hilfsmittels richtete. Die Entscheidung ist ein Verwaltungsakt mit
Doppelwirkung, der eine Rechtsfolge setzt, die nicht teilbar ist. Die Aufhebbarkeit der
gesamten Entscheidung ist nicht nach § 44 SGB X zu beurteilen.
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Beim Verwaltungsakt mit Drittwirkung ist festzustellen, ob die Drittwirkung belastend
oder begünstigend ist. Der begünstigende Verwaltungsakt mit belastender
Drittwirkung kann zum Schutz des begünstigten Adressaten nicht nach § 44 SGB X
aufgehoben werden.6 Der belastende Verwaltungsakt mit begünstigender
Drittwirkung ist nach § 44 SGB X aufhebbar, da die Begünstigung des Dritten
lediglich eine reflexhafte Wirkung hat (vgl. Bsp. 4).
Bsp. 4: Verwaltungsakt mit Drittwirkung
Der Sozialversicherungsträger entscheidet über eine Abzweigung nach § 48 SGB I.
Er teilt sowohl dem Bezieher einer laufenden Geldleistung als auch dessen
Ehegatten mit, dass ein Teil der Leistung in angemessener Höhe an den Ehegatten
ausgezahlt wird, weil der Krankengeldbezieher seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht
nicht nachkommt. Die Entscheidung belastet den Krankengeldbezieher und
begünstigt einen Dritten (Ehegatte). Der gesamte Verwaltungsakt ist (bei
Rechtswidrigkeit) nach § 44 SGB X aufhebbar.
2.1.3 Aufhebung für die Vergangenheit
Soweit wegen der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts Sozialleistungen zu Unrecht
nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt
von Amts wegen mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen (vgl. § 44 Abs.
1 Satz 1 SGB X). Damit wird die rechtswidrige Entscheidung von Anfang an beseitigt.
Ein Ermessen steht dem Sozialversicherungsträger in diesem Zusammenhang nicht
zu; er muss vielmehr aufheben, sobald er die Rechtswidrigkeit seiner Entscheidung
zur Kenntnis nimmt. Eine Sonderregelung mit einem abweichenden Zeitpunkt enthält
§ 330 Abs. 1 SGB III, wenn die Entscheidung auf einer Rechtsnorm beruht, die nach
Erlass des Verwaltungsaktes für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt oder in
ständiger Rechtsprechung anders als durch die Agentur für Arbeit ausgelegt worden
ist. In diesen Fällen ist der Verwaltungsakt, wenn er unanfechtbar geworden ist, nur
mit Wirkung für die Zeit nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts oder
nach dem Entstehen der ständigen Rechtsprechung zurückzunehmen.7
6 Besonderheiten gelten für die Aufhebung im Vorverfahren.
7 Gemeint ist die ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts oder eines anderen
obersten Bundesgerichts, das mit einer entscheidungserheblichen Vorfrage befasst ist
(BSG, Urteil vom 16.10.2003, B 11 AL 20/03 R).
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2.1.4 Aufhebung für die Zukunft
In allen anderen Fällen muss der Sozialversicherungsträger seine Entscheidung
ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurücknehmen (vgl. § 44 Abs. 2 Satz
1 SGB X).
2.1.5 Ermessen
Der Verwaltungsakt kann aufgrund einer Ermessensentscheidung auch für die
Vergangenheit zurückgenommen werden (vgl. § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X).8 Der
Sozialversicherungsträger hat bei seiner Ermessensentscheidung eine
Güterabwägung vorzunehmen und festzustellen, ob der materiellen Gerechtigkeit
(Gesetzmäßigkeit der Verwaltung) oder der Rechtssicherheit (Bindungswirkung des
Verwaltungsakts) der Vorrang einzuräumen ist. Eine allgemeine Verpflichtung,
rechtswidrige belastende Verwaltungsakte zu korrigieren, besteht nicht. Allein die
Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts begründet keinen Anspruch auf Rücknahme.
Dabei ist zu berücksichtigen,
2 ob ein Bedürfnis für eine vergangenheitsbezogene Aufhebung besteht,
3 welches Gewicht die Aufhebung für den Einzelnen hat,
4 welche öffentlich-rechtlichen Interessen der Aufhebung entgegenstehen,
5 wer die Ursache für die Rechtswidrigkeit gesetzt hat und
6 wie offenkundig der Fehler ist.
2.1.6 Verfahren
Das Verfahren, die Aufhebbarkeit zu prüfen, kann jederzeit eingeleitet werden. Daran
ist der Sozialversicherungsträger auch durch ein rechtskräftiges Urteil nicht
gehindert.
Die Initiative zur Prüfung kann vom Sozialversicherungsträger ausgehen, wenn
entsprechende Erkenntnisse über die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts erlangt
werden. Die Initiative kann auch vom Adressaten des Verwaltungsakts ausgehen.
Ergibt sich im Rahmen eines Antrags nichts, was für die Unrichtigkeit des
Verwaltungsakts spricht, kann sich der Sozialversicherungsträger ohne eine weitere
8 BSG, Urteil vom 17.9.2008, B 6 KA 28/07 R
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Sachprüfung auf die Bindungswirkung berufen9. Das gilt auch, wenn die neuen
Gesichtspunkte oder Beweismittel für den Verwaltungsakt nicht erheblich waren10.
2.1.7 Rückwirkende Sozialleistungen
Bei einer Aufhebung mit Wirkung für die Vergangenheit werden Sozialleistungen
längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht (vgl. §
44 Abs. 4 Satz 1 SGB X). Die Leistungsbegrenzung ist vom
Sozialversicherungsträger von Amts wegen zu beachten; sie bedarf nicht der Einrede
der Verjährung.
Wenn der Sozialversicherungsträger den Verwaltungsakt von Amts wegen (nicht
aufgrund eines Antrags) aufgehoben hat, wird die Frist von dem Zeitpunkt
ausgehend berechnet, zu dem der Aufhebungsbescheid bekannt gegeben worden
ist. Der rechnerische Zeitpunkt der Bekanntgabe des Aufhebungsbescheides ist der
Beginn des Jahres, in dem der Verwaltungsakt aufgehoben wird (vgl. § 44 Abs. 4
Satz 2 SGB X; vgl. Abb. 2). Wenn der Verwaltungsakt aufgrund eines Antrags
aufgehoben wird, tritt der Antrag an die Stelle der Rücknahme des Verwaltungsakts
(vgl. § 44 Abs. 4 Satz 3 SGB X). Damit ist der Antragsteller geschützt, wenn sich die
Entscheidung des Sozialversicherungsträgers verzögert.
Abb. 2: Rückwirkende Sozialleistungen
9 BSG, Urteil vom 3.2.1988, 9/9a RV 18/86
10 Daraus ergeben sich weitere Rechtsschutzmöglichkeiten.
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2.1.8 Zuständige Behörde
Das Verwaltungsverfahren, welches der Aufhebung des Verwaltungsakts vorangeht,
wird von dem Sozialversicherungsträger durchgeführt, der den Verwaltungsakt
erlassen hat. Sobald der aufzuhebende Verwaltungsakt unanfechtbar geworden ist,
ist die örtlich und sachlich zuständige Behörde für die Entscheidung über die
Aufhebung zuständig (vgl. Bsp. 5).11
Bsp. 5: Zuständigkeit
Eine Krankenkasse hat im Auftrag des zuständigen Unfallversicherungsträgers über
den Anspruch auf Verletztengeld entschieden und die Leistung ausgezahlt. Der
Leistungsempfänger ist der Auffassung, der Sozialversicherungsträger habe
entgegen seines Antrags das Verletztengeld in zu geringer Höhe festgesetzt.
Es handelt sich um einen Verwaltungsakt mit Doppelwirkung. Der belastende Teil ist
von der Krankenkasse aufzuheben, solange ihre Entscheidung über den Anspruch
auf Verletztengeld nicht unanfechtbar geworden ist. Sobald Unanfechtbarkeit
eingetreten ist, ist der Unfallversicherungsträger für die Aufhebung zuständig.
2.2 Rechtswidrige begünstigende Verwaltungsakte
Rechtswidrige begünstigende Verwaltungsakte werden nach § 45 SGB X
aufgehoben. Betroffen sind Entscheidungen, die bereits im Zeitpunkt des Erlasses
rechtswidrig sind12. Ein Verwaltungsakt ist auch dann rechtswidrig, wenn die in dem
Bescheid eingeräumte begünstigende Rechtsposition erst auf der Grundlage später
zutage getretener Erkenntnisse bereits aus damaliger Sicht rechtsfehlerhaft war.
Weitere Möglichkeiten ergeben sich in entsprechender Anwendung des § 47 SGB X,
obwohl diese Vorschrift nach ihrem Wortlaut nur auf rechtmäßige Verwaltungsakte
anwendbar ist. § 47 SGB X ist auf rechtswidrige begünstigende Verwaltungsakte
somit entsprechend anwendbar. Schließlich sind rechtswidrige begünstigende
Verwaltungsakte nach § 48 SGB X aufhebbar, wenn sich die tatsächlichen oder
rechtlichen Verhältnisse ändern.
Der Sozialversicherungsträger hat bei rechtswidrigen begünstigenden
Verwaltungsakten ein (öffentliches) Interesse an ihrer Beseitigung, weil der
11 Ob der entscheidende Sozialversicherungsträger die örtlich und sachlich zuständige
Behörde ist, ist nach den Vorschriften des SGB V zu beurteilen.
12 BSG, Urteil vom 2.4.2009, B 2 U 25/07 R
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Sozialversicherungsträger dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung
verpflichtet ist. Der Adressat einer solchen Entscheidung wird dagegen an der ihn
begünstigenden Entscheidung festhalten wollen, weil er Vertrauen in die Richtigkeit
von Verwaltungsentscheidungen setzt. Das Kernstück des § 45 SGB X regelt die
Lösung dieser widerstreitenden Interessen zugunsten des Adressaten, wenn dessen
Vertrauen schutzwürdig ist (vgl. Abb. 3).
Abb. 3: Aufhebung rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte
Soweit die Voraussetzungen für eine Aufhebung des Verwaltungsakts nach § 45
SGB X vorliegen, erfolgt die Aufhebung aufgrund einer Ermessensentscheidung des
Sozialversicherungsträgers.13 Entscheidet sich der Sozialversicherungsträger für die
Aufhebung des Verwaltungsakts, kann dieses in den meisten Fällen nur mit Wirkung
für die Zukunft erfolgen. Dabei übt der Sozialversicherungsträger weiteres Ermessen
dahin gehend aus, ob die Aufhebung vom Zeitpunkt der Bekanntgabe des
Aufhebungsbescheides oder von einem späteren Zeitpunkt an erfolgt. Nach dem
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entscheidet der Sozialversicherungsträger
sodann, ob er den Verwaltungsakt ganz oder teilweise aufheben will. Die Aufhebung
des Verwaltungsakts mit Wirkung für die Vergangenheit ist nur möglich, wenn sich
der Begünstigte wegen eines unredlichen Verhaltens nicht auf den Vertrauensschutz
berufen kann. Eine Güterabwägung findet in diesen Fällen nicht statt.
2.2.1 Sachlicher Geltungsbereich
Rechtswidrige begünstigende Verwaltungsakte dürfen nur unter den
Einschränkungen des § 45 Abs. 2 bis 4 SGB X zurückgenommen werden (vgl. § 45
Abs. 1 SGB X). Die Vorschrift ist sowohl bei unanfechtbaren Verwaltungsakten als
13 BSG, Urteil vom 17.6.2008, B 8 AY 9/07 R
Rücknahme eines rechtswidrigenbegünstigenden Verwaltungsakts
Öffentliches Interessean einer Rücknahme
Vertrauen des Begünstigten auf denBestand des Verwaltungsakts
Spannungsverhältnis
Das Vertrauen des Begünstigten überwiegtdas öffentliche Interesse, wenn es schutzwürdig ist.
Schutzwürdige Tatbestände:Erbrachte Leistungen wurden verbraucht.
Eine Vermögensdisposition wurde getroffenund kann nicht mehr rückgängig gemacht werden
Das öffentliche Interess überwiegt das Vertrauendes Begünstigten, wenn das Vertrauen
nicht schutzwürdig ist.
Der Verwaltungsakt istaufhebbar
Der Verwaltungsakt istnicht aufhebbar
Güterabwägung
Entscheidung
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auch bei noch nicht unanfechtbaren Verwaltungsakten anwendbar, die bereits zum
Zeitpunkt der Bekanntgabe rechtswidrig sind.14 Nach der Legaldefinition aus § 45
Abs. 1 SGB X handelt es sich um Verwaltungsakte, die ein Recht oder einen
rechtlich erheblichen Vorteil begründen oder bestätigen. Damit ist die Vorschrift nicht
nur auf Bescheide über Sozialleistungen anwendbar, sondern erfasst alle
Verwaltungsakte, die konstitutiv oder deklaratorisch Rechte zusprechen oder sonst in
rechtlicher Hinsicht objektiv vorteilhaft sind. Für die Beurteilung ist auf den Inhalt der
getroffenen Regelung abzustellen. Die mit der Regelung verbundenen Folgen sind
unerheblich.15
2.2.2 Voraussetzungen für die Aufhebung
Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt darf nicht zurückgenommen
werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsakts vertraut hat
und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer
Rücknahme schutzwürdig ist (vgl. § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X). Das Vertrauen ist in
der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder
eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter
unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann (vgl. § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X).
Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte nicht berufen, soweit er den Verwaltungsakt
durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat (vgl. § 45 Abs. 2
Satz 2 Nr. 1 SGB X), der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte
vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder
unvollständig gemacht hat (vgl. § 45 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB X) oder er die
Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht
kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt
in besonders schwerem Maß verletzt hat (vgl. § 45 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 SGB X).
Die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt, wer schon
einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht anstellt und daher nicht beachtet,
was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss.16 Dabei ist das Maß der
Fahrlässigkeit insbesondere nach der persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit, dem 14 BSG, Urteil vom 29.5.2008, B 11a/7a AL 74/06 R
15 Begünstigende Verwaltungsakte können nachteilige Folgen haben. Die Befreiung von der
Versicherungspflicht (vgl. § 8 SGB V) hat den Verlust des Versicherungsschutzes zur
Folge; die Feststellung einer freiwilligen Mitgliedschaft (vgl. § 188 SGB V) zieht die Pflicht
zur Zahlung von Beiträgen nach sich.
16 BSG, Urteil vom 8.2.2001, B 11 AL 21/00 R mit weiteren Nachweisen
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Einsichtsvermögen des Beteiligten sowie der besonderen Umstände des Falles zu
beurteilen (subjektiver Fahrlässigkeitsbegriff).. Bezugspunkt für das grob fahrlässige
Nichtwissen ist schon nach dem Wortlaut des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X die
Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes, also das Ergebnis der Tatsachenfeststellung
und Rechtsanwendung durch die Behörde. Allerdings können Fehler im Bereich der
Tatsachenermittlung oder im Bereich der Rechtsanwendung, auch wenn sie nicht
Bezugspunkt des grob fahrlässigen Nichtwissens sind, Anhaltspunkt für den
Begünstigten sein, die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes selbst zu erkennen.
Voraussetzung dafür ist aber, dass sich die tatsächlichen oder rechtlichen Mängel
aus dem Bewilligungsbescheid oder anderen Umständen ergeben und für das
Einsichtsvermögen des Betroffenen ohne Weiteres erkennbar sind.
Der Vertrauensschutz des Begünstigten setzt dessen Kenntnis der Entscheidung des
Sozialversicherungsträgers voraus. Dabei gehört es zu den Obliegenheiten des
Beteiligten, Bescheide zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen. Schutzwürdiges
Vertrauen ist gegeben, wenn das Vertrauen des Begünstigten das öffentliche
Interesse an der Beseitigung der rechtswidrigen Entscheidung überwiegt. Durch das
Gesetz werden beispielhaft die Fälle des „gutgläubigen“ Verbrauchs erbrachter
Leistungen sowie bestimmte Vermögensdispositionen als schutzwürdiges Interesse
genannt. Daneben sind andere Tatbestände denkbar, die zu einem schutzwürdigen
Vertrauen führen. In jedem Fall ist eine Interessenabwägung vorzunehmen.
Bei „erbrachten“ Leistungen, die der Sicherung der Lebensgrundlage dienen (z. B.
Leistungen mit Entgeltersatzfunktion wie Krankengeld oder Mutterschaftsgeld) kann
grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass sie verbraucht wurden. Eine
Aufhebung ist somit nur hinsichtlich der Leistungen möglich, die noch nicht
ausgezahlt wurden. Die Berufung auf eine getroffene Vermögensdisposition setzt
voraus, dass die Maßnahme im Vertrauen auf die Bestandskraft des erlassenen
Verwaltungsakts getroffen wurde. Es dürfen nur die Handlungen berücksichtigt
werden, die nach der Bekanntgabe des Verwaltungsakts ergriffen wurden. Dabei darf
die Vermögensdisposition nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen
rückgängig gemacht werden können (vgl. Bsp. 6).
Bsp. 6: Vertrauensschutz aufgrund einer getroffenen Vermögensdisposition
Eine Krankenkasse stellt fest, dass der Ehegatte eines Mitglieds familienversichert ist
(vgl. § 10 SGB V). Der familienversicherte Ehegatte kündigt daraufhin den
Versicherungsvertrag mit einem Krankenversicherungsunternehmen (vgl. § 5 Abs. 9
Satz 2 SGB V). Als sich herausstellt, dass die Entscheidung der Krankenkasse über
die Familienversicherung rechtswidrig ist, lehnt das Versicherungsunternehmen den
erneuten Abschluss eines Versicherungsvertrages ab. Da die Vermögensdisposition
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„Kündigung der privaten Krankenversicherung“ nicht mehr rückgängig gemacht
werden kann, genießt der begünstigte familienversicherte Ehegatte
Vertrauensschutz. Die Entscheidung über die Familienversicherung kann nicht
aufgehoben werden.
Anmerkung: Für den Vertrauensschutz ist Voraussetzung, dass der
familienversicherte Ehegatte nicht unredlich war und z. B. vorsätzlich oder grob
fahrlässig vorhandenes Gesamteinkommen nicht angegeben hat. Der
Vertrauensschutz ist ebenfalls ausgeschlossen, wenn der Begünstigte die
Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht
kannte. Eine Aufhebung des Verwaltungsakts ist außerdem unter den
Voraussetzungen des § 48 SGB X möglich, wenn in den tatsächlichen oder
rechtlichen Verhältnissen eine wesentliche Änderung eintritt.
Der Begünstigte genießt keinen Vertrauensschutz, wenn er sich im Zusammenhang
mit dem Erlass des Verwaltungsakts unredlich verhalten hat (vgl. § 45 Abs. 2 Satz 3
SGB X). Eine Güterabwägung findet nicht statt. Der Vertrauensschutz ist
ausgeschlossen, soweit
er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung
erwirkt hat,
der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder
grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht
hat, oder
er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts kannte oder infolge grober
Fahrlässigkeit nicht kannte.
Sind die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Entscheidung gegeben, muss der
Sozialversicherungsträger über die Aufhebung eine Ermessensentscheidung treffen.
Auf pflichtgemäße Ausübung des Ermessens besteht ein Anspruch (vgl. § 39 Abs. 1
Satz 2 SGB I). Ermessen wird pflichtgemäß ausgeübt, wenn dabei der Zweck der
Ermächtigung beachtet wird und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens
eingehalten werden (vgl. § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB I). Bei der Begründung der
Entscheidung muss der Sozialversicherungsträger erkennen lassen, dass er
Ermessen ausgeübt hat und von welchen Gesichtspunkten er dabei ausgegangen ist
(vgl. § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X). Dem Sozialversicherungsträger steht dabei frei, auf
welche Umstände er abheben will.17 Bei der Rückforderung einer Sozialleistung ist in
17 BSG, Urteil vom 11. Juni 2003 -B 5 RJ 28/02 R-
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diesem Zusammenhang zu prüfen, ob die Rückforderung unter dem Gesichtspunkt
der besonderen Härte ausgeschlossen ist.18
2.2.3 Zeitliche Befristung bei Verwaltungsakten mit Dauerwirkung
Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, auf den die
Voraussetzungen der Aufhebbarkeit zutreffen, kann u. U. nur innerhalb bestimmter
Fristen aufgehoben werden (vgl. § 45 Abs. 3 SGB X; vgl. Abb. 4). Ein Verwaltungsakt
mit Dauerwirkung liegt vor, wenn sich die Entscheidung des
Sozialversicherungsträgers nicht in einem einmaligen Gebot oder Verbot oder in
einer einmaligen Gestaltung der Rechtslage erschöpft, sondern ein auf Dauer
berechnetes oder in seinem Bestand vom Verwaltungsakt abhängiges
Rechtsverhältnis begründet oder verändert. Die Fristen stellen von Amts wegen zu
beachtende Ausschlussfristen dar; dem Sozialversicherungsträger kann bei einem
Fristversäumnis keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden. Die
Fristen werden durch die Bekanntgabe des rechtswidrigen begünstigenden
Verwaltungsakts ausgelöst.
Abb. 4: Rücknahmefrist bei Verwaltungsakten mit Dauerwirkung
- Wiederaufnahmegründe nach § 580 ZPO oderdie Voraussetzungen nach § 45 Abs. 3 Satz 3 SGB X
liegen nicht vor
Rücknehmbarkeit bis zumAblauf von 2 Jahren
nach seiner Bekanntgabe
Wiederaufnahmegründenach § 580 ZPO
liegen vor
Rücknehmbarkeitunbefristet
Voraussetzungen nach§ 45 Abs. 3 Satz 3 SGB X
liegen vor
Rücknehmbarkeit bis zumAblauf von 10 Jahren
nach seiner Bekanntgabe
Rechtswidriger begünstigender Verwaltungsaktmit Dauerwirkung,
der nach § 45 Abs. 2 SGB Xaufhebbar ist
Die Regelfrist, innerhalb der ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung aufgehoben
werden kann, beträgt zwei Jahre nach seiner Bekanntgabe (vgl. § 45 Abs. 3 Satz 1
SGB X; vgl. Bsp. 7).
Bsp. 7: Regelfrist für die Aufhebbarkeit
Eine Krankenkasse hat entschieden, dass eine Familienversicherung ohne
Altersgrenze für ein behindertes Kind besteht. Der Verwaltungsakt wurde am 27.
September 2008 bekannt gegeben. Anlässlich einer internen Revision wird
festgestellt, dass es sich um einen rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakt
mit Dauerwirkung handelt, der mit Wirkung für die Zukunft zurückgenommen werden
kann. Die Rücknahme ist nur bis zum 27. September 2010 innerhalb der Regelfrist
(vgl. § 45 Abs. 3 Satz 1 SGB X) möglich. Nach dem Ablauf der Frist ist der
Verwaltungsakt nicht mehr aufhebbar.
18 BSG, Urteil vom 21. März 1990 – 7 RAr 112/88- SozR 3-1300 § 45 Nr 2
Norbert Finkenbusch Aufhebung von Verwaltungsakten
Seite 15 von 31
Anmerkung: Der Verwaltungsakt kann aufgrund anderer Tatbestände (z. B. nach §
48 SGB X bei einer wesentlichen Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen
Verhältnissen) zurückgenommen werden.
Die Frist verlängert sich auf zehn Jahre, wenn
der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder
grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht
hat (vgl. § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X), oder
der Begünstigte die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts kannte oder infolge
grober Fahrlässigkeit19 nicht kannte (vgl. § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X) oder
der Verwaltungsakt mit einem zulässigen Vorbehalt des Widerrufs20 erlassen
wurde
(vgl. § 45 Abs. 3 Satz 3 SGB X).
Die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts mit
Dauerwirkung ist unbefristet möglich, wenn Wiederaufnahmegründe entsprechend §
580 ZPO vorliegen (vgl. § 45 Abs. 3 Satz 2 SGB X). Eine Verurteilung ist bei den
Wiederaufnahmegründen nach § 580 Abs. 1 Nr. 1 bis 5 ZPO nicht erforderlich.
2.2.4 Zeitpunkt der Aufhebung
Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakts wird regelmäßig mit Wirkung für
die Zukunft aufgehoben (vgl. § 45 Abs. 4 Satz 1 SGB X). Die Aufhebung mit Wirkung
für die Vergangenheit ist nur in bestimmten (enumerativ geregelten) Fällen zulässig
(vgl. Abb. 5). Die Aufhebung mit Wirkung für die Vergangenheit liegt ebenfalls im
Ermessen des Sozialversicherungsträger.
19 Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem
Maße verletzt hat (vgl. § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X).
20 Die Zulässigkeit eines Widerrufsvorbehalts richtet sich nach § 32 SGB X.
Norbert Finkenbusch Aufhebung von Verwaltungsakten
Seite 16 von 31
Abb. 5: Zeitpunkt der Aufhebung
Aufhebungmit Wirkung fü r die Zukunft;
Regelfall
Aufhebungmit Wirkung fü r die Vergangenheit;
Ausnahmefall
Bekanntgabe desAufhebungsbescheids
Rechtswidriger, begü nstigenderVerwaltungsakt
Die Aufhebung mit Wirkung für die Vergangenheit ist zulässig, wenn
der Begünstigte den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder
Bestechung erwirkt hat,
der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder
grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht
hat,
der Begünstigte die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts kannte oder infolge
grober Fahrlässigkeit21 nicht kannte oder
Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 ZPO vorliegen
(vgl. § 45 Abs. 4 Satz 1 SGB X). Der Verwaltungsakt ist innerhalb eines Jahres seit
Kenntnisnahme der Tatsachen, die die Aufhebung rechtfertigen, aufzuheben.22 Dazu
gehören alle Tatsachen, die der Sozialversicherungsträger benötigt, um die
Rechtswidrigkeit zu beurteilen und ggf. den Aufhebungsbescheid mit einem
Rückforderungsbescheid (vgl. § 50 SGB X) zu verbinden.23
21 Der Begünstigte kannte die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts über eine
Entgeltersatzleistung (hier: Übergangsgeld des Rentenversicherungsträgers) zumindest
infolge grober Fahrlässigkeit nicht, wenn er wegen seines Einkommens und aufgrund
entsprechender Hinweise im Bescheid wissen musste, dass der Bewilligungsbescheid zu
seinen Gunsten falsch war (BSG, Urteil vom 11. Juni 2003 -B 5 RJ 28/02 R-).
22 BSG, Urteil vom 31.1.2008, B 13 R 23/07 R
23 BSG, Urteil vom 11. Juni 2003 -B 5 RJ 28/02 R-
Norbert Finkenbusch Aufhebung von Verwaltungsakten
Seite 17 von 31
Die Einjahresfrist beginnt mit Kenntnis des Aufhebungsgrunds. Hierzu gehört die
Kenntnis der Tatsachen, aus denen sich die Zulässigkeit der Aufhebbarkeit für die
Vergangenheit ergibt. Dazu gehören alle Umstände, deren Kenntnis es der Behörde
objektiv ermöglicht, ohne weitere Sachaufklärung unter sachgerechter Ausübung
ihres Ermessens über die Rücknahme zu entscheiden. Der Umfang der Kenntnis der
Tatsachen richtet sich nach dem Tatbestand der Aufhebungsnorm. Im Fall der
Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts setzt diese
voraus, dass die Behörde nicht nur Kenntnis der Tatsachen hat, aus denen sich die
Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts ergibt, sondern auch sämtliche für die
Rücknahmeentscheidung außerdem erheblichen Tatsachen vollständig kennt.
Wird die Frist durch den Sozialversicherungsträger versäumt, bleibt die Aufhebung
für die Zukunft möglich (vgl. Abb. 6).
Abb. 6: Aufhebung rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte
3 Widerruf rechtmäßiger Verwaltungsakte
Rechtmäßige Verwaltungsakte werden, wenn sich die Notwendigkeit ergibt,
widerrufen (vgl. §§ 46, 47 SGB X). Über den Widerruf entscheidet die zuständige
Behörde, wenn der aufzuhebende Verwaltungsakt unanfechtbar ist (vgl. §§ 46 Abs.
B e k a n n tg a b e e in e sre c h ts w id r ig e n
b e g ü n s t ig e n d e nV e r w a l tu n g s a k te s
A n d e r w e it ig eK o r r e k tu r m ö g lic h k e i te n
p r ü fe n
V e r tr a u e n d e sB e g ü n s t ig te n ü b e r w ie g t d a s
ö ffe n t li c h e In te r e s s e a ne in e r R ü c k n a h m e
V e r w a l tu n g s a k tm i t D a u e r w ir k u n g
B ö s g lä u b ig k e i t o d e rW ie d e r a u fn a h m e g r ü n d e
l ie g e n v o r
A u fh e b u n gm it W ir k u n g fü r d ie Z u k u n f t
R ü c k n a h m e fr is t a b g e la u fe n
A u fh e b u n gm it W irk u n g fü r d ie V e r g a n g e n h e it
ja
n e in
n e in
n e in
ja
ja
n e in
J a h r e s f r is t s e it K e n n tn is n a h m ed e r A u fh e b u n g s ta tb e s tä n d e
a b g e la u fe n
ja
n e in
jan e in
ja
Norbert Finkenbusch Aufhebung von Verwaltungsakten
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2, 47 Abs. 2 SGB X). Die Aufhebung ist nur mit Wirkung für die Zukunft zulässig. Der
Widerruf ist in das Ermessen der Sozialversicherungsträger gestellt. Der Belastete
hat lediglich einen Anspruch auf pflichtgemäße Ausübung des Ermessens. Der
Widerrufsbescheid sowie der Bescheid, der einen Widerruf ablehnt, müssen die
Ausübung von Ermessen erkennen lassen.
3.1 Rechtmäßige nicht begünstigende Verwaltungsakte
Der Widerruf eines rechtmäßigen nicht begünstigenden Verwaltungsakts wird dem
Sozialversicherungsträger ermöglicht, wenn sich seit dem Zeitpunkt der Bekanntgabe
die Verhältnisse geändert haben. Die Aufhebungsvorschrift ist auch dann
anwendbar, wenn es sich nicht um eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen
oder rechtlichen Verhältnissen handelt.24 Ein rechtmäßiger Verwaltungsakt mit
Dauerwirkung kann somit auch dann nach § 46 SGB X aufgehoben werden, wenn
sich eine Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen ergibt, die
nicht wesentlich ist.
Die Aufhebung ist ausgeschlossen, wenn ein Verwaltungsakt gleichen Inhalts erneut
erlassen werden müsste. Die Aufhebung ist ebenfalls ausgeschlossen, wenn sich
entgegenstehende Gründe (andere Gründe) aus dem Gesetz, aus
Rechtsverordnungen oder aus Satzungen ergeben.
3.2 Rechtmäßige begünstigende Verwaltungsakte
Der Widerruf rechtmäßiger begünstigender Verwaltungsakte ist nur unter besonderen
Voraussetzungen möglich, die abschließend geregelt sind (vgl. § 47 SGB X).
3.2.1 Zugelassener oder vorbehaltener Widerruf
Ein rechtmäßiger begünstigender Verwaltungsakt darf widerrufen werden, soweit der
Widerruf durch Rechtsvorschrift zugelassen oder im Verwaltungsakt vorbehalten ist
(vgl. § 47 Abs. 1 Nr. 1 SGB X). Der Widerruf ist durch Rechtsvorschrift zugelassen,
wenn er sich der jeweiligen gesetzlichen Gesamtregelung entnehmen lässt. Aus der
Rechtsnorm muss sich expressis verbis oder durch Auslegung ergeben, dass der
Sozialversicherungsträger jederzeit die Möglichkeit haben soll, eine den
Gegebenheiten entsprechende Regelung zu treffen und dem Begünstigten ein
Vertrauensschutz insoweit nicht zusteht.
24 Wenn bei einem Verwaltungsakt mit Dauerwirkung eine wesentliche Änderung in den
tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen eintritt, ist neben der Aufhebbarkeit nach §
46 SGB X auch § 48 SGB X zu prüfen.
Norbert Finkenbusch Aufhebung von Verwaltungsakten
Seite 19 von 31
Der Widerruf ist auch zulässig, soweit er im Verwaltungsakt vorbehalten ist. Dies
setzt eine zulässige Nebenbestimmung (Widerrufsvorbehalt) im Verwaltungsakt
voraus.
3.2.2 Nicht oder verspätet erfüllte Auflage
Ein rechtmäßiger begünstigender Verwaltungsakt darf widerrufen werden, wenn mit
dem Verwaltungsakt eine Auflage verbunden ist und der Begünstigte diese nicht oder
nicht innerhalb einer ihm gesetzten Frist erfüllt hat (vgl. § 47 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz
1 Nr. 2 SGB X). Die Auflage muss eine zulässige Nebenbestimmung darstellen.
3.2.3 Zweckverfehlung
Ein rechtmäßiger begünstigender Verwaltungsakt, der eine Geld- oder Sachleistung
zur Erfüllung eines bestimmten Zwecks zuerkennt oder hierfür Voraussetzung ist,
kann ganz oder teilweise auch mit Wirkung für die Vergangenheit widerrufen werden,
wenn die Leistung nicht, nicht alsbald nach der Erbringung oder nicht mehr für den in
dem Verwaltungsakt bestimmten Zweck verwendet wird (vgl. § 47 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1
SGB X). Eine Rückforderung ist möglich, wenn die Geld- oder Sachleistung nicht für
den im Verwaltungsakt bezeichneten Leistungsverwendungszweck verwendet wird.25
4 Aufhebung von Verwaltungsakten mit Dauerwirkung
Verwaltungsakte mit Dauerwirkung sind aufzuheben, wenn und soweit in den
tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass vorgelegen haben, eine
wesentliche Änderung eintritt (vgl. § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X). Betroffen sind sowohl
von Anfang an rechtmäßige als auch von Anfang an rechtswidrige Verwaltungsakte.
Die Vorschrift ist auch auf die zuerkannten Ansprüche anwendbar, die nachträglich
kraft Gesetzes weggefallen oder zum Ruhen gekommen sind (vgl. Bsp. 8).26
Bsp. 8: Aufhebung von Verwaltugsakten mit Dauerwirkung
Die Krankenkasse hat mit Verwaltungsakt vom 15. März 2009 festgestellt, dass ein
Versicherter aufgrund von Arbeitsunfähigkeit seit dem 2. Februar 2009 einen
Anspruch auf Krankengeld hat. Bei einer routinemäßigen Prüfung wird festgestellt,
dass am 4. April 2010 unter Berücksichtigung von Vorerkrankungszeiten die
Höchstanspruchsdauer (vgl. § 48 SGB V) erreicht sein wird und der Anspruch auf
Krankengeld zu diesem Zeitpunkt wegfällt. Der Verwaltungsakt vom 15. März 2009 25 BSG, Urteil vom 14.12.2000, B 11 AL 63/00 R
26 Eine Rechtsposition im Sozialrecht bedarf grundsätzlich der Aufhebung durch die
Behörde; eine Aufhebung ist nicht erforderlich, wenn die Regelung befristet ist oder unter
einer auflösenden Bedingung steht.
Norbert Finkenbusch Aufhebung von Verwaltungsakten
Seite 20 von 31
ist aufzuheben, weil in den rechtlichen Verhältnissen eine wesentliche Änderung
eingetreten ist.
4.1 Sachlicher Geltungsbereich
§ 48 SGB X ist ausschließlich auf Verwaltungsakte mit Dauerwirkung anwendbar, die
sowohl rechtmäßig als auch rechtswidrig erlassen sein können. Dabei handelt es
sich um Entscheidungen, die sich nicht in einem einmaligen Gebot oder Verbot oder
in einer einmaligen Gestaltung der Rechtslage erschöpfen, sondern ein auf Dauer
berechnetes oder in seinem Bestand vom Verwaltungsakt abhängiges
Rechtsverhältnis begründen oder verändern (vgl. Tab. 1).
Norbert Finkenbusch Aufhebung von Verwaltungsakten
Seite 21 von 31
Tab. 1: Verwaltungsakte mit Dauerwirkung
Tatbestand Verwaltungsakt mit Dauerwirkung
ja/nein
Vormerkungsbescheid im Kontenklärungsverfahren eines Rentenversicherungsträgers27
ja
Feststellung der Schwerbehinderten-Eigenschaft28 Ja
Feststellung eines unbefristeten Anspruchs auf Krankengeld
ja
Feststellung eines befristeten Anspruchs auf Krankengeld ja
Feststellung eines Anspruchs auf Krankengeld für einen vergangenen Zeitraum
nein
Feststellen der Berechtigung zur freiwilligen Versicherung nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB VI durch den Rentenversicherungsträger29
ja
Kürzungsbescheid über Pflegegeld30 ja
Feststellung von Versicherungspflicht eines Arbeitnehmers ja
Befreiung von der Versicherungspflicht ja
Ablehnung eines Leistungsantrags nein
Entziehung einer Leistung wegen fehlender Mitwirkung nein
Feststellung des Wegfalls des Anspruchs auf Krankengeld wegen Erreichens der Höchtsbezugszeit
nein
Feststellung einer freiwilligen Mitgliedschaft ja
Stundung von Beiträgen ja
Nachberechnung von Beiträgen nein
4.2 Voraussetzungen für die Aufhebung
Ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung ist aufhebbar, wenn nach seinem Erlass eine
wesentliche Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen eintritt.
Wesentlich ist jede tatsächliche oder rechtliche Änderung, die sich aufgrund oder
27 BSG, Urteil vom 30.3.2004, B 4 RA 36/02 R
28 BSG, Urteil vom 10.12.2003, B 9 SB 4/02 R
29 BSG, Urteil vom 23.10.2003, B 4 RA 27/03 R
30 BSG, Urteil vom 24.7.2003, B 3 P 4/02 R
Norbert Finkenbusch Aufhebung von Verwaltungsakten
Seite 22 von 31
Höhe der bewilligten Leistung auswirkt.31 Ob eine solche Änderung eingetreten ist,
richtet sich nach dem für die jeweilige Leistung maßgeblichen materiellen Recht.
Danach ist eine Änderung dann wesentlich, wenn die Änderung rechtserheblich ist
und dazu führt, dass der Sozialversicherungsträger unter den objektiv gegebenen
Verhältnissen den Verwaltungsakt nicht hätte erlassen dürfen32. Dies setzt einen
Vergleich der Verhältnisse voraus, die sowohl beim Erlass des Verwaltungsakts als
auch zum Aufhebungszeitpunkt gegeben sind. Die wesentliche Änderung kann
sowohl beim rechtmäßigen als auch beim rechtswidrigen Verwaltungsakt eintreten
(vgl. Bsp. 9).
Bsp. 9: Wesentliche Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen
Die Krankenkasse hat das Gesamteinkommen eines Kindes falsch beurteilt und
rechtswidrig eine Familienversicherung festgestellt. Der Verwaltungsakt kann wegen
Vertrauensschutzes nicht nach § 45 SGB X aufgehoben werden. Der Verwaltungsakt
mit Dauerwirkung ist aufzuheben, wenn das Kind das 18. Lebensjahr vollendet (vgl. §
10 Abs. 2 Nr. 1 SGB V), weil sich damit eine wesentliche Änderung in den
tatsächlichen bzw. rechtlichen Verhältnissen ergibt
Die tatsächlichen Verhältnisse ändern sich, wenn sich der rechtserhebliche
Sachverhalt ändert (vgl. Bsp. 10).
Bsp. 10: Änderung der tatsächlichen Verhältnisse
Ein Versicherter befindet sich wegen einer Krankheit in vollstationärer
Krankenhausbehandlung; die Krankenkasse hat einen entsprechenden
Leistungsanspruch festgestellt (vgl. § 39 SGB V). Die Krankheit ist seit dem 15. März
2010 nicht mehr behandlungsbedürftig; es ist ein so genannter „Pflegefall“
eingetreten. Der Anspruch auf Krankenhausbehandlung ist damit weggefallen. Der
entsprechende Verwaltungsakt mit Dauerwirkung ist aufzuheben, weil sich in den
tatsächlichen Verhältnissen eine wesentliche Änderung ergeben hat.
Die rechtlichen Verhältnisse ändern sich, wenn Gesetz oder Recht geändert werden
und die Änderung den dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden Lebenssachverhalt
erfasst. Eine wesentliche Änderung in den rechtlichen Verhältnissen liegt auch vor,
wenn sich die höchstrichterliche Rechtsprechung ändert (vgl. auch § 48 Abs. 2 SGB
X; vgl. Bsp. 11).
31 BSG, Urteil vom 5. Juni 2003 -B 11 AL 70/02 R-
32 BSG, Urteil vom 19.2.1986, 7 RAr 55/84
Norbert Finkenbusch Aufhebung von Verwaltungsakten
Seite 23 von 31
Bsp. 11: Änderung der rechtlichen Verhältnisse
Ein freiwilliges Mitglied zahlt aufgrund eines bestandskräftigen Verwaltungsakts
Beiträge nach einem Beitragssatz von 14,9 %. Die Satzung der Krankenkasse wird
zum 1. Juli 2010 geändert und ein kassenindividueller Zusatzbeitrag eingeführt. Der
entsprechende Verwaltungsakt mit Dauerwirkung ist aufzuheben, weil sich in den
rechtlichen Verhältnissen eine wesentliche Änderung ergeben hat.
4.3 Zeitliche Befristung der Aufhebbarkeit
Verwaltungsakte mit Dauerwirkung dürfen nur bis zum Ablauf von zehn Jahren nach
ihrer Bekanntgabe aufgehoben werden (vgl. §§ 48 Abs. 4 Satz 1, 45 Abs. 3 Satz 3
SGB X). Die Vorschrift des § 48 Abs. 4 SGB X stellt eine sogenannte
Rechtsfolgenverweisung dar, die die entsprechende Anwendung einer Norm
vorsieht. Daraus ist nach überwiegend herrschender Auffassung abzuleiten, dass
Verwaltungsakte mit Dauerwirkung nur innerhalb der 10-Jahres-Frist aufzuheben
sind, unabhängig davon, ob die besonderen Voraussetzungen aus § 45 Abs. 3 Satz
3 Nr. 1, 2 SGB X vorliegen. Die Aufhebung hat innerhalb eines Jahres nach dem
Zeitpunkt zu erfolgen, zu dem der Sozialversicherungsträger Kenntnis von dem zur
Aufhebung berechtigenden Tatbestand erlangt hat (vgl. §§ 48 Abs. 4 Satz 1, 45 Abs.
4 SGB X).
Die fristgebundene Aufhebung betrifft nur Aufhebungen zum Nachteil des
Betroffenen. Wenn die Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen
zugunsten des Betroffenen erfolgt (vgl. § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X), ist der
entsprechende Verwaltungsakt unbefristet aufhebbar (vgl. § 48 Abs. 4 Satz 2 SGB
X).
4.4 Zeitpunkt der Aufhebung
Ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung ist mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben (vgl.
§ 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X; vgl. Bsp. 12).
Bsp. 12: Aufhebung mit Wirkung für die Zukunft
Die Krankenkasse zahlt aufgrund eines bestandskräftigen Verwaltungsakts
unbefristet Krankengeld. Bei einer routinemäßigen Prüfung am 15. März 2010 wird
festgestellt, dass der Höchstanspruch auf Krankengeld (vgl. § 48 SGB V) am 2.
Februar 2010 erreicht worden ist. Die Krankenkasse erlässt am 6. April 2010 einen
Aufhebungsbescheid mit Wirkung für die Zukunft (vgl. § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X).
Krankengeld ist bis zum 6. April 2010 zu zahlen.
Aufgrund abschließend aufgezählter Tatbestände soll ein Verwaltungsakt mit
Dauerwirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden
(vgl. § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X). Als Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse gilt in
Norbert Finkenbusch Aufhebung von Verwaltungsakten
Seite 24 von 31
Fällen, in denen Einkommen oder Vermögen auf einen zurückliegenden Zeitraum
aufgrund der besonderen Teile des Sozialgesetzbuchs anzurechnen ist, der Beginn
des Anrechnungszeitraums (vgl. § 48 Abs. 1 Satz 3 SGB X).33 Damit wird in den
Fällen ein früherer Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse fingiert, in denen
rückwirkend eine Sozialleistung bewilligt wird, die bei "rechtzeitiger" Bewilligung die
Gewährung einer anderen Sozialleistung ausgeschlossen hätte.
Das eingeräumte Ermessen („soll“) verpflichtet den Sozialversicherungsträger zur
Aufhebung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse an in den entsprechenden
Fallgruppen. Nur in besonderen Fällen (die atypisch erscheinen) kann der
Sozialversicherungsträger im Rahmen eingeräumten Ermessens ganz oder teilweise
von einer rückwirkenden Aufhebung absehen. Ermessen hinsichtlich einer
Aufhebung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse an wird nicht ausgeübt,
wenn Rechtsvorschriften aus den besonderen Teilen des Sozialgesetzbuches dieses
vorsehen.34 In diesen Fällen ist ein gebundener Verwaltungsakt zu erlassen.
4.4.1 Änderung zugunsten des Betroffenen
Der Sozialversicherungsträger soll rückwirkend aufheben, wenn die Änderung
zugunsten des Betroffenen erfolgt (vgl. § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X). Die
Änderung erfolgt zugunsten des Betroffenen, wenn die neue Regelung ein Recht
oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt und damit über den
früheren Verfügungssatz hinausgeht. Wenn in diesem Zusammenhang
Sozialleistungen für die Vergangenheit zu erbringen sind, ist dabei die Verjährung
der Sozialleistungen zu berücksichtigen (vgl. § 45 SGB I).35
Der Sozialversicherungsträger hat die Verjährung der Leistungsansprüche von Amts
wegen zu beachten. Das gilt selbst dann, wenn die verspätete Neufeststellung der
Sozialleistungen in den Verantwortungsbereich des Sozialversicherungsträgers fällt.
Nur bei einer besonderen Pflichtverletzung durch den Sozialversicherungsträger
kann die Einrede der Verjährung rechtsmissbräuchlich sein.
33 BSG, Urteil vom 5. Juni 2003 -B 11 AL 70/02 R-
34 vgl. z. B. § 330 SGB III
35 Ansprüche auf Sozialleistungen verjähren in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs,
in dem sie entstanden sind (vgl. § 45 Abs. 1 SGB I).
Norbert Finkenbusch Aufhebung von Verwaltungsakten
Seite 25 von 31
4.4.2 Verletzung einer Mitteilungspflicht
Der Sozialversicherungsträger soll rückwirkend aufheben, soweit der Betroffene einer
durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn
nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht
nachgekommen ist (vgl. § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X). Eine entsprechende
Mitteilungspflicht trifft den Bezieher von Sozialleistungen (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr.
2 SGB I). Dieser hat Änderungen in den Verhältnissen, die für die Leistung erheblich
sind oder über die im Zusammenhang mit der Leistung Erklärungen abgegeben
worden sind, unverzüglich dem Sozialversicherungsträger mitzuteilen.
Die Änderungsanzeige des Sozialleistungsberechtigten hat unverzüglich zu erfolgen.
In Anlehnung an § 121 Abs. 1 BGB sind relevante Tatbestände also ohne
schuldhaftes Zögern (unverzüglich) bekannt zu geben. Bekannt zu geben sind
sowohl tatsächliche als auch rechtliche Änderungen in den Verhältnissen des
Sozialleistungsberechtigten. Für den Betroffenen ist die Handhabung dann relativ
einfach, wenn der Sozialversicherungsträger bereits nach entsprechenden
Tatbeständen gefragt und somit sein rechtlich begründetes Interesse bekundet hat.
Schwierigkeiten treten aber auf, wenn Änderungen eintreten, die vom
Sozialleistungsberechtigten nicht als sozialrechtlich relevant beurteilt werden oder
beurteilt werden können. Hier empfiehlt sich eine Beratung durch den
Sozialversicherungsträger, die den Betroffenen zu einer sachgerechten Beurteilung
befähigt.
4.4.3 Erzielung von Einkommen oder Vermögen
Der Sozialversicherungsträger soll seine Entscheidung rückwirkend aufheben, soweit
nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsakts Einkommen oder Vermögen
erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben
würde (vgl. § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X). Neben dem Antragsteller werden auch
andere Person berücksichtigt, deren wirtschaftliche Verhältnisse für den
Leistungsanspruch rechtserheblich sind.36 Die Regelung ist entsprechend
anwendbar, wenn das erzielte Einkommen oder Vermögen zum Ruhen des
Anspruchs führt. Auf ein Verschulden des Sozialleistungsberechtigten kommt es in
diesem Zusammenhang nicht an.
36 BSG, Urteile vom 12.12.1995, SozR 3-1300 § 48 Nr 42 S 92, 5. Juni 2003, B 11 AL 70/02
R, 17.2.2011, B 10 KG 5/09 R
Norbert Finkenbusch Aufhebung von Verwaltungsakten
Seite 26 von 31
Die Regelung erfasst nicht das Einkommen oder das Vermögen, welches bereits bei
Erlass des Verwaltungsakts bezogen wird. Entsprechende Verwaltungsakte sind
vielmehr nach § 45 SGB X aufzuheben.
4.4.4 Bösgläubigkeit
Der Sozialversicherungsträger soll seine Entscheidung rückwirkend aufheben, soweit
der Betroffene wusste, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch
kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist (vgl.
§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X). Die Regelung erfasst auch das Nichtwissen des
Betroffenen, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt
hat.
4.5 Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung
Ein Verwaltungsakt ist mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, wenn sich die
höchstrichterliche Rechtsprechung ändert (vgl. § 48 Abs. 2 SGB X). Dem
Sozialversicherungsträger ist kein Ermessen eingeräumt. Die Regelung ist
anzuwenden, wenn der zuständige oberste Gerichtshof des Bundes (z. B. das
Bundessozialgericht) in ständiger Rechtsprechung nachträglich das Recht anders
auslegt, als der Sozialversicherungsträger bei Erlass des Verwaltungsakts und sich
diese Änderung zugunsten des Berechtigten auswirkt.
Die Vorschrift geht davon aus, dass der Verwaltungsakt des
Sozialversicherungsträgers rechtmäßig nach der seinerzeit geltenden Rechtslage
erlassen wurde und sich danach die höchstrichterliche Rechtsprechung geändert hat.
Wenn sich dagegen nach dem Erlass des Verwaltungsakts erstmals eine
höchstrichterliche Rechtsprechung bildet und dadurch festgestellt wird, dass der
Sozialversicherungsträger rechtswidrig entschieden hat, ist der begünstigende
Verwaltungsakt nach § 45 SGB X aufzuheben.
Ein Verwaltungsakt ist aufzuheben, wenn es sich um eine Änderung in ständiger
Rechtsprechung handelt. Diese liegt vor, wenn entweder der Große Senat des
Bundessozialgerichts37 oder des Bundesverwaltungsgerichts, der Gemeinsame
Senat der obersten Gerichtshöfe, mehrere Senate oder mehrfach der allein
zuständige Senat das Recht im Gegensatz zur früheren Rechtsprechung anders 37 Der große Senat hat zu entscheiden, wenn in einer Rechtsfrage ein Senat von der
Entscheidung eines anderen Senats oder des Großen Senats abweichen will oder wenn
in einer Frage von grundsätzlicher Bedeutung ein Senat den Großen Senat anruft, weil
nach seiner Auffassung die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen
Rechtsprechung dies erfordert (vgl. § 41 SGG).
Norbert Finkenbusch Aufhebung von Verwaltungsakten
Seite 27 von 31
ausgelegt haben. Die neue Rechtsprechung kann entweder ohne Änderung der
Rechtsgrundlagen auf einer anderen Auslegung beruhen (echte Korrektur) oder einer
Änderung der Rechtsgrundlagen bzw. einem Wandel der sozialen, soziologischen
und wirtschaftlichen Gegebenheiten und Anschauungen Rechnung tragen (unechte
Korrektur).
4.6 Abschmelzen von Leistungen
Kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nicht nach § 45 SGB X
zurückgenommen werden und ist eine Änderung zugunsten des Betroffenen
eingetreten, darf die neu festzustellende Leistung nicht über den Betrag
hinausgehen, wie er sich der Höhe nach ohne Berücksichtigung der Bestandskraft
ergibt (vgl. § 48 Abs. 3 Satz 1 SGB X). Die Regelung betrifft Sozialleistungen,
die dem Grunde nach zustehen aber
zu hoch festgesetzt wurden und
wegen des in § 45 SGB X enthaltenen Vertrauensschutzes nicht berichtigt
werden dürfen.
Nach dem Wortlaut der Vorschrift ist diese nur auf eine neu festzustellende
"Leistung" anwendbar, die sich in einem "Betrag" ausdrücken lässt. Es muss sich
also um eine Geldleistung handeln.38
Wenn aufgrund geänderter Verhältnisse eine Neufestsetzung erforderlich wird, darf
dadurch der rechtmäßig zustehende Betrag der Sozialleistung nicht überschritten
werden. Im Ergebnis entfällt eine Neufestsetzung, wenn der rechtmäßig zustehende
Betrag der Sozialleistung den vor der Änderung der Verhältnisse rechtswidrig
festgestellten Betrag der Sozialleistung nicht übersteigt (vgl. Tab. 2).
38 BSG, Urteil vom 20.3.2007, B 2 U 38/05 R
Norbert Finkenbusch Aufhebung von Verwaltungsakten
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Tab. 2: Abschmelzen von Leistungen
Fallgruppe 1 - Die rechtmäßig zustehende Sozialleistung überschreitet nicht die rechtswidrig festgestellte Sozialleistung -
Tatbestand rechtmäßig zustehende Sozialleistung
rechtswidrig festgestellte
Sozialleistung
Anspruch auf Krankengeld seit dem 4. August 2009; Bemessungszeitraum Juli 2009
70,00 € 75,00 €
Erhöhung des Krankengeldes (vgl. § 50 Abs. 1 SGB IX) zum 1. August 2010 um den Faktor 1,0244 (angenommen)
71,71 € 75,00 €
Für den Betroffenen ist aufgrund der Regelung des § 50 Abs. 1 SGB IX eine wesentliche Änderung in den rechtlichen Verhältnissen , die beim Erlass des Verwaltungsakts mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eingetreten. Eine Neufeststellung des Krankengeldanspruchs unterbleibt allerdings, weil der rechtmäßig zustehende Zahlbetrag des Krankengeldes nach der Erhöhung (71,71 €) den rechtswidrig festgestellten Zahlbetrag (75,00 €) nicht überschreitet.
Fallgruppe 2 - Die rechtmäßig zustehende Sozialleistung überschreitet die rechtswidrig festgestellte Sozialleistung -
Tatbestand rechtmäßig zustehende Sozialleistung
rechtswidrig festgestellte Sozialleistung
Anspruch auf Krankengeld seit dem 4. August 2090; Bemessungszeitraum Juli 2009
70,00 € 70,50 €
Erhöhung des Krankengeldes (vgl. § 50 Abs. 1 SGB IX) zum 1. August 2010 um den Faktor 1,0244 (angenommen)
71,71 €
Für den Betroffenen ist aufgrund der Regelung des § 50 Abs. 1 SGB IX eine wesentliche Änderung in den rechtlichen Verhältnissen , die beim Erlass des Verwaltungsakts mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eingetreten. Eine Neufeststellung des Krankengeldanspruchs ist erforderlich, weil der rechtmäßig zustehende Zahlbetrag des Krankengeldes nach der Erhöhung (71,71 €) den rechtswidrig festgestellen Zahlbetrag (70,50 €) überschreitet. Die Neufeststellung ist auf den rechtmäßig zustehenden Zahlbetrag des Krankengeldes (71,71 €) begrenzt.
Rechtsprechung und Literatur vertreten überwiegend die Auffassung, dass § 48 Abs.
3 SGB X auch auf Folgebescheide anwendbar ist, wenn der begünstigende
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Verwaltungsakt deswegen rechtswidrig ist, weil die Sozialleistung bereits dem
Grunde nach nicht zusteht (vgl. Bsp. 13).39 Nach Sinn und Zweck des § 48 Abs 3
SGB X soll verhindert werden, dass die zu hohe Leistung, die durch einen Fehler
entstanden ist, durch eine Veränderung zugunsten des Betroffenen noch höher wird,
das bestehende Unrecht also weiter wächst, unabhängig davon, ob dies durch einen
rechtswidrig festgestellten Faktor oder eine rechtswidrig festgestellte Grundlage der
Leistungsbewilligung geschehen würde.
Bsp. 13: Rechtswidrige Feststellung des Grundanspruchs
Die Krankenkasse versichert ein freiwilliges Mitglied mit Anspruch auf Krankengeld.
Nachdem das freiwillige Mitglied arbeitsunfähig erkrankt ist, stellt der
Sozialversicherungsträger einen Anspruch auf Krankengeld dem Grunde nach fest
und erlässt hierüber einen Verwaltungsakt.
Anlässlich einer routinemäßigen Prüfung wird festgestellt, dass das freiwillige
Mitglied zum Beginn der Arbeitsunfähigkeit nicht mehr zum Personenkreis gehörte,
der nach Gesetz und Satzung mit Anspruch auf Krankengeld versichert sein kann,
weil die hauptberufliche selbstständige Tätigkeit aufgegeben wurde. Der
Verwaltungsakt über den Anspruch auf Krankengeld dem Grunde nach stellt sich als
rechtswidrig heraus, kann aber wegen des Vertrauensschutzes nicht nach § 45 SGB
X zurückgenommen werden.
Krankengeld ist für die Dauer der Arbeitsunfähigkeit zu zahlen. Der Leistungsablauf
nach § 48 SGB V stellt allerdings eine wesentliche Änderung in den rechtlichen
Verhältnissen dar, weil er den Grundanspruch beseitigt und berechtigt die
Krankenkasse zur Aufhebung ihrer fehlerhaften Krankengeldentscheidung. Eine
Erhöhung des Krankengelds in dieser Zeit führt zu einer zulässigen Abschmelzung
nach § 48 Abs. 3 SGB X.
5 Rücknahme und Widerruf im Vorverfahren
Verwaltungsakte, die gegenüber mehreren Beteiligten erlassen werden, weisen u. U.
Doppel- bzw. Drittwirkung auf. Sie begünstigen den einen Beteiligten und belasten
den anderen. Wenn sich ein Beteiligter beschwert fühlt und deswegen den
Verwaltungsakt anfechtet, hat der Sozialversicherungsträger die Aufhebbarkeit des
Verwaltungsakts zu prüfen. § 45 Abs. 1 bis 4, §§ 47, 48 SGB X gelten in diesem
39 BSG, Urteil vom 20.3.2007, B 2 U 38/05 R mit einem Hinweis auf abweichende
Meinungen in der Literatur; BSG, Urteil vom 2.12.2010, B 9 V 1/10 R zu einer Erhöhung
der Schwerbeschädigtengrundrente nach dem BVG um die Alterszulage wegen
Vollendung des 65. Lebensjahres
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Zusammenhang nicht, wenn der Sozialversicherungsträger innerhalb des
Vorverfahrens oder während des sozialgerichtlichen Verfahrens den Verwaltungsakt
aufhebt und dadurch dem Widerspruch abhilft oder der Klage stattgegeben wird (vgl.
§ 49 SGB X).
Die Regelung betrifft begünstigende Verwaltungsakte mit belastender Drittwirkung
(vgl. Tab. 3). Sie ist anwendbar, wenn der belastete Dritte den Verwaltungsakt
angefochten hat (durch Widerspruch oder Klage).
Tab. 3: Anwendungsfelder für § 49 SGB X
Tatbestand Rechtsgrundlage
Auszahlung laufender Geldleistungen an den Ehegatten oder die Kinder des Leistungsempfängers bei einer Verletzung der gesetzlichen Unterhaltspflicht
§ 48 SGB I
Auszahlung laufender Geldleistungen an die Unterhaltsberechtigten, wenn der Leistungsberechtigte aufgrund richterlicher Anordnung in einer Anstalt oder Einrichtung untergebracht ist
§ 49 SGB I
Verrechnung von Geldleistungen mit Ansprüchen eines anderen Leistungsträger
§ 52 SGB I
Übertragung und Verpfändung von Ansprüchen auf Geldleistungen
§ 53 Abs. 2 SGB I
Feststellung der Versicherungspflicht § 5 SGB V
ach der überwiegend herrschenden Rechtsauffassung ist § 49 SGB X auch
anwendbar, wenn der Sozialversicherungsträger zwei inhaltlich gleichlautende
Bescheide erlässt und auf den Rechtsbehelf des belasteten Adressaten hin beide
Bescheide aufhebt (vgl. Bsp. 14).
Bsp. 14: Anwendbarkeit des § 49 SGB X bei zwei gleichlautenden Bescheiden
Die Krankenkasse hat durch zwei inhaltlich gleichlautende Bescheide gegenüber
einem Arbeitgeber (belasteter Beteiligter) und einem Arbeitnehmer (begünstigter
Beteiligter) die Versicherungspflicht des Arbeitnehmers festgestellt. Sie nimmt
aufgrund des Rechtsbehelfs des Arbeitgebers beide Bescheide zurück, nachdem sie
deren Rechtswidrigkeit festgestellt hat.
Erforderlich sind Widerspruch oder Klage, die form- und fristgerecht eingelegt werden
sowie zulässig und begründet sind. Damit wird der entsprechende Rechtsbehelf
anhängig. Die Anwendbarkeit des § 49 SGB X beginnt zu dem Zeitpunkt, zu dem der
Rechtsbehelf anhängig wird; sie endet, wenn der Widerspruchsbescheid oder
Abhilfebescheid im Vorverfahren bekannt gegeben wird bzw. das
Sozialgerichtsverfahren beendet wird.
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Verzeichnis der Abbildungen
Abb. 1: Aufhebung von Verwaltungsakten 2
Abb. 2: Rückwirkende Sozialleistungen 8
Abb. 3: Aufhebung rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte 10
Abb. 4: Rücknahmefrist bei Verwaltungsakten mit Dauerwirkung 14
Abb. 5: Zeitpunkt der Aufhebung 16
Abb. 6: Aufhebung rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte 17
Verzeichnis der Beispiele
Bsp. 1: Verwaltungsakt mit Doppelwirkung - mehrere Rechtsfolgen 5
Bsp. 2: Verwaltungsakt mit Doppelwirkung - teilbare Rechtsfolge 5
Bsp. 3: Verwaltungsakt mit Doppelwirkung - unteilbare Rechtsfolge 5
Bsp. 4: Verwaltungsakt mit Drittwirkung 6
Bsp. 5: Zuständigkeit 9
Bsp. 6: Vertrauensschutz aufgrund einer getroffenen Vermögensdisposition 12
Bsp. 7: Regelfrist für die Aufhebbarkeit 14
Bsp. 8: Aufhebung von Verwaltugsakten mit Dauerwirkung 19
Bsp. 9: Wesentliche Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen 22
Bsp. 10: Änderung der tatsächlichen Verhältnisse 22
Bsp. 11: Änderung der rechtlichen Verhältnisse 23
Bsp. 12: Aufhebung mit Wirkung für die Zukunft 23
Bsp. 13: Rechtswidrige Feststellung des Grundanspruchs 29
Bsp. 14: Anwendbarkeit des § 49 SGB X bei zwei gleichlautenden Bescheiden 30
Verzeichnis der Tabellen
Tab. 1: Verwaltungsakte mit Dauerwirkung .............................................................. 21
Tab. 2: Abschmelzen von Leistungen ....................................................................... 28
Tab. 3: Anwendungsfelder für § 49 SGB X ............................................................... 30