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# 25/2014 4,50 euro Asyl ISSN 1863-1134 Hinterland25_Hinterland 01/06 10.02.14 10:15 Seite 1

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Page 1: Asyl - borderline-europe.de...über die Arbeit von Pro Asyl Interview von Ronja Morgenthaler 46 ... 30.000 Dublin-Entscheidungen. Rechnet man diese Zah-len in die Anerkennungsstatistik

# 25/2014 4,50 euro

AsylIS

SN

1863-1

134

Hinterland25_Hinterland 01/06 10.02.14 10:15 Seite 1

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Gemeinschaftsausgabe Hinterland #25 & iz3w #441

Februar 2014

IMPRESSUM

Titel: Leona Goldstein

Herausgeber:Bayerischer Flüchtlingsrat Augsburgerstraße 13 80337 MünchenVerantwortlich: Matthias WeinzierlGemeinsame Redaktion: Agnes Andrae, Martina Backes, Andrea Böttcher,Dorothee Chlumsky, Katrin Dietrich, Florian Feichtmeier, Joana Hofstetter, Ralf Kienzler, Ronja Morgenthaler, Patricia Reineck, Tom Reiss,Winfried Rust, Till Schmidt, Christian Stock,Sarah Stoll, Matthias Weinzierl

Namentlich gekennzeichnete Beiträge müssen nichtunbedingt die Meinung der Redaktion wiedergeben.

Kontakt: [email protected]: Matthias WeinzierlDruck: ulenspiegel druck gmbh, Birkenstraße 3, 82346 AndechsAuflage: 1.500 StückWebsite: Anton KaunAnzeigen: [email protected]: 21,00 EuroAbo-Bestellung: [email protected]

www.hinterland-magazin.de

gefördert von der UNO-Flüchtlingshilfe

Eigentumsvorbehalt:Diese Zeitschrift ist solange Eigentum des Absenders, bissie dem Gefangenen persönlich ausgehändigt worden ist.Zur-Habe-Nahme ist keine persönliche Aushändigung imSinne des Vorbehalts. Wird die Zeitschrift dem Gefange-nen nicht ausgehändigt, so ist sie dem Absender mit demGrund der Nichtaushändigung in Form eines rechtsmit-telfähigen Bescheides zurückzusenden.

am 21. Januar ertranken vor der griechischen

Insel Farmakonisi drei Frauen und neun Kin-

der. Sie waren Insassen eines mit afghanischen

und syrischen Flüchtlingen besetzten Bootes,

das von der griechischen Küstenwache aufge-

bracht wurde. Überlebende berichten, die Küs -

tenwache habe das Boot absichtlich mit viel zu

hoher Geschwindigkeit geschleppt, so dass es

kenterte. Auch die weiteren Umstände lassen

eine „Push-back-Operation“ vermuten, mit der

die Asylsuchenden am Betreten eines EU-Mit-

gliedstaates gehindert werden sollen.

Im Oktober 2013 ertranken vor Lampedusa

vierhundert Bootsflüchtlinge. Die Refugees der

Gruppe „Lampedusa in Hamburg“ schrieben

dazu: „Die wohl schlimmste Flüchtlingstragö-

die der letzten Zeit war kein trauriger Einzel-

fall, sondern das direkte Resultat der mörde-

rischen EU-Asylpolitik, die seit 1993 schon über

16.000 Tote gefordert hat.“

Asylpolitik ist in EU-Europa heute de facto eine

proaktive Asylverhinderungspolitik. Es geht um

rücksichtslose Abwehr und Abschreckung von

Asylsuchenden, ungeachtet der konkreten

Gründe für ihre Flucht. Politikerinnen und Po-

litiker mögen gelegentlich menschenrechtliche

Sonntagsreden halten, doch im asylpolitischen

Alltag ist von Empathie für die Opfer von Ver-

folgung nichts zu spüren. Mehr noch: Unzäh-

lige Beispiele zeugen von Rassismus gegen über

Geflüchteten – weltweit. Wie Gesetzgebung, in-

stitutionelle Praxis, mediale Hetze und ein ras-

sistischer Mob zusammenspielen können, zeigt

etwa die faktische Abschaffung des Rechts auf

Asyl 1993 in Deutschland.

Dabei ist das Recht auf Asyl eines der funda-

mentalen Menschenrechte, die nach 1945 im

Rahmen der UN näher bestimmt wurden. Die

Genfer Flüchtlingskonvention und weitere Ab-

kommen verlangen von den Nationalstaaten

den Schutz politisch Verfolgter, in vielen na-

tionalen Verfassungen und Gesetzgebungen

wird ihnen daher Asyl zugestanden. Doch

nicht nur in Europa wird dieses Grundrecht

mit Füßen getreten. Flüchtlingen wird durch

Gesetzesänderungen und Verwaltungsvor-

schriften systematisch die Möglichkeit genom-

men, Asyl in Anspruch zu nehmen. Während

Politikerinnen und Politiker blutige Bürger-

kriege wie in Syrien beklagen, weigern sie sich,

mehr als nur eine Handvoll Flüchtender auf-

zunehmen. Ähnliches gilt für Asylsuchende aus

Libyen, wo die westliche Intervention ihren Teil

dazu beitrug, dass viele Menschen flüchten

mussten.

Unser Themenschwerpunkt will diese jahr-

zehntelange Entwicklung genauer in den Blick

nehmen und die fatalen Folgen für die Ge-

flüchteten herausstellen. Letztere sollen dabei

nicht auf einen Opferstatus reduziert werden.

Die kämpferischen Bewegungen der Refugees

zeigen, wie sehr sie sich als Akteurinnen und

Akteure verstehen, die ihr Leben selbst in die

Hand nehmen wollen.

Der Themenschwerpunkt entstand in enger Zu-

sammenarbeit der befreundeten Redaktionen

von Hinterland und iz3w, die ansonsten un-

abhängig voneinander arbeiten und ein eige-

nes Profil haben. Doch vieles eint uns politisch,

etwa die Empörung über die mörderische Asyl-

politik und die Motivation, mit publizistischen

Mitteln dagegen zu protestieren. Die meisten

Texte erscheinen in beiden Zeitschriften, in der

Hinterland werden jedoch teilweise längere

Versionen und einige zusätzliche Beiträge prä-

sentiert.

Unser gemeinsamer Schwerpunkt soll Leserin-

nen und Leser dazu motivieren, die jeweils an-

dere Zeitschrift näher kennen zu lernen. Vor

allem aber rufen wir dazu auf, sich der vor-

herrschenden Asylpolitik aktiv entgegenzustel-

len und Geflüchtete zu unterstützen.

AsylLiebe Leserinnen & Leser,

Wir danken der Amadeu Antonio Stiftung

und der Stiftung :do für die Unterstützung

dieses Themenschwerpunktes.

Viel Spaß bei der Lektüre!

Hinterland-Redaktion & iz3w-Redaktion

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4

Zitiert & kommentiert

Von Hubert Heinhold

a s y l

5

DaHeim

Eindrücke aus zwei Asyllagern in der Oberpfalz

Eine Fotostrecke von Mansour Aalam

12

Mehr als nur humanitär

Das Recht auf Asyl als Kern von Recht

Von Micha Brumlik

16

Koste es, was es wolle

Der EU-Grenzpolitik geht es

um die Verhinderung von Migration

Von Bernd Kasparek

21

Vom Schützen und Nützen

Wie sich das Bleiberecht an ökonomischer

Nützlichkeit orientiert

Von Stephan Dünnwald

26

„Migration in kontrollierte Bahnen lenken“

Fabian Georgi über die Bedeutung der IOM

Interview von Till Schmidt

30

Australien macht Druck

Indonesien: Schlechte Voraussetzungen

für Asylsuchende

Von Antje Missbach

34

„Der Flüchtlingspass hilft hier nichts”

Ecuador: Kolumbianische Flüchtlinge im

Dilemma

Von Sebastian Muy

38

Bewegung am Bosporus

Die Türkei wird zur EU-Außengrenze

Von Brigitte Suter

43

„Gesetze sind veränderbar“

Geschäftsführer Günter Burkhardt

über die Arbeit von Pro Asyl

Interview von Ronja Morgenthaler

46

Der Einzelfall zählt

Pro Asyl-Mitarbeiter Dirk Morlok

über den Alltag als Telefonberater

Interview von Matthias Weinzierl

50

Scheitern auf höherem Niveau

Bilanz zu den Protesten der Refugees in Wien

Von Ilker Ataç und Monika Mokre

54

Böse Bosse

Wie mit dem Schleppereivorwurf in

Österreich Refugees kriminalisiert werden

Von Katharina Menschick

56

Freie Radikale

Eine Positionierung zu den Interventionen

der Non-Citizens-Bewegung

Von Christian Jakob

60

Asyl statt Geheimhaltung

Hohe Hürden für verfolgte Homosexuelle

Von Klaus Jetz

63

Gegen die organisierte Übergriffigkeit

Sozialarbeiterin Valeska Siegert

über das Frauen-Projekt Lia

Interview von Agnes Andrae

65

Das Fremde im Eigenen

Überlegungen zu Begrifflichkeiten und dem

gespaltenen Verhältnis von Asyl und Exil

Von Tom Reiss

69

Kontinuierliche Verweigerung

Die Geschichte des Asyls

während des Nationalsozialismus

Von Andreas Marquet

p o s t k o l on i a l

72

Gespenster/Ge/Schichten

mapping.postkolonial.net stellt sich vor

Von Zara Pfeiffer

k u l t u r k r a m

75

Bis an die Glasdecke

Tunay Önder & Björn Bicker diskutieren über

„migrantische“ Teilhabe am Theaterbetrieb.

Interview von Matthias Weinzierl

80

Ohne politische und kulturelle Repräsentation

Christian Werthschulte über britische Bassmu-

sik, Multikulturalismus und Sozialpolitik im UK

Interview von Moritz Ege

l e s e n

85

„Welcome Europe“

Rezension von Stephan Dünnwald

n a c h g e h a k t

86

Liebe iz3w,

Eine Líebeserklärung an eine

Freiburger Institution

Von der Hinterland-Reaktion

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z i t i e r t & k o m m e n t i e r t

Hubert Heinhold ist Rechtsanwalt

und im Vorstand

des Fördervereins

Bayerischer

Flüchtlingsrat e.V.

und bei Pro Asyl.

4

„Der Europäische Rat ist entschlossen, die Union zu einem Raum der Freiheit,

der Sicherheit und des Rechtsauszubauen.“

(Schlussfolgerungen der Sitzung des Europäischen Rates vom 15./16.10.1999 in Tampere)

Auch wenn ich mich freue, die Grenzen zu denNachbarstaaten ohne Formalitäten überschreitenzu können, und auch ansonsten die Kleinstaa-

terei satt habe, werde ich bei solchen Sätzen zum Eu-ropagegner – erst recht dann, wenn die salbungsvol-len Worte aus dem Mund unserer Politikerinnen undPolitiker hervorquellen. Denn solche Worte beschöni-gen die Realität und zementieren diese. Für mehr als2.000 Bootsflüchtlinge endete 2013 diese Freiheit, be-vor sie begann – im Mittelmeer und im Atlantik. Werdie Festung Europa überwand, fand sich oft in gefäng-nisähnlichen Lagern in Sicherheit wieder, die Freiheitwar begrenzt auf den Erst-Staat, das Recht oft auf einDahinvegetieren. Ein gewährter Schutzstatus ist eineMogelpackung, wenn es in dem Land keine Arbeit,Wohnung und Sozialhilfe gibt, wohl aber Arbeitslosig-keit und Angriffe wegen des „Fremdseins“ und derHautfarbe. Das Recht auf Freizügigkeit, darauf, das ei-gene Leben innerhalb Europas in die Hand zu nehmen,wird den Betroffenen trotz Schutzgewährung verwehrt.Der europarechtliche Flüchtlingsstatus ist eine Wäh-rung, die nur der Anerkennungsstaat akzeptiert.

Trotz alledem schlagen sich Asylsuchende nachDeutschland durch. Etwa 127.000 Menschen beantrag-ten in Deutschland in 2013 Schutz, etwa 25 Prozent vonihnen erhielten ihn. Es könnten mehr sein. Denn vonden ungefähr 81.000 Entscheidungen waren ungefähr30.000 Dublin-Entscheidungen. Rechnet man diese Zah-len in die Anerkennungsstatistik hinein, ergibt sich eineSchutzquote von etwa 40 Prozent. Unterließe man denUnfug der Dublin-Verteilungen, müsste sich dasBundesamt für Migration und Flüchtlinge nicht zu ei-nem Drittel damit befassen, herauszufinden, welchereuropäische Staat zuständig ist, sondern könnte selbstrasch und effektiv Hilfe leisten. Dies wäre ein Schrittweg vom europäischen Bürokratismus; und ein Schritthin zum Ziel eines Raums der Freiheit, der Sicherheitund des Rechts, sowie ein effektives Mittel gegen dieEuropamüdigkeit.<

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Eindrücke aus zwei Asyllagern in der Oberpfalz.Eine Fotostrecke von Mansour Aalam

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Leben in der Warteschleife. Die alltägliche Langeweile wird mit der Zeit zur psychischen Belastung.

Vom Sperrmüll. Ein ausgedienter Rechner ist das letzte, verbliebene Fenster zur Welt.

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Im Dunkeln. Die Unterkunft liegt außerhalb der Kreisstadt und nachts ist weit und breit kein Licht zu sehen.

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Wohnen im Grünen. Ein Bewohner: „Zuerst genießt du die Aussicht und die Ruhe, dann macht sie dich fertig.“

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Der Fotograf Mansour Aalam hat über die Herbst-und Wintermonate regelmäßig Freunde in Asyl-lagern in der Oberpfalz, in Tirschenreuth und

in Weiden, besucht und fotografiert. Herausgekommenist dabei eine Serie von atmosphärischen Einblicken insLeben in einer Asylunterkunft und einfühlsame Porträts.Viele der Bilder haben etwas gemeinsam: Sie berich-ten auf bedrückende Weise von Einsamkeit und Trost-losigkeit.

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Die Karawane. In die größere Stadt muss man laufen. Der Bus fährt selten und ist zu teuer.

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Beethoven oder Bach gefällig?Der „Freizeitraum“ in der Abschiebehaftanstalt in Köpenick.

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Am 5. Januar dieses Jahres demonstrierten inTel Aviv mehr als dreißigtausend Flüchtlingeaus Eritrea, dem Sudan und Äthiopien gegen

ein neues Gesetz der israelischen Regierung. Esermöglicht der Polizei, Flüchtlinge aus afrikanischenLändern ohne Angabe von Gründen auf unbestimmteZeit ins Gefängnis zu stecken. Seit Monaten schon istdie israelische Innenpolitik mit der Frage befasst, wiesich das Land zu den afrikanischen Flüchtlingenverhalten soll. 2012 waren es annähernd sechzig-tausend Menschen, die ohne gültige Papiere viaÄgypten über die Sinaiwüste in den Staat Israelgekommen waren, um dort Arbeit oder Asyl zufinden, um sich vor Hunger und Verfolgung zu retten.

Anders als im Südosten der USA und anders auch alsim Fall der EU hat Israel bisher keine hermetischeSperrung seiner südwestlichen Grenze vorgenommen.Eine kleinere Zahl von Flüchtlingen hält sich in Eilatauf, während die Mehrheit in Tel Aviv lebt und dortimmer wieder zum Anlass für fremdenfeindliche,rassistische Demonstrationen erboster AnwohnerIn-nen wird.

Auf die Frage „Hat Israel aufgrund seiner Geschichteeine größere Verantwortung gegenüber den Flüchtlin-gen?“ hat der aus dem Sudan kommende Sprecherdes African Refugee Center, der seit 2009 in Israellebende Mutasim Ali, folgendes geantwortet: „Be -

stimmt. Viele Flüchtlinge haben sich für eine Fluchtin den jüdischen Staat entschieden, weil sie davonausgegangen sind, hier mit mehr Verständnis undRespekt behandelt zu werden als anderswo. Das istnicht der Fall. Wenn Israel die Flüchtlinge nichtversteht, wer dann?“ Gleichwohl: Niemand im Wes -ten, sei es in den USA oder in der EU mit ihrerGrenz schutzagentur Frontex und der mörderischenWassergrenze, hat das moralische Recht, sich über dieschäbige Behandlung der afrikanischen Flüchtlinge inIsrael zu erheben.

Ursprünge humaner Flüchtlingspolitik

Gleichwohl ist der Konflikt in Israel beispielhaft, undzwar nicht nur deshalb, weil sich tausende jüdischeFlüchtlinge aus Mitteleuropa in den Jahren bis 1938vor dem Nationalsozialismus ins damalige Palästinaretten konnten, auch nicht nur deshalb, weil dortnach 1948 hunderttausende Holocaustüberlebendeeine neue Heimat gefunden haben. Der Konflikt istvor allem auch deshalb beispielhaft, weil dasmythische Gründungsereignis der jüdischen Religion,der Auszug aus Ägypten, eine Befreiungs- undFlüchtlingsgeschichte ist. Davon zeugt nicht nur diemosaische, wahrscheinlich im fünften vorchristlichenJahrhundert kodifizierte sinaitische Weisung. Auch inder noch einmal dreihundert Jahre älteren prophe -tischen Verkündigung in 2. Mose 23,9 heißt es: „Einen

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Mehr als nur humanitär

Foto: Leona Goldstein

Das Recht auf Asyl ist der Kern von Recht und Rechtssicherheit. Von Micha Brumlik

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Fremden sollst Du nicht quälen. Denn ihr wisst, wiedem Fremden zumute ist, seid ihr doch selbst Fremdegewesen im Lande Ägypten.“

Jenseits aller Religion hat man es bei diesen Bibel-stellen mit dem Beleg dafür zu tun, dass das, washeute als „Flüchtlingsproblem“ bezeichnet wird,bereits die Hochkulturen der Eisenzeit beschäftigte,also Gesellschaften im Übergang zur Staatsbildung.Seit bald dreitausend Jahren sind politisch organi -sierte Territorien mit der Frage konfrontiert, wie siesich zu Personen verhalten sollen, die aus Not undohne Eroberungsabsicht ihren Grenzraum überschrei -ten.

Es war die Philosophie der Aufklärung, namentlichImmanuel Kant, die sich diesem Problem unter demBegriff eines möglichen, eines denkbaren „Weltbür -gerrechts“ genähert hat. So hat Kant in seiner Schrift„Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ von 1798die Idee eines „Weltbürger-rechts“ konzipiert, einesRechts, in dem das „Rechtdes Erdenbürgers“ postuliertwird, „die Gemeinschaft mitallen zu versuch en, und zudiesem Zweck alle Gegendender Erde zu besuchen, wennes gleich nicht ein Recht derAnsie delung auf dem Boden eines anderen Volks (iusincolatus) ist, als zu welchem ein besonderer Vertragerfordert wird.“

Zwei Jahre zuvor schon, 1796, hatte Kant in seinerSchrift „Zum ewigen Frieden“ zur Idee eines Welt-bürgerrechts geäußert: „Alle rechtliche Verfassungaber ist, was die Personen betrifft, die nach demWeltbürgerrecht, so fern Menschen und Staaten inäußerem auf einander einfließenden Verhältnisstehend, als Bürger eines allgemeinen Menschenstaatsanzusehen sind (ius cosmopoliticum). Diese Ein-teilung ist nicht willkürlich, sondern notwendig inBeziehung auf die Idee vom ewigen Frieden. Dennwenn nur einer von diesen im Verhältnisse desphysischen Einflusses auf den andern, und doch imNaturzustande wäre, so würde damit der Zustand desKrieges verbunden sein, von dem befreit zu werdenhier eben die Absicht ist.“

Zuvor hatte Kant postuliert, dass der von ihmangenom mene, auf jeden Fall zu überwindendeNaturzu stand darin besteht, Einzel nen dieRechtssicherheit zu nehmen. Daher könne der sogefährdete Einzelne jene Personen oder Staaten, die

diese Rechtssicherheit nicht zu garantieren bereitsind, sogar nötigen, entweder in einen gemein-schaftlich-gesetzlichen Zustand zu treten oder ausseiner Nachbarschaft zu weichen. Freilich sieht mansofort, dass dies gerade nicht die Lage von politischVerfolgten oder anderweitigen Flüchtlingen ist, die janicht zuletzt dadurch gekennzeichnet sind, dass sieüber keinerlei Druckmittel verfügen. Gleichwohl:Bedeutsam ist an Kants Erläuterungen, dass ohne einWeltbürgerrecht völlige Rechtssicherheit nicht einmalin einem einzelnen Staat zu erlangen ist, dass aberdas anzustrebende Weltbürgerrecht zumindest eineallgemeine Freizügigkeit beinhalten sollte.

Reales Weltbürgertum

Dieser Frage widmet auch die neueste politischePhilosophie ihre Anstrengungen. Zum Beispiel SeylaBenhabib, die sich in dem von ihr 2008 herausgege -benen Sammelband „Kosmopolitismus und Demo -

kratie“ mit den philosophisch -en Grundlagen kosmo -politischer Normen auseinan-dersetzt und dabei we sent lichauf Kant Bezug nimmt; aberauch Thomas McCarthy, dersich in seiner Monographie„Race, Empire and the Idea ofHuman Development“ (2009)

mit dem Paradox auseinandersetzt, dass ein universa -listisch gesonnener Philosoph wie Kant gleichwohlherrschaftsdienliche Rassentheorien unterstützte; seies die in Utrecht lehrende Pauline Kleingeld, die inihrem Buch „Kant and Cosmopolitanism. The Philo -sophical Ideal of World Citizenship“ (2012) nachweist,dass und wie genau diese Philosophie die Basis fürein reales Weltbürgertum gelegt hat.

Kant gab nämlich seinem Weltbürgerrecht – umjedem kolonialistischen Missbrauch vorzubeugen –folgenden Wortlaut: „Das Weltbürgerrecht soll aufBedingungen der allgemeinen Hospitalität einge -schränkt sein.“ Hospitalität aber umfasst nach Kantdas Recht eines Fremdlings, „seiner Ankunft auf demBoden eines anderen wegen, von diesem nichtfeindselig behandelt zu werden“. Kant postuliertdarüber hinaus, dass „der andere“ den „Fremdling“nur abweisen kann, „wenn es ohne seinen Unterganggeschehen kann.“

Das ist die entscheidende Passage: Das Weltbürger-recht, das „Hospitalitätsrecht“, verbietet das Abweisenvon Fremden, sofern es den absehbaren Untergangdes „Fremdlings“ zur Folge hat. Aus diesem Verbot

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Die Asylverhinderungspolitik der Bundesrepublik ist schlichtgrundgesetzwidrig

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folgt eine positive Konsequenz: Die Pflicht zurAufnahme aller an die Grenzen eines Landes Kom-menden, sofern ihre Zurückweisung nicht mitmöglichen schweren Beeinträchtigungen ihrer Würde,ihrer Gesundheit oder ihres Lebens verbunden ist.Präzisiert man dieses Prinzip um die in der global-isierten Welt unabweisbar gewordene Einsicht, dass„politische“ Verfolgung keineswegs notwendig an diegezielte Verfolgung durch staatliche Akteure gebun-den ist, sondern auch an politisch verursachteFluchtgründe, so kann daraus nichts anderes folgen,als dass Bürgerkriegsflüchtlinge allemal asylberechtigtsind.

Das sieht eine für die Globalisierung sensibilisiertepolitische Philosophie und ihre Ethik nicht anders.Seyla Benhabib stellte einen wesentlichen Fortschrittgegenüber Kants Postulaten der Gastfreundschaft fest:„Der Status des Fremden ist durch staatliche wiedurch internationale Gesetze geschützt; der Gast istnicht länger Gast, sondern ein ‚resident alien’, wie esin den USA heißt, oder ein ‚foreign citizen’, ein„ausländischer Mitbürger“, wie Europäer sagen.“ Manwird indes fragen müssen, ob sich gegenwärtig inden Ländern des Westens nicht eine Gegenbewegungabzeichnet, jene Anfänge weltbürgerlicher Vergemein-schaftung wieder zurückzunehmen, wovon dieFlüchtlingspolitik der EU zeugt.

Das „Recht auf Rechte“

Den Bürgerkriegsflüchtlingen steht das wahrscheinlichfür die Zukunft immer gravierender werdendeProblem von „Klimaflüchtlingen“ gegenüber – alsoFlüchtlingen, die durch die Folgen des Klimawandelsin Not geraten. Unbeschadet der Einsicht, dass dieseProblematik nur langfristig, klimapolitisch undsoziostrukturell angegangen werden kann, verbleibtdie Frage, ob die Opfer von Umweltkatastrophen alsFlüchtlinge und damit als Asylberechtigte anzusehensind. Das wäre jedenfalls dann der Fall, wenn dieFluchtanlässe durch klimapolitisches Versagenverursacht worden sind und eine unmittelbare Hilfeim eigenen Land aufgrund des Versagens von dessenpolitischen Instanzen nicht geleistet werden konnte.Was aber, wenn sich Umweltkatastrophen inentstaatlichten Regionen, in „failed states“ ereignen?Auch in diesem Fall wäre – sofern die bisherigeArgumentation stimmig war – Asyl zu gewähren.

Damit gewinnt die Flüchtlings- und Asylproblematiküber moralische und humanitäre Aspekte hinaus eineeminent politische Bedeutung. Lassen sich doch die– von beinahe allen Staaten der Welt ratifizierten oder

unterschriebenen – einschlägigen Passagen der UN-Flüchtlingskonvention im kantischen Sinne als Kerneeines solchen kosmopolitischen Weltbürgerrechtsverstehen. Hannah Arendt hatte aus der Erfahrungder absoluten Rechtlosigkeit von Flüchtlingen vordem und während des Nationalsozialismus 1949 ineinem Zeitschriftenbeitrag ein fundamentales Rechtder Menschen, ein „Recht auf Rechte“, postuliert unddaraus später eine massive Kritik an nicht national-staatlich verbürgten Menschenrechten entfaltet. DerUrheber dieser Formulierung war Hegel, der schon1819/20 in einer Vorlesung zur Rechtsphilosophie ineiner Bemerkung zur Sklaverei äußerte: „Das absoluteRecht ist, Rechte zu haben.“

Nimmt man beides, Kants Postulat eines Weltbürger-rechts und Hegels/Arendts absolutes „Recht aufRechte“ zusammen, so zeigt sich, dass der Kampf fürdas allgemeine Asylrecht – nicht nur im engstenSinne politisch verfolgter Menschen – weit mehr alsnur eine humanitäre Angelegenheit darstellt: Dort, woFlüchtlinge kein Asyl erhalten oder nicht einmal dieChance haben, es unbehelligt beantragen zu können,ohne um Leib, Leben und Gesundheit fürchten zumüssen, gibt es überhaupt kein Recht, das seinenNamen verdient. Recht und Rechtssicherheit sind inder globalisierten Welt nur noch kosmopolitisch zudenken. Das Recht auf Asyl aber ist beider unaufheb-barer Kern.

Das ist keine moralische, sondern eine auch rechtlichbegründete Feststellung, die sich aus den von derBundesrepublik geschlossenen internationalenVerträgen sowie aus dem Grundgesetz, insbesonderedem Artikel 1 zur Unantastbarkeit der Menschen-würde, zwingend ergibt. Die Asylverhinderungspolitikvon EU und der Bundesrepublik ist daher schlichtgrundgesetzwidrig. Womöglich haben es nicht alleMütter und Väter des Grundgesetzes geahnt: Tatsäch-lich enthält diese Verfassung den Kern des Weltbür -ger rechts.<

a s y l

Micha Brumlik ist emeritierter

Professor der Goethe

Universität Frankfurt

am Main. Er lehrt

und forscht derzeit

als Senior Advisor

am Zentrum Jüdi -

sche Studien Berlin/

Brandenburg und

ist Mitherausgeber

der „Blätter für deut -

sche und internatio-

nale Politik“.

15

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Page 17: Asyl - borderline-europe.de...über die Arbeit von Pro Asyl Interview von Ronja Morgenthaler 46 ... 30.000 Dublin-Entscheidungen. Rechnet man diese Zah-len in die Anerkennungsstatistik

Die Tragödie, die sich in der Nacht auf den 3.Oktober 2013 vor der italienischen InselLampedusa im Mittelmeer zutrug, holte mit

aller Macht ein Thema zurück in die öffentlicheDebatte, das seit vielen Jahren immer wieder auf-taucht, aber ebenso schnell wieder verschwindet: DasSterben an Europas Grenzen. Ein Schiff mit bis zu500 Flüchtlingen, welches 12 Stunden zuvor in Libyenaufgebrochen war, erlitt Schiffbruch und kenterte. Nurrund 150 Menschen konnten gerettet werden.

Leider, so muss hinzugefügt werden, handelt es sichbei diesem Drama keineswegs um einen Einzelfall,auch wenn diesmal besonders viele Menschen umsLeben kamen. Gerade rund um die italienische InselLampedusa, die weit südlich im Mittelmeer liegt -südlicher noch als Malta und nahe der nordafrikani -schen Küste - ereignen sich immer wieder Schiffs -unglücke, bei denen Flüchtlinge sterben. Auch ananderen Orten an der Außengrenze der EuropäischenUnion kommt es immer wieder zu Dramen. Erst MitteSeptember 2013 versuchten Flüchtlinge von Marokkoaus, in die spanischen Exklaven Ceuta und Melillavorzudringen. Die beiden Städte umgibt die einzigeLandgrenze zwischen Afrika und der EuropäischenUnion. Sie waren schon 2005 – und seitdem immerwieder – Orte, an denen es zum Sturm auf dieGrenzen Europas kam. Nach den Ereignissen von2005, die in Europa einen starken medialen Widerhallfanden, wurden rund um die Städte die Grenzanlagenverstärkt, die Grenzzäune auf sechs Meter erhöht unddurch Stacheldraht, Kameras und Bewegungsmelderergänzt, jedoch offensichtlich ohne abschreckendenEffekt.

Auch an der griechisch-türkischen Grenze - sowohlder Landgrenze im Norden als auch der Seegrenzezwischen der türkischen Küste und den griechischenÄgäis-Inseln, die an manchen Stellen nur durchwenige Kilometer Meer getrennt werden - versuchentagein, tagaus Flüchtlinge, die Grenze zur Europä -

ischen Union zu überwinden, ohne dabei gefasst zuwerden. Auch dort kommt es immer wieder zuTodesfällen und zu illegalen Zurückweisungen vonFlüchtlingen an der Grenze.

Besonderheiten der EU-Außengrenze

Diese Schilderungen stehen exemplarisch für das,was sich an allen Grenzorten der Europäischen Union– Häfen und Flughäfen eingeschlossen – tagtäglichabspielt. Damit steht die konkrete Ausgestaltung derGrenze der Europäischen Union für eine europäischeMigrations- und Asylpolitik, die in den letzten zweiJahrzehnten entstanden ist. Das Konzept und dasVerständnis von Außengrenze, wie es sich in derEuropäischen Union entwickelt hat, ist nicht lösbarvon migrationspolitischen Erwägungen, auch wennweitere politische Fragestellungen, wie etwa Zoll,Handel, und – besonders nach den Anschlägen des11. September 2001 – Sicherheit und Terrorismus eineRolle in der Ausgestaltung der Grenze gespielt haben.

Die europäische Außengrenze stellt auch einenVorgriff auf eine noch zu verwirklichende territorialeUnion in Europa dar und unterscheidet sich daher inwesentlichen Punkten von einem Modell national-staatlicher Souveränität und Zugehörigkeit, wie es inKonzepten nationalstaatlicher Grenzen aufscheint.Dies betrifft einerseits ihre Loslösung von dem Begriffeiner tatsächlichen Grenzlinie um ein klar definiertesTerritorium, andererseits aber auch die Multiplikationvon Akteurinnen und Akteuren an der Grenze. DiePolitik und Praxis der europäischen Grenze istgeprägt durch ein Ensemble verschiedenster na-tionaler, supranationaler, internationaler, zwischen-staatlicher und nichtstaatlicher Akteurinnen undAkteure, und nicht zuletzt durch die vielfältigenFormen und Bewegungen der Migration.

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Koste es, was es wolleAuch nach der Katastrophe von Lampedusa geht es der europäischen Grenzpolitik um die Verhinderungvon Migration. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Grenzschutzagentur Frontex und die Zusammenar-beit mit den Anrainerstaaten. Von Bernd Kasparek

Foto: Archiv F10, 2008

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Die Schaffung des Schengenraums

Mithin wird der Vertrag von Amsterdam, der 1999 inKraft trat, als die Geburtsstunde einer europäisiertenMigrations- und Grenzpolitik angesehen. Um jedochzu verstehen, wieso die Migrationspolitik der EU sovehement auf das Instrument der Grenze setzt undauf die Verhinderung und Kontrolle von Migrationausgerichtet ist, muss weiter zurückgeblickt werden.

1985 unterzeichnetenDelegierte Deutschlands,Frankreichs, der Niederlande,Belgien und Luxemburgs imluxemburgischen KurortSchengen das gleichnamigeAbkommen. Inhalt desAbkommens war, auf Personenkontrollen an gemein-samen Grenzen zu verzichten und im Gegenzug dieAußengrenze des neu konstruierten Schengenraumszu schützen. Die Freizügigkeit in diesem Raum solltedurch eine verstärkte Sicherung der Grenzen zu denLändern außerhalb des Schengener Abkommens, densogenannten Drittstaaten, gewährleistet werden.

Das Schengener Abkommen markiert die Geburt dereuropäischen Außengrenze als Institution. DieAbwehr von Flucht- und Migrationsbewegungen warihr von Anfang an als zentrales Moment eingeschrie -ben. Wichtigstes technisches Instrument der Schen-gener Verträge war von Anfang an die erste suprana-tionale europäische Fahndungsdatenbank SIS(Schengener Informationssystem), die einen grenz -überschreitenden Austausch von Daten, vor allemüber Drittstaatsangehörige – Migrantinnen, Migrantenund Flüchtlinge – ermöglichte und paradigmatisch fürdie polizeiliche Logik des Schengenraums steht.

Die tatsächliche Umsetzung Schengens sollte jedochnoch ein weiteres Jahrzehnt dauern. 1990 wurde dasSchengener Durchführungsübereinkommen, kurzSchengen II, unterzeichnet. Darin wurden diekonkreten Verfahrensabläufe der Umsetzung desSchengener Übereinkommens in gesetzlicher, abervor allem auch technischer Hinsicht festgelegt. Erst1995 trat Schengen II in Kraft und der Vertrag vonAmsterdam inkorporierte das Schengener Ver-tragswerk in den Rechtsrahmen der EU.

Frontex als Laboratorium

Im Jahr 2002 legt die Europäische Kommission ihrPapier „Auf dem Weg zu einem integrierten Grenz -schutz an den Außengrenzen der EU-Mitgliedstaaten“

vor. Darin wird die Idee einer Europäischen Grenz -schutzagentur aufgegriffen und präzisiert. Zwarlehnen die EU-Mitgliedstaaten diese Idee ab, doch am26. Oktober 2004 verabschiedete der Rat der Eu-ropäischen Union die Verordnung (EG) 2007/2004 zurSchaffung von Frontex, der Europäischen Grenz -schutzagentur. Der martialisch klingende Namebezieht sich auf den französischen Begriff fürAußengrenze, „frontières extérieures“.

Frontex nahm im Jahr 2005 inihrem Hauptquartier inWarschau die Arbeit auf. Dortarbeiten mittlerweile knapp300 Angestellte, die meistensaus dem Grenz schutzapparatder EU-Mitgliedstaaten

kommen. Frontex selbst ist kaum involviert in dietagtägliche Überwachung und Kontrolle der Grenzevor Ort, verfügt auch gar nicht über solches Personal.Die hoheitliche Aufgabe der Grenzsicherung verbleibtbei den Grenzschutzeinheiten der Mitgliedstaaten. Andiesem wichtigen Detail scheiterte der Kommissions-Vorstoß von 2002, der die Schaffung einer tatsäch-lichen, mit entsprechenden Befugnissen ausgestat-teten Europä ischen Grenzschutzpolizei vorsah.

Die hauptsächliche Aufgabe von Frontex ist dieKoordinierung der Zusammenarbeit der Grenz -schutzpolizeien der EU-Mitgliedstaaten.1 Frontex stelltdaher mehr ein Laboratorium dar, in dem die neuenGrenzen als Mittel der Kontrolle von Migrationerdacht, erforscht und selektiv umgesetzt werden.Frontex ist in diesem Sinne die institutionelleGerinnung eines europäischen Prozesses, mittelsdessen eine europäische Außengrenze überhaupt erstals politische Einrichtung entsteht.

Westafrikanische Route verschiebt sich

In der sogenannten „Risikoanalyse“ sammelt undbewertet Frontex die Geschehnisse an der Außen-grenze, um zum einen neue Entwicklungen in derPraxis der klandestinen Grenzüberschreitung aufzu -spüren, zum anderen aber auch, um die Entwicklungder irregulären Migration nach Europa zu prognos-tizieren. Weiter ist Frontex im Forschungsbereichsowie in der Ausbildung von Grenzschutzpersonal inEuropa tätig.

Die Hauptaktivität von Frontex liegt jedoch imoperativen Bereich. Zumeist von Frontex initiiert,finden an den verschiedensten Orten der Außen-grenze sogenannte „Gemeinsame Operationen“ statt,

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Das Schengener Abkommen markiert die Geburt der europäischen Außengrenze als Institution

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in der Grenzschutzeinheiten der Mitgliedstaatengemeinsam die Grenze patrouillieren. Das bekann -teste Beispiel ist die Operation „Hera“, die erste undmittlerweile umfangreichste Operation von Frontex.Ihr Ziel ist es, die irreguläre Migration im West -atlantik, ausgehend vor allem von Mauretanien unddem Senegal, zu unterbinden. Die Operation startete2005 auf den Kanarischen Inseln, wo im WesentlichenBefragende eingesetzt wurden, um Migrationsroutenzu identifizieren.

Schnell trat jedoch der operative Aspekt von „Hera“in den Vordergrund: Aufgrund bilateraler AbkommenSpaniens war es der Operation möglich, dieKüstengewässer der beiden afrikanischen LänderMauretanien und Senegal mit eigenen Schiffen zupatrouillieren und Migrantinnen und Migrantenabzufangen und an Land zurückzubringen. Dauerte„Hera“ anfangs nur wenige Wochen, so ist dieOperation mittlerweile rund ums Jahr aktiv. Dadurchwurde die irreguläre Migration im Westatlantikeffektiv blockiert. Die verzweifelten Versuche, dieGrenzzäune von Ceuta und Melilla zu überwinden,sind als Verschiebung der Route aus Westafrika zuverstehen.

Italien kopiert Frontex-Modell

Frontex ist auch im zentralen Mittelmeer, alsozwischen Libyen, Tunesien, Malta und Italien mit denOperationen „Nautilus“ und „Hermes“ aktiv. Dochdort gelang es der Agentur niemals, eine derartzentrale Rolle einzunehmen wie im Westatlantik.Gründe dafür waren einerseits die mangelndeKooperation Libyens während Gaddafis Herrschaft,andererseits Streitigkeiten zwischen Malta und Italiendarüber, welches Land die abgefangenen Migrant -innen und Migranten aufzunehmen habe. Italienkopierte und wendete daher seit 2009 im Alleingangdas westatlantische Modell von Frontex an – also dieGrenzkontrolle vorzuverlagern und in Zusammenar-beit mit Anrainerstaaten durchzuführen.

Grundlage war der sogenannte libysch-italienischeFreundschaftsvertrag von 2008, in dem sich Italien fürdie Verbrechen der Kolonialzeit in Libyenentschuldigte, und der den Weg frei machte für einlibysch-italienisches Kooperationsabkommenbezüglich der Flüchtlingsabwehr. In Folge dessenunterband Libyen die Überfahrt von Flüchtlingen,Migrantinnen und Migranten von libyschem Territo-rium und akzeptierte, dass Italien Flüchtlingsschiffeauf hoher See abfing und deren Insassenunverzüglich – insbesondere ohne Prüfung einer

Schutzbedürftigkeit – nach Libyen zurückschob. Zwarwurde diese Praxis schon damals allgemein kritisiert,da sie gegen das Refoulement-Verbot2 der GenferFlüchtlingskonvention verstößt. Dennoch wurde dasVorgehen Italiens von den anderen EU-Staatenbegrüßt oder zumindest stillschweigend geduldet,während die EU-Kommission sich bemühte, einähnliches Abkommen mit Libyen für die gesamte EUzu verhandeln.

Im Graubereich des Rechts

Auch in der Ägäis ist Frontex aktiv. Schon 2010 hatteFrontex dort die größte Operation in der Geschichteder Agentur ausgerufen, was das europäischeInteresse an einer Lösung der Misere der griechischenGrenz- und Migrationsregimes betont. Frontex hat imHafen von Piräus eine Außenstelle eröffnet, und istauch in der „zweiten Linie“ (Grenzschutzjargon fürAktivitäten hinter der Grenze) aktiv und befragt - wiees auch auf den Kanarischen Inseln der Fall war -inhaftierte Migrantinnen, Migranten und Flüchtlinge.Bei diesen Befragungen geht es keineswegs um dieFeststellung einer besonderen Schutzbedürftigkeit.Denn Frontex ist keine europäische Asylagentur undlegt auch Wert auf diese Feststellung. Vielmehr gehtes um das Erlangen von Wissen über die Schlepper-und Schleusernetzwerke und oftmals um die Feststel-lung der Nationalität der festgehaltenen Flüchtlinge,um Abschiebungen vorzubereiten. Denn das Mandatder Agentur sieht auch die Organisation gemeinsamerAbschiebeflüge vor.

Hervorzuheben an der Agentur ist vor allem, dassihre Operationen an und jenseits der Grenze ineinem Graubereich des Rechts stattfinden. Die Ideeder Exterritorialität ist der Agentur seit ihrer Grün-dung eingeschrieben. Denn die Agentur selbst ist nurschwer kontrollierbar. Dank ihres Rechtsstatus alseuropäische Agentur handelt Frontex relativ autonom.Die eigentliche Kontrolle wird vom Verwaltungsratausgeübt. Darin sind neben zwei Delegierten derEuropäischen Kommission jeweils ein Delegierter derEU-Mitgliedstaaten sowie der Nicht-EU-Mitgliedstaatenim Schengenvertrag (z.B. Schweiz) vertreten. Damitrepräsentiert Frontex die schrittweise Europäisierungdes Grenzregimes in Europa. Erst 2010 konnte sichdie EU dazu durchringen, verbindliche Rechtsregelun-gen für Operationen der Agentur zu verabschieden,doch auch 2013 haben diese noch keine Gültigkeiterlangt.

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Einbeziehung von Anrainerstaaten

Neben den Aktivitäten von Frontex, die auch eineverstärkte Zusammenarbeit mit Grenzschutzagenturenvon Drittstaaten umfassen, ist auch die EuropäischeUnion selbst bemüht, Grenzkontrolltechniken zuexportieren und mit ihrer Hilfe Migrationskontrolle,vermittelt durch die Grenze, schon in Nordafrika undim Kaukasus stattfinden zu lassen. Für den Bereichdes Mittelmeers wurde schon 1995 der sogenannteBarcelona-Prozess initiiert, der das Ziel verfolgt, eineeuro-mediterrane Partnerschaft im Politikfeld derÄußeren und Inneren Sicherheit sowie derDemokratisierungs- und Menschenrechtspolitik zuetablieren.

Hier entsteht, was als „externe Dimension“ vonMigrations- und Grenzpolitik beschrieben wird, alsodas Wissen um die Notwendigkeit der grenzüber-schreitenden Zusammenarbeit zu Zwecken derMigrationskontrolle. Besonders der Sturm auf Ceutaund Melilla 2005 haben dieser Zusammenarbeitweiteren Auftrieb verliehen, denn zu diesem Zeit-punkt setzt sich zumindest auf der Ebene derEuropäischen Kommission die Einsicht durch, dasseine absolute Verhinderung von Migration und Flucht,insbesondere durch technische Maßnahmen derGrenzsicherung, nicht praktikabel ist.

Vielmehr orientiert sich die europäische Politik aufdie Einbeziehung von Anrainerstaaten, wie etwaMarokko, Tunesien, Libyen, aber auch die Türkei unddie Ukraine. Dass dabei vermehrt sicherheits- undmigrationspolitische Prioritäten gesetzt werden undinsbesondere die Frage der Menschenrechte, die auchdie internationalen Vereinbarungen der GenferFlüchtlingskonvention einschließen, in den Hinter-grund gerückt sind, belegt die Zusammenarbeit derEU mit dem Regime Gaddafis in Libyen und dem BenAlis in Tunesien.

Tote billigend in Kauf genommen

Es waren erst die Aufbrüche des „arabischen Früh-lings“ im Jahr 2011, die die beiden Regime hin-wegfegten und damit das System der vorverlagertenGrenze im Mittelmeer zum Einsturz brachten. Der EUkamen quasi über Nacht ihre Kooperationspartnerabhanden, die die Migration mit oftmals sehr brutalenMethoden kontrollierten und Überfahrten nachEuropa unterbanden. Doch die Schengener Grenzehat sich mittlerweile restabilisiert.

In diesem Sinne offenbaren die Todesfälle vor derInsel Lampedusa lediglich erneut, wie kompromisslosdie Grenz- und Migrationspolitik der EU auf dasUnterbinden von Migration ausgerichtet ist: der Bruchvölkerrechtlicher Vereinbarungen und zahllose Totean den Grenzen Europas werden billigend in Kaufgenommen. Nach dem Drama von Lampedusa imOktober ist es dabei, trotz aller öffentlichen Prokla-mationen, nicht zu einer Neuausrichtung europäischerGrenzpolitik gekommen. Der einschlägige Bericht der„Task Force Mediterranean“, die nach dem Unglückprompt eingesetzt wurde, schlägt vor, bisherigePolitiken und Praktiken verstärkt fortzusetzen. Dieoffensichtliche Rhetorik des Humanitarismus, dieauch beim Start des Europäischen Grenzüber -wachungs systems EUROSUR im Dezember 2013deutlich zu vernehmen war, darf nicht darüberhinwegtäuschen, dass es europäischer Grenzpolitikim Kern weiter um die Verhinderung von Migrationgeht – koste es, was es wolle.<

Der Artikel basiert auf „Von Schengen nach Lampedusa,

Ceuta und Piräus: Grenzpolitiken der Europäischen Union“,

erschienen in „Aus Politik und Zeitgeschichte“ 47/2013

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Bernd Kasparekpromoviert über das

europäische Grenz-

und Migrationsre-

gime. Er ist Mitglied

des Vorstands der

Forschungsassozia-

tion bordermonito-

ring.eu und aktiv

beim Netzwerk

Kritische Migrations-

und Grenzregime-

forschung.

20

1 So besagt es auch der

lange Name der Agentur,

Europäische Agentur für die

Koordination der operativen

Zusammenarbeit an den

Außengrenzen der Mitglied -

staaten der Europäischen

Union.

2 Das Refoulement-Verbot

untersagt die Abschiebung

von Schutzsuchenden in ein

Land, in dem ihnen Scha -

den an Leib und Leben

droht.

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Vom Schützen

und Nützen

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Fast möchte sich der Eindruck aufdrängen, es

herrsche Tauwetter in der deutschen Flücht lings -

politik. Das langgehegte Dogma der Abschreck-

ung von Flüchtlingen scheint abgenutzt: Allenthalben

wird die Residenzpflicht gelockert, die Lagerunter-

bringung erscheint zunehmend als teuer und wenig

hilfreich, selbst das für eine harte Linie bekannte

Bayern kündigt an, die Versorgung mit Sachleistungen

auslaufen zu lassen. Vor allem jedoch eröffnen

Bleiberechtsregelungen Perspektiven der Inklusion und

des Aufenthalts auch für die zahlreichen Flüchtlinge,

die durch die Maschen eines restriktiven Anerken -

nungs prozesses gefallen sind. Flüchtlinge erfahren

Unterstützung bei der Einglie derung in den Arbeits-

markt, und ihre Qualifikationen sollen anerkannt

werden. Selbst wenn zahlreiche Hürden und Probleme

weiter Bestand haben, die seit den frühen 1990er

Jahren wie betoniert wirkenden Abschreckungspara-

graphen des Asylbewerberleistungsgesetzes erscheinen

plötzlich als bröckelig.

Zwischen dem Bleiberecht, der nachträglichen Erlaub-

nis des Aufenthalts, und der Rückkehr von Migran-

tinnen und Migranten existieren zwei Beziehungen. So

lässt sich zum einen feststellen, dass auch Menschen

mit gesichertem Aufenthalt häufig zurückkehren, sei es

temporär, sei es dauerhaft. Das in Deutschland ange -

eignete Geld und Wissen soll häufig im Herkunftsland

dazu dienen, sich beruflich zu etablieren und sogar

Impulse für wirtschaftliche Entwicklung zu geben.

Diese Variante wird gegenwärtig in den hiesigen De -

batten über Migration und Entwicklung geradezu

gefeiert. Die Risiken, die auch eine freiwillige und

geplante Rückkehr für die Migrant innen und Migranten

beinhaltet, werden dabei allerdings häufig verschleiert.

Die Erfahrung mit Rückkehrerprojekten kann zum

anderen aber auch Argumentationen stützen, die gegen

Rückkehr und für ein dauerhaftes Bleiberecht eintreten.

Wenn klar wird, dass Personen nach der angeordneten

Rückkehr oder Abschiebung keine Chance haben, ganz

grundlegende Bedürfnisse zu befriedigen und ein

wenigstens rudimentäres Aus kommen zu finden, dann

können diese Erkenntnisse aus Rückkehr prozessen

dazu beitragen, das bisherige Ausreiseregime zu verän -

dern. Eine gleich wie erzwungene Rückkehr wird dann

zur Menschenrechtsverletzung.

Disziplinierung von Mobilität

Rückkehr ist eine etwas altmodische Vorstellung inZeiten, in denen die Märkte vor allem Flexibilitätverordnen. Rückkehr ist bezogen auf ein Leben aneinem Ursprungs-Ort, eine Abwesenheit von dort unddann eine Rückkehr. Diese Vorstellung ist verankertbei Migrantinnen und Migranten und bei Behörden.

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Die Rückkehrberatung für Asylsuchende wurde in Deutschland an den Anfang des Aufenthaltsprozessesverlagert. Das aktuelle Bleiberecht hingegen bietet Aufenthaltsmöglichkeiten vor allem nach ökonomi-schen Kriterien. Von Stephan Dünnwald

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Allerdings ist für viele Migrantinnen und Migranten dieWirklichkeit längst transnational. Sie bleiben hier, weilsie hier eine Arbeit haben, sie fahren nach Hause, weildort ihre Eltern leben, aber sie kommen wieder zu -rück, weil ihre Kinder hier in die Schule gehen undsich nicht vorstellen können, in den Kosovo, den Irakoder nach Somalia zu gehen. Das heißt, die Rede vonder Rückkehr ist oft sehr vereinfachend und wird derWirklichkeit nicht immer gerecht.

In der Migrationspolitik ist Rückkehr Teil einesumfassenden Konzepts zur Steuerung von Migrationund zur Disziplinierung von Mobilität. Diese Diszipli -nierung wird aus einerPerspektive der national-staatlichen Souveränitätgedacht. Wer nach Deutsch-land kommt, der darf bleiben,solange das Gesetz es zulässt.Der Staat, und nur der Staat,bestimmt über den Aufenthalt.Nach Ablauf des Aufenthalts oder nach der Ablehnungdes Asylantrags müssen Nicht-EU-Bürgerinnen und -Bürger das Land wieder verlassen (mit dem EU-Rechtwird diese Souveränität geteilt). Rückkehr undAbschiebung werden in dieser Logik begründet: Wenndie Rückkehr nicht durchgesetzt wird, so die Argumen-tation, wofür brauchen wir dann die aufwändigenRegularien der Visavergabe, des Aufenthalts oder derAnerkennung? Das ganze System des Aufenthaltsrechtsgründet darauf, dass die Beendigung des Aufenthaltsauch durchgesetzt wird, notfalls mit Gewalt undAbschie bung.

Staatliche Auslese

Diese Systematik der Durchsetzung der Aufenthalts-

beendigung lässt sich in der Realität allerdings nicht

durchhalten. Zum einen gibt es bei drohender Ab-

schiebung häufig Widerstand aus dem sozialen Umfeld

zugunsten des Aufenthaltes von Personen, die damit

faktisch eine Art soziale Citizenship, eine Zugehörigkeit

erworben haben. Zum anderen stehen der Ausreise

häufig technische (sowie rechtliche und politische)

Probleme entgegen: Die ausreisepflichtigen Personen

sind nicht aufzufinden oder der betreffende Staat

nimmt sie nicht zurück. In Deutschland wird die

Systematik deshalb durchbrochen durch die länger-

fristige Anwesenheit von Personen ohne regulären

Aufenthalt, die sogenannten „Illegalen“ und nur

„Geduldeten“. In der Dualität zwischen Legali sierung

und Ausweisung stehen sie auf der Schwelle.

Bei langjährigem Aufenthalt und unter bestimmten

Bedingungen greift hier das Bleiberecht. Als sozial-

ökonomisches Kriterium des Bleiberechts wird an

dieser Stelle der Begriff der „Integrationsleistung“

eingeführt. Das Erfüllen von „Integrationsleistungen“

kann eine Aufenthaltsverfestigung legitimieren, die

Nichterfüllung wiederum legitimiert Zwangsmaßnah-

men zur Ausreise. In massiver Form konstituiert so das

politisch-juristische Konstrukt des Bleiberechts einen

Ausleseprozess „von oben“: Die Sortierung in Willkom -

mene und Unwillkommene, in diejenigen, denen ein

gesellschaftlicher Nutzen unterstellt wird und diejeni-

gen, bei denen vermeintlich die gesell schaftlichen

Kosten überwiegen, hat

natürlich auch Auswirkungen

darauf, wer letztlich in die

Rückkehr gedrängt wird.

Abschiebungen und angeord-nete Rückkehr machen nureinen Bruchteil der Ausreisen

aus. Im Jahr 2010 emigrierten auf offiziellem Weg530.000 Nicht-Deutsche aus Deutschland. Demstanden 7.500 Abschiebungen und 4.500 angeordneteRückkehren gegenüber. Dies gilt mit Einschränkun-gen auch für Flüchtlinge. In größeren Rückkehr pro -zessen begegnet uns die Skala zwischen „Leistungs -starken“ und „Kostenintensiven“ im Zeitverlaufwieder: Zu Beginn größerer Rückkehrprozesse (etwanach dem Ende der Kriege in Bosnien-Herzegowinaoder im Kosovo) kehren zunächst die „Leistungsstärk-eren“ zurück, diejenigen, die über hinreichend öko -nomisches und soziales Kapital verfügen. Die Kurveflacht jedoch schnell ab, und hier greifen dannverstärkt staatliche Mechanismen, die Ausreisedruckerzeugen. Am Ende eines solchen Rückkehrprozessesstehen dann die Alten, die Kranken, die Familien mitvielen Kindern, diejenigen, die es auch im Aufnahme-land nicht geschafft haben, sich auf eigene Füße zustellen. In der Mehrzahl leben diese Personen nacheiner Rückkehr entweder im Elend oder in völligerAbhängigkeit von Verwandten, die häufig sogar imAusland leben und sie mit Geldtransfers unterstützen.

Das „Integrationsdilemma“

Heute ist es eine ziemlich unumstrittene Erkenntnisder Rückkehrforschung, dass gerade diejenigen, diesich gut in eine Aufnahmegesellschaft einfügenkonnten, auch diejenigen sind, die eine erfolgreiche„Reintegration“ im Herkunftsland am ehesten meis-tern. Diese Erkenntnis stellt für den Aufnahmestaatein Dilemma dar. Zu den Anwerbezeiten der Gastar-beiterinnen und Gastarbeiter galt die Devise, Integra-

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Am Ende stehen diejenigen, die esauch im Aufnahmeland nicht ge-schafft haben, sich auf eigene Füßezu stellen

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tion nach Möglichkeit zu verhindern und sogar inden Schulcurricula die Bereitschaft zur Rückkehr zuerhalten und zu fördern. Das war Rückkehrförderungdurch Inklusionsverhinderung. Heute müsste esheißen: J e besser die Inklusion, desto höher auch dieChancen für eine Reintegration. Das erfolgver-sprechendste Modell der Rückkehrförderung wärealso eine strikte Eingliederungsförderung. Abergerade im Umgang mit Asylsuchenden gilt weiterhinein Verhinderungskonzept: Die Anerkennungszahlenbleiben niedrig, viele sind nur geduldet, und erst amEnde langer Prozesse steht möglicherweise einAufenthaltsrecht.

Aus der Einsicht aber, dass die Durchsetzung derAusreise nach Jahrzehnten der Kettenduldung nichtgelingt und eine langjährige Ausgrenzung vonGeduldeten die ökonomischen, sozialen und morali -schen Kosten dieser Politik erhöht, wurde die Türzum Bleiberecht geöffnet. Esgibt also mit steigenderAufenthaltsdauer eine Ten -denz zu einer Bleiberechts -perspektive. Allerdings wurdezugleich die Rückkehrbe -ratung vom Ende desAufenthaltsprozesses anseinen Anfang verlagert.Systematische Rückkehrbe ratung gibt es heute vorallem in den Erstaufnahme zentren. Wir erleben dieBeschleunigung eines selektiven Prozesses. Statt derReform einer sehr restriktiven Anerkennungspraxiseröffnet das Bleibe recht Aufenthaltsmöglichkeitennach „Leistung“.

Von Schutz zu ökonomischer Nützlichkeit

Betrachtet man die relativ geringen Abschiebezahlen,so haben die meisten derjenigen, die aus Erstaufnah-mezentren umverteilt werden, eine zukünftige Aufent -haltsperspektive. Insofern müssten Inklusionsmaßnah-men genau hier schnell und effizient greifen, und vorallem Chancen eröffnet werden. Die eingangs er -wähn ten Tauwetterindizien, also die Aufweichungvon Abschreckungsmaßnahmen, zeigen, dass diePolitik diesen Weg auch einschlägt. Damit handeltaber der Staat gegen die grundsätzliche Maxime, nachder nur diejenigen bleiben dürfen sollen, die einenRechtsanspruch geltend machen können, und alleanderen der Ausreisepflicht unterliegen.

Mit dem Bleiberecht, also der nachträglichen Erlaub-nis des Aufenthalts, wird Menschen ein Aufenthalts -recht verliehen, die es „eigentlich nicht verdient

hätten“. Wo das Kriterium der Schutzbedürftigkeitnicht greift, wird es ersetzt durch leistungsbezogeneAnforderungen. Ein Bleiberecht bekommt, wer denKommunen ökonomisch nicht „zur Last“ fällt, wer„gute Leistungen“ in der Schule oder am Arbeitsplatzzeigt. Mit dem Bleiberecht befinden wir uns in derGrauzone zwischen Arbeitsmigration und Flucht -migration. Implizit findet eine Verschiebung statt, diepotentiell Bleibeberechtigte von der einen Kategorie(der des Rechts auf Schutz) in die andere (die derökonomischen Nützlichkeit) verlagert. Bleiberechts -regelungen nehmen so den Druck von einem Systemder Prüfung von Schutzbedürftigkeit und derErteilung von Rechten, das nach wie vor defizitär ist.

Keine „ergebnisoffene“ Rückkehrberatung

Mit der Bleiberechtsregelung trennt sich die Gruppeder Rückkehrerinnen und Rückkehrer noch einmal

schärfer in diejenigen, die tatsächlichfreiwillig, also aus derSituation eines legalenAufenthaltes heraus, zurück-kehren, und in diejenigen, dieweder Aufent halt noch eineChance auf Integration haben.Ausgehend von der erfolgre-ichen Rückkehr hat Jean-

Pierre Cassarino zwei ausschlag gebende Kriterienaufgestellt: die „Readiness“ und die „Preparedness“,also die Bereitschaft und das Vorbereitetsein auf eineRückkehr.

Eine Person mit sicherem Aufenthalt hat natürlichwesentlich bessere Chancen, auch bei einer Rückkehrbesser abzuschneiden. Das heißt nun noch langenicht, dass eine Rückkehr auch tatsächlich erfolgreichverläuft. Doch allein die Entscheidungsmöglichkeit,ob ich zurückgehe, und die Möglichkeit, denZeitpunkt einer Rückkehr frei entscheiden zu können,sind für eine erfolgversprechende Rückkehr ganzgravierende Aspekte. Diese Entscheidungsfreiheit istbei Abschiebungen überhaupt nicht gegeben. Auchbei der sogenannten „assistierten freiwilligen Rück-kehr“ existiert sie nicht. Deshalb wird auch von„angeordneter Rückkehr“ gesprochen, wenn es sichdabei um Personen ohne sicheren Aufenthalt handelt.Im Münchener Rückkehrprojekt Coming Home etwahieß es 2008, dass ungefähr 80 Prozent der Klientin-nen und Klienten der Rückkehrberatung unter die„angeordnete Rückkehr“ fallen.1

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1 Siehe Dünnwald,

S. 2008: Angeord-

nete Freiwilligkeit.

Zur Beratung und

Förderung frei-

williger und ange -

ordneter Rückkehr

durch Nichtregie -

r ungs organisationen

in Deutschland.

Basierend auf der

Untersuchung der

Unterstützung von

Rückkehrern in den

Kosovo. Heraus-

gegeben von Pro

Asyl e.V. Frankfurt

am Main.

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Mit dem Bleiberecht wird Menschenein Aufenthaltsrecht verliehen, die es „eigentlich nicht verdienthätten“

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Erst wenn die Bereitschaft zu einer Rückkehr ge -geben ist, macht es Sinn, über die Frage der Vorbe -reitung nachzudenken. Es ist also fast schon paradox,wenn die übliche Rückkehrberatung und Rückkehr -förderung genau umgekehrt die Frage der Vorberei -tung einer Rückkehr in den Vordergrund stellt. DieKlientinnen und Klienten dieser Beratung qualifi -zieren sich häufig für bestimmte Leistungen erstdadurch, dass sie mangels Aufenthaltsrecht über dieGrundbedingung für eine freie Entscheidung nichtverfügen. Dies ist eines der zentralen Probleme derRückkehrberatung und Rückkehrförderung. Wenn eszur Ausreisepflicht keine Alternative gibt, dann kanneine Rückkehrberatungsstelle nicht „ergebnisoffen“beraten. Das heißt nicht, dass eine „angeordneteRück kehr“ auf das Gleiche hinausläuft wie eine Ab -schiebung. Auch eine „angeordnete Rückkehr“ kannkleine Spielräume eröffnen und schützt zugleich vorder Gewalterfahrung einer Abschiebung. Tatsächlichfreiwillig ist diese Form der Rückkehr jedoch nicht.

Der Königsweg ist der Einsatz für ein Bleiberecht. Objemand dann in Deutschland bleibt oder irgendwannheimkehrt, ist dann eine eigene Entscheidung. DieKerbe, die das Bleiberecht in die Systematik von Auf -enthalt und Ausreise geschlagen hat, sollte deshalbweiter vertieft werden. Zugleich muss jedoch dagegengearbeitet werden, dass der Schutz von Flüchtlingenzurückgefahren wird zugunsten eines nur an öko no -m ischer Leistung und Nützlichkeit orientierten Ein -wan derungskonzeptes. Das Bleiberecht muss einePerspektive auch für diejenigen abgelehnten Flücht -linge offenhalten, die diesem Kriterium nicht odernicht vollständig gerecht werden.<

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Stephan Dünnwaldist Migrationswissen-

schaftler und

arbeitet am Centro

de Estudos Interna-

cionais, ISCTE, in

Lissabon.

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Herr Georgi, welche Aufgabennimmt die IOM wahr?

Die Aktivitäten der IOM kann manin fünf Kategorien fassen. Erstensunterstützt und forciert sie be -stimmte Migrationsbewegungen.Zum Beispiel betreibt sie Program -me für „zirkuläre“ Migration.Dabei gehen etwa Arbeiterinnenund Arbeiter aus Honduras nachKanada, oder aus Kolumbiennach Spanien, um dort für nur

einige Monate in der Landwirt-schaft zu arbeiten, zu teils sehrschlechten Bedingungen. Zusam-men mit dem UNHCR, dem UnitedNations High Commissioner forRefugees, organisiert die IOMResettlement-Programme. Wennsich etwa Australien entscheidet,als Gnadenakt 100 afghanischeFlüchtlinge aus Pakistan aufzu-nehmen, dann organisiert die IOMden Transport.

Außerdem hilft die IOM Staaten,ihre Kontrollfähigkeiten gegenüberMigration auszubauen, das„Capacity Building for MigrationManagement“. Vor allem inperipheren Staaten, im GlobalenSüden, hat die IOM teils großenEinfluss. Sie fungiert dort mit Hilfelokaler Nichtregierungsorganisatio-nen als verlängerter Arm derIndustriestaaten und bildet Beamteund Grenzwachen aus oderschreibt Gesetzesvorlagen.

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„Migration in kontrollierte Bahnen lenken“

Die International Organization for Migration (IOM) ist eine wichtige Akteurin im Migrations- und Asylbereich.Sie ist etwa an Umsiedelungsprogrammen für anerkannte Flüchtlinge beteiligt und betreibt Programmezur „freiwilligen Ausreise“. Till Schmidt sprach mit dem Sozialwissenschaftler Fabian Georgi über die Entste-hungsgeschichte der IOM, ihre vielfältigen Aktivitäten und Gründe für ihren massiven Bedeutungsgewinnin den letzten Jahrzehnten.

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Darüber hinaus spielt die IOMselbst eine operative Rolle. Berüch-tigte Beispiele sind Papua-Neuguinea und die PazifikinselNauru, wo die IOM für Australienbis vor ein paar Jahren geschlos-sene Lager für Asylsuchendebetrieben hat und heute überRückkehrprogramme involviert ist.Auch in Deutschland betreibt dieIOM solche Programme zur„freiwilligen Ausreise“. Beidiesen Programmen werdenLeute vor die Wahl gestellt,entweder „freiwillig“ mit Hilfeder IOM in ihre „Heimat“ zugehen oder gewaltsam abgescho-ben zu werden.

Auf welchen weiteren Gebieten ist die IOM tätig?

Die IOM operiert auch als „nor-male“ humanitäre Hilfsorganisa-tion, etwa nach dem Erdbeben aufHaiti 2010 oder heute bei denBürgerkriegen in Libyen undSyrien. Vor allem transportiert sieMenschen und Hilfsgüter, betreibtaber auch Flüchtlingslager in denKrisenregionen. Finanziell sinddiese Notfalleinsätze für die IOMsehr wichtig. Auch das positiveSelbstbild vieler IOM-Angestellterspeist sich daraus, Katastrophen-und Kriegsopfern real helfen zukönnen.

Die IOM mischt sich schließlichauch in die Debatten überMigration ein und propagiert„Migrationsmanagement“. Das istdie programmatische Idee, mit dersie versucht, ihre Aktivitätenzusammenzuhalten. Es gehtletztlich darum, die staatlichenFähigkeiten zur Kontrolle vonMigration in einem Grad auszu-bauen, der es ermöglicht, selbstbe-stimmte, vor allem vermeintlich„unnütze“ oder „gefährliche“Bewegungen so weit zu kontrollie-ren, dass die internationaleMobilität nützlicher Arbeitskräfte

und einiger anderer Gruppenpolitisch durchsetzbar wird.Perspektivisch streben hohe IOM-Vertreterinnen und -Vertreterdafür ein verbindliches globalesMigrationsregime an, dem Systemder Welthandelsorganisationvergleichbar. Aber weil dieIndustriestaaten das strikt ableh-nen, wird dieses Projekt nurvorsichtig verfolgt.

Wie entstand die IOM?

Die IOM wurde 1951 gegründet.Der Name, den sie bis 1980 trug,drückt ihren ursprünglichenZweck aus, auf Deutsch hieß sie:„Zwischenstaatliches Komitee füreuropäische Auswanderung“, kurzICEM.

Dieses Komitee war zunächst dazuda, einer vermeintlichen europäi-schen „Überbevölkerung“ zurAuswanderung nach „Übersee“ zuverhelfen, um den Marshall-Planzu flankieren. Damit sollteverhindert werden, dass dieMillionen Flüchtlinge aus Osteu-ropa sowie Arbeitslose in Südeu-ropa, der BRD, in Österreich undden Niederlanden Europa durchKlassenkämpfe destabilisieren.Antikommunismus war einwichtiger Grundsatz des ICEM,auch wenn das nicht unbedingtöffentlich geäußert wurde.

Wie kam es dazu, dass die IOM zueiner so wichtigen Akteurin imMigrationsbereich wurde?

Anfang der 1960er wurde dieMauer gebaut und die Zahl derFlüchtlinge aus Osteuropareduzierte sich stark. Vor allemführte die Hochphase des For-dismus in Nordwesteuropa zuArbeitskräfteknappheit und eineminnereuropäischen Gastarbeiterre-gime. Das ICEM wurde in Europanicht mehr wirklich benötigt. VonAnfang der 1960er bis Ende der

1970er war die heutigeIOM quasi in einerDauerkrise und standmehrfach kurz vor derAuflösung.

Aber als sich Anfang der1980er Jahre angesichtsvermeintlicher „Asylkrisen“

der migrationspolitische Wind inRichtung Restriktion drehte, als inden 1990ern „illegale Migration“bekämpft werden sollte, als es inder neoliberalen Hegemonie der2000er Jahre darum ging, die„Wachstumspotenziale“ vonMigration zu maximieren, daschaffte es die IOM, von denStaaten als nützliches Instrumentwahrgenommen zu werden. Siesollte die angestrebte repressiv-neoliberale Transformation derMigrationspolitik global unterstüt-zen.

Wie ist die heutige IOM aufgebautund strukturiert?

Die IOM ist eine internationaleOrganisation mit 155 Mitglied-staaten, fast 8.000 Angestelltenund einem Jahresbudget von etwa1,2 Milliarden Dollar. Viele NGOssehen in ihr so etwas wie die „böseStiefschwester“ des UNHCR: Andersals der UNHCR, dem die Men-schenrechte wichtig seien, tue dieIOM alles, wenn sie nur Gelddafür kriege.

Außerdem ist die IOM kein Teil desUN-Systems, und sie hat, andersals der UNHCR mit der Genfer

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Fabian Georgi ist wissenschaftlicher

Mitarbeiter an der

Universität Marburg

und promoviert über

die IOM.

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„Das Selbstbild vieler IOM Angestellter speist sich auch daraus,Katastrophen- und Kriegsopfernreal helfen zu können“

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Fabian Georgi

ist zudem Mitglied

der Forschungs-

gruppe „Staatsprojekt

Europa“, deren

Buch „Kämpfe um

Migrationspolitik.

Theorie, Methode

und Analysen

kritischer Europafor-

schung“ im Januar

2014 im Transcript

Verlag erschienen ist.

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Flüchtlingskonvention, keineigenes völkerrechtliches Mandat.Von NGOs wird die IOM als„donor-driven“ gesehen, alspolitisch und finanziell abhängigvon den reichen Industriestaaten,deren repressiver Migrations- undGrenzpolitik sie zu Diensten ist.

Worin äußert sich diese politischeAbhängigkeit?

Formal ist die IOM aufgebaut wieandere internationaleOrganisationen. Es gibteinen Direktor, eineBürokratie und zweimalim Jahr versammeln sichAbgesandte der Mitglied-staaten und treffen diegrundlegenden Ent-scheidungen. EinigeBesonderheiten gibt es aber schon.In der Nachkriegszeit war die IOMklar von den USA dominiert, vorallem das US-Außen ministeriumhatte massiven Ein fluss. Im KaltenKrieg etwa kooperierte die IOM engmit US-Geheimdiensten, vor allembeim Resettlement von Flüchtlin-gen aus realsozialistischenStaaten, die in den Westengeflohen waren.

Von den bisher neun Direktorenkamen acht aus den USA. Aber dieDominanz der USA hat sich etwasrelativiert. Als zum Beispiel 2008ein neuer Direktor gewählt wurde,trat der alte Direktor BrunsonMcKinley gegen den offiziellenKandidaten der USA an, unter-stützt etwa von arabischenStaaten. Plötzlich tauchten nochKandidaten aus Kanada undItalien auf. Der US-Kandidat,William Lacy Swing, hat zwargewonnen. Aber daran, dass esüberhaupt eine Kampfabstimmunggab, sieht man, dass die Kräftever-hältnisse innerhalb der IOM imFluss sind. Russland und Chinasind noch keine Mitglieder derIOM, sie kooperieren aber immer

wieder. Wahrscheinlich werdenbeide Staaten mittelfristig beitreten.Insgesamt ist die IOM tendenziellvon den westlichen Industriestaa-ten dominiert.

Was bedeutet diese Dominanz fürFinanzierung der Organisation?

Im Jahr 2012 machten dieBeiträge von den USA, Kanada,Japan, den EU-Staaten undAustralien etwa 60 Prozent des

Budgets aus. Aber auch Schwellen-länder und US-Alliierte wieKolumbien, Peru und die Türkeizahlen zig Millionen.

Allerdings erhält die IOM nur dreiProzent ihres riesigen Budgets alsfeste Mitgliedsbeiträge. Dieanderen 97 Prozent sind „projekt-finanziert“. Deshalb ist die IOMgezwungen, und auch stolzdarauf, unternehmerisch zuagieren. Sie expandiert aktiv undin Konkurrenz etwa zu NGOs, umMitarbeitende, Büros und Einflusszu behalten.

Welche unternehmerischenAlleinstellungsmerkmale bietet dieIOM?

Ein zentraler Wettbewerbsvorteilder IOM ist, dass sie die Staatennie öffentlich kritisiert. Das gilt fürden UNHCR und viele NGOs nicht.Darüber hinaus ist die IOM stolzdarauf, oder betont es jedenfallsimmer wieder, sehr effizient,professionell und „kostengünstig“zu arbeiten. Ihr enormesWachstum, gerade im Bereich derhumanitären Operationen, belegt

das vielleicht auch. Das Wachstumder IOM, vor allem ab Ende der1990er, war aber auch Ergebniseiner aggressiven Strategie desdamaligen Direktors McKinley,nach dem Motto „Wachstum umdes Wachstums willen“.

Wie würden Sie den Stellenwert der IOM theoretisch fassen?

Ein Aspekt ist das Outsourcennationalstaatlicher Aufgaben anFirmen, NGOs und internationaleOrganisationen. Das führt zueiner Eigendynamik dieserBürokratien, die auf einemmigrationspolitischen Projekte-markt um ihr Überleben kämpfen.

Wichtiger erscheint mir aberdanach zu fragen, welcheWidersprüche die massive Expan-sion der IOM angetrieben haben,wie die Herrschaftstechniken, diesich in den IOM-Programmenzeigen, mit den Dynamikenkapitalistischer Krisen undExpansion zusammenhängen.

Und wie hängen sie zusammen?

Im Kern hat die IOM seit ihrerGründung dazu gedient, eineReihe sich in der Form wandeln-der, aber sozusagen kategorialgleichbleibender Widersprüche zuregulieren. Die erste Kategoriewürde ich als „Arbeitskraftpro-bleme“ bezeichnen. Im Kapita-lismus stellt sich immer die Frage,wo die Arbeitskräfte herkommensollen, die Waren produzierenund die Arbeitskraft selbst repro-duzieren. Dieses Arbeitskraftpro-blem besteht dauerhaft: Arbeits-kräfte zum richtigen Preis, amrichtigen Ort, diszipliniert, gesund,möglichst rechtlos.

Der freiwillige oder erzwungeneTransfer von Arbeitskräften von Anach B ist seit Jahrhunderten einearbeitskraftpolitische Strategie.

„Ein zentraler Wettbewerbsvor-teil der IOM ist, dass sie dieStaaten nie öffentlich kritisiert“

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Früher trat sie als Sklaverei oderSchuldknechtschaft auf. Heuteerscheint sie, in gänzlich andererForm, als „Migrationsmanage-ment“.

Was bedeutet das konkret für den Fall der IOM?

Eine zentrale Triebkraft der IOM-Entwicklung war der Versuch,die Organisation als Instrumenteinzusetzen, sich historischwandelnde Arbeitskraftproblemezu lösen, in den 1960ernFachkräfte für Lateinamerika,heute Erntehelfer für Spanien.Im Zuge der neoliberalenHegemonie seit den 1990er Jahrenhat die IOM ihre Chance genutzt,bei der Transformation nationalerMigrationspolitiken unter neolibe-ralen, im Kern arbeitskraftpoliti-schen Vorgaben helfen zu dürfen.

Dem steht oft eine andere Dyna-mik entgegen. Allgemein gespro-chen geht es um die Regulationgesellschaftlicher (Klassen-) Wider -sprüche, um die Befriedungsozialer Kämpfe. Dies soll erreichtwerden, indem Migration undMobilität entweder forciert oderverhindert, aber immer inkontrollierte Bahnen gelenktwerden. Die IOM wurde alsSicherheitsventil gegründet, um dieheftigen Klassenkonflikte derNachkriegsjahre durch Emigrationzu befrieden.

Welche gesellschaftlichen Widersprüche sind das heute?

Regulation gesellschaftlicher(Klassen-)Widersprüche bedeutetheute für die IOM eher, dieselbstbestimmte Mobilität, dieAutonomie der Migration ausperipheren Räumen und demGlobalen Süden so weit es ebengeht einzuschränken oder zukanalisieren. Das Ziel ist, diematerielle Privilegierung, welche

die Bevölkerungen in den Über -resten der „national-sozialen“Wohlfahrtsstaaten des GlobalenNordens „genießen“, durchrepressive Grenzpolitik ab zu -sichern – und so einen wenigstenspassiven Konsens zur Vorherr-schaft wechselnder Kapitalfraktio-nen zu erhalten.

Die IOM kann sich auf eine, wieich es nennen würde, „tiefeHegemonie von Migrationskontrol-len“ stützen und sich erfolgreichals Instrument anbieten, relativePrivilegierung und gesellschaftlicheStabilität durch Ausgrenzung zusichern.

Die Crux ist nun, dass sich dieDynamiken von Arbeitskraftpolitikund der Regulation von Klassen-konflikten oft widersprechen. DieMigrationspolitik der Industrie -staaten folgt deshalb nicht einereinheitlichen Logik, die man nurfinden müsste. Sie ist Ergebnisgegensätzlicher Dynamiken,Ergebnis von Widersprüchen, unddies gilt auch für die IOM.

Über die Bedeutung andererDynamiken habe ich jetzt garnicht gesprochen, etwa die Rollevon Rassismus. Wenn man es aberauf einen Begriff herunterbrechenwill: Die IOM war in den letztendrei Jahrzehnten erfolgreich darin,sich den Industriestaaten dafüranzubieten, verschiedene Wider-sprüche und Barrieren einer stabilexpandierenden Kapitalverwer-tung auf globaler Ebene zwarnicht aufzulösen, aber temporärund räumlich zu verschieben.

Worin zeigen sich diese Verschiebungen?

Die immer perfektere Abschottungder europäischen Grenze lässtzum Beispiel die Widersprüchezwischen einer „imperialenLebensweise“ in Europa und denHoffnungen afrikanischerWanderarbeiterinnen und

-arbeiter nicht einfach ver-schwinden. Mit Hilfe der IOMwerden diese Widersprüche indie Herkunfts- und Transit -staaten gleichsam abgeschoben,ausgelagert, und damit zuge -spitzt. Gelöst wird dadurchnichts, der Kampf geht weiter.<

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„Die Migrationspolitik derIndustriestaaten folgt keinereinheitlichen Logik“

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„Stop the boats“Mit der „Operation Souvereign Borders“ versucht die neue australische Regierung, ihr Wahlversprecheneinzulösen.

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Seit Ende der 1970er ist Indonesien ein häufigfrequentiertes Transitland für Asylsuchende,zumeist aus Süd- und Südostasien. Wegen

seiner günstigen geografischen Lage und den relativdurchlässigen Grenzen eignet sich der Archipelhervorragend als temporäre Zuflucht für Menschenauf der Flucht. Bereits nach dem Ende des Vietnam -krieges kamen zehntausende VietnamesInnen perBoot dorthin. Die meisten von ihnen wurden nachlangen Jahren des Wartens nach Europa, Australienund in die USA umgesiedelt. Nicht wenige jedochwurden gegen ihren Willen Mitte der 1990er nachVietnam repatriiert, weil in den westlichen Aufnah-meländern die Sympathie für antikommunistischeFlüchtlinge nachgelassen hatte.

Aufgrund der zunehmend blockierten FluchtkorridoreRichtung Europa kommen heutzutage vor allemislamische Asylsuchende aus Nahost, Zentralasienund sogar Ost- und Nordafrika in den InselstaatIndonesien. Die meisten hoffen, alsbald in einsicheres Drittland zu gelangen, entweder auf regu -lärem Wege (Resettlement) oder eben anderweitig,meist per Boot nach Australien. Nach Angaben deraustralischen Migrationsbehörde DIAC erreichten 2013allein in den ersten sechs Monaten 196 Boote mit13.108 Menschen australisches Territorium. Nicht alleüberleben die riskanten Überfahrten, in den letztenfünfzehn Jahren ertranken mindestens 1.500 Men-schen.

Von Desinteresse zu Ablehnung

Laut Angaben des UN-FlüchtlingshochkommissariatsUNHCR in Jakarta lebten im Juli 2013 offiziell 8.623Asylsuchende und 2.072 anerkannte Flüchtlinge inIndonesien; zu vier Fünfteln handelt es sich dabei umMänner. Auch wenn die Dunkelziffer mindestensdoppelt so hoch sein könnte, ist Indonesien längstnicht so frequentiert wie seine NachbarländerThailand (84.479 Flüchtlinge und 14.580 Asyl -suchende) und Malaysia (90.185 Flüchtlinge und11.650 Asylsuchende). Dank seiner geografischenNähe zu Australien aber stellt Indonesien die letzte zuüberwindende Hürde auf dem Weg ins lucky countrydar.

Dauerhaft in Indonesien zu verweilen, ist für Asyl-suchende keine Alternative zur Weiterreise. AlsNichtunterzeichner der Genfer Flüchtlingskonventionbietet Indonesien keinerlei Schutz. Weder verfügtIndonesien über einen rechtlichen Rahmen für diePrüfung von Asylgesuchen noch ist eine dauerhafteInklusion der Asylsuchenden erwünscht. Arbeiten istihnen ausdrücklich untersagt. Dennoch hat Indone-sien bisher weitgehend von Abschiebungen abge -sehen, was in erster Linie daran liegt, dass die dafürbenötigten finanziellen Mittel fehlen. Allen Erwartun-gen nach wird sich daran in Zukunft einiges ändern.Nicht nur ist der australische Druck auf Indonesiengewachsen, sondern auch die indonesische Haltunggegenüber den „ungeladenen Gästen“, wie sie die

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Australien macht Druck

In Indonesien verschlechtern sich die Bedingungen für Asylsuchende und Flüchtlinge. Bislang warenAsylsuchende im Inselstaat Indonesien geduldet, wenn auch ungern. Viele von ihnen waren auf demWeg nach Australien. Nun werden die Hürden für Asylsuchende und Flüchtlinge immer höher. Von Antje Missbach

Foto: Antje Missbach

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Antje Missbachist McKenzie Post-

Doctoral Fellow an

der Melbourne Law

School. Ihre letzte

Buchveröffentlich -

ung ist „Politics and

Conflict in Indone-

sia: The Role of the

Acehnese Diaspora“

(Routledge 2011).

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indonesischen Medien oft bezeichnen, hat sich vonjahrelangem Desinteresse in ausdrückliche Ablehnunggewandelt.

Da keine einzige indonesische Behörde für Asyl-suchende zuständig ist, übernimmt das UNHCR dieBearbeitung der Asylanträge. An vier Tagen proWoche werden täglich etwa 30 Asylsuchendevorgelassen, um einen Termin für ein Erstinterviewmit UN-MitarbeiterInnen zu ergattern. Bis es damitendlich soweit ist, vergehen meist mehrere Monate,da das UNHCR in Indonesien unter Personalmangelleidet. Zwischen Antragstellung und der Entscheidungüber den Antrag liegen durchschnittlich zwei Jahre.

In der Zwischenzeit sind die Asylsuchenden auf sichselbst gestellt. Manche leben von Erspartem odererhalten Überweisungen von Familienangehörigen.Selbst Schwerkranke werden vom UNHCR nur inAusnahmefällen finanziell unterstützt. Erst nach ihrerAnerkennung erhalten Flüchtlinge monatlichumgerechnet 110 Euro pro Familie. Das ist knapp dieHälfte des durchschnittlichen indonesischen Pro-Kopfeinkommens. Zudem müssen Nicht-IndonesierIn-nen bei Miete oder Transport oft mehr als Einhei -mische bezahlen.

Die Anerkennungsraten von Asylgesuchen unterschei-den sich von Nationalität zu Nationalität. Beispiels -weise stehen für afghanische Asylsuchende (84 Pro -zent) die Chancen höher als für TamilInnen aus SriLanka (46 Prozent). Aber im Vergleich zu Europa mitgerade mal 25 Prozent Anerkennungsquote sind siemit durchschnittlich 78 Prozent insgesamt deutlichhöher. Wer einmal als Flüchtling anerkannt wurde,kann sich beim UNHCR um die Umsiedlung in einDrittland bewerben. Ein Recht auf Umsiedlung gibt esjedoch nicht, denn das UNHCR ist gänzlich auf dasWohlwollen einzelner Aufnahmeländer angewiesen.In den ersten sechs Monaten 2013 wurden 597Flüchtlinge aus Indonesien umgesiedelt, die meistennach Australien. Zwar ist das eine deutlicheSteigerung zu den Vorjahren, aber es ist noch immerviel zu wenig, um Asylsuchende und Flüchtlinge vongefährlichen Bootsüberfahrten nach Australienabzuhalten.

Weggesperrt im Gefängnis

Solange Asylsuchende und Flüchtlinge unter Obhutdes UNHCR sind, lässt sie die indonesische Polizei,bis auf gelegentliche Schmiergeldzahlungen, weitge-hend in Ruhe. Sollten sie aber bei dem Versucherwischt werden, Indonesien per Boot in RichtungAustralien zu verlassen, landen sie in einem der 13Flüchtlingsgefängnisse. Die Bedingungen in diesenEinrichtungen rangieren zwischen mangelhaft bis sehrschlecht. Nicht nur, dass sie oft hoffnungslos überfülltund die hygienischen Bedingungen miserabel sind, esist wiederholt zu gewalttätigen Auseinandersetzungengekommen – sowohl zwischen den Inhaftierten unddem Wachpersonal als auch zwischen Asylsuchendenunterschiedlicher Herkunft. Asylsuchende, die vormindonesischen Gesetz als illegale MigrantInnen gelten,können bis zu zehn Jahre und ohne Gerichtsver-fahren in den Gefängnissen festgehalten werden.Einmal eingesperrt, ist der Zugang zu NGOs undAnwältInnen kompliziert. Ohnehin gibt es kaumindonesische JuristInnen, die sich in Asylfragenauskennen.

Da der indonesische Staat keine Gelder für Asyl-suchende ausgeben will, auch nicht für deren,Aufbewahrung’ (ware-housing), übernimmt dieInternationale Organisation für Migration (IOM) diemeisten Kosten, von Verpflegungszuschüssen in denFlüchtlingsgefängnissen bis zu deren Ausbau. Invielen Bereichen, die mit irregulärer Migration zu tunhaben, spielt die IOM eine unrühmliche Rolle. Da dieIOM die meisten ihrer Gelder von Australien erhält,wundert es kaum, dass sie sich auch in punctoTrainings für Grenzschützer und Repatriierungspro-gramme in Indonesien ins Zeug wirft.

Im Laufe der Jahre haben sich in den Flüchtlingsge-fängnissen Strukturen für Korruption und Ausbeutungentwickelt. Zahlungskräftige InsassInnen können sichdurchaus ihre Flucht erkaufen. Jedoch sind gezahlteBestechungsgelder keine Garantie, nicht alsbaldwieder festgenommen zu werden.

Da die Kapazitäten in den Gefängnissen nichtausreichen, dürfen manche Asylsuchende inüberwachten Wohngegenden leben. NebenGroßstädten wie Jakarta, Surabaya und Medan istauch die Gebirgsregion Puncak in der Nähe Jakartasbeliebt bei Flüchtlingen. Nicht nur wegen dergeringeren Lebenshaltungskosten, sondern auchwegen der klimatischen Vorteile lebten dort bis vorkurzem mehrere tausend Asylsuchende undFlüchtlinge in Dörfern. In den ersten Jahren verlief

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das Nebeneinander von Asylsuchenden, Flüchtlingenund IndonesierInnen relativ unproblematisch.Interkulturelle Missverständnisse und soziale Miss-gunst verschlechterten jedoch zunehmend dieBeziehungen. Aufschreie konservativer Sittenwächterbrachten das Fass vollends zum Überlaufen. Viele dermännlichen Migranten haben indonesische Freundin-nen, die sie aber wegen der fehlenden Papiere nichtheiraten dürfen. Nach Protesten sahen sich dieBehörden gezwungen, die Asylsuchenden undFlüchtlinge zu verbannen. Erneut vertrieben, landetendie meisten wieder in Jakarta. Der Druck, eineBootsüberfahrt nach Australien zu riskieren, stattweiter dort auszuharren, nahm zu.

Abschreckung ohne Wirkung

Die Lage derer, die in Indonesien warten oder neudort eintreffen, droht sich nun noch zu verschlim-mern. Seit die australische Regierung im Juli 2013entschied, alle weiteren Bootsflüchtlinge in Campsauf Nauru und Manus Island (Papua-Neuguinea) zuverfrachten, statt sie in abgelegene Lager in Australieneinzusperren, nimmt die Zahl der Asylsuchenden inIndonesien zu. Um der Regierung in Jakarta dieseangebliche Neuverteilung von Verantwortungschmackhafter zu machen, offeriert die australischeRegierung finanzielle Anreize für den Ausbau derGrenzüberwachung in Indonesien und ein härteresDurchgreifen gegen ‚Schleuser’, die die Asylsuchen-den bisher nach Australien gebracht haben.

Was zur Abschreckung gedacht war, geht aber nichtauf. Noch immer kommen Asylsuchende auf Booten,wenngleich die Zahl der Neuankömmlinge deutlichabgenommen hat. Wie viele Menschen genau von deraustralischen Küstenwache aufgegriffen wurden, istaufgrund der gegenwärtigen Nachrichtensperreschwer zu sagen. Fakt ist, dass Australien im Dezem-ber erstmals wieder Boote nach Indonesien ‚force-fully’ zurückgeschleppt und am äußersten Zipfel desInselstaates (auf der Insel Roti) abgeladen hat.

Im November hat sich die indonesische Regierungerstmals geweigert, Asylsuchende, die von deraustrali schen Marine in der Nähe der australischenWeihnachtsinsel aufgegriffen wurden, wieder aufzu -nehmen. Die Bootpassagiere wurden daher sofortnach Manus oder Nauru weiterverfrachtet. Aufgrundvon diplomatischen Spannungen hat Indonesienmittlerweile Australien die Zusammenarbeit bei derBekämpfung von Flüchtlingsschmuggel aufgekündigtund sogar den Botschafter aus Canberra abgezogen.

Die Zahl der neu eintreffenden Asylsuchenden inIndonesien steigt derweil weiter. Solange Menschenvor Kriegen und Gewalt fliehen, werden sie weiterhinnach Indonesien oder in angrenzende Transitländerkommen. Sind die Bedingungen dort zu harsch unddas Warten auf reguläre Umsiedlung aussichtslos,werden die Asylsuchenden Wege finden, nachAustralien zu kommen. Um Verhaftungen in Indone-sien zu umgehen, werden womöglich höhereBestechungsgelder fällig. Um dem Grenzschutz zuentkommen, müssen längere und gefährlichereRouten eingeschlagen werden. Um Abschiebungenauf hoher See zu unterbinden, werden sich Asyl-suchende sogar gezwungen sehen, ihre Boote vorden Augen der Marine zu sabotieren, weil diese zurRettung von Schiffbrüchigen verpflichtet ist. Jeschwieriger es den Asylsuchenden gemacht wird,sicheren Boden zu erreichen, desto höher werden diemenschlichen Kosten der Flucht.<

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Zwangsrekrutierung.Viele der geflüchteten Frauen werden zur sexuellen Ausbeutung gezwungen.

Gefährliche Nachbarschaft.Ortseingang von Esmeraldas.

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Seit vielen Jahren wenden in Kolumbien alle Konflikt-parteien (Guerillagruppen versus Paramilitärs undArmee) Vertreibungen als Kriegsstrategie gegenPersonen an, denen sie Verbindungen zur jeweiligenGegenseite nachsagen. So hat seit der erneutenEskalation des kolumbianischen Konflikts zu Beginnder 2000er Jahre die Zahl der Asylanträge in Ecuadorsignifikant zugenommen. Allerdings stellt nur eineMinderheit der Personen, die im Rahmen deskolumbianischen Konflikts nach Ecuador fliehen,einen Asylantrag.

Im Rahmen des sogenannten ‚Registro Ampliado’, einauf ein Jahr befristetes, niedrigschwelliges undvereinfachtes Schnellverfahren, wurden zwischenMärz 2009 und März 2010 tausende Asylanträge vonKolumbianerInnen in den nördlichen RegionenEcuadors geprüft. Dabei agierten die Behördenmitar-beiterInnen mit Unterstützung des UNHCR anhandder Kriterien der Flüchtlingsdefinition der Cartagena-Erklärung. Fast 28.000 KolumbianerInnen wurden indiesem Zeitraum als Flüchtlinge in Ecuador anerkanntund erhielten damit Zugang zu Abschiebeschutz undBewegungsfreiheit. Die endgültige Ablehnung desFlüchtlingsstatus war als Option im Verfahren nichtvorgesehen. Allerdings wurden knapp 1.200 Fälle zurerneuten Prüfung ins Standardverfahren überwiesen.

Die Erklärung von Cartagena wurde 1984 in Carta-gena de las Índias in Kolumbien als Ergebnis der„Konferenz zum internationalen Schutz von Flüchtlin-

gen in Zentralamerika, Mexiko und Panama“ verab-schiedet. Hintergrund war die Erfahrung von Vertrei-bung von mehreren Millionen Menschen im Zuge desstaatlichen und paramili tärischen Terrors in ver-schiedenen zentralamerika nischen Staaten Anfang der1980er Jahre.

Der Kern der Deklaration ist eine Flüchtlingsdefini-tion, die das international weitgehend anerkannteFlücht lings konzept der Genfer Flüchtlingskonvention(GFK) aufgreift und erweitert. Die Definition umfasstnicht nur diejenigen, die „aus der begründeten Furchtvor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationali -tät, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialenGruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung”aus ihrem Land fliehen. Sie betrifft auch diejenigenPersonen, die sich zur Flucht veranlasst sehen, „weilihr Leben, ihre Sicherheit oder Freiheit durch allge -meine Gewalt, Aggression von außen, innere Kon -flikte, massive Menschenrechtsverletzungen oderandere Umstände, die zu schweren Störungen deröffentlichen Ordnung geführt haben, bedroht ist“.

Ohne Nutzen

Die Cartagena-Erklärung ist für die unterzeichnendenStaaten rechtlich nicht verbindlich. Ihre Flüchtlingsde-finition wurde jedoch von der Mehrzahl der latein -amerikanischen Staaten wörtlich oder mit nur leichtenAbwandlungen in die nationale Asylgesetzgebungaufgenommen. In einer Studie zur Anwendung der

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„Der Flüchtlingspass hilft hier nichts”

Kolumbianische Flüchtlinge in Ecuador

In keinem anderen Land Lateinamerikas leben so viele Flüchtlinge wie in Ecuador. Die meisten von ihnensind vor dem bewaffneten Konflikt und der Gewalt in Kolumbien geflohen. Abschiebeschutz zu erhalten,wird für sie im 30. Jahr der lateinamerikanischen Cartagena-Erklärung immer schwieriger. Von Sebastian Muy

Fotos: Sandra ten Zijthoff

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regionalen Flüchtlingsdefinition kommt Michael Reed-Hurtado allerdings zu dem Gesamturteil, dass sie inder administrativen Praxis selten eine Rolle spiele.Ecuador sei der einzige Staat, der die Flüchtlingsdefi-nition von Cartagena für denbegrenzten Zeitraum des‚Registro Ampliado’ in der vonden VerfasserInnen derDeklaration vorgesehenen Artund Weise angewandt habe.1

Jedoch sind seit dem Ende des Programms im März2010 auch in Ecuador restriktive Maßnahmenzunehmend in den Vordergrund gerückt. Kolumbia -nische Flüchtlinge wurden seitens der Regierung vonStaatschef Rafael Correa zunehmend als Risiko für dieinnere Sicherheit dargestellt. Diese Entwicklungmündete schließlich im Mai 2012 in der Verabschie -dung eines Präsidentialdekrets, mit dem die Flücht -lingsdefinition der Cartagena-Erklärung nach 25Jahren aus der nationalen Gesetzgebung gestrichenund eine 15-Tage-Frist zur Asylantragstellung einge-führt wurde. Die Überschreitung der Frist kann eineInhaftierung und Abschiebung ohne Prüfung derRisiken für die Betroffenen nach sich ziehen.

Angesichts dieses Status Quo entschied die NGOAsylum Access Ecuador (AAE) gemeinsam mitanderen zivilgesellschaftlichen Organisationen, zumbevorstehenden 30. Jahrestag der Cartagena-Erklärung

die SchwachstellenlateinamerikanischerFlüchtlings politikaufzuzeigen: Mit einemForschungsprojekt wurdendie wichtigsten Hürdenermittelt, die Flüchtlingen

den Zugang zu den Rechten verstellen, die ihnennach der Deklaration zustehen.2 Zu diesem Zweckdiskutierten die Geflüchteten in Fokusgruppen diedringlichsten Herausforderungen, mit denen siekonfrontiert sind. Die 30 Geflüchteten, die an denvon AAE initiierten Gruppeninterviews in derHauptstadt Quito und in San Gabriel nahe derkolumbianischen Grenze teilnahmen, nannten Arbeit,Gesundheitsversorgung, Wohnraum sowie dieAnerkennung des Flüchtlingsstatus als primäreSorgen.

1 Michael Reed-

Hurtado (2013): The

Cartagena Declara-

tion on Refugees

and the Protection

of People Fleeing

Armed Conflict and

Other Situations of

Violence in Latin

America, S. 18ff.

2 Die InitiatorIn-

nen der Cartagena

+30-Initiative sind

Asylum Access Ecua -

dor (AAE), Sin

Fronteras I.A.P. aus

Mexiko und Asocia -

ción de Consultores

y Asesores (ACAI)

aus Costa Rica. Das

Projekt wird von

insgesamt über 30

Organisationen aus

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Foto: Michelle Arévalo-Carpenter

„Wir haben zwei Probleme: erstens Kolumbianer, zweitens Afro”

Unter Wäscheleinen.Flüchtlingsberatung der OrganisationAsylum Access Ecuador.

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Eine Teilnehmerin, deren Antrag auf Anerkennungdes Flüchtlingsstatus abgelehnt worden war, sagte:„Ich finde es ungerecht, dass Arbeitgeber denrechtlichen Status eines Menschen ausnutzen, weil siewissen, dass man Kolumbianerin ist. Wie sie zu mirgesagt haben, sobald sie einen Anruf tätigen, kannman abgeschoben werden. Das sehe ich praktisch alsDrohung.” Ihre Schwester sprach von ähnlichenErfahrungen: „Sie haben mir die Tür vor der Nasezugeschlagen, nur weil ich Kolumbianerin bin.”

Nicht selten greifen xenophobe und rassistischeDiskriminierung ineinander, wie die folgende Aussageverdeutlicht: „Wir haben zwei Probleme: Wir sindKolumbianer und Afro.” Ein Teilnehmer wurde alsÖkonom mit Berufserfahrung mehrmals zu Vorstel-lungsgesprächen eingeladen. Sobald er seinenFlüchtlingspass gezeigt hat, so berichtete er, habe ernichts mehr von den Arbeitgebern gehört und seiauch bei Stellen weit unter seiner Qualifikation immerwieder aufgrund des Dokuments abgelehnt worden.„Der Flüchtlingspass hilft bei der Arbeitssucheüberhaupt gar nichts”, urteilte eine Frau.

Abweisung allerorten

Die Geflüchteten in der Grenzregion berichteten vonProblemen beim Zugang zu Gesundheitsversorgung.Eine Frau mit undokumentiertem Status erzählte: „ImGesundheitszentrum werden KolumbianerInnen nichtbehandelt, selbst Kinder, die sehr krank sind. Siebehandeln dich nicht, wenn du keine Papiere hast.”Eine andere mit anerkanntem Status: „Wenn man imKrankenhaus sagt, dass man KolumbianerIn ist, sagensie, man soll nach Kolumbien gehen. Sie zwingen dieFlüchtlinge praktisch, nach Kolumbien zurück-zukehren, um ins Krankenhaus zu gehen.” Zwargarantiert die ecuadorianische Verfassung Flüchtlingenund Asylsuchenden die volle Ausübung ihrer Rechte.Jedoch, so ein Teilnehmer: „Das Problem ist, dass dasGesetz leider in einem Buch stecken geblieben ist. Inder Realität findet es für uns keine Anwendung.”

Die geäußerten Erfahrungen spiegeln weitgehend dieempirischen Erkenntnisse von ForscherInnen derLateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissen schaf -ten (FLACSO) in Quito wieder. Stuart Schussler fasstdas Ergebnis seiner Studie über die Situation kolum -bia nischer Flüchtlinge in Quito so zusammen: „DieMehrheit der Flüchtlinge beantragt keinen Schutz, dieAnträge der meisten Antragstellenden werdenabgelehnt, und diejenigen, die offiziellen Schutzerhalten, können die Rechte in der Praxis nicht inAnspruch nehmen.“3

Einer FLACSO-Studie über die Lebensbedingungenvon kolumbianischen Flüchtlingen in Quito undGuayaquil zufolge ist der wichtigste Aspekt derrechtlichen Anerkennung als Flüchtling der Schutzvor Abschiebung.4 Die Verwundbarkeit und Prekaritätder Flüchtlinge werden durch die Anerkennungallerdings kaum verändert. Aufgrund der auchinstitutionell verankerten Xenophobie ist es selbst fürPersonen mit legalem Aufenthaltsstatus schwierig,Zugang zu würdiger Arbeit, Wohnraum, Bildung undGesundheitsversorgung zu erlangen. Zwar sind Armutund mangelnder Zugang zu wichtigen gesellschaft -lichen Ressourcen Probleme, von denen auch vieleecuadorianische StaatsbürgerInnen betroffen sind.Aufgrund der mehrfachen Diskriminierung gehörenkolumbianische Flüchtlinge jedoch häufig zu denÄrmsten der Armen. Besonders betroffen sindKolumbianerInnen, die nicht nur wegen ihrerNationalität und/oder als Flüchtling, sondern zu -sätzlich aus rassistischen Gründen, wegen ihresökonomischen Status, wegen ihrer Geschlechtsiden-tität oder ihrer sexuellen Orientierung diskriminiertwerden.

Die Mehrheit der Flüchtlinge, deren Asylanträgeabgelehnt werden oder die sich gar nicht erst bei denecuadorianischen Behörden registrieren, ist vonAbschiebung bedroht und hat auch rechtlich keinenZugang zum regulären Arbeitsmarkt. Diese Personenkönnen sich nicht ohne Risiko an die Behördenwenden. Sie sind daher in besonderem Maße vonLohnbetrug, sexualisierter Gewalt und anderenÜbergriffen bedroht.

Mit der Verordnung vom Mai 2012 haben sich dierechtlichen Rahmenbedingungen für den Zugang zumRecht von Flüchtlingen in Ecuador zusätzlich ver-schlechtert: All jenen, die zwar die Kriterien derFlüchtlingsdefinition von Cartagena, nicht aber dieder GFK erfüllen, sowie diejenigen, die nicht inner-halb der 15-Tage-Frist einen Asylantrag stellen,werden nun der Flüchtlingsstatus, der Abschiebe -schutz und alle weiteren damit verbundenen Rechtevorenthalten.<

a s y l

fünfzehn amerika-

nischen Staaten

unterstützt und stellt

eine Art Vernet-

zungsplattform dar.

3 Stuart Schussler

(2009): Entre la

sospecha y la ciuda -

danía: Refugiados

colombianos en

Quito, Quito

(FLACSO), S. 38

4 Carlos Ortega /

Oscar Ospina

(Hrsg.) (2012): “No

se puede ser refugia -

do toda la vida...”

Refugiados urbanos:

el caso de la pobla -

ción colombiana en

Quito y Guayaquil,

Quito (FLACSO), S.

229

Sebastian Muy ist derzeit Mitarbei-

ter bei Asylum Access

Ecuador in Quito.

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Drei somalische Namen im Friedhofsbuch.Drei Frauen, die beim Versuch die Genze zuüber queren den Tod fanden, liegen begraben aufdem Friedhof von Kusadasi.

Tödlicher Evros.Türkisch-griechische Grenze.

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Lange Zeit wurde die Türkei, primär auseuropäischer Sicht, als klassisches Auswande-rungsland angesehen. Tatsächlich gab es aber

schon immer auch Einwanderung in die Türkei. EinBeispiel ist der Bevölkerungsaustausch zwischenGriechenland und der neu gegründeten TürkischenRepublik Anfang der 1920er Jahre, der Muslime undMusliminnen in Griechenland und griechischeChristen und Christinnen in der Türkei betraf. Einanderes ist die Einwanderung „ethnischer“ Türkenund Türkinnen aus ehemals osmanischen Gebietenauf dem Balkan und aus Zentralasien. Diese „kultur-nahen“ Migranten und Migrantinnen sind in derTürkei bisher meist mit offenen Armen empfangenworden. So sieht das seit 1934 immer noch aktuelletürkische Niederlassungsgesetz nur die dauerhafteAufnahme von Einwanderern „türkischen Ursprungsund Kultur“ vor.

In den letzten vierzig Jahren hat sich aber dieHerkunft der Migranten und Migrantinnen in derTürkei stark diversifiziert. Schon als Folge der„Iranischen Revolution“ von 1979, während des Iran-Irakkrieges (1980-88) und auch während des ZweitenGolfkrieges (1990-91) suchten viele MenschenZuflucht auf der anderen Seite der türkischen Grenze.Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu Beginnder 1990er kam auch eine beträchtliche Anzahl vonEinwanderern und Einwandererinnen aus Russlandund anderen ehemals sozialistischen Ländern in dieTürkei. Viele der aus post-sozialistischen StaatenEingewanderten fanden in Istanbul die Möglichkeit,ihren Lebensunterhalt als mobile Händler undHändlerinnen von Textil- und Lederwaren zu

bestreiten. Mittlerweile haben auch Handeltreibendeaus verschiedenen Teilen Afrikas und aus WestasienIstanbul entdeckt. Auf dem Istanbuler Arbeitsmarktherrscht eine große Nachfrage nach Arbeitskräften imNiedriglohn-Bereich, etwa im Haushalt, in der Pflege,in der Unterhaltungs- und Sexindustrie, in derLandwirtschaft, im Bauwesen und in Fabriken.

Grenze und Gefängnis

Die Türkei, und vor allem Istanbul, stellt für vieleMigrierende aus West- und Südasien sowie ausafrikanischen Ländern eine Art Sprungbrett für dieWeiterreise in den Schengenraum dar. Viele fliehenvor Krieg, politischer und wirtschaftlicher Instabilitätoder einer frustrierenden Perspektivlosigkeit. Istanbulist dabei die Zwischenstation, von wo aus sogenannteVerbindungspersonen eine Weiterreise in denSchengenraum organisieren. Die Preise für eineWeiterreise belaufen sich auf mehrere hundert bismehrere tausend Euro, je nach Strecke, Transportmit-tel und Sicherheitsrisiko.

Auf Druck der Europäischen Union hat die Türkei inden letzten Jahren ihren Grenzschutz verstärkt. Dietürkische Polizei hat in den vergangenen zehn Jahrenjährlich im Durchschnitt 60.000 Menschen davonabgehalten, die Türkei Richtung Griechenland zuverlassen. Die Routen wechseln allerdings ständig: alsdie 2007/2008 am meisten benutze Seeroute vonIzmir oder Ayvalık an der türkischen Westküste aufeine relativ nahegelegene griechische Insel intensiverpatrouilliert wurde, verschob sich die Hauptroute aufdie Landgrenze im Norden der Türkei. 2010 wurden

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Bewegung am BosporusDie Türkei wird zur EU-Außengrenze aufgerüstet

Migrations- und Asylfragen wurden von Politik und Öffentlichkeit in der Türkei lange Zeit vernachlässigt.Durch neue Abkommen mit der Europäischen Union dürfte sich das in den kommenden Jahren ändern.Für Flüchtlinge ist das alles andere als eine gute Nachricht. Von Brigitte Suter

Fotos: Brigitte Suter

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dort in den ersten neun Monaten rund 47.000Menschen von griechischen und türkischen Grenzpa-trouillen verhaftet. Die europäische Grenzschutzagen-tur Frontex führt seit 2010 ebenfalls verstärkt Opera-tionen im Evros-Gebiet durch und ist maßgeblich anden Verhaftungen beteiligt.

Seit der Fertigstellung eines 13 Kilometer langenGrenzzaunes im Dezember 2012 hat sich die Route inden Westen weiter aufgefächert. So wurden vermehrtGrenzüberschreitungen nach Bulgarien vermerkt.2013 überquerten täglich bis zuhundert Menschen die Grenze,bei den meisten handelte essich um Personen aus Syrien. InBulgarien wächst die Abwehrgegen die Flüchtlinge: DieRegierung begann mit dem Baueines dreißig Kilometer langenGrenzzauns, der im Februar2014 fertig sein soll. Auch neueSeerouten sind entstanden, die vermehrt in derSüdtürkei beginnen und griechisches Festland oderInseln anpeilen. Für viele endet die Weitereise in denSchengenraum tödlich, sowohl in der Ägäis als auchim Grenzfluss Evros.

Abgefangene Migranten und Migrantinnen werden inder Türkei meist für unbestimmte Zeit in ein Flücht-lingsgefängnis gesperrt. Menschenrechtsorganisatio-nen haben die Zustände in diesen Gefängnissenbemängelt; unter anderem gäbe es oft keinen Zugangzum Asylsystem, die Insassen würden ungenügendüber ihre Rechte informiert und hätten keinerleiMöglichkeiten, eine richterliche Kontrolle zu Rechtssi-cherheit und Dauer ihrer Inhaftierung einzufordern.Nach der in der Regel einige Wochen dauernden Haftkommen die Flüchtlinge mit einem Wegweisungsbe-scheid frei oder werden ins Asylsystem aufgenom-men. Generell schiebt die Türkei nur wenige Perso-nen ab, wohl vor allem aus finanziellen Gründen.Trotzdem kommt es zu Abschiebungen, vor allem innahe gelegene Länder. Die Türkei wurde auch schonmehrere Male vom Europäischen Gerichtshof fürMenschenrechte für schuldig befunden, gegen dasNon-Refoulement-Gebot verstoßen zu haben. DiesesPrinzip verbietet es einem Staat, eine schutzsuchendePerson in ein Land zurückzuschicken, in dem ihrLeben gefährdet sein könnte.

Asyl nur für Europäer und Europäerinnen

Viele afrikanische und asiatische Migranten undMigrantinnen stellen in der Türkei einen Asylantrag.Zwar hat die Türkei die UN-Flüchtlingskonventionunterzeichnet, das Recht auf eine Asylstatusprüfungspricht sie jedoch alleine Personen aus europäischenLändern zu. Hier wird von einem geografischenGebiet ausgegangen. Die Türkei stützt sich dabei aufdie Definition des Europarates, die von 47 europä -ischen Ländern ausgeht, zählt aber auch zentralasiati-

sche Länder sowie dieKaukasusregion dazu.

Asylsuchenden aus nichteu-ropäischen Staaten, die beiWeitem die Mehrheit allerAnträge stellen, bleibt dieMöglichkeit, sich beimUNHCR zu registrieren undauf eine Umsiedlung in

einen Drittstaat (Resettlement) zu hoffen, da diedauerhafte Niederlassung von anerkannten nicht-europäischen Flüchtlingen in der Türkei nichtvorgesehen ist. Dem UNHCR obliegt die alleinigeVerwaltung des Resettlement. Jährlich werden etwa5.000 Flüchtlinge aus der Türkei haupt sächlich in dieUSA, nach Kanada und Australien umgesiedelt.

Die Zahl der Asylsuchenden und der Flüchtlingeunter UNHCR-Mandat in der Türkei ist in den letztenzehn Jahren stark angestiegen: Lag ihre Zahl im Jahr2005 noch bei rund 7.000 insgesamt, so zählte derUNHCR im November 2013 fast 25.000 anerkannteFlüchtlinge und rund 15.000 Asylsuchende. Weitere30.000 Menschen haben sich zudem als Anwärter undAnwärterinnen auf das momentan total ausgelastete,offizielle Asylverfahren registriert. Wann sie darinaufgenommen werden können, ist noch unklar.Insgesamt sind Afghanistan, Iran, Irak und Somaliadie hauptsächlichen Herkunftsländer.

Die meisten Menschen unter UNHCR-Mandat werdenauf Geheiß des Innenministeriums auf eine der bis zuachtzig sogenannten Satellitenstädte verteilt. Für dieDauer des Asyl- und Resettlement-Verfahrens, dasmehrere Jahre in Anspruch nehmen kann, müssensich Personen in gewissen Städten täglich, in anderenwöchentlich bei der Polizei registrieren. Um die Stadtzu verlassen braucht es ebenfalls eine Erlaubnis.

Die meisten dieser Städte befinden sich im Inland,die Metropolen Istanbul und Ankara sind davonausgeschlossen. Grundsätzlich müssen die Flüchtlinge

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Die Türkei schiebt nur wenigePersonen ab, wohl vor allem ausfinanziellen Gründen.

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für ihren Lebensunterhalt selber aufkommen. DieVerhältnisse in diesen Städten unterscheiden sich sehrstark bezüglich Arbeitsmöglichkeiten, Wohnsituation,Ausbildungszugang sowie anderweitiger Unterstüt-zung. Staatliche, aber vor allem nichtstaatlicheOrganisationen bieten zum Teil Hilfe an, in Form vonKleidern, Folterdokumentation, psychologischerBehandlung oder auch kleineren finanziellen Beiträ-gen.

Flucht vor Bürgerkrieg

Ebenfalls massiv angestiegen ist die Anzahl vonsyrischen Bürgerkriegsflüchtlingen. Diese erhaltenvon der türkischen Regierung einen vorläufigenSchutzstatus. Dieser spricht ihnen zwar Aufenthalts-rechte sowie einen vereinfachten Zugang zumGesundheitswesen, zum Arbeitsmarkt und zuAusbildungsmöglichkeiten zu, nicht jedoch dieUmsiedlung in ein Drittland. Ende November 2013hielten sich mehr als 700.000 syrische Flüchtlinge inder Türkei auf, und allein in diesem Monat registrier-ten sich bei den türkischen Behörden rund 30.000syrische Staatsangehörige.

Viele der syrischen Bürgerkriegsflüchtlinge leben ineinem der mehr als zwanzig Container- und Zeltlagerim Osten der Türkei, die mit Elektrizität, Sicherheits-vorkehrungen, fließendem Wasser und einer Kran-kenstation ausgestattet sind. Registrierten syrischenFlüchtlingen wird eine Identitätskarte ausgestellt, undein monatlicher finanzieller Beitrag von mehrerenhundert Türkischen Lira (1 Euro=3 TL) zur Verfügunggestellt. Mehr als die Hälfte aller Flüchtlinge ausSyrien lebt aber auch in urbanen Gebieten, wo siezum Teil bei Verwandten unterkommen, oder auch inParks oder Slumgebieten. Viele versuchen außerdemirregulär in den Schengenraum zu reisen. SyrischeStaatsangehörige haben zwischen Juli 2012 und Juli2013 insgesamt mehr als 40.000 Asylgesuche in EU-Ländern gestellt, die Mehrzahl davon in Deutschland,Schweden und Bulgarien.

Die Zahl der eingereisten afghanischen Staatsangehö-rigen hat sich ebenfalls wesentlich erhöht: Rund20.000 reisten 2013 größtenteils aus dem Iran ein, wosich die Wirtschaftslage rasant verschlechtert hat. Inden letzten Jahren konnten nur sehr wenige Afgha-nen und Afghaninnen mit Flüchtlingsstatus umgesie-delt werden. Ein Grund dafür ist, dass viele afgha -nische Asylsuchende nicht als Flüchtlinge im Rahmender UN-Konvention anerkannt wurden, sondern unterden Schutz des erweiterten Mandats fielen, und daher

weit unten auf der Prioritätenliste der Umsiedlungs-länder landeten. Der UNHCR verleiht diesen erweiter-ten Schutzstatus – der dem subsidiären Schutzstatusim europäischen Recht in etwa gleichkommt – anPersonen, die zwar keine Verfolgung gemäß demersten Artikel der Flüchtlingskonvention geltendmachen können, deren Rückkehr in ihre Heimat ausSicherheitsgründen jedoch nicht verantwortbar ist.Menschen aus Afghanistan, vor allem diejenigen ausden Provinzen Helmland, Kandahar und Kunar,tragen oft diesen Status, da in ihrer Herkunftsregioneine Situation von weit verbreiteten Menschenrechts-verletzungen und allgemeiner Gewalt herrscht, dieeine außerordentlich hohe Anzahl ziviler Opferfordert und viele Menschen zur Flucht bewegt.

Überdies geht der UNHCR davon aus, dass diemeisten Asylsuchenden aus Afghanistan, die zuvor imIran Zuflucht gefunden haben, vor allem aus wirt-schaftlichen Gründen flüchten und daher die Schutz-kriterien der Flüchtlingskonvention nicht erfüllenwürden. All dies hat im Mai 2013 zum Beschluss desUNHCR geführt, afghanische Staatsangehörige fürmindestens zwölf Monate vom Asylverfahren auszu-schließen. Aufgrund dieser prekären Zukunftspers -pektiven versuchen daher viele afghanische Flücht-linge die Türkei in Richtung Westen zu verlassen.

Abschiebungen in die Türkei

Im April 2013 verabschiedete das türkische Parlamentdas erste Asylgesetz des Landes, ab 2014 werdenAsylverfahren von der Türkei selber getätigt. Überdiesregelt das Gesetz ein breites Band von anderenBestimmungen über die Ein- und Ausreise, denAufenthalt und den Zugang zum Arbeitsmarkt. DieVerabschiedung wurde von der EU als auch vonzivilen Organisationen einstimmig begrüßt. Nicht-europäischen Flüchtlingen wird jedoch nach wie vordas Recht auf dauerhafte Niederlassung vorenthalten.Inwieweit der UNHCR in erster oder nur zweiterInstanz des Asylverfahrens involviert ist oder ob derOrganisation lediglich die Verwaltung des Resettle-ment obliegt, ist noch unklar.

Darüber hinaus unterzeichnete die Türkei im Dezem-ber 2013 ein Rückübernahmeabkommen mit der EU.Im Austausch gegen Visaerleichterungen für türkischeBürger und Bürgerinnen erklärt sich die Türkei dazubereit, irregulär in die EU eingereiste Migranten undMigrantinnen wieder ins Land lassen. Angesichts derTatsache, dass in den letzten Jahren schätzungsweisedie Hälfte aller Migrierenden, die auf dem Landwegden Schengenraum betraten, durch die Türkei reisten

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und das türkische Asylsystem schon jetzt an ernsthaf-ten Überforderungssymptomen leidet, wird dieseEntwicklung grundsätzliche Veränderungen für dieMigrierenden mit sich bringen. Nichtregierungsorgani-sationen im Asylbereich befürchten eine Vernachlässi-gung des Schutzaspektes im Umgang mit den in dieTürkei abgeschobenen Asylsuchenden.

Trotz der zahlreichen Migrationsbewegungen, die dieTürkei zum Teil aus geografischen, zum Teil aushistorischen und wirtschaftspolitischen Gründenerlebt, hielt sich das Interesse an Migrations- undAsylfragen sowohl in der Politik als auch in derbreiten Öffentlichkeit bis anhin erstaunlich gering.Schon jetzt sind vereinzelte Unmutsbekundungenüber die weitverbreitete Präsenz der syrischenFlüchtlinge in der Öffentlichkeit zu hören. Dieumfassenden Änderungen durch das neue Gesetzsowie das Rückübernahmeabkommen könnten diesin den kommenden Jahren noch verstärken und dazuführen, dass Migration nicht nur Außenpolitikverbleibt, sondern, wie andernorts, auch innerhalbdes Landes politisiert.<

Während meines Forschungsaufenthaltes für meine

Dissertation (2007-2009) näherte ich mich in unzähligen

Gesprächen den Realitäten von Migranten und Migrantin-

nen aus verschiedenen afrikanischen Ländern, deren

Aufenthalt in Istanbul sich teilweise wegen des verstärkten

Grenzschutzes deutlich verlängert hat. Trotz aller greifbaren

Schwierigkeiten konnten diese Menschen der Stadt oft etwas

Positives abgewinnen. So zum Beispiel Peter aus Nigeria, der

Ende 2007 in Istanbul landete, mit dem Ziel, sobald wie

möglich Westeuropa zu erreichen. Dieses Unterfangen erwies

sich zweimal als unmöglich oder zu gefährlich. Daraufhin

beschloss Peter, in Istanbul zu bleiben und die Möglichkeiten,

dort ein stabiles Einkommen zu erwirtschaften, auszuschöpf -

en. Ein Jahr später zog er den Schluss, dass die Lebensbedin-

gungen in Istanbul ohne Papiere vergleichsweise besser sind

als in anderen europäischen und afrikanischen Städten –

trotz Ausbeutung auf dem Arbeitsmarkt, Schikanen der

Polizei und der steten Drohung, inhaftiert und eventuell

abgeschoben zu werden. Noch einmal fünf Jahre später

bewegt er sich in der Stadt ohne jegliche Angst. Die kürzliche

Rückkehr einiger Asylsuchender aus Griechenland sieht er

als Beweis dafür, die richtige Entscheidung getroffen zu

haben.

a s y l

Brigitte Suter lehrt und forscht am

Malmö Institute for

Studies of Migration.

2012 erschien ihre

Dissertation „Tales

of Transit: Sub-

Saharan African

Migrants' Experien-

ces in Istanbul”.

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Pro Asyl existiert seit knapp 30Jahren. Wie hat sich Ihre Arbeit imLaufe der Zeit verändert?

Wir haben als Organisationbegonnen, die sich in Deutschlandfür die Verteidigung der Men-schenrechte und des Grundrechtsauf Asyl einsetzt. Mit dem „Asyl-kompromiss“ von 1993 wurdedieses Grundrecht im Grundgesetzfaktisch beseitigt. Wir haben unsseitdem zunehmend auf Europakonzentriert und versuchen, dieschweren Verletzungen derFlüchtlings- und Menschenrechtean den Außengrenzen Europas zudokumentieren und anzupran-

gern. Insofern hat sich Pro Asylvon einer deutschen zu einer aufeuropäischer Ebene agierendenOrganisation gewandelt.

Welche Strategie verfolgt Pro Asyl dabei?

Wir haben die Erfahrung gemacht,dass wir viel bewirken können,wenn wir einzelne Fälle vonFlüchtlingen durchklagen, inmanchen Fällen bis hin zumBundesverfassungsgericht. Hierdenke ich an das wegweisendeUrteil des Verfassungsgerichts zumAsylbewerberleistungsgesetz vomJuli 2012. Pro Asyl hat die Klage

in Deutschland unterstützt undfinanziert. In Europa gehen wirmit Einzelfällen bis hin zumEuropäischen Gerichtshof fürMenschenrechte, der im Januar2011 das Zurückschieben vonFlüchtlingen nach Griechenlandfür menschenrechtswidrig erklärthat. Zum einen werden soeinzelne Flüchtlinge unterstützt,wir schaffen damit aber auchPräzedenzfälle und gehen in dieÖffentlichkeit.

Im außereuropäischen Ausland istPro Asyl bisher verhältnismäßigwenig aktiv. Wir konzentrierenuns darauf, Menschenrechtsver -letzungen an Europas Grenzenaufzuzeigen. Ein Schwerpunktunserer Arbeit ist derzeit dieillegale Zurückweisungspraxis ander europäisch-türkischen Grenze.Viele Flüchtlinge aus Syrien,Afghanistan, Irak und Iranwählen den Weg über die türkischeGrenze nach Europa, denn das istder nahe liegende Fluchtweg.

Die Bedingungen für Asylsuchendehaben sich in Deutschland undEuropa durch den „Asylkompro-miss“ und die Dublin-2-Verordnungdrastisch verschlechtert. Gibt esdennoch Erfolgsgeschichten vonPro Asyl?

In Deutschland wurde dasAsylbewerberleistungsgesetz überJahre angeprangert, das Menschenausgrenzt, diskriminiert und derVerelendung aussetzt. DiesesGesetz wurde vom Bundesverfas-sungsgericht heftig kritisiert und inder jetzigen Form als verfassungs-widrig bezeichnet. Die Sozial -

a s y l

Pro Asyl wurde 1986

ins Leben gerufen.

Der Verein engagiert

sich mit Partneror-

ganisationen aus 29

euro päischen

Ländern im

European Council of

Refugees and Exiles

(ECRE).

Der in Frankfurt

a.M. ansässige

Förderverein Pro

Asyl finanziert sich

fast ausschließlich

aus Spenden und

Beiträgen. Ende

2012 hatte er rund

16.000 Mitglieder.

Die Stiftung Pro Asyl

wurde 2002 als

eigenständige Ein -

richtung gegründet

und vergibt den

Menschenrechtspreis

„Pro-Asyl-Hand“.

2013 wurde er dem

Ehepaar Harms

43

„Gesetze sind veränderbar“Geschäftsführer Günter Burkhardt über die Arbeit von Pro Asyl. Ein Interview von Ronja Morgenthaler

Foto: Pro Asyl

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leistungssätze für Asylsuchendelagen zwanzig Jahre lang unterdem sogenannten Existenzmini-mum – das Bundesverfassungsge-richt hat sie im Juli 2012 endlichangehoben.

Ein weiterer Erfolg von Pro Asyl,den Flüchtlingsräten, den lokalenInitiativen und von den betrof -fenen Geduldeten selbst sind dieBleiberechtsregelungen aufBundes- und Landesebene. Durchdie beiden größeren Bleiberechts-regelungen 2006/07 erhieltenrund 60.000 Menschen vorersteine Aufenthaltserlaubnis, dieMehrzahl der Geduldeten bliebaber damals außen vor. Außerdemverlor ein Teil der „Bleibeberechtig-ten“ das Aufenthaltsrecht wieder.Die Regelungen waren unzurei-chend und sind inzwischen langeher. Heute stellt sich das Problemerneut. Deshalb fordern wir eineneue, stichtagsfreie Bleiberechtsre-gelung, bei der auch humanitäreGesichtspunkte eine Rolle spielen.

Insgesamt ist das Bewusstseingewachsen, dass man Menschen,die seit Jahren in Deutschlandleben, nicht einfach so abschiebenkann. Das ist sicher eines derwichtigen Ergebnisse unsererArbeit. In Bezug auf Europawaren die Recherchen in Grie-chenland von zentraler Bedeu-tung. Wir haben über Jahrehinweg die Menschenrechtsverlet-zungen an der dortigen EU-Grenze angeprangert, mit demErgebnis, dass in Deutschland2011 ein Abschiebestopp nachGriechenland folgte. Dieser hatmehr als 10.000 Flüchtlinge vorder Abschiebung in die menschen-unwürdigen Zustände bewahrt,die ihnen in Griechenland drohen.

Wie gestaltet sich aus Ihrer Sichtdie gesellschaftliche Debatte überAsyl in Deutschland? Angesichtsvon Ereignissen wie in Berlin-Hellersdorf ist kaum zu glauben,dass das Bewusstsein, man könne„Menschen nicht einfach soabschieben“, gewachsen ist.

Unserer Wahrnehmung nach gibt

es in der deutschen Öffentlichkeit

wachsende Unterstützung für

Flüchtlinge. Das spiegelt sich auch

in den Medien wieder. Im Vergleich

zu den neunziger Jahren, in denen

zahlreiche Medien offensiv

Vorurteile gegen Asylsuchende

schürten, ist die Berichterstattung

über Flüchtlinge heute

meist differenzierter.

Gleichzeitig gibt es nach

wie vor rassistische

Ressentiments bis tief in

die Mitte der Gesellschaft

und entsprechende

Versuche der Rechten,

dies in Wahlkämpfen zu

instrumentalisieren.

Wenn irgendwo Flücht-

linge aufgenommen werden sollen

oder neue Unterkünfte geplant sind,

mobilisieren extrem rechte Kreise

den rassistischen Bodensatz in der

Region. Hoffnung macht, dass sie

dabei auf immer stärkere Gegen-

wehr stoßen – auch in Berlin-

Hellersdorf, wo sich immer mehr

Menschen gegen die rassistische

Hetze positionieren und die

Schutzsuchenden unterstützen.

Was mich beunruhigt, ist der

wachsende Rassismus und die

rechtsextreme Stimmung in vielen

europäischen Ländern wie Ungarn,

Griechenland oder Frankreich. Im

Vergleich zu diesen Staaten habe

ich den Eindruck, dass in Deutsch-

land im Moment die demokratische

Zivilgesellschaft wächst, die für

Flüchtlinge und Migrantinnen und

Migranten Position bezieht. Das

kann sich aber auch ändern.

Die Bewegung der Refugees hatsich ebenfalls verändert. Sie istgestärkt und tritt konfrontativerauf. Wie steht Pro Asyl zu Aktionenwie der Besetzung des BerlinerOranienplatzes?

Es ist eine neue Qualität in derDebatte in Deutschland, dass esFlüchtlingen dank dieser Aktionenso effektiv gelingt, in der Öffent-lichkeit Gehör zu finden und deutlich zu machen, dass dieihnen aufgezwungenen Lebensbe-dingungen unerträglich sind. ProAsyl hat sich öffentlich solidarisiertund unterstützt die Bewegungen.Wenn Menschen während des

Asylverfahrens zu Mitteln wieHungerstreiks greifen, macht dasdeutlich, in welcher verzweifeltenSituation die Betroffenen sind –aufgrund der Ausgrenzung durchdie Lagerunterbringung, derResidenzpflicht, der Arbeitsverbote,aufgrund der permanentenUngewissheit, der die Betroffenenwährend der oft viele Monatedauernden Asylverfahren ausge-setzt sind.

Erfährt Pro Asyl auch aus der PolitikUnterstützung, oder speist sichletztere maßgeblich aus derZivilgesellschaft?

Unterstützung erfahren wir ausallen gesellschaftlichen Gruppenund Parteien. Und in allen vonihnen gibt es auch jene, die sagen:„Wir wollen keine Flüchtlinge inDeutschland oder Europa“. Die

a s y l

verliehen, das sich

erfolgreich für die

Rückkehr von

Gazale Salames und

ihren Kindern aus

der Türkei nach

Deutschland

eingesetzt hatte.

Mittlerweile ist Pro

Asyl zu einer Stimme

in Deutschland

geworden, die selbst

von der Politik nicht

mehr gänzlich

ignoriert werden

kann. Die Süd-

deutsche Zeitung

kommentierte die

Arbeit der Organisa-

tion 2011 mit den

Worten: „Stets

dagegen, oft unter -

legen“, konsta tierte

aber auch: „Wo die

Flüchtlings vertreter

einst wahr genom -

men wurden wie

Sektierer in Woll -

pullis, trotzen sie

heute Respekt ab.“

44

„Unserer Wahrnehmung nach gibt es wachsende Unterstützung für Flüchtlinge“

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Ronja Morgenthalerist Mitarbeiterin

der iz3w.

45

Auseinandersetzung um Asylpoli-tik und Flüchtlingsschutz mussquer durch alle politischenParteien und Organisationengeführt werden.

Pro Asyl ist eine Lobbyorganisation.Das heißt, Sie können gegenüberInstitutionen und PolitikerInnennicht allzu konfrontativ auftreten.Üben Sie taktische Zurückhaltung?

Pro Asyl versteht sich nicht alsLobby-, sondern als Menschen-rechtsorganisation. Wir setzen unsnicht nur für Flüchtlinge ein,sondern für die Wahrung deruniversellen Menschenrechte.

Zum Diskurs über Menschenrechtegehört eine klare Sprache. DasVerhalten der Bundeskanzlerinbeim Europäischen Gipfel imOktober nach dem Bootsunglückvor Lampedusa, wo mehrerehundert Menschen starben, habeich als „empörend“ bezeichnet.Das Abschlussdokument wird vonPro Asyl als „Dokument derKaltherzigkeit“ bezeichnet. DennEuropas Antwort auf dieseKatastrophe ist, Frontex auszu -bauen, die Grenzen noch weiterabzuschotten, den Ring umEuropa vor das Mittelmeer zulegen.

Sie argumentieren legalistisch, dasheißt Pro Asyl pocht auf dieEinhaltung von Gesetzen. Damit istder Staat Bezugspunkt bei derEntscheidung über Asylverfahren.

Pro Asyl setzt sich für die Rechtevon Flüchtlingen und Migrantenein – und zwar für verbriefteRechte, etwa die Genfer Flücht-lingskonvention oder die Europäi-sche Menschenrechtskonvention.Wir sehen es als unsere Aufgabean, dafür zu kämpfen, dass dieseRechte von den Nationalstaatenrespektiert werden. Das kann manlegalistisch nennen, doch wer die

Realität kennt, weiß, dass diesesZiel in der Praxis leider schonziemlich idealistisch ist. Wenn sichdie Staaten tatsächlich an die vonihnen ratifizierten Gesetze haltenwürden, wäre schon enorm vielerreicht.

Zum bedingungslosen Kampf fürdie Menschenrechte gehört auch,dass man versucht, die Rechte, dieexistieren, gegenüber dem Staat zuverteidigen. Staaten versuchenstets, Flucht- und Migrationsbewe-gungen zu steuern. Wir setztendagegen, dass das Recht auf Asyl,das Recht auf Zugang an derGrenze zu einem Asylverfahren,sich der Steuerung entzieht. Umdas durchzusetzen, argumentierenwir mit den Rechten, die inEuropa gelten.

Einerseits pochen Sie also auf dieEinhaltung von existierendenGesetzen und gleichzeitig arbeitenSie gegen restriktive Gesetze.

Gesetze sind von Menschengemacht und veränderbar. Politikmachen heißt oftmals, sich aufGesetze berufend die Veränderunganderer Gesetze zu verlangen.Ohne gemeinsame Grundlage lässtsich schließlich kaum diskutieren.Wir haben dabei die Erfahrunggemacht, dass die Auseinanderset-zungen oft innerhalb der Parteienlaufen, zwischen Innenpolitikernund Außenpolitikern.

Wenn wir etwa das VersagenEuropas in der syrischen Flücht-lingskrise anprangern, bekommenwir häufig Unterstützung vonAußenpolitikern verschiedenerParteien, während Innenpolitikeroft versuchen, legalistisch zuargumentieren und die Grenzenzu schließen.

Pro Asyl argumentiert nicht legalistisch?

Pro Asyl argumentiert auf derBasis der Menschen- und derFlüchtlingsrechte. Denen zufolgedarf man zum Beispiel Flüchtlingeauf dem Meer nicht einfachzurückschieben oder auf offenerSee aussetzen. Aber genau daspassiert mit syrischen Flüchtlingenan den griechischen Seegrenzen,wie wir in unserem neuenGriechenland-Türkei-Bericht„Pushed Back“ gezeigt haben. Umdiese Praxis anzugreifen, leistenwir Öffentlichkeitsarbeit, greifendie Regierungen und die Handeln-den politisch an, gehen aber auchjuristisch dagegen vor.<

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Was für Leute rufen bei eucheigentlich an? Sind das dieBetroffenen selbst?

Nein. Nur etwa zehn bis zwanzigProzent unserer gesamtenAnruferinnen und Anrufer sinddie Betroffenen selbst. Derüberwiegende Teil der Anrufekommt eher von Unterstützerinnenund Unterstützern, Nachbarn,Bekannten, Freundinnen undFreunden oder Flüchtlingen, dieschon länger hier in Deutschlandleben. Die Betroffenen, insbeson-dere neu angekommene Flücht-linge, haben ja im Regelfall nochnie etwas von Pro Asyl gehört –wie sollten sie also zu uns finden?Zudem sprechen viele der Neuan-kömmlinge nicht unbedingtDeutsch, Englisch, Französischoder Spanisch – das sind übrigensdie vier Sprachen, die wir mehroder weniger in unserer Telefonbe-ratung abdecken können. EineVerbindung zu unserem Bera-tungsteam ergibt sich also meisterst durch Dritte. Häufig meldensich bei uns aber auch Anwältin-nen und Anwälte, sowie lokaleBeratungsstellen, die sich inkonkreten Einzelfällen zu be-stimmten rechtlichen Fragestellun-gen erkundigen wollen oder

Kontakte zu Organisationen inanderen europäischen Staatensuchen.

Wie viele Anfragen kommen imDurchschnitt am Tag bei euch inder Telefonberatung an?

Das kann ich dir nur ungefährbeantworten. Wir haben vonMontag bis Freitag eine vierstün-dige Telefonschicht und zwarvormittags von 10-12 Uhr undnachmittags von 14-16 Uhr. Indieser relativ kurzen Zeit erreichenuns etwa 20 bis 25 Anrufe. Diesequantitative Angabe sagt abernicht viel aus, denn ein Beratungs-gespräch kann gerne auch maleine dreiviertel Stunde dauernund währenddessen ist unsereLeitung belegt und keiner kommtmehr durch.

Zu wievielt arbeitet ihr bei derTelefonberatung? Wie teilt ihr euchdie Arbeit auf und in welcher Formerreichen euch denn die Anfragen?

Wir arbeiten mittlerweile zu viertauf zweieinhalb Stellen. DieAnrufe auf der öffentlichenBeratungsnummer werden voneiner Person beantwortet. Dabeiwechseln wir uns im Team ab. Die

anderen kümmern sich in derZwischenzeit um ihre Einzelfälle,die ebenfalls über die öffentlicheBeratungsleitung reinkommenund dann durchgestellt werden,oder bearbeiten die eingehendenE-Mails, Briefe oder Faxe. Haupt-sächlich erreichen uns Anfragenper Mail, die wir dann alleschriftlich oder telefonischbeantworten. Während einerTelefonschicht kann es dahervorkommen, dass drei Menschengleichzeitig telefonieren. Dement-sprechend laut ist es auch manch-mal in unserem Büro.

Verstehe ich das richtig: Alle Mails,die an die allgemeine Kontakt-adresse von Pro Asyl gehen,erreichen erst einmal euer Büro? Ihrseid also neben der Beratungshot-line auch so etwas wie der Emp-fang und die Pforte von Pro Asyl?

Ja, diese Mails erreichen erstmalauch uns. Wobei die Verteilungder Mails an die diversen Mitarbei-terinnen und Mitarbeiter von ProAsyl mittlerweile nicht mehr hierim Beratungsbüro läuft, sondernvon einer Kollegin erledigt wird. Istdie Kollegin jedoch krank, imUrlaub oder dienstlich unterwegs,dann übernehmen wir diesen Job.

a s y l

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Der Einzelfall zählt doch

Telefonberatung im Dschungel des deutschen Asyl- und Ausländerrechts

Dirk Morlok, seit elf Jahren in der Telefonberatung bei Pro Asyl in Frankfurt tätig, gibt Auskunft darüber, wel-che Themen derzeit häufig angefragt werden, wo gute Asylberatung an ihre Grenzen gelangt und was ei-nen erfolgreichen Arbeitstag ausmacht. Ein Interview von Matthias Weinzierl.

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Alle Mails, die konkrete Einzelfälleoder einen Beratungsbedarfbeinhalten, fallen in unsereZuständigkeit. Wir beantwortenaber auch allgemeine inhaltlicheAnfragen. Zum Beispiel versorgenwir Journalistinnen und Journali-sten mit Hintergrundinformatio-nen oder beantworten Anfragenvon Studierenden, die geradebeispielsweise an einer Hausarbeitüber Abschiebehaft sitzen undkonkrete Nachfragen dazu haben.Vorrang haben aber immerAnfragen mit Einzelfallbezug undkonkretem Beratungsbedarf.

In eurer täglichen Beratungstätig-keit bekommt ihr sicher einenguten Überblick über die dringlich-sten Bedürfnisse und Probleme der

Anruferinnen und Anrufer. Wo liegtdenn derzeit der größte Beratungs-bedarf?

Das mit Abstand wichtigste Themades letzten Jahres und wahrschein-lich auch der nächsten Monate istganz klar Syrien. Ich habe in denelf Jahren, in denen ich bei ProAsyl Telefonberatung mache, vieleFlüchtlingskrisen mitbekommen:Irak, Afghanistan, Somalia. Aberso einen Ansturm, wie wir ihnderzeit mit Syrien erfahren, habeich zuvor weder in dieser Qualitätnoch Quantität erlebt. Es meldensich derzeit wirklich sehr viele inDeutschland lebende syrischeBürgerinnen und Bürger, dieverzweifelt nach einer Möglichkeitsuchen, ihre Verwandten herholen

zu können. Es melden sich aberauch sehr viele Unterstützerinnenund Unterstützer, die ebenfallsihren syrischen Freundinnen undFreunden oder Bekannten dabeihelfen wollen.

Es läuft immer auf die gleicheFrage hinaus: Wie bekommen wirdie Leute hier her? Es gibt ja bereitsAufnahmeprogramme, die aberleider zum Großteil nicht wirklichoder nur sehr langsam undbürokratisch funktionieren.Zudem sind die Anforderungendabei so hoch, dass sie für vielekaum zu erfüllen sind. So wirdzum Beispiel von den hierlebenden syrischen Familien einevolle Lebensunterhaltssicherungfür die „einreisewilligen“ Personengefordert. Für viele ist es aberschlicht und einfach nichtmöglich, mit ihrem Einkommennoch eine zusätzliche Person oderzumeist sogar eine ganze Familieauf unabsehbare Zeit zu versorgenund zu finanzieren.

Ansonsten beschäftigen wir uns inder Beratung natürlich regelmäßigmit Fragen zum Asylverfahrenund mit drohenden Abschiebun-gen. Ein weiteres sehr wichtigesThema sind Anfragen im Zu-sammenhang mit der so genann-ten Dublin-Verordnung, also dieRegelung der Zuständigkeiten fürAsylverfahren innerhalb der EUund der damit einhergehendenAbschiebungen.

Wie geht ihr bei einem Anruf vor?Wie läuft so ein Beratungsgesprächkonkret ab?

Häufig müssen wir auf unsgestellte Fragen zuerst mit einerFlut an Rückfragen reagieren, umüberhaupt den Sachverhaltaufzuklären und das eigentlicheProblem eingrenzen zu können.Darum reagieren wir auch aufviele E-Mails nach Möglichkeit mit

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Foto: Marlene Becker

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einem klärenden Rückruf. Bei unsmeldet sich zum Beispiel einAnrufer und berichtet unsaufgeregt, dass er gerade eine„Abschiebung“ erhalten habe.Zuallererst müssen wir dannherausfinden, was damit über-haupt gemeint ist: Ist der Asylan-trag abgelehnt worden und imBescheid steht, dass nach Ablaufeiner Frist die Abschiebung droht?Lebt der Anrufer seit vielen Jahrenmit einer Duldung hier und hatnun von der Ausländerbehördeeine Abschiebungsandrohungerhalten? Handelt es sich um einenDublin-Fall und es liegt eineAbschiebungsanordnung vor? Erstwenn diese und andere Fragengeklärt sind, können wir dieProblemlage eingrenzen undentsprechend konkret beraten. Invielen Fällen ist das aber trotzdemnur schwer möglich, weil das Asyl-und Ausländerrecht in Deutsch-land ein ziemlicher Dschungel istund wir nicht immer zu einerkonkreten Klärung des Sachver-halts kommen.

Welche Fälle stellen sich in derBeratung als besonders dramatischheraus?

Ich finde es immer dramatisch,wenn klar wird, dass eine Abschie-bung ansteht und wir feststellenmüssen, dass sie kaum noch zuverhindern ist. Im Ernstfall rufenhier Leute an und sind verzweifelt:„Hilfe, mein Verwandter, meinNachbar, meine Freundin, dieFamilie unserer Schülerin ist heuteMorgen von der Polizei abgeholtworden und befindet sich auf demWeg zum Flughafen“. Dann ist esfünf vor zwölf! Und hier wirdsofort alles andere hintenangestellt.

Und was macht ihr in einemsolchen Moment?

Wir müssen umgehend möglichst

viel zum Sachverhalt herausfinden,

ob eine Anwältin oder ein Anwalt

eingeschaltet ist, wer sonst in den

Fall involviert ist, ob es Sinn macht,

den Flughafensozialdienst zu

informieren und so weiter. Wir als

Beratungsteam können eine

Abschiebung ohnehin nicht selbst

verhindern, aber wir haben gewisse

Spielräume, innerhalb derer wir

agieren und die wir nutzen

können. Wir versuchen dann,

unsere und lokale Netzwerke und

Unterstützerinnen und Unterstützer

zu aktivieren und klären, ob die

anwaltliche Vertretung über die

drohende Abschiebung informiert

ist und z.B. einen Eilantrag gestellt

hat und dadurch Zeit gewonnen

oder die Abschiebung vorläufig

gestoppt werden kann. Aber wenn

so ein Antrag bereits gestellt und

abgelehnt wurde, dann ist auf der

rein rechtlichen Ebene kaum noch

etwas zu erreichen. Das kann zwar

von Einzelfall zu Einzelfall alles

sehr unterschiedlich laufen, aber in

manchen Fällen ist dann wirklich

nichts mehr zu machen.

Wie teilt ihr jemandem am Telefonmit, dass in seinem Fall nichts mehrzu machen ist? Das stelle ich miräußerst unangenehm vor.

In solchen Fällen bedeutet unsereTelefontätigkeit einen gewissenSchutz für uns als Beraterinnenund Berater. Es ist natürlicheinfacher, den Hilfesuchenden dieunangenehmen Dinge nicht direktins Gesicht sagen zu müssen, wiees ja bei Beratungsstellen vor Ortder Fall ist. Die Telefonberatunghat aber auch den Nachteil, dasses schwieriger sein kann, einVertrauensverhältnis aufzubauen.Wobei ich sagen muss, dass unsdas eigentlich überraschend gutgelingt und viele Anruferinnenund Anrufer in kurzer ZeitVertrauen zu uns entwickeln undoffen mit uns über alles reden.

Wie sieht denn ein erfolgreicherArbeitstag bei euch aus? Wanngehst du gut gelaunt aus dem Büround bist zufrieden, weil du etwaserreicht hast?

Ein Tag ist erfolgreich, wenn wirvielen Leuten – in welcher Formauch immer – weiterhelfenkonnten. Das scheint uns auchganz gut zu gelingen, denn wirbekommen häufig positivesFeedback, auch wenn wir inmanchen Fällen sagen müssen„Ihre Chancen stehen nicht gut“.Aber unser Bemühen, nach einerLösung zu suchen, die Anruferin-nen und Anrufer und ihreProbleme ernst zu nehmen unddarüber aufzuklären, was möglichist und was leider nicht, kommtanscheinend an. Allein diesespositive Feedback kann bewirken,dass ich gut gelaunt das Büroverlasse. Trotzdem würde ich dasnatürlich nicht als erfolgreichenTag bezeichnen.

Wann dann?

Ich bewerte einen Tag als be-sonders erfolgreichen Arbeitstag,wenn wir erfahren, dass Fällepositiv ausgegangen sind. Bei-spielsweise wenn jemand durchunser Mittun eine Anerkennungals Flüchtling oder eine Aufent-haltserlaubnis bekommen hat oderunsere Aktivitäten eine Dublin-Abschiebung verhindern konntenund ein Asylverfahren jetzt inDeutschland stattfindet.

Wenn mir aus der Zusammenarbeitmit euch etwas besonders aufgefal-len ist, dann die große Verbindlich-keit, die man bei eurer Telefonbera-tung antrifft. Die finde ich unge-wöhnlich. Selbst in aussichtsloserenFällen bekommt man immer einenRückruf von euch und ihr zeigtauch ein Interesse daran, wie derFall sich denn weiterentwickelt hat.

a s y l

Da werden siegeholfen…Wanddeko im Büro

der Telefonberatung.

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Das ist auch unser Anspruch. Obwir dem allerdings immer gerechtwerden, möchte ich aber nichtbeurteilen, das müssen anderetun. Pro Asyl hat auf seinenPublikationen den Slogan stehen:„Der Einzelfall zählt" und genaudas versuchen wir hier in derBeratung auch umzusetzen.Manchmal ist es aber unmöglich,konkret zu beraten und natürlichgibt es auch hier und da maljemanden, der von uns enttäuschtist. Schlussendlich hängt dasdamit zusammen, ob sich einProblem klären lässt und ob wirgenügend Kapazitäten haben, unsumfassend für einen Einzelfalleinsetzen zu können. Letztendlichkönnen wir uns natürlich nichtum jeden Fall konkret kümmern.Wenn wir also wissen, in bestimm-ten Regionen gibt es gute Bera-tungsstellen oder eine guteInfrastruktur, dann macht eseinfach Sinn, dorthin zu vermit-teln. Zum einen, um sich nichtselbst zu überlasten und zumanderen auch aus Sicht derBetroffenen, weil Beratungsstellenvor Ort die Sachbearbeiterinnenund Sachbearbeiter der Ausländer-behörde ihrer Stadt oder dieentsprechenden Leute bei derAußenstelle des Bundesamtskennen und dadurch eventuelleine bessere Gesprächsbasis odereinen „schnelleren Draht“ haben.

Jetzt seid ihr ja so etwas wie die„Empfangsdame“ von Pro Asyl, alsovon einer Organisation, die eingesellschaftliches Reizwort in ihremNamen trägt: Nämlich das Wört-chen Asyl. Werdet ihr regelmäßigZiel von Pöbel- und Schmähanru-fen?

Wir von der Telefonberatung sindnicht mehr wirklich die Empfangs-damen oder -herren der Geschäfts-stelle, weil es mittlerweile bei ProAsyl verschiedene öffentlicheTelefonnummern gibt. Seit einigen

Jahren gibt es neben unsererBeratungsnummer, die lange Jahredie einzige öffentlich bekannteNummer war, nun auch noch eineöffentliche Presse-, Sekretariats-und Verwaltungsnummer.Pöbelanrufe kommen – zumindestbei uns in der Beratung - abereigentlich eher selten vor. Häufigersind Personen, die hier anrufenund eine andere Auffassung alswir vertreten und darüberdiskutieren möchten. Per Telefonzu pöbeln, das trauen sichoffenbar nur wenige. Gepöbeltwird vor allem und in Unmassenanonym per E-Mail.

Magst Du uns mal ein Beispiel geben?

Die Beispiele sind sehr unter-schiedlich, reichen aber bis hin zumassiven Drohungen. Nach demMotto: Ihr gehört vergast oderähnliches...

Haben Pöbeleien denn in derletzten Zeit zugenommen?

Ja, das kann man klar sagen.Pöbeleien hängen fast immer mitirgendwelchen konkreten Ereignis-sen zusammen. Zum Beispielunmittelbar nach dem Bundesver-fassungsgerichtsurteil zur Erhö-hung der Sozialleistungen fürAsylsuchende. Dazu äußerte sichPro Asyl positiv mit einer Presseer-klärung und danach sind wir füreinige natürlich die Bösen, diedafür sorgen, dass dem deutschenSteuerzahler vermeintlich unge-rechtfertigt das Geld aus derTasche gezogen wird.

Auch die Lampedusa Katastrophevor einigen Wochen hat diversePöbeleien nach sich gezogen. Wirhaben zwar zum einen total vieleHilfs- und Unterstützungsangebotebekommen. Aber im selbenAtemzug kamen auch Anfeindun-gen, nach dem Motto: „Das Boot

ist voll, wir können nicht alleaufnehmen.“ Und das sind nochdie harmloseren Aussagen hierzugewesen... und angesichts desAusmaßes dieser Katastrophe undder Bilder dazu selbst nach elfJahren bei Pro Asyl mehr alsschockierend für mich.

Und was ist eure Strategie, wenndann doch eine Pöblerin oder einPöbler am Apparat ist?

Es gibt wie gesagt Leute, die eineandere Meinung vertreten als wirund diskutieren möchten, und dasmachen wir dann auch. Wenn wirjedoch beschimpft werden, dannbeenden wir das Gespräch höflichund bestimmt.<

a s y l

Als Superdirkierscheint Dirk nicht

nur seinen

Kolleginnen.

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Scheitern aufhöherem NiveauLehren aus dem Protest der Refugees in Österreich

In vielen europäischen Ländern haben sich Refugees zu einer offensiven Protestbewegung zusammen-geschlossen. So auch in Österreich, wo die Bedingungen für Asylsuchende ähnlich restriktiv sind wie inDeutschland. Die Bilanz der dortigen Proteste fällt ambivalent aus. Von Ilker Ataç und Monika Mokre

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Es begann mit den Aktionstagen der somalischenRefugees Anfang Oktober 2012. Dies war nachlanger Zeit die erste selbstorganisierte Protest-

bewegung von Refugees in Österreich. Auf eineDemonstration in Wien vom Bundesasylamt zumParlament folgte eine 48-stündige Dauerkundgebung.Die Protestierenden forderten Anerkennung ihresFlüchtlingsstatus statt subsidiären Schutz, der zuanhaltender Unsicherheit führt. Weitere Kritikpunktebetrafen willkürliche und intransparente Asylentschei-dungen sowie telefonisch durchgeführte Sprachidenti-fizierungsverfahren, welche die somalischen Refugeesje nach regionaler Zugehörigkeit in drei Gruppenunterteilen.

Durch diese Aktion bestärkt wurde einen Monatspäter ein Marsch vom Flüchtlingslager in Trais -kirchen nach Wien geplant. Das daraufhin aufgebauteCamp vor der Votivkirche zog viele Refugees ausverschiedenen Ländern an, für die sich dort dieMöglichkeit zu Kommunikation bot, wie auch einebisher nicht erlebte Form der Selbstbestimmung.

Die Repräsentationsfrage war von Anfang anwichtiger Bestandteil der Diskussionen im Camp. DieTeilnehmenden pochten darauf, dass gesellschaftlicheHierarchien und Exklusionen in den täglichen Plenanicht reproduziert wurden: Damit sich alle daranbeteiligen und mitentscheiden konnten, wurde vielÜbersetzungsarbeit geleistet sowie ein Reißver-

schlussprinzip angewendet. Die Möglichkeit derSelbstrepräsentation wurde nicht nur in den Diskus-sionen, sondern auch in der Kommunikation nachaußen ernst genommen. Das öffentliche Interesse amCamp und die Unterstützung der Zivilgesellschaftwaren groß.

Selbstermächtigung

Beim Marsch von Traiskirchen nach Wien warenForderungen im Mittelpunkt gestanden, die den Alltagim Lager in Traiskirchen betrafen – bessere Dol-metscherInnen, besseres Essen, bessere Gesund-heitsversorgung, Zugang zu Bildungs- und Arbeits -möglichkeiten. Im ersten Monat des Camps wurdendiese Forderungen erweitert und politisiert. Beson-ders brisant war die neue Forderung nach Löschungder Fingerabdrücke, falls in Österreich kein legalerStatus gewährt wird. Diese Forderung verweist nichtnur auf ein zentrales Element der Ausgrenzung vonRefugees und Sans Papiers – die Grenze, die in denKörper eingeschrieben wird –, sondern auch aufKämpfe gegen zentrale Kontrolle und für das Rechtauf Datenschutz. Es ist jedoch nicht gelungen, diesepolitischen Forderungen weiter zu radikalisieren oderzu konkretisieren.

Im Dezember 2012, noch während des teilweisenUmzugs in die Votivkirche, wurde die Politik immer-hin so weit unter Druck gesetzt, dass ein Runder

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Foto: mundomania.eu

Der Rest ist Rasen…Spuren des Refugee Camps in Wien

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Tisch mit der Regierung organisiert wurde. Dieserblieb allerdings weitgehend folgenlos. Zugleichbegann die Caritas, Zugang und Aufenthalt zur Kirchestreng zu reglementieren. Im Nachhinein stellt sichdie Frage, ob die Bewegung sich nicht offensivergegen diese und andere Bemühungen der Vereinnah-mung und Administrierung hätte wenden müssen.

Der Hungerstreik in der Votivkirche setzte ein starkesöffentliches Signal, zugleich waren seine Wirkungenambivalent. Er führte zu enormen gesundheitlichenBeeinträchtigungen der Hungerstreikenden, täglichwurden Refugees ins Krankenhaus gebracht. InKombination mit der Regulierung der Situation in derKirche verstärkte er Spaltungs-tendenzen zwischen denhungerstreikenden Refugeesund denjenigen, die sichdieser Protestform nichtanschließen wollten oderkonnten. Nachdem das Campvon der Polizei brutal geräumtwurde, bildete die Votivkircheden einzigen Kulminationspunkt der Bewegung. Vonhier aus wurde Anfang Februar 2013 eine beein-druckende Demonstration organisiert.

Für zahlreiche Refugees stellen diese ersten Phasendes Protests – der Marsch von Traiskirchen, dieDemonstrationen, die Errichtung des Camps imZentrum der Stadt, die Besetzung der Kirche sowieder Hungerstreik – die erfolgreichste Zeit derBewegung dar. Aktionen dieser Art sind in deneuropäischen Ländern derzeit weit verbreitet. Aufdiese Weise bewegen sich die Refugees vom Randeder Gesellschaft in ihr Zentrum und brechen mit ihrersozialen und politischen Isolation. Damit ermächtigensie sich zu politischen Subjekten und tragen zu einerVeränderung der dominanten Diskurse und Politikfor-men bei.

Rückzüge und Rückschläge

Nach Verhandlungen mit Politik, Kirche und Caritasübersiedelten die Refugees im März 2013 in dasServitenkloster. Nach Einschätzung vieler Refugeeswar dies ein politischer Fehler, der den Protestweitgehend der Öffentlichkeit entzog, da der promi-nente Ort der Votivkirche aufgegeben wurde. DieKirche und die Caritas versprachen weitgehendeUnterstützung nach der Übersiedlung, doch dieseVersprechungen blieben weitgehend uneingelöst. Dengrößten Schlag gegen die Bewegung stellten dann dieAbschiebungen von acht Personen Ende Juli und die

anschließende Kriminalisierung von Teilen derBewegung mit dem Vorwurf des Menschenhandelsdar. Es ist nicht gelungen, mit allen AbgeschobenenKontakt aufzunehmen, sodass ihr Schicksal un-bekannt ist. Die Festgenommenen sind bis heute inU-Haft.

Ende Oktober endete dann auch die Zeit im Serviten-kloster, was den Zusammenhalt der Bewegung nocheinmal erschwerte. Eine Besetzung der Akademie derbildenden Künste beendete deren unnachgiebigeRektorin schnell. Die studentischen Räume in derAkademie sind allerdings immer noch ein Treffpunktder Refugees.

Mittlerweile sind dieRefugees auf verschiedeneQuartiere aufgeteilt, einigevon ihnen leben gemeinsamin einem Haus. Es gibtweiterhin Treffen, doch diePerspektive ist zurzeit unklar.Immer mehr Refugees suchen

nach individuellen Lösungen und werden dabei vonSupporterInnen unterstützt. Das Verhältnis zwischenRefugees und SupporterInnen ist nach wie vor sehreng und solidarisch, zugleich gibt es divergierendeInteressen und Einschätzungen, die sich zum Teil ausdem unterschiedlichen Rechtsstatus ergeben. DieEntscheidungsstrukturen sind nur teilweise transpar-ent – was zum Teil der Bewegung anzulasten ist, zumTeil strukturell bedingt ist. Politische Arbeit unterständiger Bedrohung ist nicht einfach demokratischzu organisieren.

Erfolgreiche Politisierung

Eine Bilanz des Refugee Protest Camp Vienna nachüber einem Jahr fällt ambivalent aus. Gemessen anden Forderungen war das Camp weitgehend einMisserfolg: Es kam weder zur kollektiven Legali -sierung der Refugees noch wurden andere politischeForderungen realisiert. Auch auf individueller Ebenegibt es nach wie vor erhebliche Rechtsprobleme, dieeventuell sogar durch das politische Engagementverstärkt wurden. Zugleich erhöhte sich die politi -sche und polizeiliche Repression. Viele Refugeeshaben in dieser Situation resigniert oder sich ausAngst zurückgezogen. Jedoch lösten die Proteste eineteils sehr intensive öffentliche Debatte aus, die zupositiven wie negativen Zuschreibungen führte,insgesamt aber mehr Verständnis und Kenntnis derSituation von Asylsuchenden hervorbrachte.

a s y l

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Politische Arbeit unter ständigerBedrohung ist nicht einfach demokratisch zu organisieren

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Ilker Ataç ist Politikwissen -

schaftler und hat

2013 an der Uni

Wien eine Vorlesung

zu Flüchtlings -

protesten mitorgani -

siert.

Monika Mokre ist Politikwissen-

schaftlerin und

Supporterin des

Refugee Protest

Camp Vienna.

Die AutorInnen

danken allen

GesprächspartnerIn-

nen vom Refugee

Protest Camp

Vienna, insbeson-

dere SalaheddineNajah und AliNisar.

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Wichtig war in diesem Prozess auch, dass dieRefugees in den Medien selbst zu Wort kamen und soin der Lage waren und sind, sich mit ihrer eigenenStimme an die Öffentlichkeit zu wenden und dabeiNetzwerke zu bilden. Selbst wenn die politischenAktivitäten der Bewegung derzeit in den Hintergrundgerückt sind, lassen sich diese Netzwerke für künftigeAktivitäten mobilisieren. Um politischen Aktivismusund öffentliche Aufmerksamkeit über längere Zeitaufrechtzuerhalten, bedarf es allerdings klarerStrukturen, die transparente Kommunikationsprozessenach innen und koordinierte Öffentlichkeitsarbeitnach außen ermöglichen. Die Schaffung solcherStrukturen ist nur teilweise gelungen; dies reflektierendie AktivistInnen zurzeit stark.

Für die Refugees und SupporterInnen waren dieTeilnahme an der Bewegung wichtige Politisierungs -schritte – Empowerment durch politische Partizipa-tion, Zugang zu sozialen und politischen Netzwerken,Brechen der Isolation. Die Bewegung führte zuengen persönlichen Beziehungen. Für die Refugeesergaben sich daraus neue Formen kollektiver undindividueller Unterstützung – bei der Suche nachUnterkunft und Arbeit, aber auch nach legalemAufenthalt. Diese „persönlichen“ Effekte der Bewe-gung sind unter repressiven Bedingungen nicht zuunterschätzen.

Abschiebungen in der letzten Zeit haben gezeigt, dassnicht nur Asylsuchende bedroht sind, die erst seitkurzem in Österreich sind, sondern auch Personenund Familien nach langem Aufenthalt, mit Jobs undguten Deutschkenntnissen. Eine kontinuierliche breiteKampagne für einen angemessenen Umgang mitAsylsuchenden, Refugees und Sans Papiers undgegen Zwangsmaßnahmen wird daher auch künftignotwendig sein.<

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Als Anfang August 2013 drei Aktivisten derRefugee-Protestbewegung in Wien als angeb -liche Mitglieder einer „Schlepper-Organisation“

verhaftet wurden, dürfte ein Aufatmen durch dasösterreichische Innenministerium gegangen sein.Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) wäre tagszuvor beinah in Erklärungsnot geraten, als sie dieAbschiebung von acht Aktivisten des Refugee CampVienna rechtfertigen musste. Die Refugees wurdenfestgenommen, als sie der ihnen auferlegten täglichenMeldepflicht bei der Polizei nachkamen. Sie wurdeninnerhalb weniger Stunden nach Pakistan abge scho -ben – in ein Land also, in dem ihnen nicht zuletztdeshalb Schlimmstes drohte, weil sie während desProtests in Österreich auch öffentlich Kritik an denTaliban und den politischen Zuständen in Pakistangeäußert hatten.

Die Ministerin, die dieimmergleiche Leier vom„Rechtsstaat“ und der„asylgerichtlichen Einzelfall-prüfung“ abspulte, warplötzlich mit der Tatsachekonfrontiert, dass Ab-schiebungen aus Österreich nach Pakistan ansonstenvergleichsweise selten geschehen. Denn dieses Land,für das das Außenministerium eine Reisewarnungausgestellt hat, gilt keineswegs als „sicher“. DieAbschiebungen geschahen unter Protesten, die medialbreit rezipiert wurden.

Die Stoßrichtung der medialen Aufregung ändertesich prompt, nachdem die Verhaftungen wegen des„Schlepperei“-Verdachts publik wurden. In deröffentlichen Wahrnehmung wurden aus „armenFlüchtlingen“ im Nu „böse Schlepperbosse“. DasBundeskriminalamt präsentierte stolz seinen „Schlaggegen die organisierte Schlepperei“. Die Ministerinprahlte im Interview mit schaurigen Details über dasVorgehen des vermeintlichen „Schlepper-Rings“, der„äußerst unmenschlich agiert“ und „schwangereFrauen hilflos auf der Route zurückgelassen“ habe.

Die Aussagen von Mikl-Leitner stellten sich später alsfrei erfunden heraus und die Kronen Zeitung, die ingewohnter Manier die Kriminalisierung der Refugee-Proteste begrüßte, wurde mittlerweile vom Öster -reich ischen Presserat gerügt.

Doch auch die Caritas, die für die Grundversorgungder Refugee-Aktivisten verantwortlich war, zeigte sich„extrem verärgert“, sollte sie hier „von Einzelnenausgenutzt“ worden sein. Denn klar sei: „Wenn mitder Not von Menschen Geschäft gemacht wird, ist dasvöllig inakzeptabel und aufs Schärfste zu verurteilen.“

Die Not von Asylsuchenden entspringt allerdingsnicht der „Bösartigkeit“ vermeintlicher „Schlepper-Ringe“, sondern der Tatsache, dass sie gezwungensind, nationalstaatliche Grenzen illegalisiert zu

überqueren. Menschen leidenund sterben auf Grund derGrenzabschottung, diewiederum für das Funktionierenvon Staaten und somit kapitalis-tischer Verhältnisse unabdingbarist. Dass Fluchthilfe nichtausschließlich aus Solidarität,

sondern auch als (risikoreiche) Dienstleistung gegenBezahlung erbracht wird, ist nicht verwunderlich.Denn sie wird nachgefragt, weil es für einen Großteilder Menschen auf der Welt nicht möglich ist, sich auflegalem Weg von einem Staat in den anderen zubewegen – insbesondere von einem Nicht-EU- ineinen EU-Staat. Die schrecklichen Bedingungen, unterdenen Fluchthilfe zum Teil stattfinden muss, kommendaher, dass sie kriminalisiert ist.

Anhand der Berichterstattung über die Verhaftung derdrei Aktivisten, die mittlerweile gemeinsam mitweiteren fünf „Verdächtigen“ seit August in U-Haftsind und der „Mitgliedschaft in einer kriminellenVereinigung für organisierte Schleppungen“ angeklagtsind, zeigte sich, wie sehr Rassismus und Vorstellun-gen von (organisierter) Kriminalität im Ressentimentgegen MigrantInnen verknüpft sind, insbesondere

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Böse Bosse

Wie mit dem Schleppereivorwurf in Österreich Refugees kriminalisiert werden. Von Katharina Menschick

Die Kriminalpolizei hat einfachPassagen aus Wikipedia in ihrenAbschlussbericht kopiert

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Katharina Menschick studiert Politikwis-

senschaft und

Internationale

Entwicklung in

Wien.

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wenn deren Anwesenheit in Österreich mit demBegriff „Asyl“ verbunden wird. Nicht nur die offenrassistische FPÖ spricht seit Jahren von „Asylbetrug“.Auch Diskussionen wie jene um die imaginierten„Bettel-“ oder „Drogen-Mafias“ sind fester Bestandteilmedialer Berichterstattung und des allgemeinenBewusstseins. Diese Verschwörungstheorien ähnelneinander: Als „Fremde“ geltend Gemachte bereichernsich kriminell am von „echten ÖsterreicherInnen“ehrlich erwirtschafteten Nationalwohlstand. Sieagieren dabei als übermächtige „Mafia“, der der Staatbeinahe hilflos ausgeliefert ist, und werden zurBedrohung für die „Innere Sicherheit“.

Die Bekämpfung der vermeintlichen „Banden“ istsinnstiftend für die Arbeit des Innenministeriums undlegitimiert den enormen Aufwand, der betriebenwird, um die „Bandenbosse“ und ihre „Konsorten“ zufassen. So begannen Anfang Januar 2014 zwei neueSonderkommissionen zur Bekämpfung von „Schlep-perei“ ihre Arbeit. Laut dem jährlich erscheinendenBericht über „Organisierte Schlepperkriminalität“wurden 2012 von den österreichischen Behörden 235„Schlepper“ aufgegriffen. Die „Schlepperdatenbank“FIMATHU (Facilitation-Illegal-Migration-effected-Austria-Hungary), an der mittlerweile zwölf Staatenbeteiligt sind, wird als großer Erfolg gefeiert.

Alexia Stuefer, eine der AnwältInnen, die die wegen„organisierter Schlepperei“ Angeklagten vertreten,kritisiert die Behörden und die Anklageschrift. Diesestütze sich, so Stuefer, „zur Gänze auf den polizei -lichen Abschlussbericht“, der in wesentlichen Teilen„auf hypothetischen Annahmen ohne jegliches Tat -sachen substrat basiert“. Außerdem habe die Krimi-nalpolizei als Beweismittel für die Existenz undWirkungsweise der angeblichen kriminellen Vereini-gung einfach Passagen aus Wikipedia in den Ab-schlussbericht kopiert. Wann der Prozess beginnenwird, ist noch unklar.

Dass es so gut gelang, die Refugee-Proteste durch die„Schlepperei“-Vorwürfe in der öffentlichen Wahr -nehmung zu delegitimieren, zeigt, dass die Mär von„kriminellen Ausländer-Banden“ längst Teil desCommon Sense ist. Die Imaginierung von „Schlepper-Banden“ erfüllt die Funktion, die Verantwortung fürdas Leid und den Tod von Flüchtlingen auf „Schlep-perbosse“, die „unmenschlich“ und „unmoralisch“agieren, zu projizieren. Diese sind im Gegensatz zunationalstaatlichen Grenzen und institutionalisiertemRassismus, auf welche die den „Schleppern“ zuge -schriebenen Attribute eigentlich zutreffen, greifbar.Sie können polizeilich verfolgt, verurteilt undweggesperrt werden.

Eine Kritik, die lediglich auf die Macht der Innen -minis terin und der staatlichen Behörden fokussiert,greift daher genauso zu kurz, wie eine, die sich damitbegnügt, nicht mehr von unmenschlichen „Schlep-pern“, sondern von humanitären „FluchthelferInnen“zu sprechen. Für jene, die wegen „Schlepperei“ imKnast sitzen, ändert diese Erkenntnis allerdingsunmittelbar nichts.<

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Freie Radikale2013, in einer Zeit nie gekannter politischer Dynamik, trug eine Gruppe iranischer Flüchtlinge ihr „Non-Citizens“-Konzept in die Öffentlichkeit. Vor allem nach der Umsetzung des Konzeptes bei antirassisti-schen Aktionen stieß es auf Kritik seitens der etablierten Flüchtlingsbewegung. Was bleibt von denInterventionen der „Non-Citizens“? Eine Positionierung von Christian Jakob

Illu: Agnes Andrae

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Als Kampfbegriff war er noch gut in Schuss,genau genommen sogar besser denn je: Als„Refugees“ waren sie angetreten, im Frühjahr

2012, zu Beginn des bis heute laufenden Zyklus vonFlüchtlingskämpfen. Der Erfolg der sich dominoartigüber ganz Deutschland ausbreitenden „Refugee TentAction“ war enorm: Tagesschau, Twitter-Hashtag-Hitliste, Spenden in sechsstelliger Höhe, Empfang imBundestag. Die Flüchtlinge verweigerten sich kollektivder Disziplinierung durch den Staat. Sie entkamen demzermürbenden, monotonen Leben im Lager, deraufgezwungenen Isolation, und „höhlten rassistischeGesetze aus“, wie sie sagten. 20 Jahre nach dem„Asylkompromiss“ und 15 Jahre nachdem sich ersteFlüchtlings-Selbstorganisationen zunächst in Ost-deutschland bildeten, wurde Flüchtlingspolitik einMainstream-Thema. Den Protestierenden war esendlich gelungen, die Kritik an der schikanösenAsylpolitik ins Zentrum der öffentlichen Aufmerk-samkeit zu tragen.

Und trotzdem: Etwas Neues sollte her. Im Februar 2013lud der „Aktionskreis unabhängig protestierenderFlüchtlinge“ zu einem Kongress nach München ein.Bei dem „Aktionskreis“ handelte es sich imWesentlichen um eine Gruppe junger Iraner, die imFrühjahr 2012 in Franken die Protestwelle angestoßenhatten – unter anderem, indem sie mit zugenähtenMündern in einer Fußgängerzone demonstriert hattenund in einen Hungerstreik getreten waren, knapp zweiMonate nach dem Suizid des iranischen FlüchtlingsMohammad Rahsepar in der Würzburger Asylbewer-berunterkunft. „Diese Ära unseres Kampfes begann miteinem kleinen Zelt in Würzburg und erwuchs zu einergroßen Bewegung, die sich in ganz Europa ausbreitet“,schrieben sie. Nun sei es Zeit für „eine gemeinsamekritische Analyse“, die für die „Zukunft des Flüchtling-sprotestes unabdingbar“ sei.

Machtstrukturen klären

Die Analyse, freilich, hatten die Organisatoren schonvorab parat. In den Wochen vor dem Kongressveröffentlichten sie mehrere Stellungnahmen, in denenstatt „Flüchtling“ der Begriff des „Nicht-Bürgers“ oder„Non-Citizen“ verwendet wurde. „In den elf Monatenunseres Kampfes haben wir eine Theorie entwickelt“,sagte damals Houmer Hedayatzadeh, ein Asylsuchen-der aus dem Iran, der von Anfang an beim Flüchtlings -streik dabei war. Ihr Kampf sei bestimmt durch „dieArt des Lebens, das wir führen müssen“. Im Gegensatzzum Bürger seien Asylsuchende und Geduldete keinTeil der Gesellschaft.

Sein Mitstreiter Ashkhan Khorasani nannte dieEtablierung des Begriffs des „Nicht-Bürgers“ in einemInterview einen „ersten Schritt der Selbstermächti-gung“. Mit ihm hätten die „Non-Citizens“ „ihreVerhältnisse analysiert“, der Begriff sei aus der „Praxisdes Protests“ entstanden. Anders als „Refugee“ kläreer „die Machtstrukturen“, erläuterte Khorasani. EinRefugee könne „ein Kapitalist sein, er kann Banken,die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, oder erkann in einem abgelegenen Flüchtlingslager sitzen“.Zentral für die Situation der „Non-Citizens“ sei ineiner bürgerlichen Gesellschaft der „Ausschluss ausdem Produktions-, Verteilungs- und Reproduktions -system – und nicht unbedingt, Opfer von Rassismuszu sein“.

Das Anliegen, den unscharfen Begriff des Flüchtlingsals politisches Subjekt genauer zu fassen ist nichtneu. Und anders als etwa der von der KritischenWeißseinsforschung favorisierte „Person of Color“kommt „Non-Citizen“ ganz ohne identitär-essentialis-tischen Gehalt aus, sondern bleibt strikt politisch-ökonomisch. Ganz trennscharf ist er dennoch nicht:Denn sehr wohl gibt es Geduldete wie auch Men-schen mit laufendem Asylverfahren – der Definitionnach also „Non-Citizens“ – die eine Arbeitserlaubnishaben und somit durchaus an „den Kreisläufen derProduktion und Reproduktion teilhaben“.

Das war auch den Wortschöpfern klar. Der Begriffdes „Nicht-Bürgers“ bot aber einen ganz anderenVorteil: Die Chance nämlich, Machtstruktureninnerhalb der Flüchtlingsbewegung zu klären.Tatsächlich dürfte der Versuch, den zentralenKampfbegriff der Flüchtlingsbewegung neu zu fassenauch der Versuch gewesen sein, die politischeFührerschaft darin für sich zu reklamieren. DasVerhältnis zur etablierten Flüchtlingsbewegung, dem„Karawane“-Netzwerk, der aus Jena stammenden„The Voice“-Organisation und den Flüchtlingsinitia-tiven, war zu jener Zeit nämlich nicht das Beste.

Nach dem Protest nach Hause

Die erst vor kurzem nach Deutschland gekommenenIraner hatten, gleichsam als freie Radikale, mit ihrenoffensiven Aktionen genau die Massenmobilisierungentfacht, die den existierenden Organisationen niegeglückt war. Gleichzeitig konnte die „Refugee TentAction“ nur deshalb so schnell wachsen, weil anderevor ihnen in jahrelanger, mühseliger Basisarbeitbereits Netzwerke in den Lagern und Exilcommuni-ties geknüpft hatten, die sich nun aktivieren ließen.Die Entscheidung für den Marsch von Würzburg nach

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Berlin im September 2012 wurde auf einem Kongressin Erfurt getroffen, zu dem die „Karawane“ und „TheVoice“ die iranischen Flüchtlinge um Khorasani undHedayatzadeh eingeladen hatten, um ein gemein-sames, bundesweites Vorgehen zu vereinbaren. Dochdie Differenzen wuchsen bald. Schon kurz nach derAnkunft in Berlin verließ die Gruppe um Khorasanidas gemeinsame Camp auf dem besetztenKreuzberger Oranienplatz, um allein einen Hunger-streik vor dem Brandenburger Tor zu beginnen.

Hedayatzadeh dazu später: „Natürlich machen wireinen Unterschied zwischen uns und anerkanntenAsylbewerbern, auch wenn die Anerkannten mit unskämpfen. Die existierenden Flüchtlings-Selbstorgani-sationen sind teils von Leuten getragen, die mittler-weile Papiere haben. Das ist etwas grundlegendanderes als unser Kampf. Die Anerkannten könntennach dem Protest nach Hause gehen, wir können dasnicht, denn wir haben kein Zuhause.“ Während desStreiks hatte diese Unterscheidung unter anderem zurFolge, dass anerkannte Asylsuchende bei denProtestplena teils nicht stimmberechtigt waren. Andieser Praxis wolle man aber nicht festhalten: „Daswar einer der Fehler, die wir gemacht haben, aberwir haben aus diesen Fehlern gelernt“, sagt Heday-atzadeh. Dennoch war klar: Würde sich das „Non-Citizens“-Konzept etablieren, wäre ein kompletter Teilder Bewegung zu Zuschauenden degradiert – unddas in einer Zeit nie gekannter politischer Dynamik.

Bedenken ignoriert

Nur wenige Wochen nach dem Abbruch des Streiksam Brandenburger Tor zogen sich die Iraner ausBerlin zurück. Sie verlegten den Schwerpunkt ihresKampfes wieder nach Bayern, wo er ein knappesJahr zuvor begonnen hatte. „Unser Hauptziel ist dieBildung von unabhängigen Räten von Flüchtlingen“schrieben sie in einer Erklärung. Diese sollen„vollständig von protestierenden Flüchtlingen selbstorganisiert“ sein und „an jedem geographischen Fleckals solidarisches Kollektiv gemeinsam Strategien ihresWiderstands ausarbeiten“.

Doch auf dem Kongress in München schlug derselektive Charakter des „Non-Citizen“-Konzepts volldurch. AktivistInnen der Organisation „Jugendlicheohne Grenzen“, in der sich seit rund zehn Jahrenlangjährig geduldete Jugendliche zusammenge -schlossen haben, klagten über eine Spaltung. Es habeparallel stattfindende Plena für „Citizens“ und „Non-Citizens“ gegeben. „Einige unserer Aktivisten_innenwurden aufgrund ihres mittlerweile gesicherten

Aufenthaltsstatus als ,citizens’ markiert und von demPlenum der ,non-citizens’ ausgeschlossen. Und das,obwohl sie mehrere Jahre mit Duldung und/oderAufenthaltsgestattung unter diskriminierenden,menschenunwürdigen Umständen leben mussten undgenau wissen, was es heißt, jeden Tag von derAbschiebung bedroht zu sein. (…) Statt sich an derPlanung der konkreten Aktionen beteiligen zukönnen, mussten sich unsere Aktivisten_innen mitTheorien und Definitionen zu ,citizens’ und ,non-citizens’ befassen. Unsere Bedenken insbesondereaufgrund dieser Kategorisierung bzw. aufgrund derTrennung und Spaltung der beteiligten Aktivisten_in-nen haben wir auch auf dem Kongress vorgetragen.Wir wurden aber ignoriert“, schrieben sie später.

Eskalation in München

In den Monaten nach dem Kongress in Münchenmobilisierten die „Non-Citizens“ mit großem Elan inbayrischen Lagern, die Verbindung zu den gleich -zeitig in vielen anderen Teilen Deutschlands erneutan Fahrt gewinnenden Kämpfen wurde jedochschwächer. Die gegenseitige Bezugnahme, die imVorjahr die Bewegung groß gemacht hatte, fand nichtstatt.

Dafür taten die „Non-Citizens“ das, was ihnen in derVergangenheit die größten Erfolge beschert hatte: Siedrehten an der Eskalationsschraube. Am 22. Junierrichteten etwa 80 Flüchtlinge aus nordbayrischenLagern auf dem Rindermarkt in der MünchnerInnenstadt ein Camp. Bundeskanzlerin Angela Merkelund dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts,Andreas Voßkuhle, schrieben sie einen Brief undräumten „eine Frist von drei Tagen“ ein, um ihnenallen Asyl nach Artikel 16 a des Grundgesetzes zugewähren. „Wir haben unsere Familien, unser Landverloren, und jetzt leben wir im gleichen Gefängniswie zuvor“, sagte der streikende Äthiopier WadoWatol. Merkel und Voßkuhle ließen die Frist verstrei -chen, die Flüchtlinge traten in einen Durstreik, dernach kurzer Zeit zum Tod führen kann.

Nachdem sich auch am dritten Tag kein staatlichesEinlenken abgezeichnet hatte, veröffentlichten dieAsylsuchenden ein Kommuniqué in martialischemDuktus: „Dies ist unsere letzte Nachricht. Heute, amFreitag, den 28. Juni, verkündet die erste Gruppe derAsylsuchenden im trockenen Hungerstreik, bei vollemphysischen und psychischen Bewusstsein, dass siekeinen Schritt zurückweichen wird, bis ihre Forder -ung erfüllt ist, und bis zu diesem Zeitpunkt weist siejede Behandlung von Ärztinnen und Ärzten zurück!

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Christian Jakob ist Redakteur bei

der Tageszeitung

„taz“ und schreibt

regelmäßig für

„Jungle World“.

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Die deutsche Regierung muss erkennen, dasspolitische Spiele vorüber sind und dass es nur zweiEinbahnstraßen zu beschreiten gibt: entweder dieErfüllung der exakten Forderung der hungerstrei -kenden Asylsuchenden oder Bobby Sands undHolger Meins auf den Straßen Münchens!“

Wie in einem fremden Land

Das IRA-Mitglied Bobby Sands war 1981, das RAF-Mitglied Holger Meins 1974 nach wochenlangemHungerstreik im Gefängnis gestorben. Die CSUschaltete bereitwillig in den 70er-Jahre-Modus: Die„Rädelsführer“ der Flüchtlinge hätten sich selbst aufeine Ebene mit TerroristInnen gestellt, sagte BayernsInnenminister Joachim Herrmann. In den Tagendarauf brachen die ersten Flüchtlinge zusammen. Siemussten abtransportiert werden, kehrten nach einerersten Behandlung ins Camp zurück und setztenihren Streik fort. 350 PolizistInnen rückten auf demRindermarkt an, räumten das Camp und verprügeltendie Flüchtlinge. Streikende berichteten später, dass sieauf dem Polizeipräsidium gezwungen worden seien,sich nackt auszuziehen, und während ihres gesamtenAufenthalts im Polizeigewahrsam keinerlei medizini -sche Versorgung erhalten hätten.

Es war die radikalste Aktion, mit der Flüchtlinge inDeutschland bis dahin für ihre Rechte gekämpfthatten. Doch die Distanz, die die „Non-Citizens“ zurübrigen Bewegung eingenommen hatten, hatte einemerkwürdige Gleichgültigkeit zur Folge: Nur wenigenahmen wirklich Bezug auf den Münchner Durst-streik; selbst die Auflösung durch die Polizei wurdenur sehr verhalten kommentiert – fast so, als habesich das Ganze nicht in Bayern, sondern in einemfernen Land abgespielt.

Nachhaltig verändert

Sieben Wochen später marschierten die „Non-Citizens“ von Nordbayern nach München. Sie ließensich weder von brutalen Polizeieinsätzen noch vonder bayrischen Sozialministerin Christine Haderthauerstoppen, die erklärte: „Hierzulande ist Politik nichterpressbar, wir leben in einem Rechtsstaat, wo mansich nicht durch Hungerstreiks eine Vorzugsbehand-lung erzwingen kann.“ Der „Aktionskreis“, dastonangebende Gremium um Khorasani und Hedayatzadeh erklärte im September seine Auflösung– bis auf einen hatten von ihnen alle Papierebekommen und waren keine „Non-Citizens“ mehr.Khorasani hatte dies allerdings nicht davon abgehal-ten, auch weiter als Sprecher der „Non-Citizens“

aufzutreten. Schließlich zogen die „Non-Citizens“erneut nach Berlin und traten am 9. Oktober vor demBrandenburger Tor zum dritten Mal in Hungerstreik.

Mit der gleichen Kompromisslosigkeit, mit der sie inder Würzburger Fußgängerzone angetreten waren,hatten die „Non-Citizens“, losgelöst von den übrigenFlüchtlingskämpfen, die Konfrontation mit der CSUaufgenommen. Und die lenkte schließlich ein Stückweit ein. „Ich will weg von den Essenspaketen in denGemeinschaftsunterkünften und diese durch Geldleis-tungen ersetzen“, sagte im Oktober die neuebayrische Sozialministerin Emilia Müller. Die „Non-Citizens“ kommentierten ihren wohl größten Erfolgkämpferisch: „Nun wurde seitens der CSU einTropfen auf den heißen Stein gegeben, aber wirwerden weitermachen bis wir die Anerkennung derAsylanträge erhalten.“ Nachdem das Bundesamt fürFlucht und Migration nach den Rindermarkt-Protesteneine beschleunigte Prüfung ihrer Anträge angekündigthatte, haben eine Reihe von ihnen mittlerweileAblehnungen des Bundesamtes oder der Verwaltungs-gericht bekommen.

Ein Jahr nachdem die „Non-Citizens“ ihrem Kampfdiesen Namen gegeben haben, wird der Begriff,außer von ihnen selbst, kaum benutzt. Auch der vonden „Non-Citizens“ mit angedachte Marsch vor derEuropawahl von Straßburg nach Brüssel firmiert –bislang wenigstens – als „Refugee-March“. DieRadikalität jedoch, mit der die „Non-Citizens“ ihrenKampf geführt haben, hat die antirassistische Bewe-gung nachhaltig verändert.<

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Im November 2013 veröffentlichte der EuropäischeGerichtshof (EuGH) in Luxemburg seine Entschei-dung, nach der Lesben oder Schwule, denen in

ihrem Heimatland körperliche Züchtigung, Haftstrafenoder gar die Todesstrafe drohen, eine besondersverfolgte soziale Gruppe im Sinne der GenferKonvention darstellen. Angehörige dieser Gruppekönnen in der EU Asyl erhalten. Drei schwuleMänner aus dem Senegal, Sierra Leone und Ugandahatten in den Niederlanden Flüchtlingsstatusbeantragt, weil sie in ihren Ländern Verfolgungwegen ihrer sexuellen Orientierung befürchteten. DieNiederlande hatten den EuGH angerufen.

Immer mehr Homosexuelle aus afrikanischen Staatensuchen Asyl in Europa. In Malta erhielt kürzlich einNigerianer Asyl, der geltend machte, in seinemHerkunftsland bestehe für Schwule Gefahr für Leibund Leben. Das westafrikanische Land hatte geradesein homophobes Strafrecht verschärft und einentsprechendes Gesetz als „Same Sex MarriageProhibition Bill“ verbrämt, ganz so, als ginge es denInitiatoren allein um ein Eheverbot für gleichge -schlechtliche Paare.

Derzeit halten 77 Staaten ein homophobes Strafrechtfür ihre lesbischen Bürgerinnen und schwulen Bürgerbereit, davon allein 37 in Afrika. Zwar wird diesesStrafrecht, das meist seinen Ursprung in viktoria -nischer Kolonialzeit hat, nicht überall konsequentangewendet, doch der EuGH stellte fest, dass die

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Asyl statt Geheimhaltung

Die Asylrechtspraxis ist für verfolgte Homosexuelle ein unsicheres Terrain

Menschen, die wegen ihrer homosexuellen Orientierung verfolgt werden und nach Europa geflüchtetsind, können in der EU Asyl erhalten. In der Praxis sind die Hürden, Asyl wegen sexueller Verfolgung zuerwerben, hoch gesteckt. Von Klaus Jetz

Illu: Matthias Weinzierl

Phallometrie.Verfahren zur Messung einer Penis reaktion.

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Regierungen der EU-Staaten jeweils im Einzelfall zuentscheiden haben, ob nicht bereits die Androhungeiner Haftstrafe ein Akt der Verfolgung ist, der einenAnspruch auf Asyl begründen kann. Darüber hinausführte das Gericht aus, dass die sexuelle Orientierungein für die Identität bedeutendes Merkmal ist unddaher von einer AsylbewerberIn nicht erwartetwerden kann, die Homosexualität im Herkunftslandgeheim zu halten oder sich zurückzuhalten, um eineVerfolgung zu vermeiden.

In vielen EU-Staaten habenBehörden homosexuelleAsylbewerberInnen immerwieder mit dem Hinweisabgewiesen, sie könnten ihreSexualität im Herkunftsland auch im Verborgenenausleben und sich so vor Verfolgung schützen. Auchviele deutsche Gerichte hatten Asylgesuche vonHomosexuellen jahrelang mit der Begründungabgelehnt, dass sie keine Verfolgung zu befürchtenhätten, wenn sie sich auf sexuelle Kontakte in ihremprivaten Umfeld beschränkten. Allerdings hatte dasBundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF)diese Praxis schon aufgegeben, nachdem der EuGH2012 entschieden hatte, dass die Behörden Asylbe-werberInnen wegen Verfolgung aus religiösenGründen nicht zumuten dürfen, auf reli giöse Betäti-gungen zu verzichten und sich auf den privatenRaum zu beschränken.

Menschenunwürdige Anhörung

Bis 2012 jedoch muteten das BAMF und die Verwal-tungsgerichte homosexuellen Flüchtlingen immerwieder eine Argumentation zu, die besagte, siekönnten ihre Homosexualität im Heimatland zurück-gezogen in der Privatsphäre ausleben. Sie sollten„sich äußerst bedeckt (…) halten“ bzw. „Diskretionwalten (…) lassen“, um eine Verfolgung zu vermei-den. Eine menschenverachtende Haltung, die auchangesichts der deutschen Geschichte der VerfolgungHomosexueller unfassbar erscheint.

Die Praxis des BAMF verstieß auch gegen die sogenannte „Qualifikationsrichtlinie“ der EU zum Statusvon Flüchtlingen. Danach gelten als Verfolgung auchgesetzliche, administrative, polizeiliche und/oderjustizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierendsind oder in diskriminierender Weise angewandtwerden. Wenn Flüchtlingen in ihren Herkunftsländernstrafrechtliche Verfolgung wegen ihrer homosexuellenLebensweise droht und die Betroffenen auf Grunddieser Strafdrohung gezwungen sind, heimlich oder

gar nicht ihre Sexualität zu leben, bedeutet dies einenasylrelevanten Eingriff in ihre Menschenwürde, ihrPersönlichkeitsrecht und in ihr Recht auf Privatleben.Die Befragungspraxis in Asylverfahren ist höchstproblematisch. Flüchtlinge sind verpflichtet, bei ihrerersten Anhörung vor dem BAMF detailliert undnachvollziehbar sämtliche Fluchtgründe vorzutragen.Vielen lesbischen und schwulen Flüchtlingen aber istes wenige Tage nach ihrer Ankunft in Deutschland

(noch) nicht möglich, offenüber ihre sexuelle Identitätund entsprechende Verfol-gung zu berichten, nachdemsie sich jahrelang alsHomosexuelle versteckenmussten und ein Coming-

out noch nicht durchlebt haben. Wenn sie diesenFluchtgrund erst später vorbringen, werden sie in derRegel als unglaubwürdig eingestuft.

Zudem darf es keine Abschiebungen in Ländergeben, in denen Gefahr für Freiheit, Leib oder Lebendroht. Immer wieder waren in den letzten Jahren ineinigen EU-Staaten, auch in Deutschland, homosexu -elle Flüchtlinge aus dem Iran von Abschiebung in ihrHeimatland oder in die Türkei bedroht. Das iranischeStrafrecht bedroht gleichgeschlechtlich liebende Men -schen mit Todesstrafe oder Auspeitschungen.

Die Asylpraxis innerhalb der EU hinsichtlich Verfol-gung wegen der sexuellen Identität ist alles andereals einheitlich, was zu Folge hat, dass es Zu- oderRückführung von Flüchtlingen in andere EU-Staatengibt, die keine menschenwürdige Aufnahme, keinenan den Menschenrechten orientierten Flüchtlings -schutz oder kein faires Asylverfahren garantieren. Sowurde 2010 bekannt, dass Tschechien für schwuleAsylbewerber einen erniedrigenden „phallo metrischenTest“ bereithält, in dem den Betroffenen pornografis-che Bilder gezeigt werden, um an ihrer Reaktion zuerkennen, ob sie tatsächlich homosexuell sind. Nachder jüngsten Rechtsprechung des Euro päischenGerichtshofs für Menschenrechte muss ein Flüchtlingin jedem Fall auch vor einer Zu- oder Rückführung ineinen anderen EU-Mitgliedstaat die Möglichkeit einerrechtlichen Überprüfung mit auf schiebender Wirkunghaben. Das muss nun in Deutschland umgesetztwerden.

Historische Verantwortung

In sieben Ländern droht für gelebte Homosexualitätdie Todesstrafe. Eine besonders schreckliche Bilanzan Todesurteilen weist die Diktatur im Iran auf. Viele

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Derzeit halten 77 Staaten einhomophobes Strafrecht bereit

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Klaus Jetz ist Geschäftsführer

des Lesben- und

Schwulenverbandes

in Deutschland

(LSVD).

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Flüchtlinge, die vor politischer Unterdrückung, Folterund Todesgefahr aus dem Iran geflohen sind, sitzenin Transitländern, insbesondere in der Türkei fest,darunter auch Menschen, denen Verfolgung aufgrundihrer sexuellen Identität droht. Sie sind zwar derTodesdrohung entgangen, erfahren aber im Transit-land oft massive Diskriminierung und eine menschen -unwürdige Behandlung.

In vielen weiteren Ländern sind homosexuelleAktivistInnen von offener staatlicher Repressionbedroht. Noch häufiger droht ihnen Gefahr vonhomophoben Gewalttätern, die nicht selten mitDuldung oder gar Unterstützung der Staatsmachthandeln. Die Bundesregierung muss im Rahmen ihrerMenschenrechtspolitik auch diesen gefährdetenMenschenrechtsverteidigerInnen aktiv Asyl inDeutschland anbieten.

Angesichts der Verfolgung von Homosexuellen in derZeit des Nationalsozialismus und bis Ende der 1960erJahre hat Deutschland nicht nur eine besondereVerantwortung, auf internationaler Ebene Menschen-rechtsverletzungen aufgrund der sexuellen Orien-tierung oder geschlechtlichen Identität entschiedenentgegenzutreten. Die politische Konsequenz ausGeschichte und ausgebliebener „Wiedergutmachung“muss heute heißen: besonderer Einsatz für dieMenschenrechte von LGBT weltweit sowie Schutzund Asyl für von Verfolgung betroffene Lesben undSchwule.

Aufgrund der grassierenden Homophobie und derdrakonischen Strafrechtsverschärfungen in vielenLändern Afrikas bereiten sich südafrikanischeMenschenrechtsorganisationen auf einen Anstieg derZahl homosexueller Flüchtlinge vor. Laut PASSOP(People Against Suffering Oppression and Poverty) inKapstadt hat die Situation in Ländern wie Ugandaoder Malawi bereits zu mehr „sexuellen Flüchtlingen“in Südafrika, einem der „progressiven Länder, dieFlüchtlingsstatus aufgrund der sexuellen Orientierunggewähren“, geführt. Der offiziellen Politik aber steheeine traurige Realität gegenüber: AsylbewerberInnenstehen vor unüberwindlichen Hürden, werden un -recht mäßig abgewiesen, erhalten keine Unterstützung.Ihre Verfahren seien problembeladen, Entscheidungenfehle es an Transparenz. Die Rechtslage sei denBetroffenen und vielen LGBT-Organisationen unklar.Das größte Problem aber sei, wenn Homophobie aufFremdenfeindlichkeit treffe. Dann fänden sich vieleFlüchtlinge in einer Situation wieder, die der vergle-ichbar sei, die sie in ihren Herkunftsländern erlebthaben.

Im Libanon, der ähnlich wie die Türkei für Homo -sexu elle letztendlich kein sicheres Land ist, da dasStrafrecht für Homosexuelle Haftstrafen vorsieht undreligiös motivierte Homophobie (auch durch diechristlich-maronitische Kirche) weit verbreitet ist,kümmert sich Helem, die erste Homosexuellenorgani-sation in der MENA-Region, um die steigende Zahlhomosexueller Flüchtlinge aus Syrien. Sie sind meisttraumatisiert von Bürgerkrieg und Verfolgungen.Bertho Makso, der sich bei Helem ehrenamtlich umgeflohene Schwule aus Syrien kümmert, berichtet derfranzösischen Zeitschrift Têtu, dass viele verzweifeltsind, in die Drogenszene abrutschen, sich prostitu-ieren, vom Libanon und der schillernden MetropoleBeirut enttäuscht sind und nur ein Ziel haben: Soweit weg wie möglich, am besten nach Europa oderNordamerika, um einen Neuanfang zu versuchen.

Besonders problematisch ist die Situation vonHomosexuellen, die in ihren Heimatländern nicht vonstaatlichen Stellen, sondern von anderen Akteurenbedroht und verfolgt werden. Wenn die staatlichenStellen nicht bereit oder nicht in der Lage sind, dieHomosexuellen vor den Nachstellungen zu schützen,haben auch diese Homosexuellen Anspruch auf Asyloder Abschiebeschutz. In der Regel wird ihnen Asylaber nur gewährt, wenn sie tatsächlich schon verfolgtworden sind und das glaubhaft machen können. Diebloße Furcht vor Verfolgung reicht in solchen Fällennur aus, wenn bekannt ist, dass die Homo-Hasser indem betreffenden Land ungehindert Jagd auf Homo-sexuelle machen und dass es immer wieder zuschlimmen Übergriffen kommt.

Zu hoffen bleibt, dass das EuGH-Urteil vom vergan-genen November die menschenverachtende Praxiseiniger EU-Staaten endlich abstellen wird, lesbischeund schwule AsylbewerberInnen mit dem Hinweisabzulehnen, sie könnten sich in ihren Herkunftslän-dern diskret verhalten, so dass sie dort nichts zubefürchten hätten.<

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Hallo Valeska, welche Ziele hat sich Lia gesetzt?

Lia ist eine Vernetzungs- undBeratungsstelle für geflüchteteFrauen in Bayern. Unser Ziel istes, gemeinsam mit den betroffenenFrauen Strukturen zu entwickeln,um die drängenden Probleme vorOrt anzugehen. Wichtig ist füruns, nicht über die Betroffenenhinweg zu entscheiden, sondernmit ihnen zusammen die Situationzu verbessern – in ihrem Sinn. DieMöglichkeit zur Selbstbestimmungwird den Frauen im Asylverfahrenleider allzu häufig genommen.Wir wollen gemeinsam mit denFrauen für die Rechte allergeflüchteten Frauen eintreten.

Wie können wir uns diese Arbeitkonkret vorstellen?

Im Dezember haben wir beispiels-weise eine große Informationsver-anstaltung organisiert, um dieFrauen zusammenzubringen. Esgab Vorträge zu geschlechtsspezifi-scher Verfolgung, zu Frauen imAsylverfahren, und natürlich zu

Frauenrechten. Besonders gefreuthaben wir uns über die Vorstel-lung der Kampagne „No Lager forwomen“ von einer selbstorganisier-ten Gruppe von geflüchtetenFrauen, die sich „Women in Exile“nennt. Sie haben sehr motivierendüber ihre Kampagne zur Abschaf-fung von Lagerpflicht in Branden-burg berichtet.

Seit kurzem gibt es auch das LiaFrauencafe. Wir können dazu dieRäume von SIAF, einem Träger-verein für Fraueninteressen, amMünchner Ostbahnhof nutzen.Dort treffen sich jetzt regelmäßigin angenehmer Cafe-Atmosphäregeflüchtete Frauen, um zu planen,sich kennenzulernen undauszutauschen.

Was sind die Probleme, von denengeflüchtete Frauen besondersbetroffen sind?

Einerseits ist es für Frauengefährlicher als für Männer,überhaupt das Herkunftsland zuverlassen. Häufig erschwert sichihre Situation dadurch, dass sie

allein oder mit ihren Kindernfliehen müssen. Auf der Fluchtsind sie erneut Gewalt ausgesetzt –häufig müssen sie ihre Flucht undihren Lebensunterhalt mitProstitution erkaufen.

Hier angekommen werdengeflüchtete Frauen in Lagernuntergebracht, die sie von derMehrheitsgesellschaft isolieren: inMehrpersonenzimmern mit ihnenfremden Personen, in räumlicher

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Mobilmachung gegen dieorganisierte Übergriffigkeit

Das Frauen-Projekt Lia

Geflüchtete Frauen sehen sich über die Erniedrigungen des Migrationsregimes hinaus mit Gewalt undUnterdrückung konfrontiert – allein, weil sie Frauen sind. Das Projekt Lia des Bayerischen Flüchtlingsratssteht den Frauen in den bayerischen Flüchtlingslagern beratend zur Seite und bietet Gelegenheiten zurSelbstorganisation. Nach einem Jahr lässt sich eine erste Zwischenbilanz ziehen. Dazu sprach Agnes Andraemit Valeska Siegert vom Projekt Lia

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Enge, teilweise abgelegen, ohneAnschluss an öffentliche Verkehrs-mittel. Sie müssen zum Teil inUnterkünften ausharren, die einehygienische und bauliche Zumu-tung sind. Es gibt dort keineSchutzräume oder Privatsphäre.Häufig kommt es zu Übergriffenseitens der Mitbewohner, derAngestellten der Unterkünfte, derprofessionellen Berater und auchdurch Ehrenamtliche.

…und häufig haben die Frauennoch dazu Kinder, die auf sieangewiesen sind…

Ja. Für die Kinder der geflüchtetenFrauen stellt sich in besondererWeise die Frage, wie unter solchenBedingungen das Kindeswohlgewährleistet werden soll. Diebelastende Lebenssituation, diefehlende Rückzugsmöglichkeit unddie Abhängigkeit produzierenStress: Eine gesunde und kindge-rechte Entwicklung ist schwermöglich. Dies stellt eine weiterebesondere Belastung für die Mütterdar, schließlich wollen sie in ersterLinie das Beste für ihre Kinder.

Seit 2005 ist in Deutschland diegeschlechtsspezifische Verfolgungals Asylgrund anerkannt. Hat sichdie Situation seitdem verbessert?

Frauen leiden sehr häufig darunter,

dass sie ihre Verfolgung vor den

Behörden nicht glaubhaft machen

können. Eine Frau, die traumatische

Erfahrungen ge macht hat, weil sie

beispielsweise vergewaltigt wurde, ist

verständlicherweise nicht ohne

weiteres in der Lage, ihre Geschichte

detailreich und chronologisch

einwandfrei einem fremden

Menschen zu erzählen. Wenn sie das

jedoch nicht kann, wird ihr häufig

nicht geglaubt. Viele Frauen erleben

dieses Misstrauen gegenüber ihrer

Fluchtgeschichte als große Er -

niedrigung und verzweifeln daran.

Ihr habt eine Tour durch Bayerngemacht und verschiedene Lagerbesucht. Welche Erfahrungen habtihr dort gemacht?

Vor allem haben wir gesehen, dassalles, was wir bis zu diesemZeitpunkt Negatives gelesen undberichtet bekommen hatten, dertraurigen Realität entspricht.Mitbewohner wie auch dasPersonal drangsalieren die Frauenauf unterschiedlichste Art. Dabeikommt es auch zu Vergewaltigun-gen. Wir haben erlebt, wie dasLagerpersonal seine Befugnisseumdeutet und den Bewohnerin-nen und Bewohnern gegenüber sotut, als hätte es Entscheidungsbe-fugnisse im Hinblick auf derenAsylverfahren oder Lebensführung.

Und das alles in dieser bedrückenden räumliche Enge...

In einer Unterkunft im LandkreisEbersberg trafen wir eine Familie,die mit elf Personen in einemZimmer untergebracht ist. Es gibtdort faktisch keine Rückzugsmög-lichkeit. Frauen berichteten uns,dass sie nachts die Zimmer nichtverlassen, um auf die Toilette zugehen, weil sie Angst vor Übergrif-fen haben. Sie haben sich Eimer inihre Zimmer mitgenommen.

Zum Teil befanden sich diesanitären Anlagen bzw. Kochmög-lichkeiten am Ende eines langenFlures oder sogar außerhalb desGebäudes, was besonders füralleinstehende Frauen mit kleinenKindern problematisch ist. Diesanitären Anlagen oder Küchensind teilweise in sehr schlechtemZustand – kein Wunder, wennzwanzig und mehr Personen diesezusammen nutzen müssen.Die Kinder spielen auf den Fluren,in den Zimmern ist häufig derPlatz nicht ausreichend. DieAtmosphäre ist depressiv und ohnePerspektive. Manche Personen

leben im Lager über mehrere Jahreund haben keine Hoffnung mehr.Eine Frau, die wir getroffen haben,lebt bereits seit insgesamt 23Jahren im Lager.

Was muss sich aus der Sicht von Liakonkret verbessern?

Unsere Beobachtungen in denbayrischen Lagern haben unsabsolut in unserem Ansatzbestärkt, dass diese Art derUnterkünfte für alle, aber vorallem für die Frauen und Kinder,gewalttätig und krankheitsför-dernd ist. In zwei Unterkünftenverwies uns das Personal desPlatzes, weil wir mit den Frauengesprochen haben. Das bringt unsaber nicht davon ab, weiterhinden Kontakt mit den Frauen zusuchen.

Wir sind der Ansicht, dass derLagerzwang, so wie er in Bayernpraktiziert wird, gewaltförmig ist.Er produziert Abhängigkeiten,Gewalt und Isolation. Das könneninsbesondere Frauen nichtertragen, die traumatischeErfahrungen machen mussten.Wir fordern die Unterbringung inWohnungen und im Bedarfsfalleine adäquate therapeutischeBehandlung. In diesen Fällenmuss eine Anbindung an benötigteBeratungsstellen gewährleistet sein.Niemand verlässt das Herkunfts-land ohne einen Grund. Dement-sprechend ist das Misstrauengegenüber den Geflüchteten inunseren Augen menschenverach-tend.<

a s y l

Valeska Siegertarbeitet bei Lia, dem

Frauen-Projekt des

Bayerischen Flücht -

lingsrates.

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Asylanten oder Exilanten? Bertold Brecht und Oskar Maria Graf beim Stammtisch deutscher EmigrantInnen in New York ,1943.

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Die Wörter ‚Asyl’ und ‚Exil’ treffen sich an einersemantischen Position, die sich durch einegewisse Vagheit auszeichnet: eine Person

befindet sich an einem Ort, an dem sie entwedernicht sein möchte oder sollte. Insofern scheinen diebeiden Begriffe auf den ersten Blick ein komplemen-täres Wortfeld zu bilden: ein Mensch, der ins ‚Exil’geschickt wird, muss andernorts ‚Asyl’ suchen. DieseKomplementarität würde jedenfalls erklären, wiesodas öffentliche Interesse am Konzept des ‚Asyl’ mitebenso großem Interesse am ‚Exil’ – und umgekehrt– einher zu gehen scheint.1

Protestierende Flüchtlinge und Edward Snowden

Einerseits suggeriert die mediale Berichterstattung zurZeit, dass nicht nur mehr und mehr aus anderenLändern Geflüchtete in Deutschland ‚Asyl’ suchen –gleichzeitig verzweifeln diese Personen in stetigsteigendem Maße in Hinsicht auf ihre Bedürfnisseund Forderungen. Man sieht es unter anderem anFällen wie denen, die sich in den letzten Monaten inMünchen ereignet haben: Den Protestaktionen undHungerstreiks teilweise minderjähriger Flüchtlinge amRindermarkt, vor dem Sozialministerium und in derBayernkaserne. Die Meinungen und Bewertungen,die seitens der Berichterstattenden hinsichtlich dieserEreignisse getätigt werden, gehen radikal auseinan-der. Die Thematisierung aber gedeiht.

Andererseits erfreut sich auch die Berichterstattungzum Thema ‚Exil’ reger Beliebtheit: So wie einPresseaufruhr über sogenannte „Asylbewerber“ denanderen jagt, geschieht es auch mit den „Exilanten“:Edward Snowden erscheint in jenem Moment auf derBühne des medialen Interesses, in dem JulianAssange sie verlassen hat. Presse, Hashtag-Gewitter

und politische Diskussion zentrieren sich gleicher-maßen ums ‚Asyl’ wie ums ‚Exil’. Hier stellt sich dieFrage, ob diese beiden Konzepte und Begriffe tat -sächlich zwei Seiten derselben Medaille sind, zweiWörter, die zwei spezielle Aspekte desselben Zusam-menhanges bezeichnen.

Wie sich allerdings bei genauer Betrachtung zeigt, istdiese vermeintliche Isomorphie der Begriffe ‚Asyl’und ‚Exil’ nur eine scheinbare. Mitnichten nämlichgeht es bei der Verwendung der Begriffe darum,spezifische Situationen zu bezeichnen. Vielmehr liegtdie Entscheidung, ob es sich bei der Aufenthalts -situation eines Menschen um ‚Asyl’ oder ‚Exil’handelt, im Auge der Betrachtenden. Oft genugreferieren beide Wörter auf die gleichen Situationen,die sie allerdings radikal anders bewerten und denensie andere Eigenschaften zuschreiben.

Zwei sehr verschiedene Konzepte

Diese sprachliche Täuschung zeigt sich bereits in derEtymologie: so ist das Asyl der „Zufluchtsort“, das Exilder „Verbannungsort“.2 Insofern laden die Wörterselbst schon zu der Vermutung ein, dass ein Menschzwar aktiv ins Asyl flüchtet, aber passiv ins Exilgeschickt wird. Hier lässt die Unterscheidung bereitserkennen, dass es sich bei ‚Asyl’ versus ‚Exil’ nichtum eine Opposition reeller Referenz handelt, sondernum eine, die ideologischer Art ist. Und getreu derüblichen Struktur ideologischer Oppositionen weistauch diese bei einem Blick auf ihre Geschichte aufihre individuelle Gemachtheit hin: Bis ins 20.Jahrhundert lässt sich tatsächlich gar nicht von einerOpposition sprechen; klassisch bezeichnet das Asylschlicht einen – oft spirituell konnotierten – Ort desSchutzes und der Sicherheit, während es sich beim

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Das Fremde im Eigenen

Überlegungen zum gespaltenen Verhältnis von Asyl und Exil. Von Tom Reiss

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Exil um eine soziopolitische Sanktion handelt.Pragmatisch kann also von einem gemeinsamenWortfeld nur im weitesten Sinne die Rede sein.

Als semantisch verbundenes Gegensatzpaar er-scheinen ‚Asyl’ und ‚Exil’ erst mit dem 2. Weltkrieg.Diese Annäherung findet zeitgleich mit einemverstärkten Personenbezug statt: besonders be-merkenswert ist die Entstehung des nach wie vor als„Täterbezeichnung“ gebrauchten Begriffes „Asylant“im Nachkriegsdeutschland. Ein Wort, das in schein-barer Symmetrie zum „Exilanten“ steht und gleich -zeitig zwei nur lose zusammenhängende Konzepteinhaltlich verknüpft. An diesem Punkt öffnet sich dieSchere, die ‚Asyl’ und ‚Exil’ künstlich verbindet: Indem Moment, in dem die „Asylanten“ als mal be -mitleidete, mal gefürchtete und mal verhassteProbleme entstehen, erscheinen auch die „Exilanten“als soziale Referenzpunkte.

So wird die Flucht vor dem Nationalsozialismus imFalle von Personen der kulturellen Öffentlichkeit zumehr als bloßer Notwendigkeit im Auge der Öf-fentlichkeit: Schriftsteller wie Thomas Mann, BertoltBrecht und Lion Feuchtwanger sind keine „Flücht -linge“, die um Asyl ersuchen; es sind „Exilanten“,denen Asyl bereitgestellt wird. Ähnlich verhält es sichmit dem politischen Asyl nach dem 2. Weltkrieg. Jemehr die Nervosität der westlichen Bevölkerungsteigt, die sich mit dem Angstphantasma hungriger,gieriger und ungebildeter „Flüchtlingsströme“konfrontiert sieht, desto begeisterter öffnet sie ihreGrenzen für diejenigen, die in der Lage sind, alsSprachrohr politischen Widerspruchs zu dienen. Esspielt hierbei weniger eine Rolle, ob die entsprechen-den Personen in ihrer ursprünglichen Heimattatsächlich politischen Widerstand geleistet haben –im ‚Exil’ werden aus der DDR emigrierte Künstler wieUwe Johnson und Wolf Biermann zu Dissidenten.

Der Luxus der Alternativlosigkeit

Bezeichnend ist die Zuschreibung von Notwendigkeitim Gegensatz zu freier Entscheidung: Im Augeasylbietender Nationen wie den USA oder der BRDwird eine strenge Unterscheidung zwischen denFlüchtlingen getroffen, denen die wirtschaftlichenoder politischen Umstände des Heimatlandes keineAlternative zur Flucht lassen (und die aufgenommenwerden) und denen, deren Auswanderung ihre freieWahl ist (und die bestenfalls geduldet, am liebstenaber ferngehalten werden). Doch auch diese Unter-scheidung erweist sich als Schein und ist von Fall zuFall flexibel: So bauen die USA Mauern und Zäune,

um sich mittel- und südamerikanischer Flüchtlinge zuerwehren, deren Determination keinen Zweifel an derNotwendigkeit ihrer Flucht lässt. Gleichzeitig aller -dings heißen die USA wohlhabende und einfluss -reiche kubanische Emigranten und Emigrantinnenwillkommen, sofern diese sich als Instrumentepolitischen Kapitalismuslobes erweisen.

Hier scheint sich die Opposition von Aktivität undPassivität in Hinsicht auf ‚Asyl’ und ‚Exil’ zu redu-plizieren und umzukehren. Wer keine Wahl hat, wirdakzeptiert – aber die Frage, ob die flüchtende Personaktiv eine freie Entscheidung trifft, ist scheinbar keineFrage menschlicher Grundbedürfnisse wie Sicherheitvor Hunger, Verfolgung und Krieg, sondern eineFrage der politischen Haltung und Verwertbarkeit.Akzeptiert werden nicht diejenigen, deren politischeEntscheidungen aufgrund ihrer prekären Situationunbrauchbar sind, sondern diejenigen, deren politi -sche Positionen nützlich genug sind, dass es irrele-vant wird, ob ihre Situation prekär ist.

Ganz allgemein geht die Tendenz stark in einepositive Bewertung und Konnotation des ‚Exils’ undeine negative des ‚Asyls’. Diese Opposition zieht sichdurch alle Ebenen, auf denen sich die beiden Begriffebetrachten lassen: Hier der „Dissident“ oder die„Dissidentin“, dort der „Flüchtling“. Hier das „Opfer“,dort der „Held“ oder die „Heldin“. Hier das „nackteLeben“, dort das „politische Leben“. Im ‚Asyl’ wirdder Mensch zu einem subaltern zum Schweigenverdammten Objekt, dessen Stimme selten gehörtwird – und wo die „Flüchtlinge“ versuchen, eineStimme zu finden, wird ihnen schnell unterstellt, dasWerkzeug linker Agitation zu sein, wie sich an deraktuellen Debatte in Deutschland zeigt. Im Falle des‚Exilanten’ – sei es Thomas Mann und seine Ra-diosendungen aus Amerika, Ai Weiwei und seineAusstellungen, der Dalai Lama und seine Stadion -auftritte oder Edward Snowden und seine Veröf-fentlichungen – finden die Personen im Gegensatzdazu als „autarke Subjekte“ das Gehör von Millionen,obgleich in ihrem Fall die Gefahr der willentlichenoder unwillentlichen Instrumentalisierung unverhält-nismäßig höher ist als im Falle der Verfolgten, diekeine politische Macht besitzen.

‚Inneres Exil’

Es spielt mitunter im Falle des ‚Exils’ nicht einmaleine Rolle, wo sich die entsprechenden Personentatsächlich befinden. Bei den „Flüchtlingen“ inDeutschland stellt sich für die Behörden und dieBevölkerung in den meisten Fällen lediglich die

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Frage, ob sie bleiben dürfen oder „zurück nachHause“ müssen. Befindet sich eine Person allerdingsim ‚Exil’, so gewinnt sie schlagartig eine erstaunlicheFreizügigkeit: Die Anzahl der Nationen, die EdwardSnowden ‚Asyl’ anbieten, wirkt wie die Parodie einermittelalterlichen Brautwerbung, der Dalai Lama istbegehrter Gast in Talkshows zahlreicher Länder.

Wie losgelöst das moderne Konzept des ‚Exils’ vontatsächlicher Lebensrealität ist, zeigt sich auch amBegriff des ‚inneren Exils’: In dieses begab sichbeispielsweise der deutsche Dichter Gottfried Bennnoch während des Dritten Reiches. Benn, der nachHitlers Machtübernahme ostentativ in die NSDAPeingetreten war und bei dem es sich um einen der 88Unterzeichner und Unterzeichnerinnen des „Gelöb-nisses treuester Gefolgschaft“3 handelt, distanziertesich zwar schließlich in privaten Schriften von derNS-Ideologie, verblieb allerdings in Deutschland undzuerst in Gunst, später zumindest in wohlwollenderDuldung der Nazis. Im Jahr 1951 wurde ihm derGeorg-Büchner-Preis verliehen. Weder vor noch nachEnde des Krieges äußerte er explizite widerständigeKritik an dem Regime – nichtsdestotrotz gilt seineSituation nach wie vor als die des ‚Exils’.

Umso erstaunlicher ist diese extreme ideologischePolarisierung insofern, als dass die ursprünglicheBesetzung der Begriffe, soweit sie wertend verwendetwerden können, umgekehrt ist: Das Exil ist tradi-tionell weniger eine aus politischer Überzeugungausgeübte Praxis seitens der Emigrierenden, sondernvielmehr eine Strafe, die über diese verhängt wird. ImGegensatz dazu ist das Asyl traditionell keine zugewährende oder zu verweigernde Gnadenleistung,sondern ein fundamentales Recht im Angesicht vonSanktion und Verfolgung. Als solches existiert es,

zumindest dem Namen nach, sowohl in der Antike,im frühen Christentum, in der allgemeinen Erklärungder Menschenrechte von 1948 und der Genfer Flücht -lings konvention von 1951.

Das Eigene und das Fremde

Möglicherweise deuten diese fluktuierenden, abereinander entgegengesetzten Konnotationen undWertungen des Asyls und des Exils auf eine vielfundamentalere Opposition hin, die eine der wichtig-sten in der Geschichte moderner Nationalstaaten ist:der Opposition von ‚Eigenem’ und ‚Fremdem’. Dennhier findet sich die vielleicht einzige grundlegendeGemeinsamkeit dieser beiden Wörter, die ansonstenkaum miteinander zusammenhängen: sie beideverweisen auf das ‚Fremde’, das den Weg ins ‚Eigene’gefunden hat. So betrachtet ist die strikte ideolo -gische Trennung von Asyl und Exil eine Trennung,die eine Funktion erfüllt, wenn deutlich wird, dass‚Eigenes’ und ‚Fremdes’ in der gesellschaftlichenRealität nicht konsequent voneinander trennbar sind.Die positive Umdeutung des Exils unterstützt, jaerlaubt erst die negative Umdeutung des Asyls – dieVerteilung des individuellen Privilegs gestattet denEntzug des allgemeinen Rechtes.

Wenn dem so ist, gilt es vorsichtig zu sein, wennpolitische Dissidenten und Dissidentinnen – freiwilligoder unfreiwillig – im ‚Exil’ zu Galionsfiguren sozialerBewegungen werden. Denn jenseits des unbestreit-baren Wertes politischen Widerstandes steht hinterder deutlich hörbaren Botschaft eines jeden ‚Exi-lanten’ das Schweigen zahlloser Flüchtlinge, dievergeblich auf die Einlösung ihres Rechtes auf Asylwarten.<

a s y l

Tom Reiss ist Literaturtheoreti-

ker und arbeitet an

der Ludwig-

Maximilians-

Universität

München.

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1 Im Text wird ausschließ-

lich die männliche Form des

„Asylanten“ und „Exilan-

ten“ verwendet. Dies

bedeutet nicht, dass es nicht

zu jeder Zeit auch Asylan-

tinnen und Frauen im Exil

gegeben hätte, sondern

beruht maßgeblich darauf,

dass das ganze Konzept des

„Asylanten“ schon historisch

meist stereotyp männlich

konnotiert war und oftmals

leider immer noch ist.

2 Wörtlich entwickelt sich

der Begriff ‚Asyl’ aus dem

griechischen asylos

(„sicher“), als antonymi-

sches Adjektiv zu sylon

(„Plünderung“). Das Wort

‚Exil’ wiederum hat seine

Wurzeln im lateinischen

ex(s)ul („verbannt“).

3 Hierbei handelt es sich

um eine Deklaration von 88

Schriftstellerinnen und

Schriftstellern, in der die

Unterzeichnenden Adolf

Hitler persönlich Treue und

Unterstützung zusichern.

Sie wurde am 26.10.1933 in

der „Vossischen Zeitung“

abgedruckt.

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Das 20. Jahrhundert mit seinen extremenmodernen wie antimodernen Ausprägungenwar auch ein Jahrhundert der Migration in all

ihren Erscheinungsformen. In den letzten Jahrenvermehrt ins Bewusstsein in Deutschland gerücktwurden Flucht und Vertreibung Deutschstämmigeraus osteuropäischen Ländern. Das Verhältnis vonTäter- und Opferschaft wurde dabei oft einer Revisionunterzogen. Zugleich zeigen Bemühungen, dasAusmaß von nationalsozialistischer Verfolgung unddadurch ausgelöster Flucht darzustellen, nur begrenz -te Erfolge. Die Geschichte der Exilforschung spiegeltdamit auch die Mentalitätsgeschichte der bundes -republikanischen Nachkriegszeit wider.

Nur ein Bruchteil derer, die vor den Nationalsozialis-ten flüchteten und Asyl fanden, kehrte nach 1945nach Deutschland zurück. Diejenigen, die remigrier -ten, fanden ein Klima der Reserviertheit, oftmals derAblehnung vor. Insofern ist die randständige Positionder Schutzsuchenden im politischen Diskurs, wie sieheute konstatiert werden muss, eine Konstante, nichteine Ausnahme. Dies trifft auch auf die Bemühungender Staatengemeinschaft zu, wenn es darum geht, dieGrenzen zu öffnen und jenen Asyl zu gewähren, dieihre Heimat verlassen mussten.

Gezwungen zur Flucht…

Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der Emigrationwährend der Nazi-Zeit, dass sie sich nur näherungs -weise quantifizieren lässt. Dies liegt an den Be -schränkungen und Auflagen, mit denen zahlreiche

KontinuierlicheVerweigerung

Die Geschichte des Asyls während des Nationalsozialismus

„Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“, schrieben 1948 die UrheberInnen des Grundgesetzes in den Ar-tikel 16. Niemand sollte zumindest in Deutschland mehr erleben, was vielen EmigrantInnen während desNationalsozialismus widerfuhr: Abwehr und Ausgrenzung. Ein Rückblick auf die Geschichte des Asylswährend des NS verweist auf erschreckende Kontinuitäten zur Gegenwart. Von Andreas Marquet

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Foto: Stadtarchiv Ludwigshafen, N 25, Nachlass Friedrich Wilhelm Wagner, Nr. 39

Le certificat.Wer einen solchen Ausweis besaß,

war in Frankreich als politischer Flüchtling anerkannt.

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Staaten die Einreise der Hitler-Flüchtlinge zu verhin-dern trachteten, was naturgemäß illegale Grenzüber-tritte beförderte. So schwanken die Schätzungen fürdie Zahl der EmigrantInnen allein für 1933 zwischen59.000 und 65.000. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegswaren es bereits 300.000 Menschen. Die gesamteEmigration lässt sich auf 390.000 Personen beziffern.

Der Anstieg der Emigration und insbesondere ihrwellenartiger Verlauf deuten auf die verschiedenenBeweggründe der Flüchtlinge hin. Während dieunmittelbare Gefährdung nach der nationalsozialisti -schen Machtübernahme viele Persönlichkeiten ausder Politik zur Flucht veranlasste, setzten nachantisemitischen Gesetzen und Ausschreitungengrößere Emigrationsschübe der jüdischenBevölkerung ein. Oftmals überlagerten sich dieMotive, Deutschland zu verlassen, eine allzuholzschnittartige Einteilung verbietet sich daher.

Gemein war den EmigrantInnen in der Regel dieoftmals völlig ungewohnte prekäre ökonomischeLage, in der sie sich einrichten mussten. Hilfskomi-tees etablierten sich rasch zur festen Anlaufstelle inrechtlichen Fragen ebenso wie bei materiellenZuwendungen. Diese Komitees waren zumeist ineinem weltanschaulichen oder religiösen Kontextangesiedelt, der mit den Schwesterorganisationen derAufnahmeländer in Verbindung stand. Allerdingswaren die Asylgesetze der Aufnahmeländer vonungleich größerer Bedeutung und beeinflussten daherauch die Heterogenität der Emigrantenorganisationen.

Insbesondere in der Anfangszeit des NS-Regimes warunter vielen EmigrantInnen der Glaube verbreitet, dienationalsozialistische Herrschaft werde von kurzerDauer sein. Die Anrainerstaaten Deutschlands warenauch aus diesem Grund bevorzugte Fluchtorte, wobeigerade politische EmigrantInnen von kurzen Wegenüber die grüne Grenze, beim Schmuggel vonInformationen und Propaganda sowie der Aufrechter-haltung des Kontakts mit den GesinnungsfreundInnenin Deutschland zu profitieren suchten. Sie agierten,wie es der Sozialdemokrat Friedrich Stampferausdrückte, „mit dem Gesicht nach Deutschland“.

… in die Nachbarländer

Die Tschechoslowakei wurde unter diesen Umstän-den eines der wichtigsten Exilländer, Prag warbedeutendes Zentrum der Hitler-Flüchtlinge. ImVergleich mit anderen europäischen Staaten war dietschechoslowakische Asylgesetzgebung äußerstliberal, wurden doch die Niederlassungsfreiheit, ein

liberales Arbeitsrecht und auch die Möglichkeitpolitischer Betätigung, die notwendig gegen denNachbarstaat gerichtet war, garantiert. Die Annexionzunächst der Gebiete mit sudetendeutscherBevölkerung sowie anschließend die Einverleibungdes verbliebenen Staats 1938/39 führten zur erstengrößeren Flüchtlingsbewegung außerhalb Deutsch-lands.

Die Bedeutung Frankreichs, das schon seit 1933wichtiges Aufnahmeland war, stieg daraufhin weiteran. Dabei war die Asylgesetzgebung Frankreichs, daszu Beginn der NS-Zeit noch an seine große liberaleAsyltradition anknüpfte, unter innenpolitischemDruck und mit Verweis auf die ökonomischen Folgender Weltwirtschaftskrise einer restriktiven Wendeunterzogen worden. Quotenregelungen in zahlreichenBerufsfeldern verdammten EmigrantInnen oftmals zurArbeitslosigkeit, gegenseitige Koppelungen vonArbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen bildeteneinen schwer zu durchbrechenden Teufelskreis.

Dennoch hatte sich Paris frühzeitig zum Zentrumpolitischer Initiativen entwickelt. Der Versuch, eine„Volksfront“ zu bilden, die über parteipolitischeGrenzen hinweg gegen die NationalsozialistenStellung bezog, war nicht zuletzt ein Zeichen an dieStaatengemeinschaft, dass es ein „anderes Deutsch-land“ gibt. Für dieses zu sprechen reklamierten nichtalleine die AnhängerInnen der Volksfront für sich.Letztere zerbrach an der Unnachgiebigkeit derpolitischen AkteurInnen und scheiterte 1937endgültig.

Als Nachbarland hätte auch die Schweiz eine wichtigeRolle als Exil spielen können – zumal ein teilweisegemeinsamer Sprachraum die kulturellen Hürdenniedrig erscheinen ließ. Jedoch war der Schweiz inerster Linie daran gelegen, ihren Status der Neutralitätzu bewahren und hierfür beispielsweise politischeBetätigung scharf zu ahnden. Bliebe als hervorzu -hebendes Aufnahmeland noch Großbritannien,dessen Bedeutung spätestens seit Kriegsausbruchstark anstieg. Auch die britische Asylgesetzgebungwar nicht frei von Restriktionen, die beispielsweise inden Internierungslagern für EmigrantInnen kurzzeitigNiederschlag fanden.

Als Folge des Zweiten Weltkriegs war die erfolgreicheFlucht nach Übersee (oder Großbritannien) eineÜberlebensfrage geworden. Damit einher ging eineweitere „Zersiedelung“ der Emigration, wobei dieUSA nicht nur als Bündnispartner der Anti-Hitler-Koalition, sondern auch als Aufnahmeland heraus

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stachen. Zudem muss Palästina besondere Bedeutungfür die jüdische Emigration beigemessen werden.

Insbesondere der deutsche Einmarsch in Frankreich1940 kam derart schlagartig, dass er die Emigrant -Innen weitgehend unvorbereitet traf. Das im kolla-borierenden Vichy-Frankreich liegende Marseillewurde zum letzten Ausweg und gleichzeitig zur Falle.In dramatischen Rettungsaktionen wurden Flüchtlingemit Not-Visen für die USA ausgestattet und aufabenteuerlichen Routen über die Pyrenäen und durchdas faschistische Spanien nach Portugal gebracht, wodie Atlantik-Passage endgültige Rettung versprach.

Scheiternde Humanität

Die Hoffnungen der EmigrantInnen auf eine interna-tionale Lösung der Flüchtlingsfrage hatten spätestensmit dem Rücktritt des Flüchtlingskommissars desVölkerbundes, James G. McDonald, im Dezember1935 einen herben Dämpfer erlitten. Der „einfachenMenschlichkeit“ müsse der Vorzug gegeben werden,forderte McDonald vergebens. Ihm war es nichtgelungen, einen Standard zur Anerkennung derFlüchtlinge aus dem Deutschen Reich durchzusetzen.Der Völkerbund erwies sich als zahnloser Tiger.

Konferenzen und Kampagnen sollten öffentlichenDruck auf die Staatengemeinschaft ausüben. Die imNovember 1935 gegründete „Fédération des Émigrésd’Allemagne en France“ (FEAF) bündelte als loserDachverband die Interessen von insgesamt 15 Organi -sationen in Frankreich, die Asylrechtsthemen undUnterstützungsleistungen verbanden. Im Juli 1936entsandte die FEAF zur internationalen Flücht lings -konferenz in Genf vier Vertreter.

Zur Vorbereitung der Genfer Konferenz hatte dieFEAF in Paris kurz zuvor eigens eine Konferenzveranstaltet, die einen Entwurf zur Definition despolitischen Flüchtlings erarbeitete. Mit dem „Comitéde liaison“ war eine offizielle Schnittstelle derEmigrantenvertreterInnen beim Völkerbund geschaf-fen worden. Mit der Beteiligung am „Comité consul-tatif“ erreichten EmigrantInnen sogar direkte Mit -wirkung an regierungsamtlicher Stelle. Dieser beimfranzösischen Innenministerium angesiedelten Kom -mission oblag die Entscheidung über die An er ken -nung als politischer Flüchtling im Sinne der rechts -verbindlichen, wenngleich verbesserungswürdigenDefinition.

Es war offenbar geworden, dass die Organisation undKonzentration von Interessen ein Erfolg versprechen-der Weg war. Die Gründung der „Zentralvereinigungder deutschen Emigration“ (ZVE) als ein Ergebnis derGenfer Konferenz erschien insofern folgerichtig. DieZVE war wie die FEAF als Dachverband konzipiertund sollte in den jeweiligen Asylländern Landessek-tionen unterhalten. Allerdings blieb die ZVE faktischauf Frankreich beschränkt und konnte die ihrzugedachte internationale Statur nicht gewinnen.

Die Ergebnisse von Genf reichten nicht aus, um denProblemen der Flüchtlinge wirksam zu begegnen. Sowurde beispielsweise der gesamte Komplex desArbeitsrechts ausgespart und blieb weiterhin natio -nalen Regelungen unterworfen. Im Juni 1938 wurdein Evian eine weitere Konferenz eröffnet, nachdem inGenf erneut wenig ertragreiche internationale Be -mühungen stattgefunden hatten; auch Vertreter derZVE nahmen daran teil. Doch auch in Evian wurdendie drängendsten Probleme nicht beseitigt. DieStaaten hielten an ihren Bestimmungen fest undbegegneten den Flüchtlingen mit starren Einwan-derungsquoten.

Vermeidbar und zynisch

Die deutschen Annexionen beendeten schließlichjede Hoffnung auf eine internationale Lösung derFlüchtlingsprobleme. Initiativen wie die Not-Visen fürdie USA waren eine bloße Reaktion auf diese Situ -ation, sie wurden situativ ausgegeben und kamen nureiner ausgewählten Elite zugute.

Das Gros der Flüchtlinge hatte mit Repressionen undBeschränkungen zu leben gelernt. Die Selbstorganisa-tion der Emigration war ein steiniger Weg und schiendoch der einzig gangbare gewesen zu sein. MitExpertise und Engagement beschritten ihn zahlreicheEmigrantInnen in der Hoffnung, auf die Staatenge-meinschaft einwirken zu können. Dass diese sichwiederholt zu großen Konferenzen traf, nicht jedochzu großen Lösungen fand, war tragisch.

Dass solche Verhaltensmuster der internationalenPolitik bis heute immer wiederkehren, ist mehr alsnur vermeidbar – es ist zynisch. Die Aktualität derhistorischen Parallelen ist evident. Im Ringen um dieDeutungshoheit erinnerungspolitischer Diskursewerden sie freilich zugunsten deutschen Opfertumsweitgehend marginalisiert.<

a s y l

Andreas Marquetist Archivar des

P. Walter Jacob

Archivs der Walter A.

Berendsohn For -

schungsstelle für

deutsche Exil -

literatur und ver -

öffentlicht Texte zu

Arbeiterbewegung,

Flucht, Vertreibung

und Exil.

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Es läuft. Farbbeutel auf

Steintafel.

„Im neuen ‚Kaffee, Espresso – Kolonial’ leben fastschon in Vergessenheit geratene Kaffeehausspezialitä-ten wieder auf“ berichtet die Münchner Abendzeitungam 12. Januar 2014 über die Neueröffnung einesCafes im Münchner Stadtteil Neuhausen. Fast inVergessenheit geraten scheint auch einem gewissenEdmund Stoiber die deutsche Kolonialgeschichte:„Moment mal! Wir sind ein äußerst tolerantes Land!“,sagt er in der Talkshow Anne Will am 25. September2013, „Wir sind das Land mit dem größten Migrations-hintergrund in Europa (…) obwohl wir keineGeschichte haben wie England oder wie Frankreich,also keine Kolonialgeschichte haben.“

Der Kolonialismus ist tot und spukt doch nach wievor durch Köpfe und Gesellschaft. Als (un-)heimlicheVergangenheit, die vergessen, verdrängt, geleugnet,verharmlost, relativiert und verklärt wird, reproduziertsich Kolonialität in Diskursen und Praxen, in ökono-mischen Strukturen, in sozialen, politischen undkulturellen Macht-Wissen-Komplexen.

Der Kolonialismus war eben kein einmaliges Ereignis,keine klar umrissene Epoche, kein auf ein bestimmtesGebiet bezogenes Phänomen. Kolonialismus war und

ist ein globales System der Herrschaft der Einen undder Unterwerfung und Ausbeutung der Anderen(sowie die Herstellung dieses Verhältnisses der„Einen“ und der „Anderen“). Dieses System hat sichtief in die kolonisierten und die kolonisierendenGesellschaften eingeschrieben, in soziale, politischeund ökonomische Verhältnisse, in Gesetze, Verord-nungen und Verwaltungsablaufe, in Architekturenund Denkmäler, in unser Denken und Handeln – derKolonialismus wirkt bis heute.

Ablagerungen

Als die Gruppe [muc] münchen postkolonial vor etwasieben Jahren anfing, nach (post-)kolonialen Spurenin München zu suchen, haben wir nach Einschreibun-gen in der Stadt gesucht, nach Denkmälern, Gräbernund Straßennamen, nach Institutionen und histori-schen Ereignissen. Wir fanden zunächst Bruchstücke,Spuren, deren Sinn sich uns bisweilen versperrte,Geschichten, deren Fäden wir weiterverfolgenwollten.

So stießen wir zum Beispiel auf die Geschichte vonJuri und Miranha, die von den beiden ForschernMartius und Spix im Jahr 1820 im Zuge einerBrasilienexpedition verschleppt und nach Münchengebracht wurden, wo sie begutachtet und begafft,vermessen und gezeichnet innerhalb kurzer Zeitverstarben; die Auseinandersetzung um den Schiffs-schnabel (Tangué), der 1884 von Max Buchner inKamerun geraubt und später dem Münchner Völker-kundemuseum geschenkt wurde, wo er noch heuteausgestellt wird, während Alexandre Kum’a NdumbeIII, der Nachfahre des damals beraubten KönigsKum’a Mbape alias Lock Priso, seit Jahren vergeblichdie Rückgabe fordert; die Skulpturen des Kolonial-bildhauers Fritz Behn; die Debatte um die Entkolonia-lisierung der Münchner Kolonialstraßen – um nureinige Beispiele zu nennen.

Diese Geschichten und Auseinandersetzungen findensich in einer Vielzahl von Spuren und Ablagerungenauch heute noch im Münchner Stadtraum. Als Gräber

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Gespenster/Ge/Schichten

Das Projekt mapping.postkolonial.net stellt sich vor. Von Zara Pfeiffer

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und Straßennamen, Gedenktafeln und Büsten,Institutionen und Objekte legen sie sich wie ein Netzüber die Stadt und machen die historische undgegenwärtige Präsenz (post-)kolonialer Realitatendeutlich. Gleichzeitig verweisen sie auf eine Reihevon Orten und Leerstellen, deren kolonialer Bezugsich heute nicht mehr oder nur sehr vermittelterschließt. Diese Unsichtbarkeiten erzählen oft mehrüber den gegenwärtigen Umgang mit der kolonialenVergangenheit als das vermeintlich Offensichtliche.

Verblassen und Überschreiben

An der Außenmauer des Alten Südlichen Friedhofs inMünchen, im Durchgang zwischen altem und neuemFriedhofsteil lassen sich allmählich verblassendeSpuren einer Gedenktafel erkennen. Nur wenigeMeter entfernt an der Ecke Kapuziner-/ThalkirchnerStraße findet sich diese Gedenktafel, die neben den„Gefallenen des Krieges 1870/71“ den „Toten derKolonialkriege“ gewidmet ist. Insgesamt 16 Kolonial-soldaten werden dort namentlich aufgeführt, diezwischen 1885 und 1907 unter anderem in Ostafrika,Südwestafrika und China ums Leben kamen.

Es ist davon auszugehen, dass es sich um diegleichen Kolonialsoldaten handelt, die bereitszwischen 1913 und 1966 im Eingangsbereich desNeuen Münchner Rathauses mit einer Gedenktafelgeehrt wurden. Nachdem diese bei Renovierungsar-beiten in den 1960er Jahren versehentlich zerstörtworden war, wurde eine neue, schlichtere Versionder Gedenktafel an der Außenmauer des AltenSüdfriedhofs angebracht. In den 1990er Jahren wurdediese mehrmals mit Farbbeuteln und antikolonialisti-schen und antimilitaristischen Graffiti kritisiert, sodass sie wiederholt abgehängt und gereinigt werdenmusste. Schließlich wurde die Tafel einen Meterhöher gehängt.

Dies brachte die Kritik in Form von Farbbeutelnjedoch nicht zum Erliegen, und so wurde dieGedenktafel nach der letzten Reinigung an einemgleichermaßen sicht- wie unsichtbareren Ort ange-bracht – der Außenmauer des Alten SüdlichenFriedhofs, Ecke Kapuziner-/Thalkirchner Straße. Dorthängt sie nun relativ unbeachtet, die Schrift ist durchdie vielen Reinigungsprozesse kaum noch zuentziffern und der Blütenstaub des Baumes, der sieim Sommer beinahe vollständig verbirgt, tut seinÜbriges.

Koloniale Gespenster

Die Geschichte dieser kolonialen Gedenktafel istgeradezu symptomatisch für den Umgang mit derkolonialen Vergangenheit in Deutschland. Vergessen,verblassen, verdrängen, verharmlosen, verklären.Normalität. Kolonialität. Wie kann es sein, könnteman fragen, dass in einer Stadt wie München nochheute Kolonialsoldaten geehrt werden? Nicht nur miteiner fast vergessenen Gedenktafel, sondern auch mitden zahlreichen Straßennamen, mit denen in Mün-chen nach wie vor koloniale Verbrecher honoriertwerden. Wie kann es sein, dass die unfassbarmenschenverachtende Ideologie und Praxis desKolonialismus immer noch ignoriert und relativiertwerden kann und dass nahezu jede Kritik an diesemUmgang heftigen Widerstand hervorruft? Der Kolonia-lismus ist tot und lässt sich doch nicht tot kriegen.

Koloniale Gespenster – als Schatten der kolonialenVergangenheit spuken sie nach wie vor durch Köpfeund Gesellschaft: nicht nur in einem vehementverteidigendem Beharren auf kolonialen Denkmälern,Straßennamen und rassistischen Bezeichnungspraxen,sondern auch als kolonialer Chic von Wohndesign,Delikatessengeschäften, Cafes und Restaurants sowieneu aufgelegt in Werbung, Filmen und Dokumenta-tionen.

Wer sich in München als Kolonialist_in fühlenmöchte, findet beispielsweise im „Masters Home“einen Ort, der die Gäste „in das Ambiente derenglischen Kolonialherrschaft versetzt. Im Flair derteakgetäfelten Herrenzimmer, geschmückt vonimposanten Jagdtrophäen“ – heißt es auf der Internet-seite des Lokals – „genießen Sie in den gemütlichenLedersesseln die erlesensten Gerichte und dieedelsten Tropfen. Sie werden ein unbeschreiblichesWohlgefühl erleben, welches die Zeit zum Stehenbringt.“ Kolonialrassistische Abbildungen auf derSpeisekarte sind an so einem Ort – quasi selbstver-ständlich – inklusive.

Den „Kaffee, Espresso – Kolonial“ gibt’s im entspre-chenden Ambiente neuerdings wie bereits erwähnt inNeuhausen. Und wer sich auch zu Hause mit einemsolchen Ambiente umgeben möchte, kann sich in dendiversen Kolonialmöbel-Abteilungen und -Geschäfteneinrichten. Und sollte jemandem bei all dem kolonia-len Chic einmal schlecht werden, könnte es passierenbei der Suche nach einem Gegenmittel in derMünchner Innenstadt an eine der beiden M-Wort-Apotheken zu geraten.1

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Der Kolonialismus ist tot und treibt noch immer seinUnwesen. Wie flexibel, wandelbar und doch hartnäk-kig diese kolonialen Gespenster sind, und wie sehrKolonialismus und Rassismus miteinander verschränktsind, zeigt sich immer wieder an dem vehementenWiderstand, der allen Versuchen, diese Gespensterauszutreiben, entgegentritt – unabhängig davon, obes sich bei den Auseinandersetzungen um dieUmbenennung von Kolonialstraßen oder die Entfer-nung rassistischer Bezeichnungen in Kinderbüchernhandelt. Diesen Mechanismen nachzugehen, sie zubefragen nach den historischen, politischen undsozialen Kontexten ihres Entstehens und Verblassens,verändert den Blick auf die Stadt und lenkt ihn aufeine oft verschwiegene Gewalt, die sie repräsentieren.

Leerstellen der (post-)kolonialen Karte

Die Bewegung dieses Blicks auf die Stadt verfolgt dasProjekt mapping.postkolonial.net. Es verzeichnetSpuren an den entsprechenden Orten der Stadt,verknüpft sie zu Erzählungen und fragt nach denbewussten und unbewussten Schichten, die sich inden (post-)kolonialen Geschichten der Stadt zeigenund verbergen. Aus diesem Zusammenspiel entstehteine (post-)koloniale Karte von München, die alsArchiv die historischen Spuren und Erzählungen mitgegenwärtigen Fragen und Perspektiven verbindet.mapping.postkolonial.net ist damit eine Karte, diegleichermaßen versucht, das Archiv als Ort derWissensproduktion sichtbar zu machen und dabei dieKontingenz des Vergangenen im Gegenwärtigen zuthematisieren.

In dem Text „Die Unwahrnehmbarkeit der Erinne-rung“ schreibt Brigitta Kuster: „Diese expliziteKontingenz verlangt nach einem situierten Wissen,welches das vergangene Geschehen bearbeitet unddabei nicht nur den Inhalt berücksichtigt, sondernauch die Produktion kolonialer Quellen und dieRolle, welche diese Quellen für historiographischeOperationen oder für Vorgänge der Erinnerungspielen.“ Wie aber lassen sich (Un-)Möglichkeiten desSagbaren archivieren bzw. kartieren, wenn es keineQuellen gibt von denjenigen, die nicht mehr spre-chen können?“

Eine (post-)koloniale Karte muss diese Leerstellenoffenlegen. Das bedeutet nach der Herkunft vonWissen und der Verstrickung von Wissenskomplexenund Machtverhältnissen zu fragen und die Eindimen-sionalität, Zufälligkeit und Brutalität der kolonialenWissensproduktion in den Blick zu nehmen, die nochheute die Art und Weise, wie Wissen erzeugt,

verwaltet und verbreitet wird, prägt und sie mitwiderständigen und dekolonisierenden Wissenspro -zessen zu provinzialisieren.

Aufzeigen und Abtragen

In dem Essay „Die fragile Erinnerung des Entinner-ten“ fragt Kien Nghi Ha: „Wollen wir kolonialeAufarbeitung oder wollen wir Deutschlands Kulturdekolonialisieren?“ Die Aufarbeitung der kolonialenVergangenheit ist Voraussetzung und Teil einesDekolonialisierungsprozesses, der der nach wie voranhaltenden Kolonialisierung entgegenwirkt. Dekolo-nialisieren heißt, die kolonialen Spuren und Ablage-rungen in Köpfen und Gesellschaft aufzuzeigen undabzutragen. Dekolonialisieren bedeutet Befreiung undVerlernen, das heißt die bewusst und unbewussteingelernten kolonialen und rassistischen Weltbilder,Denkweisen, Praxen und Privilegien aktiv zu verler-nen. Dekolonialisieren ist damit gleichermaßen einProzess und das Ziel.<

http://mapping.postkolonial.netSpuren | Schichten | Gespenster.

Ein Archiv- und Bildungsprojekt von Eva Bahl, Simon Goeke,

Zara S. Pfeiffer, Peter Spillmann, Michael Vögeli und Philip

Zölls getragen von [muc] münchen postkolonial, Labor

k3000, Ökumenisches Büro für Frieden und Gerechtigkeit

e.V., gefördert von der Stiftung Erinnerung Verantwortung

Zukunft, München, 2013.

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Zara S. Pfeiffer ist Politikwissen-

schaftlerin, Autorin

und Kuratorin. Sie

lebt und arbeitet in

München.

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1 M* ist die alteste deutsche

Bezeichnung, mit der

Schwarze Menschen von

Weißen als fremd konstru-

iert worden sind. Etymolo-

gisch leitet sie sich von dem

griechischen Wort „moros“

(töricht, einfaltig, dumm)

sowie dem lateinischen Wort

„maurus“ (schwarz, dunkel,

afrikanisch) ab. Trotz der in

diesem Begriff enthaltenen

rassistischen Abwertung,

hält er sich hartnackig in

Bezeichnungen von

Apotheken, Straßen, Lebens -

mitteln und anderem.

Weitere koloniale Gespenster

spuken auf

mapping.postkolonial.netund durch Ihren Alltag.

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Matthias: Was hat euch persönlich an

dieser Rundmail total aufgeregt?

Tunay: Als ich die Rundmail gelesen habe,

dachte ich mir, das geht nicht – das geht

nicht. Und als der Produktionsassistent mich

mehrmals gefragt hat: „Bitte erklär mir doch,

was daran nicht geht“ da hab ich dann ge -

merkt, dass es nicht primär um die einzel-

nen Worte an sich geht, sondern um eine

allgemeine Ausdrucksweise, die auf ein

stereotypes Denken schließen lässt. Es war

das, was zwischen den Zeilen stand und in

eine gesamte Produktionsweise eingebun-

den war. Die fehlende Kompetenz dem

Thema gegenüber und diese saloppe Art

und Weise hat halt wirklich in eine Wunde

getroffen.

Björn: Mir ging das genauso wie dir. Ich

habe das gelesen und ich war ziemlich

irritiert. Im ersten Moment dachte ich diffus:

Hier stimmt irgendwas nicht. Wie das

formuliert wurde, wie da mit Vokabeln

umgegangen wurde. Das war plötzlich

meilenweit hinter dem aktuellen Diskurs

zurück. Das hat mich traurig gemacht, weil

ich ja weiß, dass man sich an den Kammer-

spielen jahrelang sehr viel und sehr ernst -

haft und vor allem gemeinsam mit mi-

grantischen KünstlerInnen mit diesem

Thema beschäftigt hat. Mit all den Projekten

von „Bunnyhill“ über „Doing Identity“ bis

„Munich Central“ hat man versucht den

Theaterbetrieb von minus Zehn wenigsten

mal auf Null zu bringen. Und dann kommt

so ein Brief, als wäre nichts gewesen. Ich

fürchte, dahinter steckt eine Art struktureller

Arroganz der Hochkulturinstitution. Daher

auch die Fehleinschätzung, man könne

einen Künstler aus Belgien einkaufen, der

dann mal eben über Aushänge irgend -

welche Leute klarmacht für sein Kunstwerk.

Ton und Arbeitsweise sind da ganz ent -

scheidend.

Tunay: Ich frage mich, von wem diese

Arroganz eigentlich ausgeht. Kommt die von

einzelnen Personen, wie einem Assistenten

und dessen Haltung oder kommt sie einfach

von der Struktur dieser Institutionen.

Björn: Ich glaube sie kommt hauptsächlich

von der Struktur her. Der Sinn und Zweck

einer Hochkulturinstitution besteht unter

anderen darin, identitätsstiftend für eine

bestimmte gesellschaftliche Schicht zu sein.

Dazu gehört es, die anderen auszuschließen

und sie zu Objekten der eigenen Anschau-

ung zu degradieren. Wenn Du das als

Theaterleitung nicht reflektierst, dann be -

Bis an die Glasdecke

Im Herbst letzten Jahres sorgte eine Rundmail der Münchner Kammerspiele für erhebliche Irritationen: Ein Produktionsassistentsuchte darin im Auftrag eines Gastregisseurs nach „migrantischen Mitspielern“ für ein Theaterprojekt. Die Art und Weise der Her-angehensweise führte zu einer breiten Debatte über fehlgeleitete und fehlende migrantische Repräsentation im öffentlich sub-ventioniertem Theaterbetrieb. Vorläufiger Höhepunkt war eine Podiumsdiskussion zwischen Intendanten der Münchner Thea-ter und „migrantischen“ Kunstschaffenden. Dort erschienen die Fronten verhärtet. Die Hinterland lud daher die Autorin undBloggerin Tunay Önder und den Autor, Dramaturgen und Theaterschaffenden Björn Bicker zu einem Gespräch. Ein Gesprächmoderiert von Matthias Weinzierl

Vertraut machen?Als feindlicher Planet erscheint der deutsche Theaterbetriebso manchen „Migranten“ & umgekehrt ist es genauso

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steht die Gefahr, dass solche Briefe das

Haus verlassen. Deshalb war die Reaktion

auf den Brief von migrantischer Seite so

wichtig. Das hilft enorm. Und macht auf -

merksam.

Tunay: Dort sitzen die Leute, die entschei-

den, wer kommt hier rein oder wer be -

kommt hier verantwortliche Positionen. Es

reicht auch nicht einfach Migrantenkind zu

sein. Der Produktionsassistent sagt ja auch

von sich „ich bin ein Migrantenkind“ – aber

das reicht nicht. Da muss eine gewisse

intellektuelle Auseinandersetzung vorliegen,

und deswegen denke ich mir, ist die

künstlerische Leitung dafür verantwortlich,

genau solche Leute reinzuholen. Aber die

Gatekeeper scheinen in ihrer Parallelwelt zu

leben. Man holt solche Leute eben nicht

rein! Deswegen entstehen Gruppen wie

„Göthe Protokoll“ oder die „Mind The Trap“

Gruppe in Berlin. Diese Gruppen vertreten

die These, dass bei der künstlerischen

Auswahl von Theatern ein subtiler Rassis-

mus vorherrscht. Du musst eine bestimmte

Biographie haben, du musst irgendwie so

sein und nur dann bekommst du eine der

Positionen.

Björn: Ich würde nicht von ein bisschen

subtilem Rassismus sprechen, sondern von

einem ziemlich offensichtlichen und

energischen Rassismus. Über diese Art des

strukturellen Rassismus besteht jedoch so

gut wie kein Bewusstsein. Das war in

Deutschland bisher nie wirklich ein Thema.

Tunay: Ich meine mit subtil, dass der

Rassismus in Institutionen wie zum Beispiel

dem Theater nicht in einer offensichtlichen

Einstellung daherkommt. Kein Theater -

macher behauptet, dass er Ausländer nicht

mag. Ganz im Gegenteil. International zu

sein, ist en Vogue. Aber gleichzeitig sind die

Zugänge zu diesen Institutionen für

bestimmte Gruppen mit migrantischen

Hintergrund verschlossen. Vielleicht sollte

man von anonymisiertem Rassismus

sprechen. Der Apparat ist rassistisch, aber

die Einzelnen im Apparat weisen den

Rassismusvorwurf weit von sich.

Björn: Ich würde deshalb über Rassismus in

diesem Fall nicht moralisierend sprechen.

Tunay: Schwierig.

Björn: Absolut. Aber es macht manchmal

Sinn es zu versuchen.

Tunay: Du hast die Theaterleute bei der

Diskussion im Milla-Club gesehen. Die

waren allesamt entrüstet, als wir gesagt

haben, dass ihr Vorgehen rassistisch ist.

Björn: Weil dieser Diskurs über Rassismus

und das selbstkritische Nachdenken darüber

bei uns nicht etabliert sind und wenig ernst

genommen werden. Das merkt man an den

derzeitigen Debatten um Critical Whiteness

oder der Sprache von Kinderbüchern. Die

Ignoranz der weißen Mittelschicht, zu der

ich auch gehöre, ist kaum auszuhalten. Und

das Theater als Institution ist ein Ausdruck

genau davon. Also das ist nicht ein Problem

des Theaters allein, sondern das ist ein

Problem dieser Gesellschaft.

Matthias: Die Gruppe „Göthe Protokoll“

beansprucht das Thema Migration, aus der

Perspektive der davon Betroffenen, in

gewisser Weise für sich. Wie seht ihr beide

das? Woher nimmt so eine Weißnase wie du

Björn eigentlich die Legitimation, Migrations-

themen zu behandeln?

Tunay: Natürlich hat jeder das Recht

Themen zu bearbeiten. Die Geschichte der

Gastarbeiter, Migration, Flucht, Asyl, das

geht uns alle etwas an. Ich finde es klasse,

dass es Künstler gibt wie Christine Umpfen-

bach oder Björn, die Verantwortung

übernehmen und gesellschaftliche Themen

beleuchten, die hierzulande gerne verdrängt

werden oder sehr negativ behaftet sind.

Aber die Haltung ist wichtig, weil ansonsten

die Projekte schrecklich unauthentisch

werden. Beim Projekt von Regisseur Dries

haben deswegen die Alarmglocken geläutet.

Das hängt aber natürlich auch damit

zusammen, dass wir gleichzeitig kaum

künstlerische Arbeiten von Menschen zu

sehen bekommen, die direkt von gewissen

Erfahrungen betroffen sind. Da herrscht ein

gewisses Ungleichgewicht. Und das zu

ermöglichen und zu fördern, wurde bisher

voll versäumt. Daher auch der große Un -

mut.

Björn: Was meinst du mit unauthentisch?

Tunay: Mit unauthentisch meine ich, dass

man Menschen für ein Projekt instrumental-

isiert und mit ihnen nicht wirklich etwas zu

tun haben will. Ich meine schon, dass ich

das spüren und sehen kann, und darauf

vertraue ich auch. Bei manchen Menschen

habe ich das Gefühl überhaupt nicht. In

deren Projekte stecken so eine Wucht, eine

Ehrlichkeit und eine wirkliche Beziehung.

Ich bin da total leidenschaftlich und auch

idealistisch, aber das sind Themen, die mich

sehr stark berühren, und wenn sich

Menschen damit beschäftigen, dann sollen

sie das bitte nicht nur tun, weil sie nix

besseres finden, oder weil ihnen das

irgendwer jetzt aufgedrückt hat.

Björn: Da geht es mir ähnlich. Zu meiner

Perspektive bei der Frage: Wer darf über

Migration sprechen und wer nicht? Ich

beschäftige mich seit Jahren mit diesen

Themen und versuche mich mit ver-

schiedensten Leuten zu verbinden und

gemeinsam Formate zu entwickeln. Dabei

geht es immer um zwei Interessen: Wie

kann man bestimmte Diskurse in einer

Gesellschaft etablieren und wie kann man

das mit künstlerischen Mitteln tun? Welche

Kunst entsteht dabei? Die Frage, ob wir

Tunay Önder ist Soziologin, Bloggerin, Türkin,

Tscherkessin und Deutsche. Sie betreibt unter

anderen den preisgekrönten Blog „dasmigran-

tenstadl“, in dem sie gerne auch mal deutsche

Biokartoffeln zu genießbaren Brei verarbeitet.

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akzeptieren, dass wir in einem Ein -

wanderungs land leben, wie wir damit

umgehen, wie wir unser Zusammenleben

gestalten, welche Zukunft daraus erwächst,

das sind die zentralen politischen Themen,

an denen sich alles entscheiden wird, was

diese Gesellschaft betrifft. Meine Projekte

der letzten Jahre kreisen immer um die

gleiche Frage: Wie schaffen wir das, ein

WIR zu formulieren – also wie kommen wir

in dieser Gesellschaft zu einem WIR, das

sich selbst aus der eigenen Vielheit versteht?

Tunay: Darf ich dazu was sagen? Du gehörst

zu der Mehrheitsgesellschaft. Du repräsen-

tierst eine gewisse Norm: Mann, blaue

Augen, blondes Haar, gebildet, heterosexuell.

Und wenn du jetzt in dieser Gesellschaft

sagst, du bist daran interessiert ein WIR zu

gründen, dann ist das total toll und progres-

siv. Für jemanden, der nicht deine privi-

legierte Position hat, ist das natürlich toll,

wenn du sagt: Mich interessiert dieses WIR.

Aber der Ansatz des Anderen, da denke ich

zum Beispiel an mich oder an irgendeinen

anderen Türken, lautet vielleicht eher: Wie

kann ich auch aktiv an einem WIR arbeiten?

Ich will nicht wieder in einem Projekt von

dem Typen, der so wohlwollend ein WIR

schaffen möchte, als Teil vorkommen. Mit

„dasmigrantenstadl“ zum Beispiel haben wir

genau das versucht: Autonom und unab-

hängig die Welt aus unserer Sicht zu

beschreiben und zu bespielen. Wir haben

einen virtuellen Ort geschaffen, in dem wir

unsere Auseinandersetzung mit dem Thema

Migration, Politik und Gesellschaft künst-

lerisch beziehungs weise literarisch auszu-

drücken. Denn das ist, was fehlt.

Björn: Schau dir doch mal die Arbeiten an,

die ich gemacht habe. Da ging es genau

darum. Ein lang zurückliegendes Beispiel:

2008 haben wir ein Projekt gemacht, das

hieß „Doing Identity“. Das war ein großes

zweimonatiges Festival, wo einige, die jetzt

bei „Göthe Protokoll“ mitmachen, schon

beteiligt waren. Die haben als Künstler

versucht, eine theatrale Perspektive und

Sprechweise genau zu diesen Fragen zu

entwickeln. Wenn ich sage, ich will über ein

WIR nachdenken in dieser Vielheit, dann

meine ich damit auch, dass ich mir Rechen-

schaft darüber abgebe, wo ich herkomme,

über meine Privilegien, über mein Weißsein,

über meine Heterosexuell-Sein, über all

diese Sachen. Ich finde das wahnsinnig

wichtig. Und das steht gleichberechtigt

neben dem, was du gerade beschrieben

hast. Es geht mir nicht darum, zu verein -

nahmen – ich meine mit WIR nicht Verein-

nahmung. Sondern ich meine damit, jedem

den Raum zu geben, den er braucht. Dafür

kann man mit künstlerischen Arbeiten

manch mal, wenn es gut läuft, eine Art

Paradigma schaffen. Aber natürlich verein-

nahme ich trotzdem permanent, das ist ja

logisch, weil man immer in diese Falle

gerät, da kommst du nicht raus.

Tunay: Ich glaube, dass die Energien eher

an der Stelle aufgewendet werden müssen,

wo wirklich diesen „Anderen“ einfach mehr

Raum gegeben wird , dass die wirklich mal

ihre Stimme, ihre Perspektive, ihre Ge -

schichte, ihre Narrative einbringen können.

Matthias: Björn, wie taucht deine Position,

dein Rolle konkret in deinen Arbeiten auf?

Björn: Die Reflexion der eigenen kolonialis-

tischen, paternalistischen und privilegierten

Position sollte eigentlich immer eine wichti -

ge Rolle spielen. Dass man als Kulturmen-

sch hinkommt und so ein Projekt wie

„Hauptschule der Freiheit“ zum Beispiel

macht. Wo man mit einer Hauptschule

arbeitet, wo vorwiegend migrantische

Jugendliche und Kinder sind und wir als

weiße, studierte Theatermacher gehen dahin

und machen mit denen so ein Projekt. Dann

versucht man innerhalb dieser Projekte

Formen zu finden, die das reflektieren. Das

haben wir versucht, indem wir gesagt

haben: Wir drehen den Spieß um, wir

machen die Schüler zu den Lehrern, zu den

Experten, die bestimmen wo es lang geht.

Das ist an manchen Punkten gescheitert, an

manchen hat es gut funktioniert.

Tunay: Aber ich muss dir jetzt mal einen

Piekser verpassen. Also ich meine, das, was

mich stört oder auch verletzt, ist, dass diese

– zum Teil großartigen Projekte – letztlich

doch immer wieder von Menschen gemacht

werden, die nicht selber so etwas erlebt

haben.

Björn: Ja, aber dann sprich mal zum

Beispiel mit Bülent Kullukcu konkret über

die Projekte, die er an den Kammerspielen

gemacht hat. Jedes Projekt, das er dort mit

uns realisiert hat, entstammte seinen Ideen,

waren seine Entwicklungen. Wir haben uns

2002 oder 2003 kennengelernt und dann

haben wir sehr bald angefangen zusammen

zu arbeiten. Ich war damals noch ganz

klassisch Dramaturg an den Kammerspielen

und ich habe Bülent eingeladen, weil ich

ihn als Künstler super fand. Das fing damit

an, dass wir zusammen Partys gemacht

haben, dann hat er die ersten Inszenierun-

gen gemacht und da war Bülent nicht der

Einzige. Das war der Weg, den wir ein -

geschlagen haben. Es ging darum, die

Institution für andere Stimmen zu öffnen.

Aber dann ist Bülent irgendwann an diese

Glasdecke gestoßen und das ist es vielleicht,

was er damit meint, wenn er sagt, er

möchte nicht immer als der Kanake gefragt

werden.

Tunay: Genau

Björn: Weil diese Glasdecke bedeutet, dass

dich Theaterleute anrufen und sagen, ach

Herr Kullukcu können sie uns mal ein

Migrantenstück inszenieren? Die rufen nicht

an und sagen: Können sie für uns Mal Faust I

inszenieren.

Björn Bicker ist Autor, Dramaturg und

Theaterpflanze. Er bearbeitet regelmäßig

Brennpunktthemen in Form von Stadtprojek-

ten. Aktuell gemeinsam mit Malte Jelden in

Hamburg für das Deutsche Schauspiel unter

dem Motto New Hamburg.

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Matthias: Es fällt doch auf, dass viele der

„Göthe Protokoll“ Protagonisten bereits mit

den Kammerspielen Projekte gemacht

haben. Es drängt sich der Eindruck auf, bei

diesem Konflikt geht es auch bisschen um

gekränkte Eitelkeiten, weil man in aktuelle

Projekte der Kammerspiele nicht mehr

eingebunden wurde.

Tunay: Natürlich überschneidet sich das.

Das finde ich auch ein Stück weit legitim.

Ich muss da wieder an die Frauenbewegung

denken. Wenn Frauen dafür kämpfen, dass

jetzt Frauen oder auch Mädchen in bes-

timmte Positionen kommen, na dann mache

ich das nicht, damit ich nicht irgendwie

auch davon profitiere. Aber die Art und

Weise im Milla war stellenweise etwas

seltsam. Man tut irgendwie voll einen auf

politisch und dann auf einmal bricht das

runter auf die „Gib mir einen Job“ Ebene.

Matthias: Am Konflikt und der Gruppe

„Göthe Protokoll“ beschäftigt mich auch

noch diese Identitätskiste: Diese Gruppe

wirkt so geschlossen, denn nur ihr seid die

Migranten. Das erzeugt Exklusivität. Diese

Migranten-Identität verschafft ein Allein -

stellungsmerkmal, das auch einen gewissen

Marktwert hat. Der ganz klare Subtext: Wer

uns einkauft, bekommt die reine Lehre, alles

andere ist Quark.

Tunay: Die Gruppe besteht nicht nur aus

Kanaken, also Türken, also Gastarbeiter -

kindern, es sind ja auch Nicht-Türken dabei,

wir haben sogar eine blonde Quoten-

deutsche. Das haben wir uns von der

Mehrheitsgesellschaft abgeguckt, hehe. Aber

es stimmt natürlich schon, dass die Gruppe

auch mit ausgrenzenden Mitteln arbeitet. Für

den Anfang fand ich das erst mal legitim,

weil es ja auch etwas ist wie ein Schutz -

raum, wo man offen und entspannt reden

möchte, wie bei den anonymen Alkohol -

ikern. Aber ehrlich gesagt, finde ich derzeit

die Männerlastigkeit der Gruppe problema-

tischer.

Björn: Aber was rüber kommt, ist schon,

was Matthias beschreibt.

Tunay: Ja, aber das ist auch wichtig. Weil es

eine Strategie ist oder?

Björn: Ja, aber ich bin mir nicht sehr sicher,

ob das eine gute Strategie ist.

Tunay: Aber schau, das kommt wirklich

sehr überheblich rüber Björn, wenn du das

so sagst.

Björn: Ja, mag sein. Ist aber nicht so ge -

meint.

Tunay: Ja aber dann lass uns halt auch mal!

Björn: Ich habe neulich Vassilis Tsianos,

Soziologe, Migrationsforscher und Mitbe-

gründer von „Kanak Attak“ zu diesem

Thema interviewt. Mich hat interessiert, wie

das bei „Kanak Attak“ am Anfang war, und

wie die sich damals formiert haben?

Tunay: Supergeil. Genau das würde ich ihn

auch fragen....

Björn: Und dann hat er mir was ganz

überraschendes gesagt, nämlich, dass sie am

Anfang ganz klare Regeln aufgestellt hatten:

Immer wenn „Kanak Attak“ irgendwo auf -

tritt, dann muss immer ein Schwarzkopf,

Vassilis spricht gerne von Schwarzköpfen,

und ein Weißkopf dabei sein. Weil sie

genau nicht dieses biologistische und starre

Identitäts - Modell von Zuschreibung durch

Herkunft reproduzieren wollten. Das fand

ich das Entscheidende, und das finde ich

jetzt so interessant für die Debatte. Es gibt

zwei Diskurse. Einmal diesen Diskurs der

Erinnerungskultur und den Diskurs derer,

die selbst Rassismuserfahrungen haben.

Dieser Diskurs ist bestimmten Leuten vor -

behalten. Aber eine politische Meinung, eine

politische Haltung zu einem Thema, die ist

überhaupt keiner Herkunft vorbehalten. Das

heißt also, wenn ich über Rassismus spreche

– bei dem es genau um die Frage geht, wer

darf sprechen – muss jeder sprechen dürfen.

Tunay: Ganz richtig. Wenn aber manche

Menschen, die von rassistischen Erfahrungen

betroffen sind, die Diskurshoheit für sich

beanspruchen, dann ist das auch eine allzu

nachvollziehbare Reaktion auf das ständige

Unterrepräsentiertsein ihrer Sicht und ihrer

Stimme. Und man muss bedenken, ein

Vassilis Tsianos, hat jahrelang gebraucht. Die

haben sich bei Kanak Attak, die Köpfe

eingehauen und haben eine lange Entwick-

lung hinter sich. Denselben Entwicklungs-

stand kann man nicht gleich bei neuen

Bewegungen erwarten.

Björn: Aber was ich mich frage: Warum

setzt man sich nicht auf die Schultern dieser

Leute? Das ist doch schon alles genauso

diskutiert worden! Und da gibt´s sehr kluge

Argumente, da gibt´s dafür und dagegen.

Tunay: Björn ich muss dir noch einmal

Lehrerhaftigkeit vorwerfen, weil ich finde, es

ist wichtig, dass die Menschen selber sich

das auch erarbeiten, was wichtig ist, wie

man vorgehen muss, oder was das richtige

Denken ist. Man reibt sich jetzt gerade

wieder, man muss den ganzen Diskurs auch

nicht immerzu akademisieren, sondern sich

einfach mal selber positionieren, indem man

redet, redet, redet und irgendwann kommt

man dann zu einem Punkt. Die Leute

brauchen halt Zeit. Und man muss auch

sagen, die ganzen Leute in „Kanak Attak“

sind Akademiker. Ist voll OK, aber es kann

auch anders funktionieren.

Björn: Darf ich noch einmal einhaken: Ich

finde den Verlauf unserer Debatte bezeich-

nend. du Tunay gerätst jetzt gerade in eine

Position, in der du dich unberechtigterweise

rechtfertigen musst dafür, dass da eine

Gruppe von Leuten ihr Recht einklagt und

sagt: Wir wollen jetzt darüber reden. Und

zwar so, wie wir das wollen. Und wir zwei

weißen Heinis, also Matthias und ich,

bringen dich in die Situation, dass du dich

rechtfertigen musst. Wir reproduzieren hier

also genau die Situation, die uns alle nervt.

Tunay: Ich hab schon auch das Gefühl,

dass man so eher sehr kritisch ist und auf

sehr viele Fehler verweist. Auch was die

Milla-Diskussion angeht.

Matthias: Ich möchte mal mein Unbehagen

an einem Beispiel festmachen: Da organ-

isiert ein Mitglied vom „Göthe Protokoll“

gemeinsam mit dem Kulturreferat eine

multikulturelle Trambahn-Tour durch die

Stadt, mit dem sinnigen Titel „Çay &

Brez´n“, und zelebriert einen ganz selt-

samen Mix aus Exotismus und roman-

tisierendem Orient-Quak und die gleiche

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k u l t u r k r a m

Person hat nach der Kammerspiel-Rundmail

am lautesten aufgeschrien und gepoltert.

Meiner Ansicht fährt da einer zweigleisig.

Da stimmt doch etwas nicht.

Tunay: Ich kann das nachvollziehen, dass

du das so siehst. Ich würde da genauer

hingucken, wie diese Sache, diese Produk-

tion mit „Çay & Brez´n“ entstanden ist. Und

welche Motivation dahinter steckt. Ich fühle

ja auch diese Ambivalenz, dass man

einerseits sagt „Was Migranten!? Wir gehören

doch genauso dazu. Wir sind doch alle

irgendwie Deutschland.“ Andererseits

natürlich sage ich zu mir Migrant, natürlich

sag ich, ich bin Türkin. Es ist auch beides

richtig oder? Ich gehöre dazu und sollte die

gleichen Chancen haben, auch wenn ich

mich als Türkin oder Tscherkessin identifi -

ziere.

Matthias: In der Debatte war es auch

Thema, dass an den städtischen und

staatlich subventionierten Theatern, Migrant -

innen und Migranten eine untergeordnete

Rolle spielen. Du Tunay hast, analog zur

Frauenbewegung, die Forderung nach einer

Quote aufgestellt.

Tunay: Also bestimmte Migranten findest du

am Theater halt nicht. Da müssen wir keine

empirischen Studien rausholen. Klar kommt

dann die Frage: Wie willst´n das machen?

Ich weiß auch nicht, aber ich finde man

sollte auf jeden Fall drüber nachdenken.

Björn: Also ich bin totaler Quoten Fan -, ich

glaube, dass das total wichtig wäre.

Möglichst von unten anfangen, damit es von

unten nach oben durcharbeitet. Univer-

sitäten, Schauspielschulen, die ganzen

Einrichtungen. Und es wäre eine leichtes!

Die Schauspielschulen könnten sich das ja

auch selbst auferlegen. Jede Schule könnte

sagen: So Leute, wir achten jetzt bei der

nächsten Aufnahme darauf, dass mindestens

ein Drittel oder die Hälfte oder sonst

irgendwas mit Leuten zu besetzen, die

irgendeine Art von Migrationshintergrund

haben. Die Frauenbewegung hat es ja

vorgemacht. Außerdem: Wenn wir über

Kultur und Teilhabe sprechen, dann bewegt

sich der Diskurs irgendwann weg von der

Herkunftsfrage hin zur sozialen Frage. Das

ist kein Problem von Herkunft, sondern ein

Problem der....

Tunay: Klasse beziehungsweise sozialer

Herkunft. Deswegen sagen einige, man

sollte nicht über Rassismus reden, sondern

über Klassismus.

Björn: Das hängt ja sehr stark zusammen.

Und da musst du dann wieder über Rassis -

mus sprechen. Kulturelle Teilhabe hat

immer auch etwas mit sozialer Teilhabe zu

tun.

Tunay: Interessant fände ich jetzt deine

Einschätzung dazu, weil ja jetzt Leute aus

dem Theater immer sagen: Wir sind hier

nicht die Politik, Wir machen hier auch

keine Sozialveranstaltung, bei uns geht es

um das Künstlerische.

Björn: Ich will Kunst machen, aber ich

habe einen anderen Begriff von Kunst. Für

mich ist gesellschaftliche Wirksamkeit, das

Eingreifen in gesellschaftliche Prozesse

genauso künstlerische Arbeit wie alles

andere. Kunst kann man auch als politische

und soziale Praxis beschreiben. Wirksam

und real.

Matthias: Tunay, du hast vorhin von den

fehlenden Räumen gesprochen. Fehlen die

denn wirklich? Ich meine, du hast zum

Beispiel einen gut besuchten Theaterabend

im Residenztheater gestaltet und zwar als

eingeladene, eigenständige Künstlerin Tunay

Önder, die etwas zu sagen hat.

Tunay: Aber Matthias, ich bin schon ein

Schlitzohr, ich kann mich schon durchschla-

gen, aber trotzdem muss ich auf so Un -

gleichheiten verweisen oder dagegen

einsetzen. Auch wenn ich jetzt etwas total

Tolles machen könnte, ein tolles Projekt und

mir überhaupt keine Sorgen machen müsste,

würde mich doch nicht zurücklehnen und

sagen ist doch alles in Ordnung, schaut

mich an, es funktioniert ihr müsst euch nur

gut anstrengen.

Björn: Das finde ich auch. Die Tatsache,

dass du dich etablierst und dir einen Namen

machst, das ist doch kein Grund dafür die

Debatte nicht weiter zu treiben. Ich frage

mich nur, ob das der richtige Weg ist, also

genau in diese gestrigen Ausschluss -

institutio nen reingehen zu wollen und nichts

toller zu finden als letztendlich auch Teil

dieses Stadttheater-Systems zu werden. Die

Frage stelle ich mir selbst auch permanent.

Die Frage lautet doch: Mit wem will man

sich eigentlich verbünden. Ich finde diese

Ressourcen, welche die Stadt- und Staats -

theater in dieser Exklusivität für sich in

Anspruch nehmen, könnte man auch etwas

anders verteilen.

Tunay: Ja, da ist durchaus was dran. Aber

um dich noch einmal selber zu zitieren:

Vielleicht sollte man das eine tun und das

andere nicht lassen.<

Illu: Matthias Weinzierl

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Was ist das überhaupt, „britische Bassmusik“?

Zugegeben, „Bassmusik“ ist nichtgerade der originellste Begriff.Welche Popmusik hat denn bitteschön keinen Bass? Aber er ist auseiner Not heraus als deutschspra-chiger Oberbegriff für bestimmteDance-Genres entstanden: Jungle,Drum’n’Bass, UK Garage, Grime,Dubstep, UK Funky, Bassline sowieeine vollkommen unüberschau-bare Anzahl an Stilhybriden undSubgenres. Wenn diese musika-lisch etwas gemeinsam haben,dann vielleicht eine Art Ursprung

dort, wo in Großbritannien dieDancemusic der afro-amerika -nischen Diaspora (House, Techno,R&B, HipHop) auf die der afro-karibischen (Dub, Reggae,Dancehall) trifft.1

Wie steht dieses Alltagsphänomenmit den sozialen Zusammenhän-gen im UK in Verbindung?

Die größte Errungenschaft dieser„Bassmusik“ ist ihre mittlerweileüber zwanzig Jahre dauerndeGeschichte als multikulturelleDancemusic. Anfang der 2000erJahre habe ich eine Zeitlang in der

Nähe von Manchester gewohnt.Beim Ausgehen war es für michvollkommen selbstverständlich,dass weiße, Schwarze undAsiatische Briten2 auf Garage-Partys zusammen feiern; undebenso Jugendliche aus Sozialwoh-nungs-Siedlungen und Studentin-nen und Studenten wie ich. Mirwar damals nicht klar, dass diesein Resultat von langen, anti-rassistischen Kämpfen war undeine Folge einer bestimmtenSozialstaatlichkeit, die damalsauch schon in den letzten Zügenlag. Mit einer kostenfreienHochschulbildung, einem breitem

80

„Es fehlt an politischen und kulturellen

Repräsentationsformen“

„Britische Bassmusik“ ist inzwischen auch in Deutschland populär. Für die britischen Musikerinnen, DJsund Producer spielt „Race“ zwar eine Rolle, doch anders als es Genre-Bezeichnungen wie „Black Music“suggerieren. Moritz Ege sprach mit dem Anglisten Christian Werthschulte über Multikulturalismus undRassismus im UK, die Sozialpolitik der Labour Party und über Privilegien von weißen Musikerinnen undMusikern.

Bienchen mit Besen.Londoner Freiwillige

räumen nach den

Riots auf.

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Netz an „Art Schools“ und „ArtColleges“, Sozialhilfe und Sozial-wohnungen „unterstützte“ derbritische Sozialstaat damals auchdie multikulturellen Dance- cul tures. Dieses relativ breiteSozialnetz existiert heute abernicht mehr.

Auf welche anti-rassistischenKämpfe in Großbritannien spielstdu an?

Mir ging es darum, eine bestimmteForm kultureller Politik nicht inVergessenheit geraten zu lassen.Man vergisst ja leicht, wie rassis -tisch England in den 1970ernnoch war. Ich weiß nicht, ob duKenan Maliks Buch „From Fatwato Jihad“ kennst. Malik erzählt indem Buch von seiner Jugend inBradford, etwa 50 Kilometernördlich von Manchester, und wieer regelmäßig verprügelt wurdeoder vor Nazischlägern fliehenmusste. Er beschreibt auch, wiewichtig linke Jugendorganisatio-nen für ihn waren, weil sieversucht haben, einen anti-rassistischen Raum im Alltag zuschaffen. Und dazu gehörte haltauch Popkultur. Nicht umsonstwar es ja seit den 1970ern eineder Strategien der Antifa-Organi-sation Anti-Nazi-League, über„Rock against Racism“-Konzertezu mobilisieren.

Ein anderes Beispiel für diese anti-rassistischen Kämpfe ist dasGreater London Council. Dieoberste Verwaltungsbehörde desGebiets London hat in den1980ern sehr bewusst multikultu-relle Kunst gesponsert. Oder denkenur mal an das British FilmInstitute, das die Filme von HanifKureishi und des Black Audio FilmCollective unterstützt hat. KureishisDrehbücher zu den Filmen „MyBeautiful Launderette“ (1985)und „Sammy and Rosie get laid“(1987) gelten als die wichtigsten

Beispiele für die Diversitätinnerhalb der zweiten Generationder Einwandererinnen undEinwanderer in Großbritannien.Und das Black Audio FilmCollective hat sich in mehrerenexperimentellen Dokumentarfil-men mit Schwarzer BritischerGeschichte und ihrer Repräsenta-tion beschäftigt. Letztlich begreifeich die Selbstverständlichkeit, mitder solche Partys wie die erwähn-ten stattfinden als späten Erfolgdieser kulturellen Politik.

Gleichzeitig war diese Taktik nichterfolgreich genug. 2001 gab eszum Beispiel ziemlich heftigeAuseinandersetzungen zwischenAsiatisch-britischen Jugendlichenund der Polizei in mehrerenStädten rings um Manchester wieOldham. Ursache dieser Riots wareine tiefsitzende, jahrzehntelangeSegregation zwischen den Asia-tisch-britischen und den weißen„Communities“. Offensichtlichkonnte diese Segregation auchdurch ein paar Partys nichtüberwunden werden.

Was hat sich seitdem getan? Linkebritische Kulturtheoretiker wie PaulGilroy und Stuart Hall sind jahinsichtlich der gegenwärtigenkulturellen Politik im UK sehrpessimistisch.

Ab etwa 2008 gibt es diesen„Mainstream Moment“ von„Bassmusik“. Bei der Eröffnungder Olympischen Spiele 2012 fander vielleicht seinen Höhepunkt, alsDizzee Rascal als „Botschafter“ desmultikulturellen Londons imOlympiastadion aufgetreten ist.Rascal trug bei seinem Auftritt eineCollege-Jacke mit dem Aufdruckder Postleitzahl von Bow in Ost-London, wo er aufgewachsen ist.Bow ist etwa zwei Kilometer vomOlympiastadion entfernt und derBezirk Tower Hamlets, in demBow liegt, ist einer der ärmsten

Großbritanniens, mit einem hohenAnteil an Schwarzen oderAsiatisch-britischen Familien.

Dieser „Mainstream Moment“ mussnicht zwangsläufig bedeuten, dassman mit einer gewissen Popula-rität auch gleich die politischeHegemonie errungen hätte. Eherstellt sich doch die Frage, welchepolitischen Entwicklungen diekulturelle Politik flankieren undwie sich die beiden zueinanderverhalten. Und da sind die Dingeseit dem Wahlsieg der LabourParty 1997 doch ein wenigkomplizierter geworden, als esVorstellungen von kulturellerPolitik, die der KulturtheoretikerStuart Hall zum Teil noch unterder Thatcher-Regierung formulierthat, nahelegen.

Inwiefern sind die Zusammen-hänge nach dem Wahlsieg kompli-zierter geworden?

Bei seiner berühmten „ChickenTikka Masala“-Rede von 2001wollte der damalige AußenministerRobin Cook die britische Identitätim 21. Jahrhundert definieren.Seiner Meinung nach ist „British-ness“ in erster Linie durch dasAufnehmen neuer Einflüssegekennzeichnet. Aus diesemGrund bezeichnete er „ChickenTikka Masala“ als britischesNationalgericht. Die Kombinationdes traditionellen und internatio-nal verbreiteten „Chicken Tikka“mit Masala sei ein Zugeständnisan die Essgewohnheiten derbritischen Bevölkerung, derenVorliebe Bratensauce gewesen sei.Cooks berühmte Rede ist ja letztlicheine Paraphrase der Ideen StuartHalls über die „Politik der Reprä-sentation“ und seiner inklusivenReformulierung des Konzepts von„Britishness“.

k u l t u r k r a m

Christian Werthschulteunterrichtet Anglistik

an der Universität

Siegen. Er ist zudem

Redakteur der

halbjährlich

erscheinenden

Buchreihe „Testcard

– Beiträge zur

Popgeschichte“.

81

Hinterland25_Hinterland 01/06 10.02.14 10:17 Seite 81

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Im gewissen Sinne haben sich dieIdeen Halls durchgesetzt. DieLabour Party hat den Multikultu-ralismus offiziell als Politikzielübernommen und selbst deramtierende Premierminister DavidCameron würde nicht davonabrücken. Bei aller Kritik an derkonkreten Definition von Multikul-turalismus ist das zunächst positiv.Denn letztlich hat dies zu einemZustand beigetragen, in demoffener Rassismus durch diePolizei oder andere staatlicheOrganisationen geächtet werdenkann und in der Öffentlichkeitdann auch als Rassismus themati-siert wird.

Dennoch stoßen diese Ideen anGrenzen. Da ist zum Beispiel dieoffensichtlich rassistische LondonMetropolitan Police. Nicht umsonsthaben in einer Studie 85 Prozentder – überwiegend Schwarzen –Britinnen und Briten, die sich anden Riots von 2011 beteiligt haben,Erfahrungen mit Polizeigewalt alsMotivation für ihr Verhaltenangeführt. 86 Prozent habenallerdings auch „Armut“ alsMotivation genannt.

Was bedeutet das für eine linkekulturelle Politik?

Die Sozialpolitik von Labour seit

1997 ist in diesem Zusammenhang

sehr wichtig. Teil dieser Sozialpoli-

tik war die Einführung bestimmter

Sanktionen für Jugendliche. Diese

sogenannten ASBOs (Anti-Social

Behaviour Order) sind eine Art

Strafzettel, den Jugendliche für

Lärmbelästigung, Herumhängen,

Graffiti oder ähnliches erhalten

können. Diese Maßnahmen

betreffen ärmere Jugendliche

besonders häufig – und dadurch

vor allem Jugendliche aus soge-

nannten Black and Minority

Ethnicities (BME), unter denen das

Armutsrisiko doppelt so hoch als bei

weißen Britinnen und Briten ist.

Hier scheint mir ein wichtigerFaktor zu liegen, warum kulturellePolitik, wie sie sich Stuart Hall inseinem Text „New Ethnicities“ von1989 vorstellte, nicht mehrfunktioniert. Hall plädierte damalsdafür, die internen Differenzender verschiedenen Einwanderer-gruppen hinsichtlich Migrationsge-schichte, Sexualität und Genderstärker zu betonen. Heute kommtein weiterer Aspekt dazu: diewachsende materielle Ungleichheitinnerhalb und zwischen denverschiedenen ethnischen Grup-pen. Unter den BME ist die Armutzwar insgesamt gefallen, aber siehat sich auch nach ethnischenGruppen ausdifferenziert. BeiBritinnen und Briten etwa, die ausBangladesh stammen, beträgt dasArmutsrisiko 70 Prozent, beiindischstämmigen knapp 40Prozent.

Werden noch andere Gruppen vomRegierungs-Multikulturalismusausgeschlossen?

In der aktuellen Debatte umArmuts- und Arbeitsmigration ausOsteuropa wiederholen sichbestimmte Formen des „Othering“,die in der direkten Nachkriegszeitgegen Migrantinnen und Migran-ten aus dem Commonwealthgerichtet waren. Die osteuropäi-schen Migrantinnen und Migran-ten sind aber bislang im kulturel-len und politischen Alltag Großbri-tanniens nicht mit einer eigenenStimme präsent, sondern eher alsObjekte, über die gesprochen wird.

Im Regierungs-Multikulturalismussind außerdem diejenigen nichtaufgegangen, die man in Deutsch-land als „Unterschicht“ bezeichnet.Hier sind nicht nur die BMEsüberproportional vertreten.Darüber hinaus werden zumBeispiel Jugendidentitäten unab-hängig von der Pigmentierung als„rassifiziert“ konstruiert. Die

weißen „Chavs“3 werden mitgenau den Eigenschaften konstru-iert, die in den späten 1970ernSchwarzen Jugendlichen zuge-schrieben wurden: Straßenkrimi-nalität, Drogen, ansteckendeKrankheiten, zu viele Kinder undso weiter.

Welche Rolle nehmen religiöseGruppen in der Sozialpolitik vonLabour ein?

Kenan Malik, den ich schonerwähnt habe, beschreibt inseinem Buch, wie in BradfordNachhilfe oder Nachbarschaftskaf-fee nicht mehr wie in seinerJugend von gewerkschaftlichenund anti-rassistischen Gruppengemacht wurden oder vom Staatübernommen worden sind. In den2000ern wurden viele ehemalssozialstaatliche Aufgaben anlokale, häufig muslimischeReligionsgruppen delegiert, diedann finanziell unterstütztwurden. Gleichzeitig sind Gebets-räume, Moscheen oder muslimi-sche Gemeindezentren immerwieder Ziel von Demonstrationenrassistischer Parteien und Gruppie-rungen. Anti-Rassismus bedeutetdann, dass eine eher säkulareLinke religiöse Institutionenverteidigt. Auch das ist einKonflikt, der immer wiederausbricht.

Entscheidend ist, dass es heutekeine politischen Akteurinnen undAkteure gibt, die diese ganzenDifferenzen zu einem gemeinsa-men Projekt vereinen. Unter demaktuellen Vorsitzenden Ed Mili -band ist Labour dazu nicht in derLage, und ob eine Gruppe wie diekürzlich gegründete Partei „LeftUnity“ das hinbekommt, ist imMoment noch reine Spekulation.Obwohl sich die materielle Lageweiter Bevölkerungsteile im UKverschlechtert hat, obwohl derinstitutionelle Rassismus trotz aller

k u l t u r k r a m

Stilverästelungen.Mala (rechts) zitiert

Dancehall- und

Dub-Geschichte.

„MainstreamMoment.“Dizzee Rascal beim

Olympia-Auftritt in

London.

82

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Fortschritte nicht überwundenscheint, fehlt es ja an politischenund kulturellen Repräsentations-formen, die die offensichtlicheUnzufriedenheit politisch effektivumzusetzen wissen. Die Riots von2011 zeigen das recht deutlich.

Ist diese politische Alternativlosig-keit dem erwähnten „MainstreamMoment“ von „britischer Bassmu-sik“ anzumerken?

Ja. Dizzee Rascal ist hier ein gutesBeispiel. Er kommt ja aus derGrime-Szene, eine Art Hybridzwischen Garage und HipHop, dervor gut zehn Jahren in allerMunde war. Mit seinem Debütal-bum hat er 2003 den begehrtenMercury Prize gewonnen, undviele glaubten damals, dass Grimees ähnlich wie der sogenannteBristol-Sound (z.B. Massive Attackund Portishead) in den 1990ernhinbekommen würde, denMainstream zu den eigenenBedingungen zu erobern. Das hatsich leider nicht bewahrheitet.

Dizzee wird zwar häufig wie auchDavid Beckham oder Jamie Oliverals Protagonist einer neoliberalenvom-Schulabbrecher-zum-Millionär-Karriere präsentiert.Seine Hits „Bonkers“ oder „Dancewiv me“ waren aber eher Pop-House-Tracks. Da ist vom Grimenur noch das Rappen übriggeblie-ben. Es ist also möglich, aus Grimeaufzusteigen, aber nicht mitGrime, wie der Autor Mark Fisherdas ausdrückt. Die totgelaufenenRituale von Authentizität undAusverkaufsvorwürfen wiederzube-leben, die in den Dizzee-Berichtenin deutschen Zeitschriften wie derSpex immer noch zu finden sind,tragen nichts dazu bei, linkekulturelle Politik zu reformulieren.Stattdessen wäre es sinnvoller, diespezifischen Bedingungen von Popund Subkultur im 21. Jahrhundertzu thematisieren.

Wie lautet eigentlich in Großbritan-nien die aktuelle Terminologie,wenn es um „Bassmusik“ geht ?

Den Begriff „Bassmusik“ verwen-det man eigentlich gar nicht. Inder Regel werden aber einfach dieeinzelnen Stile erwähnt. Pop ist imUK ja auch etwas stärker im Alltagpräsent als hier, so dass man danicht so häufig auf Schulterzuckenstößt, wenn man spezifischeGenres erwähnt. Begriffe wie„Black Music“ oder „Urban Music“(was ja letztlich das gleiche meint)sind in Großbritannien aufgrundihrer offensichtlich rassifizieren-den Konnotationen eher verpönt.

Welchen subjektiven Stellenwerthat die eigene Ethnizität für dieLeute in der „Bassmusik“-Szene?

„I don't think it really matters“ warda in Gesprächen in der Regel dieAntwort, unabhängig von derEthnizität der Befragten. Darindrückt sich meiner Meinung nachnicht Ignoranz oder gar eineAbwehrhaltung aus, sondern ehereine Forderung, einfach mal nichtauf die eigene Ethnizität reduziertzu werden. Als MC, DJane oderProducer ist man ja auch Teileiner Gemeinschaft, die quer zudenjenigen Gemeinschaften steht,als deren Mitglied man durch diemultikulturalistische Politik mitseinen fixierten Identitätskonstruk-tionen angerufen wird. Letztlichwird so auch eine Selbstverständ-lichkeit eingefordert – sich seinsoziales Umfeld selbst wählen zukönnen.

Allerdings spielt es schon eineRolle, dass viele Schwarze Britenin den Bassmusik-Szenen aktivsind. Es gab zu verschiedenenZeitpunkten in den letzten Jahrenden Versuch der Londoner Polizei,über ein Formular festzustellen, obnicht eventuell Schwarze Jugendli-che bestimmte Partys besuchen,

was sich wiederum negativ auf dieErlaubnis, diese Partys durchzu-führen, ausgewirkt hätte. Indiesem Moment wurde das aberinnerhalb der Szenen auch schnellals Rassismus erkannt unddementsprechend thematisiert, bisin den Guardian hinein.

Kulturelle Politik lässt sich nurschwer planen, geschweige dennorchestrieren. Die Fähigkeit zurSelbstorganisation anzuerkennen,ist einfach unerlässlich. Bei denStudierendenprotesten im Winter2010 gab es eine interessanteSzene auf einer Demo, die vormbritischen Unterhaus eingekesseltwar. Ein paar Jugendliche spieltendabei über ein SoundsystemGrime, Funky oder Charts-R&Bvon Rihanna, also Musik ohneexplizit politischen Inhalt. Trotz-dem demonstrierten diese Jugend-lichen unter anderem gegen dieAbschaffung der EducationMaintenance Allowance, einer ArtSchüler-Bafög. Dieser Eigenwillesollte berücksichtigt werden, bevorman sich in Überlegungen übersubversive Ästhetiken oderähnliches stürzt.

Eine bestimmte Form von Dubstep,also Skrillex, Rusko oder Bassnectar,ist in Deutschland derzeit beliebt.Auch James Blake ist hier sehrbekannt. Bedeutet der Erfolg dieserKünstlerinnen und Künstler eine Art„Whitewashing“ einer genuinmultikulturellen Popmusik?

Das ist eine bedenkenswerte Frage.Doch gerade bei James Blakezeigen sich exemplarisch be-stimmte Mechanismen desMusikgeschäfts, die nicht auf dieindividuellen Musiker zurückge-hen. Man bemerkt recht deutlichdie Rolle seiner PlattenfirmaUniversal, die eine bestimmteZielgruppe zu erreichen versuchtund dementsprechend Künstlerin-nen und Künstler unter Vertrag

k u l t u r k r a m

Einfach crazy.

Ausflippen mit

Bassnectar.

„White Privilege.“Im Zweifelsfall

kommt James Blake

halt nach Berlin.

83

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nimmt und das Marketing plant.Es gibt einen Musikjournalismus,im Fall von Blake sogar dasFeuilleton, die auch wiederum einbestimmtes Publikum bedienen.Dieses Publikum dürfte in ersterLinie weiß, gebildet und mit einem„soliden“ Mittelklassen-Back -ground ausgestattet sein, was siewiederum mit den Autoren undAutorinnen gemeinsam haben. Soentstehen diese medialen Verstär-kungseffekte, die sich aber eheraus einer gewissen unternehmer -ischen Risikominimierung herauserklären.

Es ist halt leichter, über einenGoldsmiths-Absolventen zuschreiben, der Vorstellungen einesautonomen Künstlers bedient, alskomplizierte Stilverästelungen hierin Deutschland vollkommenunbekannter Producer und Labelszu erklären, die letztlich Funk-

tionsmusik für ein Publikummachen, zu dem man vielleichtnicht gehört. Blake klingt jaletztlich eher wie die späten TalkTalk mit ein paar Subbässen alsnach einem Dubstep-Producer wieMala, dessen Tracks mit Samplesaus der Dancehall- und Dub-Geschichte getränkt sind.

Im Zweifelsfall wird James Blakeauch von der Plattenfirma füreinen Pressetag nach Berlineingeflogen, während man für denanderen Text halt mehr recher-chieren muss, was durchausmühselig sein kann, wenn mannicht vor Ort in Großbritannienist. Letztlich lässt sich am Beispielvon Blake ganz gut sehen, wie einbestimmtes „White Privilege“entsteht.<

k u l t u r k r a m

Moritz Ege lehrt und forscht am

Institut für

Europäische

Ethnologie der LMU

München. Seine

Schwerpunkte sind

u.a. die Geschichte

und Gegenwart

populärer Kultur in

Europa und den USA

sowie Rassismusfor-

schung.

84

1 Viele UK Garage-Tracks

zum Beispiel unterscheiden

sich rein rhythmisch gar

nicht von US-amerika -

nischen Garage-House-

Produktionen. Zwei

Elemente sind aber im US-

amerikanischen „Original“

so nicht zu finden, weil sie

eher von den afro-karibi -

schen Soundsystems

kommen. Erstens die MCs,

die teils Englisch, teils

Patois, das jamaikanische

Kreolisch, sprechen.

Zweitens ein bestimmter

Umgang mit dem Bass. Der

ist eine Variation des „Reese

Bass“ des US-amerikani-

schen House-Producers

Kevin Saunderson, jedoch

gefiltert durch die

Rezeption in Jungle,

Drum’n’Bass oder

Dancehall: rollend, aber

dennoch leicht verzerrt,

und sehr prominent im Mix

platziert. Dazu kommt

dann auch noch ein

Element von Dub, das man

nur auf sehr guten

Soundsystems wahrnimmt:

Frequenzen um die Wahr -

nehmungsgrenze des

menschlichen Gehörs, die

aber dennoch körperlich

fühlbar sind.

2 Die Bezeichnungen

„Schwarze und Asiatische

Briten“ werden in

Großbuchstaben geschrie-

ben, um zu verdeutlichen,

dass diese Ausdrücke

selbstgewählte Gruppenbe-

zeichnungen sind, und

keine inhärenten Eigen-

schaften der Gruppenmit-

glieder.

3 „Chav“ ist ein verbreite-

tes Stereotyp über britische

Jugendliche, das besonders

durch die Figur Vicky

Pollard aus der Sitcom

„Little Britain“ bekannt

wurde. Männliche „Chavs“

tragen Trainingsanzüge

und Burberry-Kappen,

weibliche „Chavs“ große

Ohrringe und gefälschte

Louis Vuitton-Taschen. Die

„Chavs“ arbeiten der

Konstruktion einer

verantwortungslosen

„Unterschicht“ zu, die

exzessiv in Ernährung und

Sexualität und vulgär in

Habitus und Geschmack

ist. Zudem wird sie

ausschließlich als laute,

undisziplinierte Gruppe im

öffentlichen Raum

wahrgenommen.

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Am 31. Januar 2007 setzte der Frachter Marine I vorder senegalesischen Küste einen Notruf ab. Das Schiffhatte einen Motorschaden, und die 369 Passagiere,Migrantinnen und Migranten aus Asien und Afrika mitKurs auf die Kanarischen Inseln, befanden sich inakuter Seenot. Nach Wochen des Streits um Zu -ständigkeit, in denen die Passagiere an Bord unterunerträglichen Bedingungen festgehalten wurden,brachte ein spanischer Schlepper das Schiff schließ -lich nach Nouadhibou, einer mauretanischen Hafen-stadt. 1.330 spanische Polizisten wurden zur Be-wachung der Schiffbrüchigen eingeflogen. Diemauretanische Regierung erhielt für ihr Entgegenkom-men direkte Zahlungen und Entwicklungsgelder. Eingroßer Teil der Internierten wurde umstandslos in dieHerkunftsländer „freiwillig“ abgeschoben, ungeachtetdort herrschender bewaffneter Konflikte. Die übrigenPersonen wurden in einer ehemaligen Fischverar-beitungsfabrik in Nouadhibou interniert, bis auch sienach und nach abgeschoben wurden.

Ein eklatanter Bruch des Flüchtlingsrechts? EineMissachtung der Menschenrechte? Mauretanien sagt,es sei Spanien, das die Verantwortung für die Aktiontrüge; man habe nur die Örtlichkeiten zur Verfügunggestellt. Spaniens Regierung sagt, alle Aktionen seienhumanitär begründet und hätten ausschließlich demZiel gedient, den Schiffbrüchigen zu helfen. Da sichdiese aber auf fremdem Territorium befunden hätten,würden auch europäische Flüchtlings- und Menschen-rechtsprinzipien nicht gelten. Der von spanischenAktivistinnen und Aktivisten beschrittene Rechtswegblieb bislang ohne Erfolg. Nur wenig später verhan-delt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte(EuGM) den Fall Hirsi versus Italien, eine Rückschie -bung von eritreischen Flüchtlingen durch italienischeEinheiten. Was im Fall der Marine I zunächst miss-lang, nämlich europäische Regierungen auch für daszur Verantwortung zu ziehen, was sie außerhalb ihrerTerritorien tun, wurde mit dem Fall Hirsi vs. Italiendurch den EuGM schließlich durchgesetzt.

Die Fälle der Marine I und Hirsi vs. Italien sind daseine von zwei „Projekten“, auf denen Sonja BuckelsAnalyse der Grenzen und Grenzziehungen des

europäischen Migrationsrechts aufbaut. Das zweiteProjekt in ihrem Buch „Welcome to Europe“beleuchtet nicht die Außengrenzen, sondern denInnenraum der Europäischen Union. Anhand einerKette von Fällen, die in den letzten Jahren vomEuropäischen Gerichtshof (EuGH) verhandelt wurden,beschreibt Buckel die Entwicklung einer Recht-sprechungslinie des EuGH, die Unionsbürgerinnenund -bürgern soziale Rechte auch in anderen Staatender EU zuspricht. Dies ist ein Thema, das weit überdie aktuelle Debatte von sogenannter „Armutszuwan-derung“ aus Rumänien oder Bulgarien hinausweist.

Anhand der schrittweisen Entfaltung der Recht-sprechung des EuGH und ihrer Kommentierungverfolgt Buckel die Durchsetzung einer Unionsbürger-schaft, die mehr ist als die reine, an mobile Arbeits -kraft gekoppelte Marktbürgerschaft. Sie hebt dabeidie relative Autonomie der Sphäre des Rechts vonsonstigen, insbesondere politischen Regelungsins -tanzen der Gesellschaft hervor. Die Analyse unter -streicht die Progressivität des EuGH in Sachen Europagegenüber den Mitgliedstaaten und auch der Eu-ropäischen Kommission.

Sonja Buckel beleuchtet die Entwicklung eines„Staatsprojekts Europa“ anhand der Konstituierungund sozialen Ausfüllung der Figuren des „Unions-bürgers“ einerseits und der Konkretisierung desGeltungsbereiches der Menschenrechte an denAußengrenzen andererseits. Dieser dualistischeAufbau des Buches und die durchweg spannendeSchilderung der Verläufe der Auseinandersetzungensowohl im Inneren der EU als auch an den Rändernmacht dieses Buch sehr lesenswert, und man sieht(und blättert) über die umständlichen Formulierungenhinweg, die Buckel als Instrumente einer materialisti -schen Analyse präsentiert. Hier hätte es die anAntonio Gramscis Begriff der Hegemonie angelehnteDiskursanalyse auch getan. „Welcome to Europe“ istein empfehlenswertes Buch, das exemplarisch dieEntwicklungen an den europäischen Binnen- undAußengrenzen äußerst plastisch schildert.<

l e s e n

Sonja Buckel:

„Welcome to Europe“

– Die Grenzen des

europäischen

Migrationsrechts.

Juridische Ausein-

andersetzungen um

das „Staatsprojekt

Europa“.

Bielefeld, Transcript

Verlag 2013.

33,80 Euro.

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Hohe Gerichte und flache Wasser

Die Politikwissenschaftlerin Sonja Buckel hat mit ihrem Buch „Welcome to Europe“ eine lesenswerteAnalyse der Grenzen und Grenzziehungen des europäischen Migrationsrechts vorgelegt. Eine Rezensionvon Stephan Dünnwald

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Die vorliegende Hinterland-Ausgabe haben wir

zusammen mit der iz3w-Redaktion erarbeitet.

Dazu ein paar abgewogene Worte. Im Jahre 2007

bespielte das Hinterland-Magazin – das erste und das letz -

te Mal – einen Stand auf der linken Literaturmesse in Nürn-

berg.

Zwischen den zahlreichen Büchertischen ergrauter K-Grup-

pen, die dort ihre antiquarischen Sonderposten feilboten,

kamen wir uns damals als junges Magazin reichlich de-

platziert vor. Obwohl die iz3w ebenfalls ein gerüttelt Maß

an Tradition auf dem Buckel hat, fühlten wir uns im Nürn-

berger Altpapier-Exil dem sich abhebenden iz3w-Team

doch stark verbunden. Und als die Hinterland von einer

iz3w-Redakteurin auch noch gelobt wurde, war uns die

iz3w gleich noch sympathischer. Umso spannender war

es für uns, die Redaktion im Herbst 2013 an ihrer

Wirkungsstätte zu besuchen.

Die iz3w-Redaktion hat ihren Sitz in der grünen Metro-

pole im Breisgau, im wundersamen Städtle mit dem Bächle

– in Freiburg. Seit Jahren herrscht dort eine grüne Mehrheit.

Wer wissen will, wie sich eine fanatisierte Öko-Bourgeoisie

eine bessere Welt vorstellt, sei ein Besuch im autobefreiten

Stadtteil Vauban angeraten, oder eine Besichtigung der

„Säule der Toleranz“ im „Herzen“ der Stadt. Die tatsäch-

lich gar nicht so tolerante Säule alarmiert mit Lichtsignalen,

wenn die Menschen in ihrer Umgebung lauter sein soll-

ten, als es der Säule lieb ist.

Inmitten dieses Klimas der Züchtigung sitzt die iz3w und

hält die Fackel der Vernunft hoch, stemmt alle acht Wochen

ein hochwertiges Magazin mit zeitgenössischen Schwer-

punkten. Gleichwohl leistet sich die Redaktion ihren haus -

eigenen Wahnsinn, nämlich bewirtet sie ein Bombast-

Archiv aus internationalen Publikationen, das seit über

vierzig Jahren angewachsen ist. Das Archiv ist dermaßen

ausufernd, dass vor kurzem sogar einige Abschnitte aus

feuerpolizeilichen Gründen geräumt werden mussten.

Eigentliches Epizentrum des Hauses – das allerdings nur

ausgesuchte Gäste zu Gesicht bekommen dürften – ist

aber nicht das Archiv, sondern die Postkiste mit der Auf-

schrift „Hardalk“. Darin sammelte sich ebenfalls über

Jahrzehnte etwas an, das zwar nur teilweise ausgesucht –

vielmehr überlassen –, aber dafür umso hochprozentiger

ist.

Bei der gemeinsamen Redaktionssitzung zu dieser Ausgabe

in Freiburg haben wir nicht nur die Gastfreundschaft

genossen, sondern auch dazugelernt. Zum Beispiel, wie

zum Brainstorming ein Flipchart eingesetzt werden kann

– was wir zurück in München auch gleich einmal auspro-

bierten, aber leider zu schnell wieder vergaßen. Die Stadt

Freiburg hat uns auch gelehrt, dass man neben dem Jos-

Fritz-Cafe nicht am Baugerüst hochsteigen darf, ohne von

einer Frau im Ringelpulli und mit Teetasse herumfuchtelnd

gemaßregelt zu werden. Es tue ihr furchtbar Leid, sagte

sie uns, wenn sie jetzt die Polizei rufen müsse.

Vor allem aber haben wir erfahren, dass sich hinter der

stets analytischen iz3w eine lebenslustige und durchaus

verspielte Redaktion verbirgt. Wir sehen zufrieden auf un-

sere Zusammenarbeit zurück und freudig der gemeinsamen

Hefttaufe in Freiburg entgegen. Und unseren Leserinnen

und Lesern können wir nur dringend anraten, es auch

einmal mit einer Ausgabe der iz3w zu probieren.

Schöne Grüße aus München,

Euer Hinterland-Magazin

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Liebe iz3w,

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HINSCHAUN HILFT*BORDERMONITORING.EU e.V.

Wissen, was an den EU Außengrenzen passiert!

* „Das Verwaltungsgericht hat seine An-

nahme, in Malta bestehe die Gefahr einer

erniedrigenden Behandlung i.S. der Recht-

sprechung des EuGH, auf einen Beitrag der

Menschenrechtsorganisationen Pro Asyl

und bordermonitoring.eu e.V. mit dem

Titel „Malta: Out of System“ gestützt. Der

Bewertung des Verwaltungsgerichts hat die

Beklagte [Bundesamt für Migration und

Flüchtlinge] keine weiteren, neuen oder von

dem Verwaltungsgericht nicht berücksich-

tigten Erkenntnismittel entgegengesetzt,

nach denen hinreichende Anhaltspunkte

für eine andere Tatsacheneinschätzung be-

stehen.“ (Oberverwaltungsgericht Sachsen-

Anhalt, 25.10.2012)

*

Um auch in Zukunft ausführlich von den Rändern Europas berichten zu können,

sind wir dringend auf finanzielle Unterstützung angewiesen:

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