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Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 11 (1988) 227-251 227 Fritz Krafft An der Schwelle zum Atomzeitalter Die Vorgeschichte der Entdeckung der Kernspaltung im Dezember 1938 Summary: On the Threshold of the Atomic Age: The History of the Discovery of Nuclear Fission in December 1938: - Fifty years ago in mid-December 1938, Otto Hahn and Fritz Strassmann at the Kaiser Wilhelm Institute of Chemistry discovered nuclear fission by demonstrating, using chemical methods, the presence of barium in the decay products of neutron-irradiated uranium. This essay points out the constellation of conditions and prerequisites (Histouischer Erfdhrungsrdum~‘historica1 field of experience”) which led to the discovery of nuclear fission, and was constituted by specific components (“presentabi- lia”) both internal and external to science in general and to atomic research in particular. A decisive role was played by the constellation of the three members of the Berlin team and their personal situations under the political conditions of the 1930s. Further “presen- tabilia” were the institutional, instrumental and disciplinary conditions under which the team worked and the methods available to the individual members of the team. It was very important that some of the “presentabilia” were “not-present’’ to the members of the team. In particular, after Meitner’s departure from Berlin Hahn and Strassmann had no access to methods and tools for proving the presence of alpha rays; nothing was known of the existence of actinides; no cyclotron or other source of neutrons more productive than those already in use in Berlin, Paris and Rome was available; it was very important that Strassmann and Hahn were not convinced of the strong validity of the resonance process induced by thermal neutrons; etc. Schliisselworter : Atomforschung, Historischer Erfahrungsraum, Kaiser-Wilhelm-Institut fur Chemie, Kernspaltung, Neutronen, Pr&entabilien, Radioaktivitat (kunstliche), Reso- nanzprozefl, Thorium, Uran; Irkne Curie, Enrico Fermi, Otto Hahn, Lise Meitner, Fritz StraGmann; XX Jh. 1 Einleitende Bemerkungen Es ist genau fiinfzigJahre her, da13 im Dezember 1938 am Kaiser-Wilhelm-Institut fur Che- mie in Berlin-Dahlem, im jetzigen ,Otto-Hahn-Bau der Freien Universitat‘, unvorhergese- hen der chemische Nachweis einer als solche erkannten Urankernspaltung gelang - wo- mit, wie es auf einer dort angebmhte, am 17. Dezember 1956 enthullten Gedenktafel’ be- w u k neutral und zuriickhaltend heiflt, ,,die Verwendung der Energie der Atomkerne dem Menschen in die Hand gegeben“ wurde (siehe Abb. 1). Heute, mehr als dreiflig Jahre spater und nachdem wohl jeder zivilisierte Mensch des damals eingeleiteten ,Atomzeitalters‘ sich der Ambivalenz der Kernenergieverwertungnicht nur wegen ihrer militarischen, sondern auch und gerade im Rahmen ihrer zivilen Anwendung bewuflt geworden ist, hatte man von der Anwendung des Prozesses, dessen Entdeckung damit gedacht wird, sicherlich nicht mehr so wertneutral sprechen konnen ; denkt man inzwischen doch auch etwas differenzier- 0 VCH Verlagsgesellschaft mbH, D-6940Weinheim 1988 0 170-6233/88/0412-0227 $02.50/0

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Page 1: An der Schwelle zum Atomzeitalter. Die Vorgeschichte der Entdeckung der Kernspaltung im Dezember 1938

Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 11 (1988) 227-251 227

Fritz Krafft

An der Schwelle zum Atomzeitalter

Die Vorgeschichte der Entdeckung der Kernspaltung im Dezember 1938

Summary: On the Threshold of the Atomic Age: The History of the Discovery of Nuclear Fission in December 1938: - Fifty years ago in mid-December 1938, Otto Hahn and Fritz Strassmann at the Kaiser Wilhelm Institute of Chemistry discovered nuclear fission by demonstrating, using chemical methods, the presence of barium in the decay products of neutron-irradiated uranium. This essay points out the constellation of conditions and prerequisites (Histouischer Erfdhrungsrdum~‘historica1 field of experience”) which led to the discovery of nuclear fission, and was constituted by specific components (“presentabi- lia”) both internal and external to science in general and to atomic research in particular. A decisive role was played by the constellation of the three members of the Berlin team and their personal situations under the political conditions of the 1930s. Further “presen- tabilia” were the institutional, instrumental and disciplinary conditions under which the team worked and the methods available to the individual members of the team. It was very important that some of the “presentabilia” were “not-present’’ to the members of the team. In particular, after Meitner’s departure from Berlin Hahn and Strassmann had no access to methods and tools for proving the presence of alpha rays; nothing was known of the existence of actinides; no cyclotron or other source of neutrons more productive than those already in use in Berlin, Paris and Rome was available; it was very important that Strassmann and Hahn were not convinced of the strong validity of the resonance process induced by thermal neutrons; etc.

Schliisselworter : Atomforschung, Historischer Erfahrungsraum, Kaiser-Wilhelm-Institut fur Chemie, Kernspaltung, Neutronen, Pr&entabilien, Radioaktivitat (kunstliche), Reso- nanzprozefl, Thorium, Uran; Irkne Curie, Enrico Fermi, Otto Hahn, Lise Meitner, Fritz StraGmann; XX Jh.

1 Einleitende Bemerkungen

Es ist genau fiinfzig Jahre her, da13 im Dezember 1938 am Kaiser-Wilhelm-Institut fur Che- mie in Berlin-Dahlem, im jetzigen ,Otto-Hahn-Bau der Freien Universitat‘, unvorhergese- hen der chemische Nachweis einer als solche erkannten Urankernspaltung gelang - wo- mit, wie es auf einer dort angebmhte, am 17. Dezember 1956 enthullten Gedenktafel’ be- w u k neutral und zuriickhaltend heiflt, ,,die Verwendung der Energie der Atomkerne dem Menschen in die Hand gegeben“ wurde (siehe Abb. 1). Heute, mehr als dreiflig Jahre spater und nachdem wohl jeder zivilisierte Mensch des damals eingeleiteten ,Atomzeitalters‘ sich der Ambivalenz der Kernenergieverwertung nicht nur wegen ihrer militarischen, sondern auch und gerade im Rahmen ihrer zivilen Anwendung bewuflt geworden ist, hatte man von der Anwendung des Prozesses, dessen Entdeckung damit gedacht wird, sicherlich nicht mehr so wertneutral sprechen konnen ; denkt man inzwischen doch auch etwas differenzier-

0 V C H Verlagsgesellschaft mbH, D-6940 Weinheim 1988 0 170-6233/88/0412-0227 $02.50/0

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ter uber die Verantwortung des Forschers selbst fur das, was er scheinbar nur ,ent- deckt'. Aber es ware anachronistisch, wollte man eine entsprechende Bewufltseinslage in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg und auf eine Situation riickprojizieren, die erst we- sentlich dazu beigetragen hat, dai3 hierfur eine Sensibilisierung entstehen konnte.

Immerhin gehorten aber die Entdecker selbst zu den ersten und engagiertesten Geg- nern einer atomaren Aufriistung. Ihrer Mei- nungnach gehort es namlich auch zur Rolle und Aufgabe des Naturforschers und Ent- deckers (Erfinders), dai3 er als der Experte sein Wissen verantwortlich in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen hat - und das hiei3 fur Otto Hahn und Fritz Stragmann auch, Politiker mit allen zur Verfugung ste- henden legalen Mitteln vor weitreichenden Fehlentscheidungen auf Gebieten zu be- wahren versuchen, auf denen sie selbst kun- diger waren, ohne dabei Vertreter irgendwel- cher spezieller Interessen zu sein2. Auch waren Otto Hahn, Lise Meitner und Fritz Straamann bewui3t weder direkt noch in- direkt jemals an Forschungen beteiligt gewe- sen, die eine irgendwie geartete militarische Nutzung der Kernenergie zum Ziel hatten - weder fur noch gegen das Dritte Reich, weder zur Zeit des Dritten Reiches noch in

Abb. 1: Tafel zum Gedenken an die Entdeckung der Kernspaltung am Otto-Hahn-Bau der Freien Universi- tat Berlin, dem ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Institut fur Chemie, in Berlin-Dahlem, 1956 im Inneren des Gebaudes enthiillt, nach Otto Hahns Tod a u h am Rundturm angebracht.

der Nachkriegszeit und dann weder auf westlicher noch auf ostlicher Seite; und das konnten und konnen nur sehr wenige derer berechtigterweise von sich behaupten, die dazu in der Lage gewesen sind. Sie waren vielmehr wohl die einzigen bedeutenden Atomwissenschaftler, die in all den Jahren unbeirrt von dagegen gerichteten Bemuhungen um sie herum samtliche Forschungsergebnisse veroffentlichten und damit international zuganglich machten (was ih- nen manchen Vorwurf einbrachte); fiihlten sie sich doch bewugt als bloi3e Werkzeuge wert- neutraler Naturforschung, die lediglich ,ent-deckt' 3.

Heute weii3 man, dai3 auch scheinbar noch so zufallige oder geniale Entdeckungen aus einem hochst komplexen und multikausal verschdnkten Zusammenhang heraus gemacht werden und dai3 jeweils ganz bestimmte Komponenten aus den verschiedensten Bereichen sowohl der eigentlich betroffenen Wissenschaft als auch der mehr oder weniger benachbar- ten Disziplinen, besonders aber auch auflerwissenschaftliche Faktoren in den beteiligten Personen zusammenkommen und in ihnen ,pT;dsent' sein miissen, damit etwas Neues er- fahrbar oder Altes neu erfahrbar werden kann, damit ,Entdeckungen' gemacht werden kon- nen. Ich nenne die aus all diesen Faktoren sich ergebende geistig-soziale Situation den jeweili- gen ,Historischen Erfahrungsraum', weil sie die Voraussetzungen und Bedingungen fur die Art und Weise bildet, in der ein Ereignis oder Phanomen erzeugt und ,erfahren' wird, oder

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doch erfahren werden kann; deshalb nenne ich auch die einzelnen diesen Erfahrungsraum konstituierenden Komponenten und Faktoren ,Pr%entabilien', weil sie den allgemeinen ,Hi- storischen Erfahrungsraum' einer Wissenschaft zu einer bestimmten Zeit oder einer Zeit uberhaupt ergeben und daraufhin jedem Zeitgenossen prinzipiell ,pr%ent' sein konnten, es aber nicht zu sein brauchen und in der Regel auch nicht sind4.

Dai3 die einzelnen, h r eine Innovation oder Entdeckung ausschlaggebenden ,Pfisentabi- lien' als solche meist nicht vorhersehbar sind - was das Problem einer Planbarkeit von Wis- senschaft und Forschung generell betrifft - , trifft, wie hier dargelegt wid, auch im Falle der Entdeckung der Atomkernspaltung zu. Daraus ergibt sich weiterhin, dai3 diese Ent- deckung zumindest auf dem Wege, auf dem sie gemacht wurde, nur aus einem ,Historkchen Erfahrungsraum' heraus gemacht werden konnte, den zumindest solche ,Pr%entabilien' kon- stituierten, wie sie von den individuellen Mitgliedern der Forschergruppe Otto Hahn/Lise MeitnedFritz Strai3mann und vom Kaiser-Wilhelm-Institut fiir Chemie eingebracht wurden.

Dai3 die experimentelle Physik insbesondere mit ihren seinerzeit schon entwickelten spek- trographischen Methoden und aufgrund ihrer weitaus stiirkeren Strahlungsquellen damals so- weit vorbereitet war, dai3 sie sich der Entdeckung sogleich erfolgreich anzunehmen vermoch- te und das Phanomen der Kernspaltung wohl bald auch auf physikalischem Wege entdeckt worden wiire, wenn dies nicht schon auf chemischem Wege gelungen gewesen wGe, sol1 in diesem Zusammenhang weniger interessieren. Jedenfalls ging allen Physikern, die damals Kernreaktionen untersuchten und dabei hatten auf das Phanomen der Kernspultung auf- merksam werden konnen, erst nachtriglich iitgerlich auf, wie nahe sie selbst eigentlich der Entdeckung schon gewesen waren und was alles als Fingerzeig darauf hatte gedeutet werden miissen. Vor der Entdeckung waren sie jedoch theoretisch anders festgelegt gewesen, so dai3 seitens der Physik auch gar keine gezielte Suche hatte unternommen werden konnen. Hinter- her, mit dem Phanomen der Kernspaltung, liei3 sich dann allerdings vieles innerhalb der Atomtheorie besser oder uberhaupt erst erklien. Es lieferte auf experimentellem chemi- schem Wege unbezweifelbar genau das, was die theoretische Sperre innerhalb der Physik selbst nicht hatte aukommen lassen konnen, was aber das ihr lange fehlende Puzzlestuck (im Sinne Thomas S. Kuhns) bildete, das dann seinerseits durch das es umgebende physikali- sche Umfeld sogleich erMLbar war.

Fur die Entdeckung waren eigentlich auch nur drei Forschergruppen durch ihre Arbeitsge- biete, ihre Zusammensetzung und ihre Vorleistungen pridestiniert : das Berliner Team, die Forschergruppe um Enrico Fermi in Rom sowie die Joliot-Curies mit ihren Mitarbeitern am Pariser Radium-Institut (Laboratoire Curie). Alle anderen Einzelforscher oder Arbeitsgrup- pen hatten sich bis Ende 1938 weitgehend mit der Reproduktion und Bestatigung der Ergeb nisse begniigt, die in Rom, Paris und Berlin von den eingespielten Meinen Arbeitsgruppen durch den Beschui3 von schweren Atomkernen mit Neutronen in rascher Folge erbracht wurden. Eine Besonderheit ist dariiber hinaus, dai3 die spateren Entdecker in Berlin bei ihren vorangegangenen Untersuchungen der ,,Transurane", die Fermis Arbeitsgruppe 1934 erzeugt zu haben meinte, jeweils durch Reproduktionsversuche und Priifungen von Ergebnissen der beiden anderen Gruppen angeregt worden waren - so bei der vermeintlichen Aufklarung der isomeren Reihen dieser angeblichen Transurane, so bei der vermeintlichen Aufkkung der Zerfallsprodukte des mit Neutronen bestrahlten Thoriums und so schliei3lich auch bei der AuWirung der anfangs ahnlich gedeuteten Zerfallsprodukte des mit Neutronen bestrahl- ten Urans. - Ein Vergleich dieser drei Forschergruppen und ihrer spezifischen Arbeitsbedin- gungen sollte deshalb zur Aufklirung der Voraussetzungen und Bedingungen, also der beson- ders wichtigen Pfisentabilien fiir die Entdeckung beitragen.

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2 Die Berliner Forschergruppe Otto Hahn/Lise MeitnedFritz Strafimann

Unverstandlich mufl der Entdeckungsvorgang allerdings bleiben, wenn man, wie es bald nach der Entdeckung iiblich geworden war, bei der Kernspaltung von einer ,,Entdeckung Hahns" spricht und die Rolle der anderen beiden direkt Beteiligten unterdriickt. Kurz nach Beginn der Versuche, den in Paris nach Neutronenbestrahlung von Uran durch Irkne Curie und Pave1 SaviE aufgefundenen, sogenannten 3,5-Stunden-Korper aufzukll- ren, was dann zur Entdeckung der Kernspaltung fuhrte, hatte Hahn immerhin am 25. Oktober 1938 noch Lise Meitner geschrieben5:

- Sie hatte ja als ehemals osterreichische Jiidin nach dem ,Anschlui3' Osterreichs Mitte Juli Deutschland verlassen mussen und war uber Holland nach Stockholm emigriert, wo ihr eine bescheidene Anstellung am Nobel-Institut fur Physik vermittelt worden war. Nachdem sich dann herausgestellt hatte, dafl die vermeintlichen Radium-Isotope, als was sich der 3,5-Stunden-Korper entpuppt habe, sich chemisch wie Barium verhielten, ohne dafl er oder Straflmann sich das hatten theoretisch erklaren konnen, schrieb Hahn ihr am 19. Dezember:

... Und noch vie1 schader, daR D u nicht hier bist, um den aufregenden Curiekorper mit aufzuklaren ...

Also, iiberleg Dir mal, oh sich nicht irgendeine Moglichkeit ausdenken IieRe. [. , .] Falls Du irgendetwas vor- schlagen konntest, das D u publizieren konntest, dann ware es doch noch eine Art Arbeir zu Dreien!

Hahn zahlte also Ende 1938 Lise Meitner durchaus noch zum Team, obwohl sie nur noch brieflich rnit den Berliner Kollegen in Verbindung stand; und Straflmann hat sie stets auch als Mitentdeckerin bezeichnet. Als er 1967 in einem Fernsehinterview gefragt wurde, wie es denn iiberhaupt zu der damals doch noch recht ungewohnten Team-Arbeit zwischen gleichqualifizierten Vertretern unterschiedlicher Disziplinen gekommen sei, meinte Hahn' :

Ja, wir haben nie eigentlich an Team gedacht, aber ich hatte jahrelang schon mit Lise Meitner gearbeitet gehabt, und wir haben eine ganze Reihe Arbeiten publiziert. Und dann kam der StraRmann mit seiner ausgc- zeichneten Chemie dazu, und da haben wir uns sofort entschlossen, als er bei uns gewesen und [in die radio- chemischen Methoden] eingearbeitet war, mit ihm zusammenzuarbeiten, weil wir von ihm nur lernen konn- ten. Die Meitner war Physiker, ich war Radiochemiker, und Herr StraRmann war doch gerade der gegebene Mann fur gute chemische Trennmethoden, die wir dann brauchten.

Und nochmals auf Straflmanns Beteiligung an der Entdeckung angesprochen, meinte er: Ich kann nur das eine sagen, daR sie so groR war, daR ich eigentlich betriibt war, daf3 der Herr StraRmann

bei der Erteilung des Nobelpreises nicht mindestens - sagen wir ma1 - die Halfte oder einen Teil des Preises bekommen hat; denn sein Anted war ganz wesentlich.

Vorhersehbar war die Notwendigkeit des Zusammenspiels gerade der durch diese drei Forscher eingebrachten Faktoren natiirlich nicht ; denn dann hatten die romischen Physi- ker urn Enrico Fermi und I r h e Curie in Paris ebenfalls einen geeigneten Analytischen Chemiker herangezogen. Aber es handelte sich bei den Untersuchungen der Reaktionen schwerer Atomkerne auf den Beschuf3 mit Neutronen ja um ein physikalisches Problem! Gerade deshalb enthalt aber die Zusammensetzung des Berliner Teams sicherlich schon einen Teil der Antwort auf die Frage, warum das physikalische Problem der Kernspaltung von Chemikern in Berlin und nicht von den Physikern in Paris, die immerhin die kunstli- che Radioaktivitat entdeckt hatten, oder in Rom gelost wurde, wo 1934 erstmals solche Spaltprodukte durch Neutronenbeschufl von Uran und Thorium erzeugt und, wenn auch nicht als solche, so doch als ,Transurane' gedeutet worden waren.

Aber Enrico Fermis romische Arbeitsgruppe war sehr bald nach dem Erscheinen ihrer Pilotarbeiten aus vorwiegend politischen Griinden auseinandergebrochen und in alle

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Welt zerstreut worden; auch Fermi selbst war dann dem Faschismus entflohen und in die USA emigriert, nachdem er erfahren hatte, dafl ihm der Nobel-Preis fur Physik des Jahres 1938 zuerkannt werden wiirde. Dieser Gruppe hatte mit Oscar D’Agostino auch nur 1934 fur etwa ein halbes Jahr ein Chemiker angehort, der fur diese Aufgabe sogar in Paris spe- ziell in die Radiochemie eingefuhrt worden war. In Paris hatten sich dagegen I r h e und FrCdCric Joliot-Curie ab 1934 getrennten Arbeitsgebieten der Atomphysik zugewendet ; nur I r h e Curie untersuchte weiterhin Folgeprodukte des mit Neutronen bestrahlten Urans und Thoriums - mit wechselnden jungeren Mitarbeitern. Sie war zwar wie Fermi Physiker, doch war sie naturlich auch erfahren in den (schliei3lich von ihren Eltern ent- wickelten) radiochemischen Methoden ; 1937138 arbeitete sie zusammen mit dem serbo- kroatischen Physiko-Chemiker Pave1 SaviE.

Auch Lise Meitner9 war Physikern und Leiterin der Physikalischen Abteilung des Kai- ser-Wilhelm-Instituts fur Chemie. Aber hier gab es auch eine radiochemische Abteilung unter der Leitung des Direktors des gesamten Instituts, Otto Hahn, mit dem sie zudem bereits einmal uber anderthalb Jahrzehnte sehr eng zusammengearbeitet hatte.

Diese ungewohnliche Zusammenarbeit war seinerzeit wohl besonders auch durch die soziale Stellung der Frau im ausgehenden Wilhelminischen Zeitalter und an den deut- schen, besonders den preuflischen Universitaten mit bedingt gewesen. Als Lise Meitner namlich 1907 von Wien nach Berlin gekommen war, um bei Max Planck ihr Physikstu- dium zu vertiefen und gleichzeitig experimentell weiterzuarbeiten, war sie von dem Berli- ner Experimentalphysiker Heinrich Rubens an Otto Hahn vermittelt worden, der sich gerade habilitiert hatte und auf der Suche nach einem Physiker mit Erfahrungen auf ra- dioaktivem Gebiet war, den es in Berlin aber nicht gab, wahrend Lise Meitner in Wien von Stefan Meier in das junge Forschungsgebiet eingefuhrt worden war. Ihr war die Ar- beit mit Hahn im Chemischen Institut Emil Fischers allerdings nur unter der Bedingung erlaubt worden, dat3 sie das fur Frauen verbotene Institut selbst nicht betrete. Moglich war dies geworden, weil Fischer Hahn fur seine radiochemischen Spezialuntersuchungen einen Raum im Souterrain zugewiesen hatte, der einmal als Holzwerkstatt vorgesehen ge- wesen war. Hier im Souterrain gab es namlich einen separaten Zugang vom Hinterhof aus. Lise Meitner war durch ihren Wunsch, auch in Berlin experimentell weiterzuarbei- ten, somit gleichsam an Otto Hahn gebunden gewesen; und die hieraus resultierende enge und sehr erfolgreiche Zusammenarbeit war nach 1912 am Kaiser-Wilhelm-Institut fortge- setzt worden und hatte erst geendet, als beide nach Einrichtung der Meitnerschen Abtei- lung Anfang der 1920er Jahre sich gesonderten Arbeitsgebieten entsprechend den Aufga- benstellungen ihrer Abteilungen zuwendeten.

Aber die Anregung zu der erneuten gemeinsamen Bearbeitung eines Problems ging na- turlich auch in Berlin von ihr als der Physikerin am1*. Sie hatte an dem Vorgehen der Fermi-Gruppe erkannt, dai3 die dabei auftretenden chemischen Probleme nicht mit den geringen Kenntnissen eines Physikers, aber auch nicht durch die blofl gelegentlich einge- holte Hilfe eines Chemikers zu losen waren. Es bedurfte dann allerdings einiger Wochen, bis sie Hahn, der naturlich mit ganz anderen Dingen beschaftigt war, im Herbst 1934 uberreden konnte, die uberraschenden Ergebnisse aus Rom gemeinsam einer Uberprii- fung zu unterziehen. Beide merkten dann rasch, dai3 auch das gelegentliche Einholen des Rates des Analytischen Chemikers nicht ausreichte, und forderten Fritz Straflmann zur standigen direkten Mitarbeit auf.

Hatten die politischen Verhaltnisse im faschistischen Italien die romische Gruppe aus- einanderbrechen lassen, so hatten diese in Berlin die gegenteilige Wirkung. Sie liei3en das

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Team dort uberhaupt erst zusammenkommen und dann auch uber verhaltnismai3ig lange Zeit zusammenbleiben : Die Judin Lise Meitner war nach 1933 als Osterreicherin zwar vor- erst nicht direkt gefahrdet gewesen, weil Hahn als der Institutsdirektor durch die besondere rechtliche und finanzielle Stellung des Kaiser-Wilhelm-Instituts fur Chemie nicht gezwun- gen werden konnte, das ,Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums' vom 7. April 1933 auf sie als Osterreicherin anzuwenden; aber sie wurde aui3erhalb des Instituts zunehmend isoliert. Ihr wurde die Lehrbefugnis an der Universitat entzogen, sie durfte nicht einmal mehr das beriihmte Physikalische Kolloquium besuchen und auch selbst keine VortBge - nicht einmal uuflerhulbder Universitat - halten. Nur wenige alte Freunde wa- ren ihr geblieben; zudem war sie alleinstehend und somit in ihrer gesamten Tatigkeit auf das Institut und die Arbeit an ihm ausgerichtet, wahrend Hahn haufig auswarts war. Ihr ob- lag so auch die Uberwachung der Einhaltung der strengen Arbeitsvorschriften, die von den jungen Mitarbeitern nicht immer eingesehen, aber ihr angelastet wurden. Anordnungen, die stets gemeinsam mit ,,Otto Hahn, Lise Meitner" unterzeichnet waren, wurden so schon einmal durch eine das s und e in Lise umkehrende Schlangellinie ,verfalscht', so dai3 die Un- terschriften lauteten : ,,Otto Hahn, lies Meitner". Die aus all dem resultierende Isolation und Vereinsamung wird fur sie sicherlich mit ein Anlai3 gewesen sein, wieder eine gemeinsame Arbeit mit Hahn anzustreben, obwohl sie seit 1917 ihre eigene Abteilung am Institut besai3, in der allerdings auch einige ihrer Mitarbeiter stark mit der Ideologie sympathisierten, die sie in diese Isolierung getrieben hatte, ohne daa diese Institutsangehorigen sich ihr person- lich gegenuber allerdings unloyal verhalten hatten.

Fritz Straamann war in einer ahnlichen Situation gewesen. Er war uberzeugter Nazi- gegner und zu Kompromissen auch nicht bereit, als der Beitritt zur NSDAP oder einer ihrer Organisationen zur Vorbedingung fur eine angemessene Anstellung in der Chemi- schen Industrie gemacht wurde. Vielmehr war er 1933 bereits aus der Deutschen Chemi- schen Gesellschaft ausgetreten, als diese sich als eine der ersten Standesorganisationen gleichschaltete ll. Ihm wurde allerdings von Hahn nach dem Auslaufen seines Stipendi- ums, das er 1929 gegen eine Assistentenstelle an der TH Hannover eingetauscht hatte, er- laubt, privat und ohne Entgelt am Institut weiterzuarbeiten. Er war also Ende 1934 gleichsam frei verfugbar und auch gern bereit, an den Untersuchungen mitzuwirken. An- fang 1935 erhielt er dann aus Drittmitteln eine Anstellung als Teilassistent. Sein Ziel war allerdings nach wie vor eine Tatigkeit in der chemischen Industrie gewesen; die angemes- senen Angebote scheiterten aber stets an den genannten Auflagen. Wollte er weiter che- misch arbeiten, so konnte er es also nur an diesem Institut. Wenn er aber eine andere, seiner Ausbildung und seinen Fahigkeiten entsprechende Stelle am Institut hatte erhalten konnen, so hatte er ebenso wie alle anderen Mitarbeiter sein eigenes Arbeitsgebiet gehabt und nur sporadisch zur Verfugung gestanden.

So waren es die politischen Verhaltnisse im Dritten Reich der mittdreiaiger Jahre, die dieses Team in Berlin nicht nur zusammenkommen, sondern auch uber Jahre zusammen- bleiben lieaen - wobei dann aber erst die liberale politische Haltung des Direktors Hahn es ermoglichte, dai3 seine langjahrige Weggenossin Lise Meitner als (osterreichische) Judin solange nach 1933 an diesem nicht-staatlichen Institut verbleiben konnte (so dai3 sie auch gar nicht auf den Gedanken einer Emigration kam, wie sie fur ihre ,deutschen' Kollegen ab 1933 erforderlich geworden war) und dafl Strai3mann hier unbehelligt weiter arbeiten und 1935 sogar eine bescheidene Anstellung erhalten konnte.

Im Marz 1938 trat dann in den aufleren Verhaltnissen insofern eine Anderung ein, als der ,Anwhlufl' fisterreichs I iw Meitner iiber Nacht zu einer Reichsdeutschen machte,

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auf die die Rassengesetze in vollem Ausmai3 anzuwenden waren. Nach gescheiterten Ver- suchen, ihr eine legale Ausreise zu ermogli~hen'~, blieb ihr dann nur die Flucht aus Deutschland l3 ; allerdings blieb sie von Stockholm aus durch eine rege Korrespondenz mit Otto Hahn weiterhin mit der Arbeitsgruppe verbunden. Diese Emigration kann des- halb fur den Historiker sogar als Glucksfall bezeichnet werden, weil sich anhand dieser Korrespondenz nicht nur der Gang der Untersuchungen weitgehend ablesen lai3t, son- dern auch die Rolle, die Lise Meitner dabei spielte - und dementsprechend auch vorher gespielt hatte, als die Diskussionen am Laborplatz mundlich erfolgten.

3 Das Kaiser-Wilhelm-Institut fur Chemie

Das Zusammenkommen und langjahrige Zusammenbleiben dieser Forschergruppe in der damals einmaligen Verknupfung von Fachgebieten ist aber nur eine der externen Voraus- setzungen. Eine nicht minder wichtige war die Einrichtung des Kaiser-Wilhelm-Instituts fur Chemie selbst. Dieses Institut war aus Mitteln des ,Vereins Chemische Reichsanstalt' errichtet worden, nachdem ein Vertrag mit der 19 10 proklamierten Kaiser-Wilhelm-Ge- sellschaft durch Ubernahme jeweils der halben Unterhaltskosten die Arbeit dieses For- schungsinstituts der Chemie gesichert hatte 14. Spater, nach dem Ersten Weltkrieg, trat die dazu neu gegriindete Emil-Fischer-Gesellschaft, getragen von der Chemischen Groi3in- dustrie, an die Stelle des Vereins und ubernahm bis auf einen symbolischen Beitrag der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft die gesamten Unterhalts- und Personalkosten.

Bei der Eroffnung 1912 hatte das Institut auf Betreiben Emil Fischers auch eine kleine Abteilung fur Radiochemie speziell fur Hahns in Deutschland neue Forschungsrichtung erhalten. Lise Meitner konnte als unbezahlter Gast mit an diese Abteilung kommen, wur- de 1913 ebenfalls ,Wissenschaftliches Mitglied' des Instituts und erhielt 1917 eine kleine Abteilung fur ,Radiophysik', fur deren Einrichtung durch Vermittlung E. Fischers die I.G. Farbenindustrie A.G. Gelder zur Verfugung gestellt hatte. 1926 wurde dann Otto Hahn de facto alleiniger Direktor des Instituts (de jure 1929 riickwirkend ab 1928), und die anderen Abteilungen wurden aufgelost. Die gesamte Forschung am Institut war seit- dem Fragen der Radioaktivitat gewidmet, in einer chemischen Abteilung unter Hahn und in einer physikalischen Abteilung unter Meitner.

Wichtiger als die neue finanzielle Basis und die groi3e Unabhangigkeit, die Hahn und Meitner in diesem neuen Institut erfuhren, war der damit verbundene Einzug in ein neuerrichtetes Gebaude. Beide hatten namlich zuvor in der ,Holzwerkstatt' bereits groi3e Erfahrungen im Umgang mit radioaktiven Substanzen gewonnen, ohne dai3 hier zu Be- ginn ihrer Arbeiten allerdings schon die absolute Notwendigkeit oder auch die Moglich- keit bestanden hatte, eine radioaktive Infizierung ganz zu vermeiden. Die ,Holzwerkstatt' war schliei3lich ungewollt so ,verseucht' gewesen, dai3 hier mit schwach radioaktiven Sub- stanzen gar nicht mehr gearbeitet werden konnte. So war es ein glucklicher Umstand, dai3 sie 1912 mit diesen Erfahrungen die neuen Raume beziehen konnten. Mit aui3erster Sorg- falt und Disziplin, die sie und besonders Lise Meitner spater auch ihren Mitarbeitern ab- verlangten, konnte so eine radioaktive Verseuchung weitgehend vermieden werden ; und im Erdgeschoi3 (siehe Abb. 2), wo sich im rechten Flugel anfangs die Hahn-Meitnersche Abteilung befunden hatte und das ab 1926 die Physikalische Abteilung Lise Meitners be- herbergte, in der das Team seine gemeinsamen Untersuchungen mit bestrahltem Uran und Thorium durchfuhrte, war bis zur Auslagerung des Instituts 1944 fur damalige An- spriiche praktisch keinerlei radioaktive Infizierung anzutreffen gewesen. Man konnte hier

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vielmehr noch bis in die 1940er Jahre mit den schwachsten von den damaligen Zahlern erfai3baren radioaktiven Substanzen arbeiten; und zu denen gehorten wegen der schwa- chen Strahlungsquellen und der daraufhin geringen Ausbeute auch die gewonnenen Spalt- und anderen Folgeprodukte. Die untere Grenze der Zahler lag immerhin bei etwa 15 Be- taTeilchen pro Minute.

Abb. 2: Kaiser-Wilhelm-Institut fur Chemie in Berlin-Dahlem, Grundril3 des Erdgeschosses aus E. Fi- scher/E. Beckmann (wie Anm. 14), S. 66: Die Abteilung Hahn-Meitner befand sich anfangs in den Raumen 23/25/27/29 des Nordfliigels; ab den spaten 1920er Jahren stand das gesarnte Erdgeschofl der Physikalischen Abteilung Lise Meitners zur Verfiigung. Hier wurden von Hahn, Meitner und Straflrnann auch die gemeinsa- men Uran- und Thorium-Untersuchungen durchgefiihrt, und zwar war Raum 29 das Bestrahlungszimrner, Raum 19 das MeRzimmer und Raum 20 (sog. Privatlabor Ot to Hahn) das Labor fur die chemischen Analysen und Trennungen.

Auch das waren Voraussetzungen, wie sie weder im Pariser Radium-Institut noch im Fermischen Institut in Rom bestanden. Dort waren auch Bestrahlungen und Messungen im selben Raum, in Rom sogar teilweise gleichzeitig auf demselben Tisch l5 vorgenom- men worden, wahrend im Berliner Institut der Bestrahlungsraum (29) 20 m vom Chemi- schen Labor (20) und dem gegeniiberliegenden Meflzimmer (19) entfernt gewahlt worden war - der Flur galt dann als die Strai3mannsche ,,Rennstrecke", da die chemischen Tren- nungen und deren Messungen natiirlich trotzdem moglichst unmittelbar im Anschlui3 an die Bestrahlung erfolgen mufiten, um auch kurzlebige Folgeprodukte erfassen zu konnen. Nur aufgrund dieser Sorgfalt hatten die Mei3reihen der schwachen Piparate so exakt auf- genommen werden konnen, dai3 aus der graphischen Analyse der Mei3kurven eine Tren- nung der verschiedenen in unwagbaren Mengen ausgefallten Folgeprodukte nach ihren unterschiedlichen Halbwertszeiten vorgenommen werden konnten - worin Hahn eine groi3e Meisterschaft entwickelt hatte.

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4 Innerwissenschaftliche Prasentabilien

Schon bei der Betrachtung der hochst unterschiedlichen Auswirkungen der politischen Situation der 1930er Jahre sollte deutlich geworden sein, warum man bei den Komponen- ten des jeweiligen ,Historischen Erfahrungsraumes' sinnvoller von ,Pl;dsentabilien' statt von ,Determinanten' spricht, wie es sich eingebiirgert hat. Hier ist namlich nichts ,,deter- miniert". Solche Komponenten konnen vielrnehr Einflufl ausiiben, sie brauchen es aber nicht; und die Art der Beeinflussung ist nicht gleichartig oder auch nur gerichtet. Sie ist also auch nicht zu prognostizieren, kann sich vielmehr fur einen bestimmten Prozei3 posi- tiv oder negativ auswirken l6 - jedenfalls bezuglich der Bedingungen und Voraussetzun- gen fur wissenschaftliche und technische Innovationen. Das zeigt sich auch bei den inner- wissenschaftlichen Bedingungen und Voraussetzungen fur die Entdeckung der Kernspal- tung. Hierzu zahlen zum einen der damalige allgemeine Stand der Atom- bzw. Kernphy- sik 17, den Lise Meitner repAsentierte und zu dem sie selbst mehrere Entdeckungen bei- getragen hatte, sowie der Radiochemie, den Otto Hahnl* einbrachte und zu dern er (teilweise gemeinsam mit Lise Meitner 19) zahlreiche Pionierleistungen beigesteuert hatte wie die Entdeckung mehrerer Radionuklide und des Protaktiniums sowie besonders einer ersten Kernisomerie, und der Analytischen Chemie, auf die Fritz StraGmann wahrend sei- nes Studiums an der mehr als die Universitaten auf die Praxis ausgerichteten Technischen Hochschule Hannover eingeubt worden war und die er mit bewunderungswiirdigem Ge- schick beherrschte (aui3erdem hatte er in Physikalischer Chemie promoviert, bevor er als Stipendiat nach Berlin ging).

Andere innerwissenschaftliche ,,PAsentabilien" sind besonders die im folgenden chro- nologisch angefiihrten gewesen : 1. Nachweismethoden fur Alpha-Strahler. Hahn hatte solche am Beginn seiner Tatigkeit als Chemiker wahrend eines einjahrigen Aufenthaltes in Montreal bei Ernest Ruther- ford20 kennengelernt. Sie sind dann aber mit zunehmender apparativer Ausstattung am Berliner Institut nur in der Meitnerschen Abteilung verwendet worden, so dai3 sie nach dem Weggang Lise Meitners Hahn und Strai3mann nicht direkt zuganglich, nicht ,pl;d- sent' waren. Das ist insofern wichtig, als bei der letzten Annahme, dai3 Uran nach dem Beschui3 mit Neutronen in Radium zerfallen sei, je Atom sukzessive zwei Alphateilchen hatten freigesetzt werden miissen - was fur die Physikern darnals theoretisch noch hochst unwahrscheinlich war, so dai3 sie sofort nach Alphastrahlung gesucht hatte 21. Die Chemiker schoben diesen Nachweis wegen mangelnder direkter ,Pr%enz' der Mittel dazu aber immer wieder vor sich her - bis er sich durch die neuartige Deutung nach der Iden- tifizierung des vermeintlichen Radiums als Barium sowieso eriibrigte. - Bei diesem Spalt- vorgang tritt tatgachlich keine Alphastrahlung auf. 2. Der Fajans-Soddysche Krschiebungssatz von 1911. Dieser besagt, dai3 eine betastrahlen- de Substanz sich in Atome des im Periodensystem folgenden nachsthoheren Elements umwandelt, wahrend nach Alphastrahlung ein Element um zwei Stellen vor dem Aus- gangspunkt entsteht. Erstere Umwandlung nennt man auch Kernaufbau, letztere Kernab- bau. Die Annahme der allgemeinen und ausschliefllichen Giiltigkeit dieses Satzes, der al- len Radioforschern ,pAsent' war, erwies sich insofern als hemmend, als sie die Moglich- keit einer anderen Erklarung des energetisch unwahrscheinlichen Kernabbaus des Urans nach Bestrahlung mit thermischen Neutronen zu Thorium und Radium ausschlof3 - insbesondere natiirlich die Vorstellung von einer Spaltung des Kerns. 3. Der Soddysche Isotopiebep. von 1913, der ebenfalls allen Radioforschern ,p&ent' war.

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4. Nachweisrnethoden fur Beta-Strahler. Diese waren teilweise von Hahn und Meitner ge- meinsarn selbst entwickelt worden und deshalb ihnen im Hochstmafi ,priisent'. Das hatte dann aber auch zur Folge, dai3 die Berliner Arbeitsgruppe sich fast ausschliefilich auf den Nachweis von Betastrahlern beschrinkte - was soweit ging, dai3 man immer dann, wenn die extrahierende Triigersubstanz darauf schliei3en lie& dai3 ein Isotrop des Elementes ent- standen war, das im Periodensystem vor dem mit Neutronen bestrahlten Ausgangspro- dukt einzuordnen ist, davon ausging, dai3 dieses durch Bestrahlung, also Kernaufiau, aus einem Zwischenprodukt entstanden war, das seinerseits nach (nicht gernessener und nicht beobachteter) Alphastrahlung und einem vorangegangenen Kernabbau zwei Stellen vor dem Ausgangsprodukt im Periodensystem steht. 5. Die Kernisomerie won Uran 222. Diese Entdeckung Otto Hahns aus dem Jahre 1922 bildete lange Zeit die einzig bekannte echte Kernisomerie, was zur Folge hatte, dai3 sie im Rahmen von Kerntheorien wenig Beachtung fand. Die Entdeckung war Hahn und damit dem Berliner Team naturlich ebenfalls im Hochstrnai3 ,p&ent', was dann wieder- um zur Folge hatte, dai3 sie falschlich als Erklarungsrnuster fur die gewonnenen, chemisch fur ahnlich gehaltenen, weil durch die gleiche Triigersubstanz extrahierten Folgeprodukte diente, was zur Annahrne der isomeren Reihen von ,Transuranen' und nach Kernabbau angenommenen niedrigeren Elementen fuhrte - die dann allerdings trotz mangelnder theoretischer Deutung allgemein akzeptiert wurde. 6. Die Verrnutung der Existenz von ,Aktiniden' oder , Uraniden: Die Aktiniden sind eine Gruppe von Elementen (grofltenteils Transuranen), die sich wie die Seltenen Erden, die Lanthaniden, durch den Aufbau innerer Elektronenschalen unterscheiden, sich chemisch aber sehr stark untereinander und dem Aktinium ahneln, da ihre Lugere Elektronenscha- le gleich aufgebaut ist. Die Vermutung, dai3 es solche Aktiniden oder auch Uraniden gebe, wurde erst nach der Entdeckung und Isolierung echter Transurane in den 1940er Jahren bestatigt. Sie war erstrnals 1922 von Niels Bohr und Dirk Coster aufgestellt und in der Folgezeit gelegentlich auch aufgenommen worden 23 - allerdings irn Zusarnmenhang mit der Deutung der vermeintlichen ,Transurane' nicht einmal von Bohr selbst vorge- bracht worden. Sie kann also hierfiir als ,nicht-priisent' angesehen werden. Sie hatte nam- lich iamtliche damaligen chemischen Nachweismethoden fur ,Transurane' als Eka-Rheni- um (fur Element 93), Eka-Osmium (fur Element 94), Eka-Iridium (fur Element 95) usw. widerlegt, da diese Elernente dann im Periodensystem nicht unter Rhenium, Osmium, Iridium usw. zu stehen kamen. Sie hatten eben nicht als ihnen chemisch verwandt (homo- log) gelten konnen und deshalb auch nicht durch sie als Triigersubstanzen aus Lijsungen extrahiert werden konnen. (Eka-Rhenium ist tatsachlich ja erst Element 106.) - Hier hat sicherlich die Autoritat der Berliner Cherniker die Kernphysiker blind gemacht. Viel- leicht ware andernfalls die Kritik Ida Noddacks an den Ferrnischen ,Transuranen' beachtet worden, die forderte, erst einmal samtliche Elemente des Periodensystems nach ihrer Iden- titat mit diesen Substanzen zu u b e r ~ r i i f e n ~ ~ - ohne es dann allerdings wenigstens selbst durchzufuhren, obwohl doch gerade sie groi3e Erfahrungen im Umgang mit Seltenen Er- den hatte25.

Das Ende der 1930er Jahre anerkannte Periodensystem (siehe Abb. 3) enthielt jedenfalls noch nicht die Aktiniden. Die jeweils stabilste Oxidationsstufe von Aktinium, Thorium, Protactinium und Uran, also der Elemente 89 bis 92, sprach noch eindeutig fur ihre Zuge- horigkeit zur 3., 4., 5. und 6. Gruppe, so dai3 das erste kunstlich erzeugte Transuran der 7. und die folgenden als Homologe der Platinmetalle der 8. Gruppe angehoren zu mussen schienen : Eka-Rhenium, Eka-Osmium usw.

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Abb. 3 : Das Periodensystem der Chemischen Elemente nach A. von Antropoff (1926), aus J.W. van Spronsen (wie Anm. 23), S. 160.

7. Dus Zyklotronz6. Das in den Jahren 1929/30 von Ernest 0. Lawrence entwickelte Zy- klotron diente nach der Entdeckung des Neutrons (1932) zur Erzeugung einer sehr vie1 intensiveren Neutronenstrahlung, als die in Berlin noch (und bis Kriegsende) benutzten Neutronenquellen je liefern konnten (siehe Nr. 10). Der Berliner Arbeitsgruppe war diese Moglichkeit aber ebensowenig ,pr;dsent' wie der Pariser. In Europa wurden uberhaupt erst nach 1939 die ersten Zyklotrons errichtet, wahrend die ersten amerikanischen ausschliei3- lich in den Handen von Physikern waren, die sich bis Anfang 1939 ganz anderen Fragen widmeten. Hahn klagte zwar oft uber die Schwache der ihm zur Verfugung stehenden Strahlenquellen, doch ist fur unsere Uberlegungen zu bedenken, dai3 der entscheidende Schritt vor der Auffindung des Bariums der Versuch der Anreicherung des vermeintlichen ,Radiums' mittels einer anderen als der bis dahin benutzten Bariumverbindung, namlich rnittels Bariumchlorid gewesen ist, die schliei3lich zur Identifizierung dieses ,Radiums' mit Barium fiihrte. Es war also gerade die Schwache der Neutronenquelle, die den Weg zur Entdeckung eroffnete, so dai3 sich in diesem Falle wieder einmal eine ,Nicht-Pdsenz' po- sitiv ausgewirkt hat. 8. Die Entdeckung des Neutrons durch James Cbadwick (1932JZ7. Diese Entdeckung war wohl die wichtigste Voraussetzung. Eine Spaltung hatte vorher experimentell nicht er- zeugt werden konnen - und spontane Spaltungen sind so selten, dai3 Spuren von Folge- produkten der Spaltprodukte kaum hatten auf dieses Phanomen hinfuhren konnen. Chadwick hatte Beryllium mit Alphateilchen (also Heliumkernen) bestrahlt und folgende Reaktion erhalten:

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:Be+ :He + An+ ' iC.

9. Die Entdeckung der kiinstlichen Radioaktivitat durch Ir&e und Fridiric Joliot-Curie (1934)28. Die Joliot-Curies hatten bei der Bestrahlung von naturlich stabilen Elementen geringen Atomgewichts festgestellt, dai3 nach Aussendung von Neutronen nicht unbe- dingt stabile Elemente wie bei der Chadwickschen Reaktion entstehen, zumindest nicht unmittelbar. Sie hatten vielmehr auch folgende Reaktion beobachtet :

10' 'gB+ :He -+ An + ':N --+ '2C.

B

Durch diese Entdeckung wurde Enrico Fermi unmittelbar zu der Uberlegung angeregt, bei Elementen mit hoherem Atomgewicht, an deren Kernen die positiv geladenen Alpha- teilchen abprallen, so dai3 es zu keinen Kernreaktionen kommt, statt dessen die elektrisch neutralen Chadwickschen Neutronen als Geschosse zu benutzen, um auch kunstlich ra- dioaktive Nuklide mit hohem Atomgewicht zu gewinnen. 10. Die Neutronenquelle. Als Neutronenquelle diente Fermi ein inniges Gemisch von Ra- dium und Berylliumpulver gemai3 der von Chadwick entdeckten Reaktion. Das Radium (oder Radiumemanation/Radon) lieferte dabei die Alphastrahlung. Solche Neutronen- quellen wurden daraufhin in vielen Instituten, die etwas von dem kostbaren Radium besa- i3en, hergestellt und benutzt - so auch in Paris und Berlin. In Berlin wurde das Berylli- um-Radon-Gemisch in kleine Glasrohrchen eingeschmolzen. 11. Die Erzeugung radioaktiver Nuklide durch Neutronenbeschuj? schwerer Atomkerne durch die Fermi-Gruppe (1934)29. Diese Untersuchungen bildeten Ende 1934 den unmit- telbaren Ausgangspunkt in Berlin. 12. Die Entdeckung von , thermischen xverstarkten ' Neutronen durch die Feumi-Gruppe (Oktober 1934). Rein zufallig entdeckte man in Rom30, dai3 Neutronen durch eine Bremssubstanz verlangsamt werden zu sog. thermischen (oder, wie man damals sage, ,,verstarkten") Neutronen, die von den Atomkernen leichter eingefangen werden. Ein sol- cher Neutroneneinfang fuhrte dann stets zu einem Kernaufbau nach Aussendung von Be- tastrahlen. Man nannte diesen Vorgang einen Resonanzprozefl. Das war energetisch ver- standlich und theoriekonform. Auch dieser Vorgang und seine Erklarung war den Radio- forschern allgemein ,pr%ent'. In Paris und Berlin wurde deshalb auch stets gepriift, ob dieselben oder andere Folgeprodukte entstehen, nachdem Uran oder Thorium einmal mit schnellen und einmal mit langsamen Neutronen bestrahlt worden war. Curie und Savii- diskutierten deshalb auch die Moglichkeit eines Transurans, als sich zeigte, dai3 ihr 3,5-Stunden-Korper auch nach verstiirkter Bestrahlung entsteht. Die Mitteilung erfolgte allerdings erst Ende Oktober - als Lise Meitner bereits in Stockholm war. Das bestarkte sie aber in der Annahme, dai3 es sich bei dem vermeintlich in Berlin nachgewiesenen Ra- dium doch um ein Transuran handeln konne oder sogar musse. Wir werden sehen, dai3 Hahn und Strai3mann im Gegensatz zu Curie unc Savii-, aber auch zu Lise Meitner, die Moglichkeit eines Resonanzprozesses in der entscheidenden Phase des Entdeckungsvor- ganges ignorierten oder doch nicht beachteten (was im Beisein Lise Meitners wohl nie passiert ware), dai3 diese Theorie hierzu also als ,nicht-priisent' angesehen werden mui3. 13. Das Tropfihenmodell des Atomkwns. Als letztes internes ,,Pdsentabile" sei das Tropf- chenmodell genannt, das in den Jahren 1935/36 von Niels Bohr, Carl Friedrich von Weiz- sacker und anderen entwickelt worden war 32. Es wurde nach dem chemischen Nachweis

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von Barium als Spaltprodukt von Lise Meitner und ihrem Physiker-Neffen Otto Robert Frisch sofort zur noch heute anerkannten theoretischen Deutung des Kernspaltungspro- zesses herangezogen. Deshalb hatte es eigentlich zu einer theoretischen Vorhersage der Spaltung fuhren konnen, ja nach dem Urteil vieler zeitgenossischer Physiker auch fuhren mussen. Es war ja auch insbesondere in der Kernphysikalischen Abteilung Lise Meitners sofort zur Erklarung und energetischen Berechnung von Kernprozessen unter Einbezug der vermeintlichen Transurane benutzt worden ; und von Weizsacker hatte sogar langlich gedehnte Kernformen jenseits des Eisens errechnet - aber an eine mogliche Zevdehnung und damit Spaltung hatte niemand gedacht. Hier war also den Physikern die richtige Theorie durchaus ,p&ent' gewesen; es hatte nur die Verbindung mit den richtigen chemi- schen Befunden gefehlt, die zwar vorlagen, durch die Autoritat der Berliner Chemiker aber anders gedeutet wurden - weil eine andere richtige Theorie, namlich die der Aktini- den-Reihe, sich noch nicht durchgesetzt hatte.

Vielleicht wird gerade hierdurch besonders deutlich, was unter ,Prisentabilien' im wis- senschaftlichen Bereich zu verstehen ist.

5 Die Chronologie der Ereignisse bis zum Nachweis der Urankernspaltung

Die Skizzierung der 13 innerwissenschaftlichen ,P&entabilien' macht es moglich, die Entdeckungsgeschichte selbst relativ kurz abzuhandeln 32 :

Die Fermi-Gruppe hatte 1934 durch Neutronenbestrahlung der hochgeladenen Uran- kerne drei betastrahlende Substanzen unterschiedlicher Lebensdauer erhalten, namlich von 10 Sekunden, 40 Sekunden und 13 Minuten Halbwertszeit. Die Betastrahlung legte nahe, dai3 es sich bei den daraus nach Kernaufbau entstandenen Substanzen um Trans- urane handeln muse. Durch chemische Versuche hatten sie auch eine Identitat mit den voranstehenden Elementen Blei (82), Wismut (83) sowie von Radon (86) bis Uran (92) ausgeschlossen und dann versucht, mit Rhenium-Sulfid als Tsgersubstanz den genugend langlebigen 13-Minuten-Korper als Eka-Rhenium zu erweisen, also als Transuran rnit der Ordnungszahl93. Das Verfahren schien Fermi aber - und das mit Recht - nicht ausrei- chend spezifisch zu sein; und so liei3 er die Frage, ob Transurane entstanden seien, vorerst offen. Hier wollte dann Lise Meitner mit ihren Untersuchungen einsetzen, wozu sie das Berliner Team initiierte.

Dieses kam nach langen und intensiven Untersuchungen schliefilich zu dem Ergebnis, dai3 die drei Fermischen Betastrahler zu folgenden isomeren Reihen fuhren muken :

P P P I. 92U + on (93U + n) - ,,Eka-Re - ,,Eka-0s - 10 sec 2,2 min 59 min

,,Eka-Ir - P ,,Eka-Pt --+ P ,,Eka-Au 6 6 h 2.5 h

P P P 40 sec 16 min 5,7

11. 92U + -+ (,,U + n) - ,3Eka-Re - ,,Eka-Os - &ka-Ir

111. q2U + on P 4 (y2U + n) - ,,Eka-Re

23 min

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Die Ergebnisse wurden vielenorts uberpriift und erwiesen sich jeweils als reproduzierbar. Sie wurden deshalb zwar teilweise skeptisch, aber ohne Widerspruch hingenommen. Auch die meist nicht ernstgenommenen Einwande Ida N ~ d d a c k s ~ ~ galten damit als wi- derlegt und wurden von niemandem weiter beachtet.

Die Ergebnisse der Berliner Gruppe wurden sukzessive in mehreren Publikationen be- kannt gemacht, von der dritten Arbeit an unter Nennung von Fritz Straflmann als Mit- autor. Erfolgte eine solche Veroffentlichung dabei in einer chemischen Zeitschrift oder in der Zeitschrift der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, Die Ndttlrwissenschaften, so wurde da- bei stets Otto Hahn an erster Stelle der Autoren genannt, bei physikafschen Zeitschriften Lise Meitner - woraus sich schon ergab, bei wem jeweils der Arbeitsschwerpunkt gele- gen hatte - , wahrend Straflmann stets an letzter Stelle steht, was auch nicht verwunder- lich ist. Umso bemerkenswerter ist es dann aber auch, dafl in einem Fall von diesem Sche- ma abgewichen wurde.

Ab Mitte 1937 wurden in Berlin dann von Lise Meitner und Fritz Straflmann die Folge- produkte des rnit Neutronen beschossenen drittschwersten Elements Thorium (90) unter- sucht. Hierbei war auch anderenorts festgestellt worden, dafl nach Beschufl mit thermi- schen Neutronen ein Resonanzprozefl mit betastrahlendem Thorium entsteht, das in ein Protactinium (91) ubergeht, wahrend mit schnellen Neutronen das Thorium zu Alpha- strahlung angeregt zu werden schien, da es sich offenbar durch Kernabbau in ein Radium- isotop (88) umwandelte, das als betastrahlende Substanz sich seinerseits in ein wiederum betastrahlendes Aktinium (89) verwandelte 34. Entsprechend den isomeren Transuranrei- hen schienen auch hier beim zweiten Prozefl je drei solcher angeblicher Radium- und Ak- tinium-Isotope nachweisbar zu sein. Als T~gersubstanz zur Abtrennung hatte Straflmann die homologen Elemente Barium und Lanthan gewahlt. Das zum Entstehen dieses Prozes- ses erforderliche Auftreten von Alphastrahlung des Thoriums konnte zwar in Berlin, wo Lise Meitner ihren Mitarbeiter Gottfried von Droste um den Nachweis gebeten hatte, nicht aufgewiesen ~ e r d e n ~ ~ , doch war von anderer Seite in einer Notiz (falschlich) das Auftreten von Alphastrahlung angezeigt worden 36. Die Ergebnisse schienen so auch von dieser Seite her bestatigt; sie stimmten wieder mit der Theorie iiberein und wurden in der letzten gemeinsamen Arbeit aller drei kurz vor dem Weggang Meitners der Zeitscbrzji fiir Pbysik eingereicht 37.

Bei dieser Veroffentlichung wird der Name Lise Meitners selbstverstandlich an erster Stelle genannt ; doch dann folgt erstmals der Name Straflmann vor dem von Otto Hahn. Diese Reihenfolge muflte jedem Insider den Sachverhalt klar vor Augen fuhren, war Hahn doch immerhin der Direktor des Instituts, an dem die Untersuchungen durchge- fuhrt worden waren. Fritz Straflmann hat niir denn auch meine Vermutung bestatigen konnen, dafl die mitgeteilten chemischen Untersuchungen von ihm auf ganz besonderen Wunsch Lise Meitners durchgefiihrt worden waren, ohne Hahn dazu zu konsultieren. Das ist insofern nicht ganz unwichtig, als die dann nach dem Weggang Meitners im Okto- ber einsetzenden neuen Untersuchungen, die schliefllich zur Kernspaltung hinfuhrten, nach denselben Methoden erfolgten und aufgrund einer ahnlichen theoretischen Uberle- gung von Straflmann angeregt wurden, wie sie von Lise Meitner zur Deutung des Thori- um-Zerfalls angestellt worden war - wobei sich diese Uberlegung dann allerdings auch als ebenso falsch erweisen sollte.

Mitte 1937 war namlich eine Arbeit erschienen, in der Irine Curie und Pave1 Savir uber die Entdeckung eines bis dahin unbekannten bei der Bestrahlung von Uran mit Neutro- nen entstandenen Korpers von 3,5 Stunden Halbwertszeit b e r i ~ h t e t e n ~ ~ . Sie nahmen an,

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dafl er ein Thorium-Isotop sei. Lise Meitner driingte auf eine sofortige Wiederholung des Versuches; denn Strai3mann hatte auf ihren Wunsch hin schon 1935 einmal erfolglos nach Thorium in den Uran-Folgeprodukten gesucht. In den Filtraten liei3 sich auch jetzt wieder kein Thorium nachweisen, was Meitner am 20. Januar 1938 brieflich nach Paris mitteil- te39. Curie und SaviE nahmen daraufhin an, dafl es sich bei dem Korper urn ein Aktinium handele40. Das war nach der Widerlegung des Thoriums fur Lise Meitner jedoch theore- tisch hochst unwahrscheinlich, hatten die Neutronen doch neben einem Alphateilchen auch jeweils gleichzeitig ein Proton aus dem Urankern herausgeschlagen haben miissen. Sie verlor daraufhin jedes weitere Interesse an diesem ,, Curiosum", wie der angebliche 3,5-Stun- den-Korper dann in Berlin genannt wurde; und die Sache wurde nicht weiter verfolgt.

Dann erschien Mitte Oktober 1938, als Lise Meitner nicht mehr in Berlin war, eine weitere Arbeit von Curie und SaviE, in der das Aktinium als bestatigt angegeben wurde. Die Substanz sei ahnlich dem Lanthan des als Triigersubstanz benutzten Kalium-Lan- than-Sulfats und lasse sich nur durch Fraktionierung von ihm trennen41.

Hahns erste Reaktion auf diese Arbeit war, dai3 die Dame in Paris nun wohl ganz ver- riickt geworden sei4*. Mit ahnlichen Worten ubergab er auch die Arbeit Straflmann zum genaueren Studium, wobei dieser aber feststellte, dai3 hier von den Parisern erstmals ge- nauere Versuchsbeschreibungen und Zerfallskurven angegeben wurden, was ihn davon iiberzeugte, dai3 hier wohl kein Dreckeffekt vorliegen konne, das ,Curiosum' vielmehr eine reelle Substanz sein miisse. Er suchte daraufhin nach einer Erklarung, die sowohl die Parker als die alteren Berliner Befunde verstandlich machen sollte, und kam in Analogie zu den mit Lise Meitner erarbeiteten Thorium-Ergebnissen zu folgender Arbeitshypo- these 43 :

1. Die Bestrahlung des Urans mit langsarnen Neutronen sollte zu einern alpha-rtruhlenden Thorium fiihren. - Das hatte erklart, warum unsere friiheren, rnit p --Zahlrohren durchgefuhrten Messungen negativ ver- liefen.

2. Das alpha-strahlende Thorium muRte zu einern Radium fuhren. 3. Wenn dieses Radium-Isotop p-Strahler war, muRte ein Aktiniurn daraus entstehen und eventuell daraus

Thorium. 4. Joliot-Curie und Savitch hatren als TEgersubstanz Kalium-Lanrhan-Sulfat benutzt. In diescm Fallc ware

Radium wegen der [groRen Oberflache der] Sulfat-Ionen rnindestens zum Teil mitgefillt worden. Eine Fraktio- nierung hatte notwendig den von Joliot-Curie und Savitch beschriebenen Effekt hervorrufen mussen.

Deshalb schlug er statt des Sulfats ein Chlorid vor, und zwar, weil er Radium als Folge- produkt vermutete, das Chlorid des homologen Bariums : ,,An Fremdsubstanzen konnte nur Radium mitgefallt werden" - nicht dagegen Lanthan und Aktinium.

Hahn liefl sich von diesen theoretischen Uberlegungen uberzeugen und bat Straflmann, sofort einen entsprechenden Versuch anzusetzen. Schon am 25. Oktober berichtete er erstmals dariiber in einem Brief an Lise Meitner, in dem es heifit:

Nun karn Ende voriger Woche eine neue Arbeit von Curie und Savitch iiber den 3,5-Stunden-Korper heraus. [.. .I Dort sind auch Kurven angegeben. Wir sind jetzt dabei, dies nachzumachen, und glauben jetzt an seine Existenz. Nach den Curieschen Angaben haben wir die Substanz gefunden, vielleicht sogar bcsscr als Curie und Savitch. [. , .] Die Eigenschaften scheinen in der Tat merkwiirdig zu sein. [. . .] (Vielleicht hat sogar ein Ra-Isotop was dabei zu tun. Dies sage ich aber nur mit groRer Vorsicht und vertraulich!)

Lise Meitner antwortete sogleich am 28. mit zahlreichen Fragen; die folgenden Briefe uberkreuzten sich dann teilweise, obgleich sie - was heute unglaublich klingt - jeweils iiber Nacht in Berlin und Stockholm eintrafen. Aus dieser Zeit, vom 1. November, stam- men auch die ersten Eintragungen in das erhaltene Laborheft ChernieZZ, das sich heute im Deutschen Museum 44 befindet. Es beginnt mit Straflmanns Eintragung einer ,,weite- ren Priifung des ,Cu-Sa' [wie jetzt das ehemalige ,Curiosum' genannt wurde] auf Ra-Ac".

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Am 2. und 3. November werden von Straflmann Versuche durchgefuhrt, nach denen Lise Meitner besonders gefragt hatte, ob namlich der neue Korper auch nach Beschui3 mit thermischen Neutronen entstehe, wie auch die Pariser in ihrer letzten Arbeit Ende Oktober mitgeteilt hatten. Eigentlich hatte dann ja ein ,ResonanzprozeG', der zu einem Transuran fuhrt, stattfinden mussen, was die Pariser auch als Moglichkeit angedeutet hat- ten. Auch Meitner meinte, dai3 es sich bei dem vermeintlichen Radium wohl um ein Transuran handeln musse, und regte in ihren Briefen immer wieder neue Versuche an, die- ses wenigstens experimentell auszuschliei3en.

Zur Uberraschung waren aber auch nach Bestrahlung mit thermischen Neutronen ,Ra- dium' und ,Aktinium' nachzuweisen. Am 3. November priifte Strai3mann deshalb zur Kontrolle, ob mit dem Bariumchlorid nicht vielleicht schon naturliche Radioaktivitat (also Radium) aus dem unbestrahlten Uran auszufallen sei; dann ware namlich das aufge- fundene ,Radium' nur scheinbar durch die thermischen Neutronen entstanden gewesen. Aber auch das war nicht der Fall. Das Unwahrscheinliche blieb: Der von Lise Meitner in die Diskussion eingebrachte Verschiebungssatz schien nicht allgemein giiltig zu sein. Hahn und Straflmann vertrauten jedenfalls ihren Befunden und setzten sich uber deren Unvertriglichkeit mit der Theorie und bis dahin gemachten Erfahrungen hinweg. StraB- mann hatte ja Verfahren entwickelt, die neben der Trigersubstanz Barium, an das natur- lich keiner zu denken wagte, nur Radium mitfallen lieflen. Am 2. November hatte Hahn deshalb schon Lise Meitner gebeten, sich doch einmal theoretisch zu uberlegen, wie eine Alpha-Strahlenumwandlung rnit wahrscheinlich auch langsamen Neutronen zustande kornrnen kann, und dabei auch gleich wieder rnehrere Isomere.

Sie erbat sich nahere Angaben uber die Versuchsergebnisse, woraufhin Hahn sie dann in einem langen Brief vom 5./6. uber alle Einzelheiten unterrichtete. Er wartete allerdings ihre Antwort nicht ab, reichte die Arbeit mit diesen Resultaten vielmehr noch am 8. No- vember der Zeitschrift Die Naturwissenschaften ein45 - bevor er fur vier Tage nach Wien fuhr. Drei als isomer angesehene Radium- und Aktinium-Isotope schienen nachge- wiesen zu sein, von denen Hahn46 und Straflmann annahmen, dai3 sie aufgrund sukzes- siven Kernabbaus unter Alphastrahlung in folgendem ProzeB entstanden seien : 238U(n, a) -+ 235Th 2 231Ra. Diesen drei Isomeren-Reihen wurde dann nach weiteren Versuchen eine vierte hinzugefugt.

Der Curie-Savit-Korper erwies sich also als hochst komplexes Mischgebilde. Aber die theoretische Grundlage rnit der Annahme eines sukzessiven, zweifachen Alphazerfalls ausgerechnet nach Bestrahlung mit thermischen Neutronen, die eigentlich einen Reso- nanzprozei3 hatten auslosen mussen, war hochst unbefriedigend. Lise Meitner hatte des- halb in ihrem Brief vom 4. November angeregt, nochmals zu priifen, ob es sich bei der fraglichen Substanz nicht doch um eine Mischung einiger der von ihnen gemeinsam auf- gefundenen ,Transurane' handele. Dies konnte nach Hahns Ruckkehr aus Wien von Strai3mann experimentell ausgeschlossen werden. Hahn war dann am 13. November zu einem Vortrag in Kopenhagen gewesen und hatte dort nochmals mit Lise Meitner, die damals ebenfalls fur eine Woche am Bohrschen Institut weilte4', mit Otto Robert Frisch und insbesondere mit Niels Bohr die Moglichkeit eines solchen Prozesses diskutiert 48.

Alle drei sprachen sich dagegen aus, hatten aber anstelle der zu erwartenden Transurane keine anderen Vorschlage zu unterbreiten. Die ,isomeren Radium-Reihen' bedurften also einer erneuten griindlichen Priifung, was nur auf chemischem Wege erfolgen konnte.

Am 26. November fragte Meitner, die langere Zeit nichts von den Ergebnissen gehort hatte, an:

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Was macht die Arbeit iiber die drei Radiumreihen? Habt Ihr was weiteres; gibt es ein nachweisbares Thori- um vor [Kernabbau nach Alphazerfall des Urans] oder nach den drei Reihen [Kernaufbau nach Betazerfall des Aktiniums, was wiederum vorher entstandenes Radium voraussetzte]?

Hahn wui3te vorerst keine neuen Ergebnisse mitzuteilen. Doch scheint ein am 25. No- vember durchgefiihrter Versuch einen ersten Fingerzeig in die einzuschlagende Richtung zu geben; denn Strai3mann iiberschrieb seine labor no ti^^^ mit den Worten: ,,Weitere Versuche iiber die Mischkristallbildung des ,Ra' mit Ba-Salzen und Suche nach Folgepro- dukten aus Ac-La-Niederschlag". Hier signalisiert namlich das in Anfiihrungsstriche ge- setzte Ra[dium] zumindest Skepsis gegeniiber der bis dahin bestehenden Deutung. Wurde Skepsis am Radium geiibt, so konnte an seine Stelle aufgrund der chemischen Operatio- nen aber nur Barium treten.

Vom 6. bis 9. Dezember wurden von Strai3mann weitere Versuche zur Aufklarung der langlebigen Nuklide des vermeintlichen Radiums durchgefiihrt Dazu wurden von ihm altere Bariumchlorid-Pfipamte mit frisch aus bestrahlter Uranlosung gewonnenem Barium- bromid, das ebenfalls von ,Transuranen' und vermeintlichem Aktinium gereinigt worden war, iiber Bariumkarbonat zu Bariumbromid vereinigt und die Gesamtbariummenge mehr- fach fraktioniert gefallt und kristallisiert, um die einzelnen ,Radium'-Isotope besser von ein- ander und von vermeintlich inaktivem Barium zu trennen. Zur Uberraschung stellte sich dann aber bei den Messungen, die sich bis zum 16. Dezember hinzogen, heraus, dai3 die Ak- tivitat ,,gleichmai3ig auf alle Bariumfraktionen verteilt" blieb. Das war um so iiberraschen- der, als nach einem Vorschlag StraBmanns mit dem Bariumbromid die erwahnte Anreiche- rung des ,Radiums' angestrebt worden war. Auch jetzt ergaben die Fallungen nicht die vom Radium her bekannten Anreicherungen. Da die Betastrahlung relativ ,,weich" war, also eine geringe Reichweite hatte, mui3te namlich angenommen werden, dai3 die relativ dicken Bari- umchloridschichten durch Selbstabsorption bereits den groi3ten Teil der Strahlung ge- schluckt hatten, weshalb das Barium angereichert werden sollte. Im Mischkristall des Bro- mids ist das Verhaltnis von Radium zu Barium namlich 1 : 6, wahrend es beim Chlorid nur 1,8: 1 betriigt. Doch auch die mehr als dreimal so groi3e Menge des ,,kiinstlichen Radiums" verhielt sich immer noch andkrs als natiirliches Radium.

Nun hatte es natiirlich sein konnen, dai3 die nur wenigen Atome, die aufgrund der schwachen Strahlenquellen erzeugt werden konnten, sich anders verhielten als wagbare Mengen des Radiums. Hahn machte deshalb in seinem eigenen Labor im ersten Stock des Instituts, wo mit starken Aktivitaten gearbeitet wurde, gemeinsam mit Gerhard Ra- doch einen Kontrollversuch, indem er ,,naturliches Radium" (in Form der von ihm ent- deckten und Thorium X und Mesothor genannten Radiumisotope 224 und 228) im sel- ben Mafle verdiinnte und dann fraktioniert kristallisierte 51. Hier verhielten sich die we- nigen Atome aber genauso wie wagbare Mengen. An der Quantitat konnte es also nicht gelegen haben ; die schwachen Priiparate verhielten sich namlich ebenso wie die starken.

Im Laufe der Woche zwischen dem 13. und dem 16. Dezember war damit klar gewor- den, dai3 in diesem Falle tatsachlich etwas Ungewohnliches vorliegen m d t e , dai3 die er- zeugten kiinstlichen ,Radium'-Isotope sich nicht nur wie Barium (und nicht wie Radium) verhielten, sondern Barium waren, weil sie sich nicht durch Fraktionieren vom inaktiven Barium als T~gersubstanz trennen liei3en. Am Mittag des 15. Dezember schrieb so auch die Laborantin Irmgard Bohne in das Protokollheft: ,,Priifung auf La aus 16 Min Ra", statt : ,Aktinium aus 16-Minuten-Radium'. Das geschah mit voller Absicht ; denn auch die Chemikerin Clara Lieber, die in dieser Zeit bei den Messungen aushalf, wenn mehrere Versuche parallel abliefen, schrieb iiber die Messungen, mit denen sie in diesem Falle be-

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gann: ,,La aus Ra", und das Lanthan wurde auch von Hahn selbst bei der nachtriiglichen Auswertung wiederholt. Lanthan hatte aber naiirlich nur aus aktivem Barium, nicht da- gegen aus Radium entstanden sein konnen.

Zum Beweis dieses Schlusses war aber noch ein direkter Vergleich des Verhaltens von ,,echtem", naturlichem Radium und vermeintlich aus dem Uran entstandenem ,,kiinstli- chern" notig. Dieser sogenannte Indikatorversuch wurde am Freitagabend, dem 16., ange- setzt. Hahn schilderte ihn Lise Meitner in seinem Brief vom 19. Dezember52:

Zwischendurch arbeite ich, soweit ich dazu komme, und arbeitet StraRmann une;mudlich an den Urankor- pern, unterstutzt von Licber und Bohne. Es ist jetzt gleich 11 Uhr abends; um 1/4 12 will StraRmann wieder- kommen, so daR ich nach Hause kann allmahlich. Es ist namlich etwas bei den ,Radium-Isotopen', was so merkwiirdig ist, daR wires vorerst nur Dir sagen. Die Halbwertszeiten der drei Isotope sind recht genau sicher- gestellt; sie lassen sich von ullm Elementen auger Barium trennen; alle Reaktionen stirnmen. N u r eine nicht [. , .]: Die Fraktionierung funktioniert nicht. Unsere Ra-Isotope verhalten sich wie Bu. Wir kriegen keine ein- deutige Anreicherung mit BaBr, oder Chromat etc. Nun habe ich vorige Woche im 1. Stock T h X [= Ra 2241 fraktioniert; das ging genau wie es sollte. Dann haben StraRmann und ich am Samstag [den 17.1 eines unserer ,Ra'-Isotope mit Msth 1 [= Ra 2281 als Indikator fraktioniert. Das Mesothor wurde programmagig angerei- chert, unser Ra nicht. Es konnte noch ein hochst merkwiirdiger Zufall vorliegen. Aber immer mehr kommen wir zu dem schrecklichen SchluR: Unsere Ra-Isotope verhalten sich nicht wie Ra, sondern wie Ba ...

Bei diesem entscheidenden Versuch liei3 Hahn es sich dann auch nicht nehmen, die Ver- suchsbeschreibung wenigstens in groben Zugen nachtriiglich selbst in das Protokollheft ein~utragen'~. Die chemischen Operationen waren nach Absprache mit Hahn von Strai3mann durchgefiihrt worden, und Hahn konnte sich auch erst am 17. Dezember ab mittags an den Messungen beteiligen, weil er den Vormittag unter anderem zur Regelung von Angelegenheiten Lise Meitners auf dem Finanzamt hatte zubringen miissen 54.

Am Ende der Messungen ergab sich, dai3 das Ra 228, das Mesothor, sich im Bariumbro- mid im richtigen Verhaltnis von 6: 1 angereichert hatte, wahrend das angebliche ,Radium' nur ein Verhaltnis von etwa 1,2: 1 aufwies55. Letzteres war also kein Radium, sondern radioaktives Barium (chemisch identisch mit dern inaktiven Barium, das als Triigersub- stanz eingesetzt worden war), wie es bis dahin unbekannt gewesen war.

Die Arbeit mit dem Nachweis des Bariums im zweiten Teil wurde am 22. Dezember, dem ersten Tag der Instituts-Weihnachtsferien, von Hahn und Strafimann abgeschlossen und noch am selben Abend Paul Rosbaud fur Die Naturwissenschafen iibergeben56 (der ihn sofort fur einen anderen Beitrag einschob). Lise Meitner erhielt einen Durchschlag des Manuskriptes am 30. Dezember. Hahn hatte ihr allerdings zwischenzeitlich am 28. geschrieben, daf3 er nach der Absendung der Korrektur noch telefonisch eine Erganzung durchgegeben habe mit Uberlegungen zum zweiten Bruchstiick neben dem Barium. In dem Brief heii3t es ent~prechend~':

Ich will Dir noch einiges iiber meine Ba-Phantasie etc. schreiben [.. .]. Ich habe noch ein paar Anderungen vorgenommen: vor allem in einer Anmerkung darauf hingewiesen, daR die Trans-Urane nicht etwa Re, Os, Ir, Pt sein konnen. L n d nun kommt meine neue Phantasie. Wir haben ntcht bewiesen, daR die Transurane nicht Ma, Ru, Rh, Pd sind. Wenigstens weit3 ich personlich so wenig iiber diese Korper, daR ich sie chemisch nicht ausschlieRen kann. (StraRmann ist verreist.) Ware es moglich, dai3 das Uran 239 zerplatzt in ein Ba [56] und ein Ma [43]? Ein Ba 138 und ein Ma 101 ergabe 239 [. . .]. hilit den Ordnungszahlen klappt die Geschichte nicht . . .

Hahn fiihlte sich also zwar bei dieser Erganzung ohne die Auskunfte des Analytikers unsicher, erlag jedoch der Verfiihrung, die niederen Homologe von Rhenium, Osmium, Iridium und Platin, namlich ,Masurium' (das spatere Technetium), Ruthenium, Rhodium und Palladium, anstelle der vermeintlich chemisch als Transurane nachgewiesenen hohe- ren Homologe anzunehmen, da die Summe der Massenzahlen damit in etwa iiberein- stimmte. Meitner und Frisch, die die Feiertage gemeinsam in Kungalv nahe Goteborg ver-

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brachten (weshalb die Durchschrift von Stockholm aus, wohin Hahn sie noch adressiert hatte, nachgeschickt werden muBte), hatten aufgrund der Angaben im Manuskript dann aber schnell erkannt, dai3 allein die Ordnungszahlen, die ja der Ladung eines Atomkerns entsprechen, infrage kamen. Sie gingen vom Tropfchenmodell aus und kamen zu der noch heute anerkannten theoretischen Erklarung, die Lise Meitner bereits in ihrem Brief vom 1. Januar 1939 andeutete. Diese Lijsung sprach aber gegen die Annahme Hahns, der- zufolge die bis dahin scheinbar nachgewiesenen Transurane die zweiten Bruchstucke seien. Sie schrieb deshalb:

Ubrigens bin ich noch keineswegs iiberzeugt, dai3 die Transurane schon erledigt sind. Und ich bin naturlich sehr gespannt, was StraRmann meint, und hoffe, Du schreibst gleich

- wenn er zuriick ist. Und tatsachlich mui3te Hahn in seinem Brief vom 5. Januar bedau- ernd feststellen :

. . . alles ist durchaus noch nicht so klar, wie ich es mir gedacht hatte, aber der Gedanke mit dem Ma und I'd schien mir so naheliegend, dai3 ich ihn noch der Redaktion durchtelefoniert hatte [...I. S t d m a n n , der heute zuriickkam, war entschieden bedenklicher, denn er machte mich darauf aufmerksam, daR auch das Ru- thenium, nicht nur das Os, bei tiefer Temperatur fluchtig ist, unser ,EkaOs' daher fliichtig aus Gsungen hatte sein sollen [wenn es Ruthenium gewesen ware], was wir niemals fanden ...

Der sonst so vorsichtige und zuriickhaltende Hahn hatte sich also ausgerechnet in die- sem entscheidenden Punkt durch seine Voreiligkeit zu einem Fehler verleiten lassen - was aber wiederum zeigt, dai3 die Entdeckung der Kernspaltung und die Versuche, die dorthin fuhrten, tatsachlich auf einer Gemeinschaftsarbeit aller drei Beteiligten beruhten. So wurde denn auch das letzte Steinchen von Lise Meitner nachgeliefert.

Ihre gemeinsam mit Frisch erarbeitete theoretische Erklarung lernten die in Berlin Zu- riickgebliebenen allerdings erst am 24. Januar durch Ubersendung des Durchschlages ih- res Manuskriptes kennen, das sie am 16. der Nuture eingereicht hatten (und dessen An- nahme sie abgewartet hatten) 58. Sie schlossen aufgrund energetischer Betrachtungen auf Krypton als das zweite Spaltprodukt. Hahn und Strai3mann suchten daraufhin, dieses Edelgas in den Uranprodukten nachzuweisen. Da Edelgase jedoch keine chemischen Bin- dungen eingehen, konnte dazu nicht das ubliche Verfahren mit T~gersubstanzen ange- wendet werden ; Strai3mann erdachte vielmehr einen sogenannten Uberleitversuch, bei dem das radioaktive Edelgas mittels eines Luftstroms durch ein mit Watte oder Aktivkoh- le gefulltes Rohr gesogen wird, in denen sich die aus den betastrahlenden Edelgas-Isotopen entstandenen Strontium- und Caesium-Isotope absetzen. Der Nachweis erfolgte also indi- rekt durch den Nachweis der festen Folgeprodukte der radioaktiven Edelgase. - Damit war die Kernspaltung endgultig bestatigt.

6 Schluflbemerkung

Die Vorgange, die dorthin fuhrten, zeigen, dai3 die Kernspaltung in dieser Phase der Ge- schichte der Naturwissenschaften wohl nur von unvoreingenommenen und kritischen Chemikern entdeckt werden konnte, und auch das nur unter ganz bestimmten inner- und auflerwissenschaftlichen Voraussetzungen; andererseits ergab sich aber auch, dai3 es dann der theoretischen Physik bedurfte, um den experimentellen Befund der Chemiker richtig deuten zu konnen. h ider war aber das dafur ideale interdisziplinare Team kurz vor Ein- leitung der letzten Phase durch den Weggang der Kernphysikerin auseinandergebrochen und konnte nur unter Verzogerungen durch brieflichen Kontakt aufrecht erhalten wer- den. Es hatte naturlich auch sein konnen, dai3 die Physikerin die irrige theoretische Uber-

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legung von Straamann, die auf das Radium fuhrte, aus dem sich spater das Barium ergab, von vornherein abgelehnt hatte oder dai3 sie zumindest den Nachweis der postulierten Alphastrahlung fur diesen ungewohnlichen Fall einer Verletzung der empirisch abgesi- cherten Regel fur das Entstehen von Resonanzprozessen abgewartet hatte, wozu die Che- miker keine Gelegenheit gehabt hatten. Dann ware ihr Weggang sogar eine weitere Vor- aussetzung dafur gewesen, dai3 dieser Irrweg, der zur Entdeckung der Kernspaltung fiihr- te, iiberhaupt beschritten wurde - wobei sie dann allerdings den Verlauf dieses Weges mit ihrer Kritik weitgehend und entscheidend mitgepr'dgt hat.

Wie dem auch sei, das Beispiel der Entdeckungsgeschichte der Kernspaltung lafit erken- nen, wie komplex die historischen Vorgange selbst innerhalb der modernen experimentel- len Naturwissenschaften sind und dai3 ihr Fortgang von so vielen inner-, aber auch aui3er- wissenschaftlichen ,Priisentabilien' abhangt, dai3 diese meist nur noch in einem Team von Vertretern verschiedener Disziplinen (die sich zudem gegenseitig verstehen miissen) inno- vativ zusammenwirken konnen. Das sollte hier jedenfalls andeutungsweise aus Anlaa der funfzigjahrigen Wiederkehr eines naturwissenschaftlichen Ereignisses gezeigt werden, welches das Leben auf der Erde grundlegend vesnderte.

1 Siehe M. von Laue/O. Hahn/F. StraRmann: Erinnerungen an die Entdeckung der Uranspaltung. illitfez- lungen uus der Max-Plunck-Gesellscl7u~ 1957, 8-18. - Der Text stammt von Waldemar Broser. Hahn hatte dieser Tafel nur unter der Bedingung zugestimmt, daR sie innerhalb des Gebaudes angehracht wiirde und dort bis nach seinem Tode verhliebe ( S t r a h a n n war nicht konsultiert worden). Sie befindet sich heute auRen am Rundturm. Siehe auch D. Hahn (Hrsg.): Ot to Hahn, Begriinder des Atomzeitalters. Miinchen 1979, S. 273.

2 Vgl. etwa Fritz StraRmanns Schreiben an Ernst Briiche, der am 17.11.1960 die Unterzeichner gefragt hatte, wie sie zu den Zentralsarzen der drei Jahre zuriickliegenden ,,Erklarung der Gottingern 18" stiinden (sie- he: Gottinger Erklarung heme. Bericht iiber die Einstellung der Gottinger Physiker Anfang 1961. Pbysiku- liscbe Bli'tter 17/1961,263-269; her S. 268f.) : ,,Eine Erweiterung unserer Kenntnisse und unseres Konnens ist weder bedenklich noch zu verurteilen. Einer negativen Bewertung unterliegt doch erst die Art der An- wendung neuer Kenntnisse durch uns oder andere. Es ist crfahrungsgemafl sicher, dafi ,andere', z. B. Politi- ker, in der Regel nicht imstande sind und auch nicht sein konnen, aufgrund eigener kritischer Erkenntnis- se die Auswirkung einer derartigen Anwendung zu heurteilen. Als Mitglied eines demokratischen Staates trifft<,also die Fachleute nur eine Schuld, wenn sie ihre hegriindete Ansicht nicht mit allem Nachdruck der Offentlichkeit zur Kenntnis bringen. Da die Schulung ihres Denkens kaum vor derjenigen der Politi- ker zuriicksteht und sie ja zur geistigen Fuhrungsschicht gerechnet werden wollen, so scheint mir ihr Mit- spracherecht und ihre Mitsprachepflicht selbstverstandlich" ; nochmals wiederholt in F. Strafimann: Kern- spaltung - Berlin, Dezember 1938. Mainz (Privatdruck) 1978, s. 34; siehe auch don s. 40: ,,In primitiven Kulturen wird ein Ast benutzt, um Furchen in den Acker zu ziehen: das Korn wird eingesat. Der Ast kann auch als Waffe benutzt werden, um den Gegner zu erschlagen. Es ist der Mensch, der das eine oder das andere tut. Warum aber Resignation? Menschen erziehen!" - 0. Hahn: Forschung und Technik - Freiheit und Verantwortlichkeit. In: D. Hahn (Hrsg.) : Erlebnisse und Erkenntnisse. Diisseldorf/Wien 1975, S. 189-198. Der Annahme, dafi Hahn, als ihm wahrend der Internierung am 6 . August 1945 von der zerstorenden Wirkung der ersten Atombombe auf Hiroshima berichtet wurde, aus Schuldempfinden an Selhstmord gedacht hatte (nahegelegt auch durch 0. Hahn: Mein Lehen. Miinchen 1968, S. 173f.), hat er selbsr in einem Brief an Robert Jungk vom 26.11.1956 entschieden widersprochen; vgl. auch L. Badash (wie Anm. 3), S. 180, Anm. 39 zur anderslautenden Vermutung im Text von S. 175. Hahns Tagebuchauf- zeichnung vom 6 . August isr ahgedruckt bei E .H. Berninger: Otto Hahn in Selhstzeugnissen und Bilddo- kumenten. (rowohlts monographien, 204) Reinbek bei Hamburg 1974, S. 89f.

3 Schon in seiner Nobelrede hatte Hahn Ende 1946, noch unter dem Schock der Bomben auf Hiroshima und Nagasaki, vor einer weiteren militarischen Verwendung der Atomenergie gewarnt, und in den folgen- den Jahren hat er immer wieder durch Veroffentlichungen, Reden und Gespxiiche in dieser Richtung zu wirken versucht. In der Eroffnungsrede zur Hauptversammlung der Max-Planck-Gesellschaft des Jahres 1954 richtete er in diesem Sinne einen Appell an die im Auditorium versammelten hochsten Reprasentan- ten der Wissenschaft und der Politik der Bundesrepublik Deutschland. Wahrend Werner Heisenberg im

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selben Jahr auf Drangen des damaligen Bundeskanzlers Konrad Adenauer einen Rundfunkvortrag uber Nutzungsmoglichkeiten der Kernenergie abgesagt hatte, weil die Bundesregierung Unruhen wahrend der Debatten urn die Ratifizierung des Vertrages iiber die Europaische Verteidigungsgemeinschaft befiirchtete, hatte Hahn im Zusammenhang mit der damaligen Diskussion um eine mogliche ,,Kobaltbombe" einen Aufsatz mit dem Titel Cobuld 60 - Angst oder Hoffnung kursieren lassen, der durch Vermittlung des Nie- dersachsischen Ministerpdsidenten Hinrich Kopf unter Abanderung des Programms am Sonntag, dem 14. Februar 1955, im friihen Abendprogramm als Rundfunkvortrag iiber die deutschen, danischen und norwegischen Sender ausgestrahlt wurde - wenig spater sendete die BBC auch eine englische Fassung. Auf Hahns Initiative ging dann auch die Mainauer Erklarung der Nobelpreistdger vom 15. Juli 1955 zuriick, der sich insgesamt 51 Preistriiger aus aller Welt anschlossen, sowie die Gottinger Erklarung der 18 Atom- wissenschaftler vom 12. April 1957 gegen die atomare Aufriistung der im Aufbau begriffenen Bundeswehr, die zu harten Auseinandersetzungen mit Konrad Adenauer und dem damaligen Verteidigungsminister Franz Josef StrauR fuhrte; vgl. die Dokurnente bei D. Hahn (wie Anni. I), S. 275-282, und 0. Hahn in: D. Hahn (wie Anm. 2), S. 275-282. Zur Gottinger Erklarung siehe insgesamt : Pbysikalische Blutter 13 (1957), 193f.; 17 (1961), 263-269; 23 (1967), 174f.; insgesamt siehe auch L. Badash: Otto Hahn, Science, and Social Responsibility. In: W.R. Shea (wie Anm. 4), S. 167-180; zu F. StraRmann Anm. 2.

4 Zum Begriff und zu Inhalt des ,Historischen Erfahrungsraumes' und seiner J'rasentabilien' siehe jetzt F. Krafft (a): Das Selbstverstandnis der Physik im Wandel der Zeit. Vorlesungen zum Historischen Erfah- rungsraum physikalischen Erkennens. (taschentext) Weinheim 1982; sowie denselben (b): Das abendlandi- sche Wissenschaftsverstandnis in seiner kulturellen Bedingtheit. In: Wissenschaft im Spannungsfeld zwi- schen den Kulturen. Beitrage von Fritz Krafft, Mark Munzel, Thomas Schweizer, Hans Waldenfels, Walter J. Hollenweger und Jinosz Riesz. (Schriften der Universitat Bayreuth, Nr. 1) Bayreuth 1987, S. 7-38; vgl. auch denselben (c) : Innovationsschube durch AuRenseiter : Das Beispiel des Amateur-Astronomen William Herschel. Berichte zur Wissenschufsgeschichte 9 (1986), 201-225 (dort S. 221, Anrn. 1 zur Vorgeschichte die- ses Konzepts). - Speziell zum ,Historischen Erfahrungsraum' der Entdeckung der Kernspaltung siehe be- reits F. Krafft (d): Internal and External Conditions for the Discovery of Nuclear Fission by the Berlin Team. In: W.R. Shea (Ed.): Otto Hahn and the Rise of Nuclear Physics. Symposium Held at McGill Uni- versity Montreal, September 20-21, 1979. (The University of Western Ontario Series in Philosophy of Science, Vol. 22) Dordrecht usw. 1983, S. 135- 165, und denselben (e): Der ,Historische Erfahrungsraum' der Entdeckung der Kernspaltung. In: P. Dilg u. a. (Hrsgg.): Perspektiven der Pharmaziegeschichte. Fest- schrift fur Rudolf Schmitz zum 65. Geburtstag. Graz 1983, S. 209-224, sowie das Kapitel5 (,,Cherniker losen ein physikalisches Problem : Zur Geschichte der Entdeckung der Kernspaltung") in F. Krafft (wie Anm. 4/a), S. 173-210 (diesen Beitrag legt der folgende Vortrag zugrunde).

5 Der Briefwechsel Hahn/Meitner des Jahres 1938 ist, wenn auch luckenhaft, abgedruckt bei D. Hahn (wie Anm. 2); Erganzungen und nach den Originalen korrigierter Wiederabdruck, soweit die Briefe in das Um- feld der wissenschaftlichen Arbeiten gehoren, bei F. Krafft: Im Schatten der Sensation. Leben und Wirken von Fritz StraQmann, dargestellt nach Dokumenten und Aufzeichnungen. Weinheim usw. 1981 (grogten- teils gemeinsam mit den Laboraufzeichnungen, Publikationen und anderen Dokumenten chronologisch angeordnet, so daR die Ereignisse, die zur Entdeckung der Kernspaltung fuhrten, Schritt fur Schritt nach- vollzogen werden konnen).

6 Von Dirk Coster war die Moglichkeit einer illegalen Einreise nach Holland arrangiert worden, von wo sie dann einige Tage spater nach Goteborg und Stockholm weiterreiste, wo ihr von Peter Debye, Carl Bosch, Niels Bohr und anderen Kollegen die Anstellung am Nobel-Institut Manne Siegbahns vermittelt worden war. Coster war personlich nach Berlin gekommen, urn Lise Meitner abzuholen und zu begleiten. Die von 0. Hahn se ts genannten Daren der Ankunft Costers und der gemeinsamen Abreise (16./17. Juli 1938) konnen kaum stimmen, da er bereits am 15. Juli mit einem verschliisselten KartengruR an die Farni- lie Coster die telegraphische Nachricht von der gliicklichen Ankunft bestatigte; eine weitere Karte folgte am 16. Juli - vgl. F, Krafft: Lise Meitner und ihre Zeit. Zum hundertsten Geburtstag der groflen Natur- wissenschaftlerin. Angewandte Chemie 90 (1978), 876-892 (englische Fassung in: Angewundte Chemie, In- ternational Edition in English 17/1978, 826-842), hier S. 886; die naheren Umstande sind auch dargelegt bei F. Krafft (wie Anm. 5), speziell S. 171-177. Siehe auch 0 . Hahn (wie Anm. 2), S. 1491.

7 Zitiert nach dem Mitschnitt in der Fernsehdokumentation von A. Wischnewski: Geboren in Boppard . . . Fritz StraRmann. Erstsendung Siidwestfunk, 3. Programm, 1. November 1977.

8 Enrico Fermi: Possible Production of Elements of Atomic Number Higher than 92. Nature 133 (1934), 898 f. ; E. Fermi/E. Amaldi/O. D'Agostino/F. Rasetti/E. Segre : Artificial Radioactivity Produced by Neu- tron Bombardement. Proceedings of the Royal Society of London 146 (1934), 483-500. Die zuerst genannte Notiz ist wiederabgedruckt bei H. Wohlfahrt (Hrsg.): 40 Jahre Kernspaltung. Eine Einfuhrung in die Ori-

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ginalliteratur. Darmstadt 1979, S. 55-58. Zur Fermi-Gruppe generell siehe E. Segrk (a): Enrico Fermi, Phy- sicist. Chicago/London 1970; denselben (b): Nuclear Physics in Rome. In: R.H. Stuewer (Ed.): Nuclear Physics in Retrospect. Proceedings of a Symposium on the 1930s. Minneapolis 1977, S. 33-62; E. Amaldi: Personal Notes on Neutron Work in Rome in the 30s and Post-War Energy Collaboration in High-Energy Physics. In: Ch. Weiner (wie Anm. 17), S. 294-351. - Zu den Pariser Arbeitsgruppen siehe M. Gold- smith: FrCdCric Joliot-Curie. A Biography. London/Atlantic Highlands, N. J. 1976; S.R. Weart: Scientist in Power. Cambridge, Mass. 1979.

9 Zu Lise Meitner siehe F. Herneck: Zum wissenschaftlichen Wirken von Otto Hahn und Lise Meitner im Chemischen Institut der Berliner Universitat. Wissenscbuftlicbe Zeitscbrift der Humboldt-Universitut zu Be? lin, Mutbematiscb-Nuturriss. Reibe 16 (1967), 833-837; O.R. Frisch: Lise Meitner, 1878-1968, Elected For. Mem. R.S. 1955. Biographical Memoirs ofFellows of the Royal Society 6 (1970), 405-420; F. Krafft (wie Anm. 6) und (wie Anm. 5), speziell S. 165-168; Charlotte Kerner: Lise, Atomphysikerin. Die Lebensge- schichte der Lise Meitner. Weinheim/Basel 1986; sowie die in Anm. 18 und 19 genannte Literatur.

10 Vgl. L. Meitners Brief an Max von Laue vom 4.9.1941: ,,DaR wir nach so langer Zeit wieder gemeinsam gearbeitet haben, lag daran, dafl mich die Fermischen Untersuchungen brennend interessiert haben und es mir zugleich klar war, daR man mit Physik allein auf diesem Gebiet nicht weiterkommen konnte. Es rnuflte ein so ausgezeichneter Chemiker wie Ot to mithelfen, wenn KS Erfolg haben sollte. Ich habe mehrere Wochen gebraucht, bis ich Ot to dafur interessiert hatte; er wird es Ihnen gern bestatigen, dai3 es sich so verhalt . . ." (zitiert nach K.E. BoeterdJ. Lemnierich: Gedachtnisausstellung zum 100. Geburtstag von Al- bert Einstein, Otto Hahn, Max von Laue, Lise Meitner in der Staatsbibliothek Preuflischer Kulturbesitz, Berlin, vom 1. Marz-12. April 1979 ... Katalog. Bad Honnef 1979, S. 116.

11 Strafimann hatte mit (nicht erhaltenem) Schreiben vom 9.10.1933 seinen Austritt aus dem Krein Deut- scber Cbemikev e. V erklart, der dies am 18.10. bestatigte: ,,Wir bestatigen den Eingang Ihrer Austrittser- klarung, glauben aber, Sie auf folgendes aufmerksam machen zu miissen: Innerhalb seines Aufgabenkreises ist der Verein als geeignete Berufsorganisation aller deutscher Chemiker anerkannt worden. Aus Ihrer Aus- trittserklarung geht jedoch hervor, daR Sie die fur Sie zustandige und allein anerkannte Berufsorganisation - und da Sie Angestellter sind, auch die Arbeitsfront ablehnen. Wir werden daher einen entsprechenden Vermerk auf Ihrer Karteikarte vornehmen. Sollten Sie nach reiflicher Uberlegung jedoch das Verbleiben im Verein fur zweckmaflig halten, so werden Sie gebeten, bis spatestens 1. Dezember Ihre Austrittserkla- rung zuriickzuziehen." Straflmann antwortete am 18.11., daR er arbeitslos und als ehemaliger Stipendiat auch ohne Erwerbslosenunterstiitzung sei, seitdem das Stipendium im Oktober 1932 nicht erneuert wor- den sei: ,,Die in Ihrem Schreiben aufgestellte Behauptung, dai3 ich Angestellter bin und als solcher die zu- standige und allein anerkannte Berufsorganisation und die Arbeitsfront ablehne, mu& ich daher als reich- lich unbegriindet zuriickweisen. Im iibrigen wiirde es mich sehr interessieren zu erfahren, ob dieser Satz in Verbindung mit dem folgenden : ,Wir werden daher einen entsprechenden Vermerk auf Ihrer Karteikarte vornehmen', d a m dienen solltc, meinen Entschlui3 in einer bestimmten Richtung zu beeinflussen." Dazu gehorte auch damals schon einiger Mut.

12 Siehe F. Krafft (wie Anm. 5), S. 172-177. 13 Siehe oben Anm. 6. 14 Siehe E. Fischer/E. Beckmann: Das Kaiser-Wilhelm-Institut fur Chemie in Berlin-Dahlem. Braunschweig

1913 ; L. Burchardt : Wissenschaftspolitik im Wilhelminischen Deutschland. Vorgeschichte, Griindung und Aufbau der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Forderung der Wissenschaften. (Studien zur Naturwis- senschaft, Technik und Wirtschaft im 19. Jahrhundert, Bd 1) Gottingen 1975.

15 Was sich fur diesen Zusammenhang als verhangnisvoll erwiesen hatte, hatte aber immerhin die Zufallsent- deckung der Bremsung (,,Verstarkung", wie man damals sagte) der Neutronen zu sog. thermischen Neu- tronen durch Substanzen wie Paraffin ermoglicht; vgl. Anm. 30.

16 Vgl. auch Anm. 15. 17 Zu den innerwissenschaftlichen ,Pl;dsentabilien' der damaligen Physik siehe insbesondere E. G. Segrk: Die

groflen Physiker und ihre Entdeckungen. Von den Rontgenstrahlen zu den Quarks. Miinchen/Ziirich 1981 (urspriinglich italienisch, Mailand 1976); R.H. Stuewer (wie Anm.8); A. Hermann: Die Jahrhun- dertwissenschaft. Werner Heisenberg und die Physik seiner Zeit. Stuttgart 1977; B. M. Kedrow (Hrsg.): Das Neutron. Eine Artikelsammlung. (Wissenschaftliche Taschenbucher, Texte und Studien 214) Berlin (DDR) 1979 (urspriinglich russisch, Moskau 1975); E.N. Jenkins: Radioactivity. A Science in Its Historical and Social Context. (The Wykeham Science Series) London 21979; Ch. Weiner (Ed.): Storia d e b fisica del XX secolo / History of Twentieth Century Physics. Rendiconti d e k Scuola Internazionale di Fisica ,,Enrico Fermi". LVII Corso, Varenna sul Lago di Como, Villa Monastero, 31 Juglio-12 Agosto 1972. NKW York/London 1977; M.A. Augusto/W.R. Shea (Eds.): Rutherford and Physics at the Turn of the Century.

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Kent und New York 1979; L.M. Brown/L. Hoddeson (Eds.): The Birth of Particle Physics. Proceedings of the Symposium on History of Elementary Particles 1980. New York 1983.

18 Siehe neben der in Anm. 2 genannten Autobiographie besonders 0. Hahn: Vom Radiothor zur Uranspal- tung. Braunschweig 1962; D. Hahn (wie Anm. 1 und 2); E.H. Berninger (wie Anm. 2); Walther Gerlach: Otto Hahn 1879-1968. Ein Forscherleben unserer Zeit [urspriinglich 19691. Erganzt und hrsg. von D. Hahn. (GroRe Naturforscher, Bd 45) Stuttgart 1984; W. Stolz: Otto Hahn/Lise Meitner. (Biographien hervorragender Naturwissenschaftler, Techniker und Mediziner, Bd 64) Leipzig 1983 ; F. Krafft : Otto Hahn 1879-1968. In: L. Gall (Hrsg.): Die gro8en Deutschen unserer Epoche. Berlin 1985, S. 173-185.

19 Erst aufgrund der neuerdings wiederaufgefundenen Korrespondenz Hahn/Meitner aus der Zeit des Ersten Weltkrieges konnte der Anteil L. Meitners an der Entdeckung der Muttersubstanz des Aktiniums voll ge- wiirdigt werden; vgl. R.L. Sime: The Discovery of Protactinium. Journal of Chemical Education 63 (1986), 653-657; F. Krafft : Lise Meitner - Eine Biographie. (Berichte des Hahn-Meitner-Instituts, 448) Berlin 1988. Siehe weiterhin S.A. Watkins: Lise Meitner and the Beta-Ray Energy Controversy: An Historical Perspective. American Journal of Physics 51 (1983), 551-553.

20 Vgl. hierzu neben der in Anm. 17 genannten Literatur besonders N. Feather: Some Episodes of the Alpha- Particle Story, 1903-1977, und Th. J. Trenn (a): Rutherford in the McGill Physical Laboratory. Jeweils in: M. Bunge1W.R. Shea (wie Anm. 17), S. 74-88 bzw. 89-109; Th.J. Trenn (b): Transmutation - Natural and Artificial. London usw. 1981.

21 Vgl. F. Krafft (wie Anm. S), S. 80-86. 22 Vgl. E.H. Berninger: The Discovery of Uranium 2 by Ot to Hahn: The First Example of Nuclear Isome-

rism. In: W.R. Shea (wie Anm. 4), S. 213-220. 23 Siehe N. Bohr/D. Coster: Rontgenspektren und periodisches System der Elernente. Zeitschrift f i r Physik

12 (1922), 342-374; N. Bohr: Drei Aufsatze iiber Spektren und Atombau. Braunschweig 1922, S. 131ff.; Richard Swinne: Das periodische System der chemischen Elemente im Lichte des Atombaus. Zeztschrzji f i r technische Physik 7 (1926), 166-180 und 205-216; Victor Moritz Goldschmidt: Kristallchemie. Fort- schrztte der Minevulogie, Kristullogruphie und Petrogruphie 15 (1931), 73- 146 (hier ist s. 93 f. an ,,Thoriden" gedacht). Vgl. insgesamt auch J. W. van Spronsen: The Periodic System of Chemical Elements. A History of the First Hundred Years. Amsterdam usw. 1969, S. 154-157; ebendort S. 319-322 zur korrekten Einord- nung echter Transurane nach der Entdeckung der Kernspaltung. - F. StraGmann hatte im Zusammenhang mit der Einordnung des ersten echten Transurans an ,,Uraniden" gedacht; vgl. F. StraRmann/O. Hahn: Uber die Isolierung und einige Eigenschaften des Elements 93. Die Nuturwissenschuben 30 (1942), 256-260; F. Krafft (wie Anm. S), S. 96, 129f.

24 Ida Noddack: Uber das Element 93. Angewundre Chemie 47 (1934), 653f. - Sie nimmt hier Bezug auf ihre kurz zuvor ebendort (S. 301-305) erschienene Arbeit ,,Das Periodische System der Elernente und sei- ne Lucken", in der es S. 304f. hi&: ,,Mit den Vorstellungen iiber eine gemeinsame Genesis der Elemente laRt sich ein plotzlicher Abbruch des P.S. beim Uran nicht vereinbaren. Es scheint zwar moglich, da8 die auf Uran folgenden Elemente, die sog. Transurane, mit steigender Ordnungszahl immer kurzlebiger und daher immer seltener werden. Die dicht hinter dem Uran stehenden geradzahligen Elemente 94 und 96 sollten jedoch unseren heutigen Mitteln noch erreichbar sein. Ihrer Entdeckung wird die moglichst genaue Voraussage ihrer Eigenschaften vorangehen miissen, und man darf wohl erwarten, dai3 sich gerade an dieser Stelle des Systems noch einige Uberraschungen ergeben werden." Obige Arbeit ist wiederabgedruckt bei H. Wohlfahrt (wie Anm. 8), S. 60-64; leicht gekiirzt bei F. Krafft (wie Anm. S), S. 314f.

25 Siehe F. Krafft (wie Anm. 5), S. 3 14-322 beziiglich des Anspruchs, als erster an andere als in unrnittelbarer Nahe zum Uran stehende Elemente gedacht zu haben, den I. Noddack unmittelbar nach Bekanntwerden der Ent- deckung der Kernspaltung aufgrund der in Anrn. 24 zuerst genannten Arbeit erhob: Bemerkung zu den Unter- suchungen von 0. Hahn, L. Meitner und F. StraRmann uber die Produkte, die bei der Bestrahlung von Uran mit Neutronen entstehen. Die Nuturzerissenschu~en 27 (1939), 212f. (datiert 10.3., erschienen 31.3.1939). - Zur Nichtbeachtung der auf die neuen Ergebnisse gar nicht eingehenden Anregung trug allenorts die Nichtreprodu- zierbarkeit des von ihr 1925 gemeinsamen mit ihrem Gatten Walter Noddack angeblich neben dem Rhenium rontgenographisch nachgewiesenen Elements 43 (des spateren Technetium, von ihnen Masurium genannt) bei, das erst 1937 durch E. Perrier und E. Segre kiinstlich erzeugt werden konnte; vgl. S. Neufeldt : Chronologie Chemie 1800-1970. Weinheim/New York 1977, S. 179f. Jiingst versucht Peter H.M. van Assche unter Verweis auf das einzige langlebige Isotop 9943, ein Spaltprodukt, eine Ehrenrettung der Noddacks: The Ignored Disco- very of the Element Z = 43. Nuclear Physics A 480 (1988), 205-214.

26 Zur Vor- und Friihgeschichte von Teilchenbeschleunigern siehe M.S. Livingston: Particle Accelerators: A Brief Hi- sto'y. Cambridge, MadLondon 1969; E.M. McMdan: Early History of Particle Accelerators. In: R.H. Stuewer (wie Anm. 8), S. 113-155; E. Segre (wie Anm. 17), S. 231-246: ,,E.O. Lawrence und die Teilchenbeschleuniger".

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27 Neben B.M. Kedrow (wie Anm. 17) und der in Anm. 8 genannten Literatur siehe Eugene I? Wigner: The

28 Neben der in Anm. 8 genannten Literatur siehe besonders E. N. Jenkins (wie Anm. 17) und T. J. Trenn (wie

29 Siehe Anm. 8 und unten. 30 Siehe dazu E. Segri. (wie,+m. 8 4 , S. 79-83 (vgl. auch Anm. 15). 31 0. Hahn/F. S t d m a n n : Uber die Entstehung von Radiumisotopen aus Uran durch Bestrahlen mit schnellen

und verlangsamten Neutronen. Die Natumzssenschaften 26 (1938), 755f. (eingereicht am 8. l l . , erschienen am 18.11.).

32 Siehe Niels Bohr: Neutron Capture and Nuclear Constitution. Nautre 137 (1936), 344-348; Carl Friedrich von Weizsacker : Muere Modellvorstellungen uber den Bau der Atomkerne. Die Natumissenschafim 26 (1938), 209-217 und 225-230.

33 Siehe Anm. 5; vgl. auch S.R. Weart: The Discovery of Fission and a Nuclear Physics Paradigm. In: W.R. Shea (wie Anm. 4), S. 91-133.

34 Vgl. oben zum ,P&entabile' Nr. 4. 35 Erst nach der Entdeckung der Urankernspaltung konnten Hahn und StraRmann nachweisen, dai3 G. von

Droste recht gehabt hatte, weil es sich auch hier nicht um Kernab- und -aufbau handelt, sondern urn Bruch- stucke einer Kernspaltung, also urn die niederen Homologe Barium und Lanthan, und bei der Spaltung des Thoriums keine Alphastrahlung auftritt. - Siehe Gottfried von Droste : Uber Versuche eines Nachweises von aStrahlen wahrend der Bestrahlung von Thorium und Uran mit Radium+Beryllium-Neutronen. &it- schyift fiir Physik 110 (1938), 84-94 (eingegangen am 25.5.1938).

36 H. Braun/P. Preiswerk/I? Scherrer in: Nature 140 (1937), 682: groi3er als 9 MeV. Siehe auch F. Krafft (wie Anm. 5), S. 57f.; S.R. Weart (wie Anm. 33), S. 130, Anm. 27.

37 L. Meitner/F. StraRmandO. Hahn : Kunstliche Umwandlungsprozesse bei Bestrahlung des Thoriums mit Neutronen - Auftreten isomerer Reihen durch Abspaltung von a-Strahlen. Zeitschriftfiir Physik 109 (1938),

38 I. Curie/P. Savitch: Sur les radioClCments formks dans l'uranium irradiC par les neutrons. Le Journal de Physz; que et Le Radium 8 (1937), 385-387.

39 L. Meitner/O. Hahn an I. Curie am 20.1.1938 (Radium-Institut, Paris, Spezialakte Joliot-Curie-Papiere); vgl. auch L. Meitner: Wege und Irrwege zur Kernenergie. Natuiwissenschafiliche Rundschau 16 (1963), 167-169, hier S. 168; sowie ihren Brief vom 24.1.1957 an 0. Hahn, abgedruckt bei F. Krafft (wie Anm. 5), S. 206, Anm. 9.

40 I. Curie/P. Savitch: Sur le radioklkment de pkriode 3,s heures formk dans I'uranium irradib par les neutrons. Comptes Rendus Hebdomadaires des St!ances de lXcad&ie des Sciences 206 (1938), 906-908.

41 I. Curie/I? Savitch: Sur les radioC1Cments form&, dans I'uranium irradik par les neutrons, 11. Le Journal de Phy- sique et Le Radium 9 (1938), 355-359.

42 Siehe F. Krafft (wie Anm. 5), S. 77. 43 F. Strai3mann (wie Anm. 2), S. 17; wiederabgedruckt bei F. Krafft (wie Anm. 5), S. 208. 44 Deutsches Museum, Bibliothek, Sondersammlungen, Zugangs-Nr. 1960- 15. 45 0. Hahn/F. StraRmann (wie Anm. 31). 46 Siehe jedoch Anm. 48. 47 Vgl. die Eintrige vom 13.11. (Hahn) bzw. 10.-17.11. (Meitner) im Gktebuch des Bohrschen Instituts, Niels-

Bohr-Archiv des Niels Bohr Instituter der Universitat Kopenhagen (eine Kopie verdanke ich Erik Rudinger), dam F. Krafft (wie Anm. 5), S. 208, Anm. 17; vgl. auch L. Meitners Brief an 0. Hahn vom 20.11.1938, eben- dort S. 245; 0. Hahn - der stets nur ,,im Herbst 1938" schreibt - bei D. Hahn (wie Anrn. 2), S. 58, 0. Hahn (wie Anm. 2), S. 150f. und 0. Hahn an G. von Droste vom 27.10.1957 bei E Krafft (wie Anrn. 5), S. 106f.

48 Wie seine spateren Berichte nahelegen, scheint er nicht von einem sukzessiven Alphazerfall (uber das Thori- um) gesprochen zu haben, wie StraSmann seinen Uberlegungen zugrundegelegt hatte, sondern von einem ,,doppelten", das heint, dai3 Uran unter Abgabe von zwei Alphateilchen direkt zu Radium umgewandelt wer- de. Wieweit das die Uberlegungen der in Kopenhagen versammelten Theoretischen Physiker eingeengt haben konnte, entzieht sich naturlich einer Nachpriifung. In seinem Brief an L. Meitner vom 10.12.1938 geht er allerdings von einem fur den Nachweis der Alphastrahlung zu kurzlebigen Thorium aus, nach dem sie gar nicht erst gesucht hatten; vgl. F. Krafft (wie Anm. 5), S. 253.

Neutron: The Impact of Its Discovery and Its Use. In: R.H. Stuewer (wie Anm. 8), S. 159-178.

Anm. 20/b).

538-552.

49 Chernie II, S. 40"f., bei F. Krafft (wie Anm. 5), S. 247-249. 50 Chemie 11, S. 63'-71', bei F. Krafft (wie Anm. 5), S. 251-253. 51 Vgl. 0. Hahns Brief an L. Meitner vom 19.12.1938 (siehe unten S. 244), bei F. Krafft (wie Anm. 5), S. 264,

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sowie 0. Hahns Erinnerungen bei D. Hahn (wie Anm. 2), S. 58; vgl. auch 0. Hahn: Die Auffindung der Kernspaltung. In: W. Bothe/S. Flugge (Eds.): Nuclear Physics and Cosmic Rays. (FIAT Review of German Science 1939-1945, Vol. 13, Part 1/2) Wiesbaden 1948, Part 1, S. 171-178, wiederabgedruckt bei H. Wohl- fahrt (wie Anm. 8), S. 304-311, hier S. 307, und besanders Hahns Schilderung in der ARD-Sendung vom 22.12.1958 (3. Programm) ,,Vor zwanzig Jahren: Die Entdeckung der Atomkernspaltung (GespHch Hans Schiemanns mit Prof. Otto Hahn und Prof. Fritz Strahann)", dessen Text abgedruckt ist bei F. Krafft (wie Anm. 5), S. 86f.

52 Siehe Anm. 51. 53 Chemie 11, S. 75": ,,Indikatorversuch Ra 111-Msth I"; siehe F. Krafft (wie Anm. 5), S. 260-264 mit Faksimile

der betreffenden Seiten. 54 Vgl. den entsprechenden Eintrag vom 17.12.1938 in seinem Taschenkalender, als Faksimile bei D. Irving:

Der Traurn von der deutschen Atombombe [1967]. Reinbek bei Hamburg 1969, S. 23 (aufbewahrt im Archiv fur die Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft, jedoch noch unter Sperrfrist).

55 Chemie 11, S. 77' (vgl. Anm. 53). 56 0. Hahn/F. StraBmann: Uber den Nachweis und das Verhalten der bei der Bestrahlung des Urans mittels

Neutronen entstehenden Erdalkalimetalle. Die Nutumzssenschufien 27 (1939), 11- 15 (eingereicht am 22.12.1938, erschienen am 6.1.1939).

57 Siehe F. Krafft (wie Anm. 5), S. 267f. - Das Zweitexemplar der Korrekturfahnen ist im Archiv fur die Ge- schichte der Max-Planck-Gesellschaft unter den Hahn-Papieren erhalten, so dai3 sich die telefonisch durchge- gebenen Anderungen gegenuber dem eingereichten Manuskript aus einem Vergleich mit dem letztendlich er- schienenen Text ergeben; siehe F. Krafft (wie Anm. 5), S. 254f. und 267. Die telefonisch durchgegebene ,,An- merkung" lautet : ,,Was die ,Trans-Urane' anbelangt, so sind diese Elemente ihren niedrigeren Homologen Rhenium, Osmium, Iridium, Platin zwar chemisch verwandt, mit ihnen aber nicht gleich. O b sie etwa mit den noch niedri eren Homologen Masurium, Ruthenium, Rhodium, Palladium c sin^:.^^& _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ iiii ,,,,,,,, noch nicnt geprurt. baran Konnte man fruner la n ich herlien. Die'xmme der M a + Ma; also z.B. 139 + 101, ergibt 239!"

58 L. Meitned0.R. Frisch: Disintegration of Uranium by Neutrons: A New Type of Nuclear Reaction. Nutuve 143 (1939), 239f. (eingereicht am 16. l., erschienen am 11.2.1939).

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Anschrift des Verfassers : Prof. Dr. Fritz Kmfft, Institut fur Geschichte der Pharmazie der Philipps-Universitat, Roter Graben 10, D-3550 Marburg

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