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53 3. Systemtheoretische Grundlagen der betriebswirtschaftlichen Logistik 3.1 Grundlagen der Systemtheorie Unternehmen sind zielsuchende komplexe Systeme. Die Systemfor- schung betrachtet Systeme aus drei Perspektiven: Verhalten (Prozesse), Struktur und Architekturgesetzmäßigkeiten. Die Logistik eines Unternehmens repräsentiert das "Verhalten" bzw. den Unternehmensprozeß, spiegelt sich in der Struktur wider und basiert auf bekannten Architekturprinzipien, wie sie nachfolgend behandelt werden. Obwohl die Wurzeln der Systemforschung bis an den Anfang dieses Jahrhunderts und darüber hinaus reichen und obwohl die Systemforschung zu den wenigen wirklich interdisziplinären Ansätzen zählt, steht sie erst am Anfang ihrer Entwicklung. Die Gegenstände der Systemforschung sind so komplex, daß alleine die zulässige Abgrenzung von Subsystemen Theorie- probleme aufwirft. Als Norbert Wiener im Jahre 1948 sein Buch "Cybernetics" 1 veröffent- lichte, war ein wichtiger Meilenstein in der Systemforschung geschafft wor- den. Norbert Wiener hatte erkannt, daß in verschiedenen Forschungsrichtun- gen, z. B. in der Astronomie, in der Elektrotechnik, im Maschinenbau, in der Statistik, in der Biologie usw. ähnliche Formelzusammenhänge existieren. Es lag nahe, zu untersuchen, ob die Formelzusammenhänge auch ähnliche Phä- nomene und ähnliches Verständnis beschreiben. Da dieser Fall eintrat, war die nächstliegende Frage zu beantworten, wie die entdeckten Zusammenhänge generalisiert werden könnten. Die zu diesem Zeitpunkt bereits existierenden mathematischen Instrumente der Meß- und Regelungstechnik einerseits und die generalisierenden Forschungsarbeiten von Norbert Wiener andererseits sowie vielen engagierten Wissenschaftlern, die im gleichen Zeitraum an die- sem Phänomen arbeiteten, begründeten die Kybernetik. Seit dieser Zeit haben Physiker, Chemiker, Psychologen, Biologen, Soziologen, Betriebswirte, Volkswirte usw. daran gearbeitet, die Erkenntnisse auf ihre Disziplinen zu übertragen und gleichzeitig weiterzuentwickeln. Dabei resultieren For- schungsergebnisse im Bereich der weltweiten Verknappung von Energie bzw. allgemein von Ressourcen 2 , die aktuellen Beiträge zur Laser-/Synergie- 1 Vgl. Wiener, Norbert: Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung in Lebewesen und Maschine. Reinbek b. Hamburg, 1968. Dt. Übersetzung von E.H. Serr. Das amerikanische Original wurde bereits im Jahre 1948 veröffentlicht. 2 Vgl. Meadows, D.: Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Stuttgart 1970, S. 118 ff. Perspektiven der Systemforschung: Verhalten, Strukturen, Architektur- prinzipien

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3. Systemtheoretische Grundlagen der betriebswirtschaftlichen Logistik 3.1 Grundlagen der Systemtheorie

Unternehmen sind zielsuchende komplexe Systeme. Die Systemfor-

schung betrachtet Systeme aus drei Perspektiven: Verhalten (Prozesse), Struktur und Architekturgesetzmäßigkeiten. Die Logistik eines Unternehmens repräsentiert das "Verhalten" bzw. den Unternehmensprozeß, spiegelt sich in der Struktur wider und basiert auf bekannten Architekturprinzipien, wie sie nachfolgend behandelt werden.

Obwohl die Wurzeln der Systemforschung bis an den Anfang dieses Jahrhunderts und darüber hinaus reichen und obwohl die Systemforschung zu den wenigen wirklich interdisziplinären Ansätzen zählt, steht sie erst am Anfang ihrer Entwicklung. Die Gegenstände der Systemforschung sind so komplex, daß alleine die zulässige Abgrenzung von Subsystemen Theorie-probleme aufwirft.

Als Norbert Wiener im Jahre 1948 sein Buch "Cybernetics"1 veröffent-lichte, war ein wichtiger Meilenstein in der Systemforschung geschafft wor-den. Norbert Wiener hatte erkannt, daß in verschiedenen Forschungsrichtun-gen, z. B. in der Astronomie, in der Elektrotechnik, im Maschinenbau, in der Statistik, in der Biologie usw. ähnliche Formelzusammenhänge existieren. Es lag nahe, zu untersuchen, ob die Formelzusammenhänge auch ähnliche Phä-nomene und ähnliches Verständnis beschreiben. Da dieser Fall eintrat, war die nächstliegende Frage zu beantworten, wie die entdeckten Zusammenhänge generalisiert werden könnten. Die zu diesem Zeitpunkt bereits existierenden mathematischen Instrumente der Meß- und Regelungstechnik einerseits und die generalisierenden Forschungsarbeiten von Norbert Wiener andererseits sowie vielen engagierten Wissenschaftlern, die im gleichen Zeitraum an die-sem Phänomen arbeiteten, begründeten die Kybernetik. Seit dieser Zeit haben Physiker, Chemiker, Psychologen, Biologen, Soziologen, Betriebswirte, Volkswirte usw. daran gearbeitet, die Erkenntnisse auf ihre Disziplinen zu übertragen und gleichzeitig weiterzuentwickeln. Dabei resultieren For-schungsergebnisse im Bereich der weltweiten Verknappung von Energie bzw. allgemein von Ressourcen2, die aktuellen Beiträge zur Laser-/Synergie-

1Vgl. Wiener, Norbert: Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung in Lebewesen und Maschine. Reinbek b. Hamburg, 1968. Dt. Übersetzung von E.H. Serr. Das amerikanische Original wurde bereits im Jahre 1948 veröffentlicht. 2Vgl. Meadows, D.: Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Stuttgart 1970, S. 118 ff.

Perspektiven der Systemforschung: Verhalten, Strukturen, Architektur-prinzipien

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3. Systemtheoretische Grundlagen

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forschung3, zur Gruppen- und Massenpsychologie, aber auch zur Chaosfor-schung4 sowie zu neuen Ansätzen in der Geometrie (Fraktale)5 aus der gleichen Sicht der systemischen Zusammenhänge und den dabei festgestellten Gesetzmäßigkeiten.

von - an

(e1) (e2) (e3)

(e4) (e5) (e6) (e7) (e8) (e9) (e10)

(e1) - r1,2 r1,3 - - - - - - r1,10 (e2) r2,1 - r2,3 - - - - - - - (e3) r3,1 r3,2 - r3,4 - - - - - r3,10 (e4) - - r4,3 - r4,5 r4,6 r4,7 - - - (e5) - - - - - - - r5,8 - - (e6) - - - - - - - r6,8 - - (e7) - - - - - - - r7,8 - - (e8) - - - - r8,5 r8,6 r8,7 - r8,9 (e9) - - - - - - - r9,8 - r9,10 (e10) r10,1 r10,2 r10,3 - - - - - r10,9 -

Abb. 3.1-1: Informationssystem- und Relationenmatrix MR 3Vgl. Haken, H.: Erfolgsgeheimnisse der Natur. Synergetik: Die Lehre vom Zusam-menwirken. Stuttgart 1981. 4Vgl. Briggs, J., F. David Peat: Die Entdeckung des Chaos. München 1993. 5Vgl. Mandelbrot, B.: The Fractal Geometry of Nature, New York 1983.

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3.1 Grundlagen der Systemtheorie

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Ein System ist eine Menge von Elementen, die mit Hilfe von Beziehungen (Relationen) untereinander gekoppelt sind. Dies wird durch das einfache grafische Beispiel der Abbildung 3.1-1 in einer Relationenmatrix MR deutlich.

Die stoffliche bzw. definitorische Beschaffenheit der Elemente, aber auch der Beziehungen, werden einerseits durch den Forschungsgegenstand und andererseits durch das methodisch/gedankliche Vorgehen des Forschers vorgegeben. In Unternehmen sind Elemente z. B. Organisationseinheiten, zwischen denen sowohl formale als auch informale Informations- und Kommunikationsbeziehungen existieren. Ein System wird als "offen" angesehen, wenn zugelassen wird, daß auch Beziehungen/Relationen zu Elementen, die außerhalb des Forschungsgegenstandes liegen, existieren. Aus Vereinfachungsgründen und vor allem, um Gesetzmäßigkeiten analytisch besser isolieren zu können, wird sehr häufig angenommen, Systeme seien "geschlossen". Dies bedeutet, daß kein Element des abgegrenzten zu untersuchenden Systems mit einem Element eines anderen Systems gekoppelt ist. Eine Annahme, die im Rahmen der Modellbildung6 sicherlich realisierbar ist, in der Praxis in der Regel aber nicht zutrifft. Eine andere Methode, den Analysegegenstand, d.h. das gerade untersuchte System auszuweiten, erfolgt durch zooming (Deduktion). Dabei wird ein bestimmtes Element eines betrachteten Systems näher untersucht und als eigenständiges Subsystem mit Elementen und Relationen erkannt (vgl. Abbildung 3.1-2).

Abb. 3.1-2: Offenes System mit Subsystem e4

6Modelle sind homomorphe, strukturerhaltende (Teil-)Abbildungen der Wirklichkeit. Auf Isomorphie muß verzichtet werden. Vgl. Pfanzagl, J.: Theory of Measurement. Würzburg, Wien 1968, S. 23 f. Außerdem Adam, D.: Planung und Entscheidung. Modelle - Ziele - Methoden. 3. Aufl., Wiesbaden 1993, S. 44 ff.

Systemdefinition

Modelle

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3. Systemtheoretische Grundlagen

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Die Methode der Deduktion wird von Forschern häufig auch umgekehrt. Sie heißt dann Abstraktion und soll Komplexität reduzieren helfen. Auch dies ist im Modell eine zulässige Vorgehensweise, allerdings mit schwer abschätzbaren Auswirkungen auf die Realität im Vergleich zwischen Modell und Realität, da sowohl bei der Deduktion als auch bei der Abstraktion wesentliche Informationen verlorengehen können.

Bei anfänglicher Betrachtung werden Beziehungen/Relationen zwischen Elementen mit formalen, sicht- und erkennbaren bzw. meßbaren Kopplungen gleichgesetzt.

Aus Biologie und Medizin (z. B. in der Hirnforschung) ist bekannt, daß die Verbindung zwischen Molekülen durch eine Vielzahl unterschiedlicher Botenstoffe mit verschiedenen Auswirkungen hergestellt werden kann. Die Funktionsweise des Gesamtsystems kann aber nur dann befriedigend erklärt werden, je mehr Elemente und Beziehungen erkannt und richtig interpretiert werden können.

In sozialen Systemen existieren häufig auch informale Beziehun-gen/Relationen, die sich einer objektiven Bestimmung entziehen. Wichtige informale Informationen werden mit enormer Geschwindigkeit transportiert und führen zu Reaktionen im Verhalten (Prozeß) des Systems, die alleine aus den formalen Beziehungen nicht erklärt werden könnten.

Die Struktur eines Systems ist definitionsgemäß deshalb die zu einem bestimmten Zeitpunkt beobachtete Kopplung zwischen den Elementen. In Unternehmen wird die Aufbau- oder Strukturorganisation, d.h. die gewollte formelle Kopplung zwischen einzelnen Organisationseinheiten, meist für längere Zeit festgeschrieben. Die Logistikstruktur eines Unternehmens ist demnach gegeben durch die organisatorischen Einheiten Distribution, Ver-kauf, Lager-, Transport- und Umschlagseinrichtungen, Produktion, Beschaf-fung usw. Die Kopplung erfolgt einerseits durch Informationen (Bestellungen, Rückkopplungen, Datenaustausch usw.) und andererseits durch den Warenfluß.

Marktänderungen oder Wettbewerbssituationen können jederzeit Anpassungen der Struktur erzwingen. Die zeitliche Dauer der erwünschten oder tatsächlichen Kopplung zwischen Elementen ist keine Voraussetzung für das Zustandekommen der Kopplung. Sie ist nicht einmal ein Kriterium für die Beurteilung der Qualität, da die Notwendigkeit der Anpassung, z. B. durch die Dynamik der Umwelt, fortlaufend erzwungen werden kann.

Diese Betrachtung macht deutlich, daß es zwischen Verhalten bzw. Prozessen einerseits und der Struktur eines Systems andererseits enge Zusammenhänge gibt. Diese Feststellung erfordert eine Auseinandersetzung in zweifacher Hinsicht.

Aus der Analyse plötzlich auftretender gleicher Verhaltensreaktionen, z. B. an Börsen, ist bekannt, daß Strukturen in Teilsystemen nicht in der Lage sind, sich anzupassen. In diesem Zusammenhang interessiert die Frage,

Logistikstruktur

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3.1 Grundlagen der Systemtheorie

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wie solche Verhaltensreaktionen (Solitonen, Resonanz) zustande kommen und welche Mechanismen nötig sind, um Systemzusammenbrüche zu verhindern (Selbstorganisation als Reaktion).

Das Auftreten von Resonanz in der Technik ist durchaus gut erforscht. Auch das Auftreten von Solitonen ist in der Strömungslehre mathematisch beschreibbar. Ähnliche Erscheinungen in Prozessen in gesellschaftlichen Systemen sind zwar denkbar, aber derzeit nur schwer eingrenzbar.

Um ein kontinuierliches Wachstum von Unternehmen gewährleisten zu können, ist das Management ständig bemüht, Verhaltensreaktionen auf den Märkten selbst aktiv positiv zu beeinflussen. In diesem Zusammenhang interessiert die Frage,

welche Strukturen erforderlich sind, um erwünschtes Verhalten (z. B. Synergie, Wachstum) zu erzeugen (Architekturgesetze anwenden).

Der Zusammenhang dieser zweifachen Sicht ist in Abbildung 3.1-3 dargestellt.

1. Verhalten

2. Struktur

4. Selbst-organisationals Reaktion

3. Architekturgesetzanwenden

(Prozesse)

Abb. 3.1-3: Zusammenhang zwischen Verhalten (Prozessen) und Struktur

Verhaltensänderungen sind nur über Strukturänderungen möglich. Als Folge müssen in den Prozessen alternativ diejenigen Kopplungen zwischen Elementen hergestellt werden, die den gewünschten Ordnungszustand herstellten.

Das Synergie-Modell auf der Grundlage des Lasers ist in der technisch wissenschaftlichen Literatur inzwischen gut dokumentiert. Die Bedeutung von Ordnungsinformationen7, die in diesem Zusammenhang die Subsysteme

7Vgl. Haken, H.: Erfolgsgeheimnisse der Natur. Synergetik: Die Lehre vom Zusammenwirken. Stuttgart 1981, S. 43 ff. und S. 61 ff. Haken gebraucht den Begriff "Ordner" im Sinne eines Attraktors, der das Verhalten eines Systems

Synergie

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3. Systemtheoretische Grundlagen

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zu gleichem/angepaßten Verhalten veranlassen, ist nun auch in sozialen Systemen bekannt. Der Begriff "Ordnungsinformation" wird hier als Information über einen gewollten Ordnungszustand in einem sozialen System, insbesondere in Unternehmen verstanden. Ordnungsinformationen im Sinne von Appellen, Aktionen usw. werden durch das Management von Unternehmen z. B. eingesetzt, um Mitarbeiter zu besonders service- und kundenfreundlichem Verhalten aufzufordern.

Methodisch interessiert bei bestimmten beobachtbaren Verhaltens-mustern des Systems, auf welche Architekturpinzipien das Verhalten zurück-zuführen ist; konkret: auf welche Kopplungsvorschriften und Parameterein-stellungen das erwünschte Verhalten als Konsequenz folgt. Sind solche Aussagen möglich, kann das erkannte Architekturprinzip bei der aktiven Gestaltung von Systemen durch den Einsatz von Ordnungsinformationen genutzt werden. In der Betriebswirtschaftslehre ist dies ein äußerst wichtiges Anliegen, das im Bereich des erwünschten Verhaltens mit den Kategorien wirtschaftlicher Erfolg, Verbesserung des Marktanteils usw. beschrieben werden kann. Gelingt es, Architekturprinzipien zu entdecken, wird man diese bei der Gestaltung des Systems "Unternehmen" berücksichtigen. Die Systemforschung steht aber erst am Anfang ihrer Entwicklung. In der später darzustellenden MRP II (manufacturing resource planning)-Planungslogik sind intuitiv bereits viele solcher Architekturprinzipien verarbeitet.

Einen neuen Zugang zu den bereits bekannten komplexen Zusammenhängen liefert die bereits erwähnte Arbeit von Mandelbrot. In der Geometrie besitzen gerade Linien und glatte Kurven z. B. eine einfache Dimension, da sie leicht meßbar sind. Irreguläre Formen eines Objekts, einer Wolke z. B., sind dagegen schlecht meßbar. Setzt sich die Irregularität der Form eines Objekts bis in den mikroskopischen Bereich hinein fort, bestehen Meßschwierigkeiten, die in einer direkten Beziehung zur Dimensionalität des "Objekts" stehen. Irreguläre Kurven, aber auch Ebenen, besitzen immer eine fraktale Dimension größer als Eins. Die "fraktale Dimension" dient als Maß für die Unregelmäßigkeit des Objekts. Das Maß wächst umso schneller, je unregelmäßiger das Objekt ist. Ein Fraktal ist ein Objekt, dessen fraktale Dimension größer als die bekannte (näherungsweise) geometrische Dimension ist. In der Natur hat eine Wolke beispielsweise eine fraktale Dimension. Dabei ist wesentlich, daß sich die fraktale Dimension bei näherer Betrachtung des Details im Detail wiederholt (Selbstähnlichkeit). Ein komplexes dynamisches System erscheint dabei als ein Objekt mit "fraktaler Dimension". Bemerkenswert dabei ist, daß sich solche komplexe dynamische Systeme bei näherer Betrachtung aus sich wiederholenden, selbstähnlichen

"versklavt" und zu einem kollektiven Verhalten veranlaßt. Vgl. auch Kap. 3, S. 91 und 102 ff. dieses Buches.

Verhalten, Struktur, Architekturprinzip

Unternehmen als Fraktale

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3.1 Grundlagen der Systemtheorie

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Basiselementen zusammensetzen8. Unternehmen werden vereinfacht als Regelkreissystem dargestellt. Die Unternehmensführung entspricht dem

8Vgl. Peitgen, H.-O., H. Jürgens und D. Saupe: Chaos and Fractals. New Frontiers of Science. New York 1992, S. 63 ff. Die Autoren zeigen an vielen anschaulichen Beispielen, daß die Selbstähnlichkeit (self-similarity) bereits in vielen klassischen Arbeiten bekannt war. Z. B. in der Cantor-Menge, im Sierpinski-Muster, aber auch das Pascal'sche Dreieck ist in die Reihe der Beispiele einzuordnen.

"Regler", während die betrieblichen/logistischen Prozesse der "Regelstrecke" zugeordnet werden. Bei näherer Betrachtung wiederholt sich dieses Prinzip sowohl innerhalb des Reglers als auch innerhalb der Regelstrecke. Je tiefer sich der Forscher in das betrachtete System hineinzoomt (deduziert), um so deutlicher wird die Wiederholung bzw. Selbstähnlichkeit. 3.2 Elemente, Beziehungen und Strukturen

System Dynamics als Methode zur Simulation von Systemen

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3. Systemtheoretische Grundlagen

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In seinen bekannt gewordenen Forschungsarbeiten Anfang der 70er Jahre hat J. W. Forrester9 die Grundzüge eines Methodenansatzes beschrieben und entwickelt, der es ermöglicht, komplexe Systeme zu modellieren und die-sen Entwurf in einer grafischen Notation nach festgelegten Regeln systema-tisch zu dokumentieren. System dynamics erlaubt die Beschreibung von Systemen nach Regeln. Ähnlich wie in technischen Zeichnungen, können Systemabbilder eindeutig interpretiert werden. Ein Editor-Werkzeug erlaubt die Eingabe der zugehörigen mathematischen Zusammenhänge als Glei-chungssystem nach festgelegten Regeln.

Der verfügbare DYNAMO-Compiler berechnet die Systemgleichung und stellt die Ergebnisse für die weitere Auswertung in Tabellen und Plotts zur Verfügung. Mathematisch handelt es sich dabei um ein Verfahren für kontinuierliche Simulation.

System dynamics wurde als Methodenansatz ab ca. 1970 hauptsächlich für die Simulation von kontinuierlichen Systemen im Zeitablauf genutzt, um daraus Strategien ableiten zu können. Es hat sich gezeigt, daß die so entworfenen Modelle ebenso verwirrend komplex waren, wie die Realität selbst und daß Entscheider diese Modelle gerade wegen ihrer Komplexität sehr oft ablehnten. Die eigenen mentalen Modelle waren den vorgestellten deshalb immer noch überlegen.

Inzwischen wurden z. B. in der Informatik bzw. in der Wirtschaftsin-formatik parallel Werkzeuge entwickelt, die es erlauben, die Begriffe "Element", "Beziehung" und "Struktur" weiter zu präzisieren. Dieser wissen-schaftliche Ansatz dient in erster Linie allerdings nicht der "Simulation" des Systemverhaltens, sondern hauptsächlich der Beschreibung des realen Infor-mationszusammenhanges in Unternehmen.

Auf Codd10 bzw. auf Chen11 sind die grundlegenden Arbeiten zurückzuführen, die es heute ermöglichen, den systemischen, gesamthaften Entwurf von Datenmodellen für ganze Unternehmen durchzuführen.

Gleichzeitig wird der Entwurfsprozeß heute durch tools unterstützt, so daß anschließend die Implementierung realisiert werden kann. "Elemente" sind nach diesem Ansatz Elemente von Entitäten (entities), dem Begriff "Beziehung" entspricht hier der Begriff "Relation". Abbildung 3.2-1 stellt die Basisbegriffe und Zusammenhänge an einem Beispiel dar.

9Vgl. Forrester, J. W.: Principles of Systems, Cambridge (MA), 1968. Dt. Übersetzung von E. Zahn: Grundzüge einer Systemtheorie, Wiesbaden 1972. 10Vgl. Codd, E. F.: A Relational Model of Data for Large Shared Data Banks. "Communications of the ACM", Vol. 13, Nr. 6, Juni 1970, S. 377-387. 11Vgl. Chen, P. P.: The Entity-Relationship Model - Toward A Unified View Of Data. "ACM Transactions of Database Systems", Vol. 1, Nr. 1, März 1976, S. 9-35. Außerdem ders.: The Entity-Relationship Approach to logical Data Base Design, Wellesley (MA) 1977.

Entitäten als Elemente von Informations-systemen

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3.2 Elemente, Beziehungen und Strukturen

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Zwischenzeitlich hat sich der datenelementorientierte Ansatz gegenüber dem funktionsorientierten Modellierungsansatz durchgesetzt.

KDNR PNRMenge

kaufen

Attribute

Relationship(Beziehungstyp)

PNRProd.Bez., Preis

Produkt

Attribute

m

Entity-Typ

KDNRName, Vorname

Kunde

IdentifiziererAttribute

n

Entity-Typ

K1, Müller, Franz K1, P1, 50 P1, Tel. 01, 85,- K2, Meyer, Fritz K1, P2, 30 P2, Telefax 248, 898,- K2, P1, 5

Entities Beziehung Entities

Abb. 3.2-1: Erweitertes Entity-Relationship-Modell Grundbegriffe: Entity, Entity-Typ, Beziehung, Beziehungstyp, Attribute

In der Literatur wurden bereits beispielhaft für ganze Unternehmen

Entitäten und ihre Relationen gesammelt und dokumentiert12. In der Systemanalyse und Entwicklung gehört dieser Schritt heute fest verankert in den Bereich des Entwurfs von Informationssystemen. Software-Ingenieure werden inzwischen systematisch ausgebildet, diese Analyseprozesse tool-gestützt erledigen zu können.

12Vgl. Scheer, A.-W.: Wirtschaftsinformatik. Informationssysteme im Industriebe-trieb. Berlin, Heidelberg, New York u.a.O. 1988, S. 75 ff., Denert, E.: Software-Engineering. Berlin, Heidelberg, New York. u.a.O. 1991, S. 211 ff. Außerdem Biethahn, J., H. Muksch u. W. Ruf: Ganzheitliches Informationsmanagement. Band II: Daten- und Entwicklungsmanagement. München, Wien 1991, S. 107 ff.

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3. Systemtheoretische Grundlagen

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Zeitlich parallel hat sich eine weitere Sichtweise entwickelt, die die Begriffe "Element", "Beziehung" und "Struktur" in einen weiteren Ordnungszusammenhang stellt. Elemente können bei dieser Sicht einzelne Objekte13 oder Instanzen sein, die aufgrund ihrer Eigenschaften einer oder mehrerer Klassen zugeordnet werden können. Klassen sind Entitäten. Die Eigenschaften einer Klasse werden den individuellen Inkarnationen vererbt. In einem Beispiel heißt eine "Klasse" Segelschiff. Eine spanische Galeere ist dabei ebenso ein Objekt (individuelle Inkarnation) dieser Klasse wie die Gorch-Fock, ein Segelschulschiff der Bundesmarine. Die Klasse Segelschiff vererbt einzelne Eigenschaften an Objekte weiter. Unterschiede zwischen Objekten beruhen auf unterschiedlichen Ausprägungen vererbter Attribute. Andere Klassen wären in diesem Zusammenhang "Küstenmotorschiff", "Tanker" oder "Passagierschiff", wobei es durchaus auch (gewollte) Überschneidungen zwi-schen Klassen geben kann. Die Beziehungen zwischen den einzelnen Elemen-ten dieses Systems treten im Verhalten des Systems zutage. Genauso ergibt sich die Struktur des Systems aus den zu einem Zeitpunkt beobachteten Kopplungen.

Übertragen auf die Anwendungsfunktionalität z. B. eines Buchhaltungs-programmes bringt das objektorientierte Verständnis eine neue Sicht, die in völligem Einklang zum Systemtheorie-Verständnis steht. Ein Wirtschaftsgut, z. B. eine PC-Arbeitsplatzaustattung, kann mit Hilfe einzelner Attribute, z. B. Anschaffungspreis, Abschreibungsdauer usw., als Objekt beschrieben werden. Alle diese Wirtschaftsgüter gehören so z. B. zur Klasse "Abschreibbare Wirtschaftsgüter". Die einzelnen Objekte haben Eigenschaften (Attribute) von der Klasse, zu der sie gehören, geerbt. Zu den Objekten gehören Prozesse, die die Daten der Objekte im Zeitablauf verändern.

Eine Reisekostenabrechnung eines Mitarbeiters kann ebenfalls als Ob-jekt der Klasse "Reisekostenabrechnungen" begriffen werden, das formal beschreibbar ist. Die individuelle Reisekostenabrechnung enthält alle Daten und (vererbt) Rechenvorschriften, die zur Feststellung des Erstattungsbetrages notwendig sind. Zur Erledigung wird das "Objekt" an die einzelnen Sachbe-arbeiter weitergereicht, die es bearbeiten und zur endgültigen Genehmigung an den Abteilungsleiter weiterleiten. Andere Beispiele sind Kundenaufträge, Einkaufsaufträge usw. Diesen workflow wollen objektorientierte Systeme

13Vgl. Meyer, B.: Objektorientierte Softwareentwicklung. Dt. Übersetzung. München, Wien u.a.O. 1990, S. 55 ff., vgl. in diesem Zusammenhang auch Reeken, Jell von: Objektorientiertes Programmieren mit C++. München, Wien 1991, S. 27 ff., außerdem Coad, P. u. E. Yourdon: Object-Oriented Analysis, 2. Aufl., Englewood Cliffs, 1991, S. 51 ff. und Wirfs-Brock, R. u. R. E. Johnson: Surveying current research in Object-Oriented Design, Comm. ACM 33, Nr. 9, 1990.

Objekte als Elemente von Klassen

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3.2 Elemente, Beziehungen und Strukturen

63

vollständig abbilden. Man spricht in diesem Zusammenhang dann auch über workflow-Anwendungen.

Der "objektorientierte Ansatz" wurde zur Simulation von Systemen in Programmiersprachen wie ALGOL und SIMULA14

(Klassenkonzept) bereits Mitte der 60er Jahre entwickelt. Heute erfreut sich der objektorientierte Ansatz unter den Informatikern und Betriebswirten einer großen Beliebtheit, da insbesondere der Zusammenhang zwischen den Objekten in Prozessen systematisch erfaßt werden kann.

In der Literatur sind objektorientierte Produktionsplanungs- und Steuerungssysteme (PPS) durchaus bereits zu finden15. 3.3 Prozesse als Beschreibung des Verhaltens von Systemen 3.3.1 Charakterisierung von Prozessen

Prozesse sind Interaktionen zwischen den Elementen eines Systems. In

der betriebswirtschaftlichen Organisationstheorie wird "Prozeß" deshalb synonym für Geschäftsvorgang, Arbeitsablauf usw. verwendet.

Alle Elemente besitzen eine bestimmte Funktion innerhalb des Gesamt-systems. Die Wahrnehmung einer Funktion äußert sich in der Veränderung bestimmter Zustände, die das betrachtete Element charakterisieren. Die Auf-zeichnung der Zustände der wichtigsten Elemente im Zeitablauf gibt Auf-schluß über das Verhalten des Systems. Alternativ können in bestimmten Situationen Prozeßdarstellungen im Frequenzbereich analysiert werden.

Die Beschreibung eines Prozesses A oder B kann z. B. als eine Abfolge bestimmter Zustandsgrößen im Zeitablauf (s.u.) erfolgen.

(1) AnAiAAA zzzzP ,...,..., 21 ,

BnBiBBB zzzzP ,...,..., 21

Die Zustandsgrößen zAi entsprechen z. B. der Lagerbestandsentwicklung, der Liquiditätsentwicklung, der Verkehrsdichteentwicklung usw. Alternativ oder zusätzlich können auch die Veränderungs- oder Flußgrößen anstelle der Zustandsgrößen im Zeitablauf betrachtet werden. Für die Untersuchung und

14Vgl. Franta, W. R.: The Process View of Simulation. New York 1977, Kap. 5, S. 50 ff. und Lamprecht, G.: SIMULA. Einführung in die Programmiersprache. Braunschweig, Wiesbaden. Die erste Auflage erschien 1976, die dritte vorläufige Auflage 1988, siehe S. 87 ff. Die Programmiersprache SIMULA wurde Mitte der 60er Jahre als Erweiterung von ALGOL 60 am Norwegian Computing Center von O. J. Dahl, B. Myhrhaug und K. Nygaard entwickelt. 15Vgl. Kernler, H.: PPS der 3. Generation. Grundlagen, Methoden, Anregungen. Heidelberg 1993, S. 50 ff.

Klassenkonzept in SIMULA

Prozesse im Zeit- und Frequenz-bereich

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3. Systemtheoretische Grundlagen

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Beurteilung der Dynamik eines Systems ist es zwingend erforderlich, die Zustands- und Flußgrößen im Zusammenhang zu sehen. Auch für die weiteren Darstellungen des Abschnittes 3.4 ist es erforderlich, kurz auf diese Prozeßdarstellungsvariante einzugehen. Sie wurde erst ab ca. 1960 zu einer neuen Konzeption der Systembeschreibung, zur Zustandsbeschreibung16, und sofort in der Physik, in der Regelungstechnik und in der Informatik (Automatentheorie) aufgegriffen.

16Vgl. Wunsch, G.: Geschichte der Systemtheorie. Berlin 1985, S. 92 ff.

Der Hauptvorteil dieses Ansatzes liegt nach G. Wunsch vor allem in der Möglichkeit, Systeme mit beliebiger Vergangenheit, insbesondere mit 0-Vergangenheit, betrachten zu können.

Zentrale Grundbegriffe sind Alphabete X und Y für die Systemein- und -ausgabe und Zustandsalphabet Z mit den Zuständen zi Z (s.o.). Für den Systemausgang bzw. für die Zustandsentwicklung zi gilt (vgl. Abbildung 3.3-1):

(2.1) tandAnfangszusz,x,zgy 1111

(2.2) 112222 x,zfz,x,zgy

(2.3) 223333 x,zfz,x,zg=y

(2.4) 334444 x,zfz,x,zg=y usw.

EingabewortAnfangszustand

(z1, x1)

(z2, x2)

(z3, x3)

(z , x4)

y1

y2

y3

y4

z2

z3

z

z5

4

4

g

g

g

g

f

f

f

f

Ausgabealphabet Eingabealphabet Zustandsalphabet Abb. 3.3-1: Zustandsentwicklung in Anlehnung an G. Wunsch

Prozeß und Zustands-beschreibung

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3.3 Prozesse als Beschreibung des Verhaltens von Systemen

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Der streng systemtheoretische Prozeßbegriff (in Anlehnung an diese

Darstellung) ergibt sich mit Hilfe der Potenzmenge P X Y . Für ein dynamisches System S existieren wegen P X Y geordnete Paare (x,y) von Ein- und Ausgabesignalen. An einem Zeitpunkt t existiert ein Zustand z, mit dem auf die Eingabe x die Ausgabe y Tt folgt. Ein solcher Vorgang heißt Momentanprozeß St. Die Vereinigung aller Momentanprozesse ergibt den vollständigen Ein-/Ausgabeprozeß

(3) S Stt T

(Diskrete) Prozesse in der Logistik können vor allem mit Hilfe von Petri-Netzen gut modelliert werden17. Dabei kommt der Gleichläufigkeit (Parallelität) in der Realität eine besondere Bedeutung zu. Bei der Planung und Entwicklung von Fertigungsleitständen zur Überwachung von Ferti-gungsprozessen werden Prozeßmodelle in dieser Ausprägung ebenfalls bereits seit längerem angewendet18.

In Kapitel 4 wird an einem Beispiel (Auftragsabwicklung, Lieferanten-auftrag) dargestellt, daß jede Instanz einen aktuellen Zustand besitzt, der sich im Zeitablauf auch ändern kann. Zustandsänderungen heißen Transistionen. Eine individuelle Inkarnation einer Klasse oder einer Entität wurde weiter oben als Objekt oder auch als Instanz bezeichnet. Für jede Instanz kann der zugehörige Zustandsgraph bzw. die zugehörige Entscheidungstabelle darge-stellt werden.

Um auszudrücken, daß die Zeit nicht als unabhängige Variable bzw. als Ursache des Prozesses angesehen werden soll, ist bereits früher die Annahme eingeführt worden, Prozesse seien zeitinvariant bzw. stationär. D.h. der Prozeßverlauf, i.e. die Entwicklung der Zustandsgrößen im Zeitablauf, stellt sich auch dann identisch ein, wenn der Prozeß zu einem anderen Zeitpunkt gestartet wird.

In komplexen Systemen laufen Prozesse zeitlich parallel ab. Dabei gibt es die Beobachtung, daß die zeitliche Parallelität Konkurrenz um die gleichen Ressourcen oder Betriebsmittel bedeutet19. Die Prozesse A und B sind kon-kurrent, wenn die Zustände zAi und zBi über die gleichen Ressourcen von-

17Vgl. PROMATIS (Hrsg.): INCOME. Anforderungsmodellierung und Entwurf von Petri-Netzen. Karlsbad 1993. 18Vgl. Stahn, H. und M. Engelien: Software-Engineering. CAMARS-Technologie. Berlin 1989, S. 104 ff. 19Vgl. Pieper, F.: Einführung in die Programmierung paralleler Prozesse. München, Wien 1977, S. 13 ff., Bräunl, Th.: Parallele Programmierung. Eine Einführung. Braunschweig, Wiesbaden 1993, S. 27 ff.

Modellierung von Prozessen mit Hilfe von Petri-Netzen

Parallele Prozesse

Page 14: 3. Systemtheoretische Grundlagen der ... · 53 3. Systemtheoretische Grundlagen der betriebswirtschaftlichen Logistik 3.1 Grundlagen der Systemtheorie Unternehmen sind zielsuchende

3. Systemtheoretische Grundlagen

66

einander abhängig sind. Konkurrente Prozesse erfordern Koordinierung, also Regeln, nach denen auf die Ressourcen zugegriffen werden darf. Das Problem konkurrierender paralleler Prozesse ist seit langem Gegenstand intensiver wissenschaftlicher Forschung. In Unternehmen laufen zu einem Zeitpunkt über alle Hierarchien verteilt viele Prozesse parallel ab und konkurrieren um die gleichen Ressourcen. Die Entscheidungs- und Koordinationsmechanismen werden in der Organisationstheorie bereits seit langem behandelt. In der Informatik gibt es eine Analogie bei der Gestaltung von Betriebssystemen. Insbesondere bei "v. Neumann"-Rechnerarchitekturen tritt das Koordinie-rungsproblem zentral auf. Inzwischen gibt es auch für Parallelrechner-Archi-tekturen (sogenannte Transputersysteme) gute Betriebssystementwicklungen, die nur begrenzt unter dem slack-Problem leiden.

Aus Verfahrensgründen, insbesondere bei der Analyse von Zufallspro-zessen, wird häufig die Annahme postuliert, Prozesse seien unabhängig von-einander. In diesem Falle sind die Ko-Varianzen gleich Null. Prozesse sind außerdem irreversibel, d. h. im zeitlichen Nacheinander sind Ursache und Wirkung nicht umkehrbar. Bei mechanischer Reibung z. B. während eines Bremsvorganges wird Wärme erzeugt. Die Wärme entsteht also durch Ener-gieumwandlung genau in dieser Reihenfolge. Der Vorgang ist nicht umkehr-bar.

Ein stochastischer Prozeß wird mit

(4) It,X t

bezeichnet. Der Parameter t ist die Zeit. In diesem Sinne ist X t eine k-dimensionale Zufallsvariable ein stochastischer Prozeß. I ist die Menge (1,2,3,... k)20.

Die einzelnen Ausprägungen der Zufallsvariablen entsprechen z. B. ein-zelnen Nachfrageimpulsen. Für die Darstellung des Prozeßverlaufs kann die Reihenfolge der einzelnen Realisierungen im Zeitablauf in einem Diagramm dargestellt werden. Für die "Zeitreihe" können die Momente berechnet wer-den, die auf wichtige Eigenschaften des Prozesses schließen lassen21. Solche Systemmodelle heißen (zeit-)diskret, d. h. Ereignisse (Zustandsänderungen) lassen sich als Zeitreihe beschreiben. Kontinuierliche Prozesse werden durch (stetige) Funktionen beschrieben, d. h. Zustandsänderungen können bei infinitesimaler Betrachtung als Ableitung der angenommenen Funktion inter-pretiert werden.

20Vgl. Fisz, M.: Wahrscheinlichkeitstheorie und mathematische Statistik. Berlin 1978, S. 320 ff. 21Vgl. Stenger, Horst: Stichprobentheorie. Würzburg, Wien 1971, S. 22 ff., Rutsch, M. u. K.-H. Schriever: Wahrscheinlichkeit II. Mannheim, Wien, Zürich 1976, S. 219 ff.

Zeitdiskrete Prozeß-darstellungen

Page 15: 3. Systemtheoretische Grundlagen der ... · 53 3. Systemtheoretische Grundlagen der betriebswirtschaftlichen Logistik 3.1 Grundlagen der Systemtheorie Unternehmen sind zielsuchende

3.3 Prozesse als Beschreibung des Verhaltens von Systemen

67

In seinem historischen Aufsatz hat Enders A. Robinson22 den Zusam-menhang zwischen den kybernetischen Systemmodellen einerseits und den (diskreten) stochastischen Prozeßmodellen andererseits dokumentiert. Die Darstellung zeigt, daß die stochastischen Modelle lediglich eine spezielle Ausprägung der allgemeinen systemtheoretischen Modelle sind. 3.3.2 Prozesse im Zeit- und Frequenzbereich

In der Regelungstechnik23 wurde der Zusammenhang zwischen der Zeit-

und der Frequenzdarstellung eines Prozesses bereits früh gut herausgearbeitet. Insbesondere für die Analyse von Prozeßverläufen mit saisonalen Schwan-kungen ist dieser Zusammenhang sehr hilfreich.

In der Spektralanalyse werden Zeitreihen auf dieser Basis als Realisierung diskreter, (kovarianz-) stationärer stochastischer Prozesse interpretiert.

Für eine abzählbare Indexmenge I (vgl. Gleichung [4]) und R (t,t +) = R() läßt sich die Autokovarianzfunktion nach dem Satz von Chintchin in Abhängigkeit des kumulierten Spektrums F() ausdrücken. Dabei ist die Frequenzvariable.

(7.1)

dF

-ei = R

Falls der Prozeß keine streng periodischen Komponenten enthält, ist F() stetig und differenzierbar, d.h. es gilt:

(7.2) f

= dF

d.

Dabei wird f() als Spektrum bezeichnet. Durch Inversion von (7.1) ergibt sich schließlich

(7.3) f

= 1

2 R

=- -ie

D.h. also, daß (7.1) den Prozeß im Zeitbereich und (7.3) den Prozeß im

Frequenzbereich beschreibt. Die Autokovarianz und das Spektrum sind

22Vgl. Robinson, Enders A.: Wavelet Composition of Time Series. In: Model Building (Hrsg.: H.O. World), Amsterdam 1964, Kap. II, S. 37-106. 23Vgl. Oppelt, W.: Kleines Handbuch technischer Regelvorgänge. 5. Aufl., Weinheim 1972, S. 54 ff.

Spektralanalyse - Prozeßanalyse im Frequenzbereich

Page 16: 3. Systemtheoretische Grundlagen der ... · 53 3. Systemtheoretische Grundlagen der betriebswirtschaftlichen Logistik 3.1 Grundlagen der Systemtheorie Unternehmen sind zielsuchende

3. Systemtheoretische Grundlagen

68

fouriertransformierte Paare24 und enthalten die jeweils gleiche Information über den zugrunde liegenden Prozeß.

Für reelle Prozesse erhält man für das Spektrum die folgende Beziehung:

(8) f

= R 0 + 2 R cos =-

(Vgl. Gleichungen [9] und [10]). Box und Jenkins25 haben diesen Zusammenhang für die Entwicklung ihrer Prognosemodelle systematisch genutzt. In der Volks- und Betriebswirtschaftslehre gibt es zwischenzeitlich weitere modelltheoretische Betrachtungen, die z. B. die Existenz und die Natur von Konjunkturzyklen26 auf dieser theoretischen Grundlage fundiert beschreiben.

Zur Visualisierung der Prozeßabläufe werden in Anlehnung an die be-schriebenen Zusammenhänge deshalb Zeitreihendarstellungen oder Frequenz-bereichsdarstellungen gewählt.

Zusätzlich werden in der Systemtheorie aber auch Phasenraumdar-stellungen genutzt, um Prozeßverlaufs-Charakteristiken zu erkennen bzw. zu beschreiben.

Bei der Phasenraumdarstellung wird die Zeitbereichsdarstellung ebenfalls verlassen. Die Darstellung entlang der Zeitachse wird jetzt auf die dargestellte Kreisfläche projiziert (vgl. Abbildung 3.3-2).

In diesem Zusammenhang spielt die Euler'sche Formel eine wichtige Rolle, die auch anderen Transformationsgleichungen zugrunde liegt:

(9) eiy cos(y) i sin(y)

Die komplexe Zahl i ist definiert als i 1 . Komplexe Zahlen werden bekanntlich im Polarkoordinatensystem an der Ordinate abgetragen. Die Koordinaten eines beliebigen Punktes in diesem Koordinatensystem ergeben sich als Zahlenpaare mit imaginären und reellen Komponenten, auf die sich bei bestimmten Operationen Regeln der Vektorrechnung übertragen lassen. Die Multiplikation einer komplexen Zahl bewirkt z. B. die Rotation eines

24Vgl. Bingham, C., M. D. Godfrey u. J. W. Tukey: Modern Techniques of Power Spectrum Estimation. "IEEE Transactions on Audio as Electroacoustics". 15. Jg. 1967, S. 56 ff. Zur numerischen Berechnung von Schätzfunktionen vgl. Freiberger, W. u. U. Grenander: A Short Course in Computational Probability and Statistics. New York, Heidelberg, Berlin 1971, S. 133 ff. 25Vgl. Box, G. E. P. u. G. M. Jenkins: Time Series Analysis, Forecasting and Control. San Francisco, Düsseldorf, Johannisburg u.a.O. 1976. 26Vgl. Leiner, B.: Spektralanalyse ökonomischer Zeitreihen. Einführung und Praxis moderner Zeitreihenanalyse. Wiesbaden 1978, S. 102 ff.

Visualisierung von Prozessen im Frequenzbereich

Page 17: 3. Systemtheoretische Grundlagen der ... · 53 3. Systemtheoretische Grundlagen der betriebswirtschaftlichen Logistik 3.1 Grundlagen der Systemtheorie Unternehmen sind zielsuchende

3.3 Prozesse als Beschreibung des Verhaltens von Systemen

69

Vektors um den Ursprung. Die reelle Komponente, der Betrag einer Zahl, repräsentiert dabei die Zeigerlänge. (10) exeiy e(x iy) excos(y) iexsin(y)

Die Interpretation der Kreisdarstellung im Polarkoordinatensystem ergibt sich aus der zu beschreibenden Zustands-/Zeitdarstellung, hier aus einer Sinusschwingung. Die Veränderungen bei Fluß- und Zustandsgrößen sind an den Achsen interpretierend hinzugefügt (vgl. Abbildung 3.3-2).

Die Darstellung der aktuellen (stabilen) Systemsituation mit Hilfe des Vollkreises charakterisiert den Attraktor. Ein Attraktor ist diejenige Charak-teristik, der das Systemverhalten zustrebt. Im Beispiel verläuft die Sinus-schwingung immer gleichbleibend.

Die Ortskurvendarstellung ist eine zusätzliche Darstellungsvariante, bei der Frequenzänderungen berücksichtigt werden. Bei der Ortskurvendarstel-lung (einer Sinuskurve im Beispiel) wird die maximale Amplitude als Aus-gangs-Zeiger und die Veränderungen durch Frequenzvariation als Kurvenzug entlang den Zeigerspitzen dargestellt. Damit informiert die Ortskurve sehr konzentriert über beobachtbare Veränderungen.

-2 -1,5-1 -0,50 0,5 1 1,5 2

45

135

225

315

360

270

180

90

Level (-) minRate (-) min

Level (+) maxRate (+) min

Rate (-) max

Rate (+) max

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3. Systemtheoretische Grundlagen

70

Abb. 3.3-2: Entwicklung des Frequenzganges einer Sinusschwingung

3.3.3 Funktionen und Prozesse Eine völlig andere Dimension der Visualisierung ist angesprochen, wenn

die Funktion, Aufgabe oder Teilaufgabe der Systemelemente beschrieben werden soll. Eine Funktion im Sinne der betriebswirtschaftlichen Organisati-onstheorie ist eine Zusammenfassung von Aufgaben einer oder mehrerer Organisationseinheiten im Rahmen des Unternehmensprozesses27. Der Ein-kauf, die Produktion, der Vertrieb usw. sind betriebliche Funktionen. Analog zur Darstellung der Datenmodelle als Abbildung der Elemente und ihrer Be-ziehungen/Relationen wurden in der Informatik in den vergangenen Jahren viele Werkzeuge entwickelt, um die Funktionsaspekte solcher Prozesse zu modellieren. Beispiele hierfür sind: SADT, Petri-Netze, Jackson-Tools, Modulzusammenhänge usw. Die Abbildung 3.3-3 ist ein Beispiel für eine Prozeßdarstellung nach Jackson28 nach dem bekannten Bibliotheksbeispiel von J. R. Cameron.

27Vgl. Grochla, E. (Hrsg.): Betriebswirtschaftslehre. Teil I: Grundlagen. Stuttgart 1978, S. 39 f. Grochla spricht in diesem Zusammenhang von "realen Funktionen". 28Vgl. Cameron, John R.: An Overview of JSD "IEEE Transactions on Software Engineering", Vol. SE-12, No. 2, 1986.

Visualisierung von Prozessen als Funktionsmodelle

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3.3 Prozesse als Beschreibung des Verhaltens von Systemen

71

Abb. 3.3-3: JSD-Prozeßmodell nach Cameron "Bibliothek"

In der Informatik hat sich außerdem eine weitere Darstellung von Pro-

zessen in der Form von Flußdiagrammen entwickelt, die die Ablaufgesichts-punkte stärker betonen.

Inzwischen ist es üblich, die Datenmodelldarstellung mit der Funktionsmodell-Darstellung zu verknüpfen29. Dem Begriff "Prozeß" in dieser Ausprägung entspricht betriebswirtschaftlich dann der Begriff "Vorgang" (vgl. Abbildung 3.5-4, S. 120). Moderne CASE-Entwicklungs-tools berücksichtigen diesen Zusammenhang programmtechnisch. Es gibt dort die Möglichkeit, die zu einer betriebswirtschaftlichen Funktion gehörenden Bildschirme oder Windows einerseits aufzurufen und andererseits die dazugehörenden Entitäten mit allen Attributen anzuzeigen - und umgekehrt.

Unabhängig von dieser Darstellung ist es üblich, betriebswirtschaftliche Prozesse oder Vorgänge auch in Blockschaltbildern darzustellen, um Zeitaspekte oder Zuständigkeiten zu verdeutlichen. Die nachfolgende

29Vgl. in diesem Zusammenhang: Hansen, H. R., R. Mühlbacher u. G. Neumann: Begriffsbasierte Integration von Systemanalysemethoden. Heidelberg 1991, S. 247 ff.

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3. Systemtheoretische Grundlagen

72

Abbildung stellt einen logistischen Prozeß für ein Beispiel-Unternehmen von der Planung bis hin zur Entsorgung dar.

Der Projektablauf in Kapitel 5 (Abbildung 5.1-10, S. 215) beschreibt ebenfalls eine spezielle Prozeßdarstellungsvariante, ebenso wie die Abbildung 3.4-6 (S. 81).

Ein logistischer Prozeß wird überwiegend als mehrstufiger diskreter Prozeß modelliert. Durch Umformung (Transition) von Informationen, Mate-rie und Energie werden auf den einzelnen Stufen zu bestimmten Zeitpunkten Meldungen, Aufträge, Produktionslose, Transportlose und Energiemengen zur weiteren Transformation in der nächsten Stufe bereitgestellt. Ein besonderes Merkmal dieser Prozesse ist, daß sie durch Bedarfe bzw. Bestellungen ausge-löst werden und enden, wenn die Anforderungen am richtigen Ort, in der richtigen Menge, in der richtigen Qualität, zum richtigen Preis und zum rich-tigen Zeitpunkt zur Verfügung gestellt wurden. Die Fokussierung auf Prozesse ist ein Merkmal der Logistik von Anfang an30. 3.3.4 Aspekte der betriebswirtschaftlichen Prozeßorganisation

Prozesse wurden als Verhalten von Systemen insbesondere im Zeitab-

lauf definiert. Da Systeme aus vielen Subsystemen bestehen können, ist aus der oben gewählten Darstellung eines logistischen Prozesses nicht ersichtlich, welche Subsysteme genau welche betriebswirtschaftlichen oder technischen Funktionen im Gesamtsystem arbeitsteilig erfüllen bzw. wiederholen. Arbeits-teilung setzt voraus, daß die Subsysteme über Ordnungsinformationen verfü-gen, die besagen, welche gemeinsamen Ziele wie erreicht werden sollen. Um ihre Funktion im Gesamtsystem zu erfüllen, tauschen sie Informationen, Da-ten, Rohstoffe, Energie, Ressourcen usw. aus.

Eine betriebswirtschaftliche Funktion erfüllen heißt zunächst, sie weiter in Teilfunktionen zu zerlegen, sie zu formalisieren und zu spezifizieren, so daß sie rationell wiederholt werden kann. Danach müssen die Teilfunktionen Mitarbeitern zugeordnet werden, die sie systematisch erledigen31 und damit Zustände verändern. Bei der Zuordnung von Teilfunktionen zu Mitarbeitern 30Vgl. Chorafas, D.: Systems and Simulation. Mathematics in Science and Simulation, Vol. 14, New York u. London 1965, S. 327 ff., Houlihan, J. B.: International Supply Chain Management. IJPD, Vol. 15, Nr. 1, 1985, S. 22-38, Jones, Th. C. u. D. W. Riley: Using Inventory for Competitive Advantage through Supply Chain Management. IJPD, Vol. 15, Nr. 5, 1985, S. 17-26, Ihde, G.-B.: Transport, Verkehr, Logistik, 2. Aufl., a.a.O., S. 190 ff. 31Auf S. [129] wird die Zuordnung von Teilfunktionen zu Mitarbeitern detaillierter besprochen. Teilfunktionen werden zunächst auf Bildschirmoberflächen (Maps, Windows) abgebildet. Die Bildschirmoberflächen werden zu Vorgängen zusammengestellt. Die Vorgänge werden schließlich den Mitarbeitern (Stellen) und damit Abteilungen zugeordnet.

Der logistische Prozeß als zentraler betriebswirtschaft-licher Prozeß

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3.3 Prozesse als Beschreibung des Verhaltens von Systemen

73

wird überlegt, ob verrichtungsorientiert oder nach dem Objekt (gesamthaft) vorgegangen wird. Die Entscheidung wird durch die Qualifikation der Mitarbeiter und durch die verfügbare Informationstechnik bestimmt. Die Darstellung des logistischen Gesamtprozesses (vgl. Abbildung 3.3-4, S. 72) erscheint verrichtungsorientiert organisiert.

Die Organisation der Teilfunktionen innerhalb der Subsysteme, z. B. im Verkauf, in der Distribution, im Einkauf, beim Lieferanten usw. können dabei aber sehr wohl auch nach dem Objekt organisiert sein. Eine umfassende, formalisierte Darstellung von Funktionstypen und den zugehörigen Geschäftsprozessen wurde unter dem Stichwort RIM (Rechnergestütztes Informationsmanagement)-Referenzmodell32 entwickelt. Bei der Darstellung des Referenzmodells werden die Aspekte Datenmodell, Funktion, Prozeß und Information zusammenhängend gezeigt.

Bei der Bearbeitung einer betriebswirtschaftlichen Funktion muß sich das Subsystem nach den vorgegebenen (strategischen) Zielen richten, die den Charakter von Ordnungsinformationen haben und sich daraus selbst (operative) Subziele ableiten. Die strategischen Ziele werden durch Entschei-dungen über die Bereitstellung und Inanspruchnahme von Ressourcen er-reicht. Ressourcen sind Mitarbeiter, Rohstoffe, Finanzmittel, Transportmittel, Maschinen, Läger usw., über die die Subsysteme selbst verfügen oder die ihnen durch andere Subsysteme nach bestimmten Geschäftsregeln zur Verfü-gung gestellt werden. Um die Ressourcen nutzen zu können, müssen die Unternehmen die jeweils ressourcenspezifische Infrastruktur bereitstellen. Für die Nutzung der Informationstechnik müssen Computer und Netzwerke zur Verfügung stehen. Zur Nutzung von Schienenfahrzeugen müssen Gleise und Signalanlagen bereit stehen usw. Der Gesamtprozeß ist in bezug auf die gesetzten Unternehmensziele nur effektiv und in bezug auf den (wirtschaftlichen) Ressourceneinsatz nur dann effizient33, wenn die Subsy-steme ihre Funktionen effektiv und effizient erledigen.

Dies bedeutet, daß sie sich untereinander über die Ziele, die Entschei-dungen, die Ressourcen und über die Infrastruktur abstimmen müssen. Vor allem müssen sie im Zeitablauf dazu beitragen, daß die ihnen zugeordneten Funktionen zeitgerecht erledigt werden. Verzögerungen verursachen in der gesamten Kette weitere Verzögerungen. Aus diesem Grunde müssen be-stimmte Prozeßzustände gefunden werden, aus deren Beobachtung auf das Gesamtverhalten des Subsystems geschlossen werden kann.

32Vgl. Gutzwiller, Th. A.: Das CC RIM-Referenzmodell für den Entwurf von be-trieblichen transaktionsorientierten Informationssystemen. Heidelberg 1994, S.157 ff. 33Nach dem ökonomischen Prinzip in seinen zwei Ausprägungen: optimale Zielerreichung mit den erforderlichen Mitteln bzw. minimaler Mitteleinsatz mit den dann möglichen Zielen kann aber immer nur ein Ziel verfolgt werden.

Rahmenbedingungen betriebswirtschaft-licher Prozesse

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3. Systemtheoretische Grundlagen

74

Wenn ein operatives Ziel nicht erreicht wurde, ist es zu spät, wenn nur noch die Tatsache festgestellt werden kann. Aus diesem Grunde sind "geschäftskritische" Zustände, z. B. der gesamte Kundenauftragsbestand und der Bestand erledigter Aufträge, wöchentlich usw. zu definieren.

Abb. 3.3-4: Der logistische Prozeß kann einen komplexen Umfang annehmen

Wenn ein bestimmtes Monatsziel erreicht werden soll, dann kann bereits

nach der ersten Woche abgeschätzt werden, ob die Zielerreichung noch

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3.4 Architekturprinzipien in der Systemtheorie

75

möglich ist. Falls nein, können sofort Gegenmaßnahmen eingeleitet werden. Damit ist die Erreichung des Zieles wahrscheinlicher. 3.4 Architekturprinzipien in der Systemtheorie 3.4.1 Die Stellung von Architekturprinzipien in der Wissenschaftstheorie

In der Systemforschung wurden viele Analysen und Beschreibungen von Systemverhalten im Laufe der Zeit wiederentdeckt. "Wiederentdeckt" heißt, daß Forscher in früheren Jahrhunderten in unterschiedlichen Disziplinen, z. B. in der Biologie, Physik, Mechanik und Statistik usw. Phänomene beob-achteten und beschrieben, die erst in unseren Tagen mit den abstrakten Hilfsmitteln der Systemforschung als Verhalten bestimmter klassifizierbarer Systemtypen identifizierbar sind. So können Verhaltenscharakteristika, die in der Zeit bzw. im Frequenzbereich festgestellt wurden, Systemen erster oder höherer Ordnung zugeordnet werden bzw. es wird erkannt, daß das Verhalten durch negative oder positive Regelkreise ausgelöst wurde. Schwieriger wird es beim Erkennen linearer bzw. nicht-linearer Gesetzmäßigkeiten, speziell im Zusammenhang mit positiven Regelkreisen. Lange Zeit wurden insbesondere in der Betriebswirtschaftslehre viele Attraktoreigenschaften positiver Regelkreise nicht erkannt.

Modelle sind homomorphe Abbildungen der Realität mit dem Ziel, die Struktur und das Verhalten von Systemen zu beschreiben. Auch die in den vorangegangenen Kapiteln gebrauchten Visualisierungen gehören zu dieser Klasse von Beschreibungen. Gleichungssysteme (vgl. Kapitel 3.4.2 ff.) sind alternative (analytische) Beschreibungshilfsmittel. Modelle dienen der Ver-einfachung der Realität. Die Modellbildung (deduktiv oder induktiv) ist in allen wissenschaftlichen Disziplinen ein anerkanntes Hilfsmittel bei der Ab-leitung von Aussagen. Daneben spielen sie eine wichtige Rolle als didaktische Werkzeuge beim Wissenstransfer.

Aussagen sind prüfbar ungeprüft geprüft

begründbar

unbegründet Spekulation ad hoc-Hypothesen

begründet plausible Hypothesen Gesetzmäßigkeit

Abb. 3.4-1: Aussagensysteme Aussagen werden in der Wissenschaftstheorie je nach Wahrheitsgehalt

eingeordnet. Eine Hypothese ist danach z. B. eine Aussage, die entweder be-gründet oder geprüft ist. Hypothesen werden in der "Wenn..., dann..."-Syntax formuliert. Ein bewiesenes und geprüftes Aussagensystem stellt nach dieser

Modellbildung

Aussagensysteme

KI-Systeme als Hypothesen-Testsysteme

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3. Systemtheoretische Grundlagen

76

Auffassung eine Theorie (Gesetzmäßigkeit) dar (vgl. Abbildung 3.4-134). Auf diesem Schema basiert die sogenannte "Regelbasierte KI-System-entwicklung". Sie läßt sich beispielhaft für den Umgang mit Hypothesen bzw. mit Theorien heranziehen. Ein regelbasiertes KI-System ist z. B. BABY-LON35.

Die KI-Entwicklungsumgebungen (shells) verfügen über einen Editor als Benutzerschnittstellenkomponente, über eine relationale Datenbankkom-ponente, in der die gefundenen Regeln in der "Wenn..., dann..."-Syntax abge-legt sind, ferner über einen Regel-interpreter bzw. über eine Inferenzkompo-nente oder auch Schlußfolgerungskomponente sowie über tools, mit deren Hilfe die gefundenen Schlußfolgerungen nachvollzogen werden können (Erklärungskomponente) (vgl. Abbildung 3.4-2).

Abb. 3.4-2: Struktur eines KI-(regelbasierten) Entwicklungssystems

Die Ableitung der Regeln bzw. der "Wenn..., dann..."-Formulierungen sind, wie in der Forschungsarbeit, sehr schwierig und oft langwierig. Jede einzelne Aussage basiert auf einem Modell, das der Forscher oder Interviewer zusammen mit anderen Experten entwickelt. Sind ausreichend Regeln formu-liert, können Schlußfolgerungen mit Hilfe des Regelinterpreters abgeleitet werden. Die interaktive Auseinandersetzung mit Regeln und Schlußfolgerun-gen hilft, die Wissensbasis weiter zu verbessern. Wie in der Forschungsarbeit, ist ein solches System niemals abgeschlossen. In umfangreichen Untersu-

34In Anlehnung an Schanz, Günter: Einführung in die Methodologie der Betriebswirtschaft. Köln 1975, S. 42 ff. 35Vgl. Christaller, Thomas: Expertensysteme in der Praxis - was sie leisten und welche Zukunft haben sie? In: GMD-Spiegel Nr. 3/4 1991, S. 63-66.

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3.4 Architekturprinzipien in der Systemtheorie

77

chungen36 wurde dargestellt, daß sich regelbasierte Expertensysteme in der Praxis hervorragend dazu eignen, bestimmte Typen von Entscheidungen zu automatisieren, das Qualifikationsniveau in wissenskritischen Bereichen zu verbreitern und zu verbessern sowie Expertenwissen zu Diagnosezwecken zusammenzuführen. Allerdings verzichtet man bei der Entwicklung der Wis-sensbasis häufig auf die Überprüfung und auf den Beweis von Behauptungen.

Architekturgesetze, wie sie im folgenden angesprochen werden, haben den Stellenwert von Hypothesen, d.h. die verwendeten Aussagen, die ein Architekturgesetz beschreiben, sind sowohl mathematisch beweisbar als auch in Experimenten verifizierbar37. 3.4.2 Die elementaren Subsystem-Modelle

3.4.2.1 Modell des linearen, negativen Regelkreises Komplexe dynamische Systeme sind in Anlehnung an Peitgen, Jürgens

und Saupe Fraktale38. Die Komplexität folgt bei näherer Betrachtung aus Wiederholungen selbstähnlicher Elementar-Subsysteme. Je nach Vorgehens-weise können diese elementaren Subsysteme aus der Gesamtheit top-down wieder und wieder isoliert werden oder umgekehrt kann die Selbstähnlichkeit dazu genutzt werden, komplexe Systeme induktiv zusammenzufügen.

Im folgenden werden der (lineare) negative Regelkreis (erster Ordnung), der positive Regelkreis (erster Ordnung) und die Steuerung als elementare Subsysteme beschrieben. Der negative, lineare Regelkreis als Elementar-Subsystem hat dabei die folgenden Eigenschaften:

Der Aufbau des Regelkreises entspricht dem Modell elementarer betriebswirtschaftlicher Entscheidungsprozesse. Die Kopplung der einzelnen Systemelemente, d.h. ihre Kommunikation und Interaktion, erfolgt ohne Verzögerung, ebenso die Verarbeitung von Informationen, Materie oder Energie in den einzelnen Elementen.

Obwohl die Annahmen über die Kommunikation, Interaktion und Informationsverarbeitung zunächst wenig wirklichkeitsnah sind, erlauben sie Analysen, die sukzessiv an die Realität angenähert werden können. Die Ähnlichkeit der Regelkreisstruktur mit elementaren betriebswirtschaftlichen Entscheidungsprozessen wurden in einer breiten Fülle betriebswirtschaftlicher

36Vgl. Nöcker, Christoph: Erfolgsfaktoren für die Entwicklung wissensbasierter Systeme im Finanzdienstleistungsbereich. Köln 1992, S. 131 ff. 37Vgl. Albert, H: Probleme der Theoriebildung. Entwicklung, Struktur und Anwen-dung sozialwissenschaftlicher Theorien. In: Theorie und Realität. Ausgewählte Auf-sätze zur Wissenschaftslehre der Sozialwissenschaften. Hrsg.: H. Albert, Tübingen 1964, S. 3-70. 38Vgl. Fußnote 8 dieses Kapitels.

Unternehmen als Fraktale

Regelkreise als (selbstähnliche) Elementarsysteme

Negative Regelkreise sind zielsuchend

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3. Systemtheoretische Grundlagen

78

Literatur bereits gut dokumentiert39. Abbildung 3.4-3 zeigt ein einfaches Modell eines negativen, linearen Regelkreises mit alternativer Darstellung in der grafischen Beschreibungskonvention nach J. W. Forrester.

Abb. 3.4-3: Modell des negativen, linearen Regelkreises Die Begriffe level und rate entsprechen den Begriffen "Zustand" und

"Entscheidung". Rates sind Flußgrößen, levels sind Zustandsgrößen. Die Di-mension der rates wird als Quotient geschrieben. Der Zähler dieses Quotien-ten entspricht der Dimension der levels, während der Nenner einen Zeitbezug erhält, z. B. Mengeneinheiten (ME) dividiert durch Zeiteinheiten (ZE).

Systemverhaltenerzeugt lineares, negatives

Rate

Level0 Ziel

-m

Rate

Level0

+m

erzeugt lineares, positivesSystemverhalten

Abb. 3.4-4: Linearer, negativer und linearer, positiver Systemzusammenhang

39Vgl. Heinen, E.: Industriebetriebslehre. Entscheidungen im Industriebetrieb. Wiesbaden 1972, S. 34 ff. und z. B. Baetge, J. (Hrsg.): Grundlagen der Wirtschafts- und Sozialkybernetik. Betriebswirtschaftliche Kontrolltheorie. Opladen 1975 mit vielen Beiträgen zu diesem Thema.

Regelkreismodell

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3.4 Architekturprinzipien in der Systemtheorie

79

Das hier vorgestellte elementare Regelkreismodell heißt negativ und

linear, weil der Zusammenhang zwischen level und rate als Gerade mit negativer Steigung (vgl. Abbildung 3.4-4) beschrieben wird. Entsprechend gilt für lineare positive Regelkreise, daß der Zusammenhang zwischen level und rate als Gerade mit positiver Steigung beschrieben wird.

Nachfolgend wird das mathematische Modell eines linearen, negativen Regelkreises wegen der grundsätzlichen Bedeutung ausführlicher dargestellt.

Input xe

Output xafunktion h1 +

Vorwärts-

System

Rückwärts-übertragungs-funktion h2

übertragungs-

Regler

RegelstreckeStellgröße Regelgröße

Abb. 3.4-5: Grundschema einer Rückkopplung Aus der einfachen Blockgleichung (11) xa (xe h2xa )h1 läßt sich die Gesamtübertragungsfunktion des rückgekoppelten Systems (Regelkreis) ableiten,

(12) xaxe

h h11 h1h2

die bei vielen Betrachtungen nützlich ist (vgl. auch [21]).

In der Systemtheorie ist es üblich, ein System als input/output-Funktionsmodell darzustellen. Jedes System hat eine charakteristische Über-tragungsfunktion, mit der der System-input "gefaltet" wird. In der folgenden mathematischen Darstellung (Gleichung [13]) erscheint diese Übertragungs-funktion nur implizit.

Es wird postuliert, daß der Systemausgang funktional mit Hilfe des Systemeinganges erklärt werden kann.

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3. Systemtheoretische Grundlagen

80

(13)

... ( ) ( ) ( ) ( ) ( ) ( ) ... a d xa t

dta dxa t

dta xa t b xe t b dxe t

dtb d xe t

dt2

2

2 1 0 0 1 22

2

Die xa beschreiben den Systemausgang (output), und die xe entspre-chend den Systemeingang (input). Die Koeffizienten a0, a1, a2, ..., b0, b1, b2 ... heißen Beiwerte. Definitionsgleichung eines Systems erster (1.) Ordnung:

(14) a1dxa (t)

dta0xa (t) b0xe(t)

Für den output des Systems ergibt sich:

(15) xa t ba

xe t aa

dxa tdt

( ) ( ) ( ) 0

110

Die Quotienten:

(16) KP = b0a1

allgemein: KG = bman

mit n=1,

für das System erster Ordnung heißen Verstärkungsfaktoren. Die Quotienten:

(17) T1 = aa0

1 ; allgemein Tn = a1a0

n

heißen entsprechend Verzögerungsfaktoren. Dividiert man jetzt (15) durch T, dann folgt (mit T für T1) die elementare Beziehung:

(18) 1T

xa(t) KT

xe(t) dxa (t)dt

o d e r :

dxa tdt

KT

xe tT

xa t( ) ( ) ( ) 1

Von hier aus ergeben sich typische Wege, zur Lösung dieser Gleichung:

analytisch, mit den Verfahren zur Lösung von Differentialgleichungen, simulativ bzw. rekursiv.

System 1. Ordnung

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3.4 Architekturprinzipien in der Systemtheorie

81

Nach dem allgemein bekannten analytischen Verfahren zur Lösung von Differentialgleichungen, zerlegt man Gleichung (16) in einen homogenen und in einen inhomogenen Teil. Beide Gleichungen werden dann nach dem Verfahren der "Trennung von Veränderlichen" gelöst.

Als gedanklicher Startzeitpunkt linearer, zeitinvarianter Systeme wählt man stets den (zeitlichen) Ursprung "0" im Koordinatensystem. Damit bleibt nur der inhomogene Teil der Lösung übrig. Diese Beziehung ist in (19) darge-stellt:

(19)

t

t

tsaa

e dsesxTKt

0

)(

a

0

1

0

)()(x

oder

(20)

t

t

stT

ea dsesxTKtx

0

)(1

0

)( )(

bzw. mit K=1

(21) dseT

sxtx Tstt

tea

)(

0

1)( )( 0

Mit der folgenden Vereinfachung:

(22) h sT

es

T( )

1

für s > oder gleich 0, bzw. h(s) = 0, für s < 0 lautet der Ausdruck (19), mit Hilfe von (20) umgeformt dann:

(23)

t

0tea

0

ds (s)s)x(th (t) x

mit "xe(t)" als "Eingangs- oder Systemerregungsfunktion".

"h(s)" heißt System-Antwort- oder Gesamtübertragungsfunktion (s.o.). Das Systemverhalten xa(t) wird also berechnet, indem man die Systemeingangsfunktion mit der Übertragungsfunktion "faltet". (21) nennt man auch: Faltungs-, Superpositions- oder DUHAMEL40-Integral.

40Vgl. McColl, L.A.: Fundamental Theory of Servomechanisms, New York 1946, S. 88 ff. Wiener, Norbert: Extrapolation, Interpolation, and Smoothing of Stationary Time Series, New York 1949, S. 56 ff. Außerdem Robinson, E. A.: Random

Lösung einfacher Differential-gleichungen

Faltungs-Integral

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3. Systemtheoretische Grundlagen

82

Der rekursive Lösungsansatz41 entwickelt sich aus der oben dargestellten Gleichung (18):

(24) dxa tdt

KT

xe tT

xa t( ) ( ) ( ) 1

Im Gegensatz zur oben dargestellten Vorgehensweise beim analytischen

Verfahren, wird der Differentialquotient jetzt in einen zeitdiskreten Differenzenquotienten umgewandelt:

(25) xa t xa tDT

KT

xe t tT

xa t t( ) ( ) ( , ) ( , )

1 1 1 1

Die linke Seite der Gleichung wird als Netto-Veränderung der

beobachteten Ausgangsgröße bezeichnet. Die Netto-Veränderung läßt sich auch als Differenz zwischen zwei Zuständen verstehen. Für "Zustand" wird die Bezeichnung xa(t-1) - vor der Veränderung - und xa(t) - nach der Veränderung, beibehalten. Die "Veränderungsrate" bei xa bzw. bei xe in der Zeit wird durch den Hinweis auf die beiden betrachteten Zeitpunkte (t-1 und t) gekennzeichnet. Damit läßt sich (12) erneut umformen:

(26)

t)1,(t x

T1t)1,(t x

TK DT1)(t x(t) x aeaa

Der Zeitabstand (t-1,t) entspricht hier genau : 1 DT. Von hier aus werden zwei Strom- oder Flußgrößen (RATES [R]) definiert:

(27) Re = KT

xe t t( , )1 für die Eingangsrate und

(28) Ra = 1T

xa (t -1, t) für die Ausgangsrate.

Wavelets and Cybernetic Systems, New York u.a.O. 1962, S. 14 ff. und Pugachev, V.S.: Theory of Random Functions and its Application to Control Problems, 3. Aufl., Oxford u.a.O. 1965, S. 129 und 342 ff.; 41Vgl. Gordon, G.: Systemsimulation, München, Wien 1972, S. 39 ff., Rommelfanger, H.: Differenzen- und Differentialgleichungen, Zürich 1977, S. 35 ff., Niemeyer, G.: Kybernetische System- und Modelltheorie, München 1977, S. 67. und Forrester, J. W.: Industrial Dynamics, Cambridge (Mass.), London (Engl.) 1961, S. 13 ff.

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3.4 Architekturprinzipien in der Systemtheorie

83

Daraus wird dann schließlich: (29) XZ(t) = XZ( ) ( )t DT Re Ra 1

Die Rekursionsgleichung dient zur Lösung einer linearen Differentialgleichung. In der Betriebswirtschaftslehre gibt es eine Reihe praktischer Beispiele für die Anwendung dieser Gleichung, z. B. für die Lagerbestandsentwicklung: (30) Bestand(Neu) = Bestand(Alt) + (Zugang-Abgang)

DT (=1) wird in diesem Fall als Zeitmaß für eine Basis-

Beobachtungsperiode angenommen.

DT:= Level:=AT:=t:=L:=

Zeit-Increment festl.initialisierenVerzögerungskonstante festl.Zeit-Zählvariable initialisierenZähl-Schranke festl.

ja t < L ?

nein

Level.K=Level.J+DT*Rate.JK

t = t+DT

Rate.KL = (Ziel - Level.K)/AT

STOP

Start

Abb. 3.4-6: Programm-/Prozeßablaufstruktur der rekursiven Lösung

Die Abbildung 3.4-6 zeigt eine Programm-/Prozeßdarstellung der

Rekursionsgleichung. Auf dieser Grundlage fußen "kontinuierliche Simulati-onsverfahren", wie z. B. System-Dynamics von J.W. Forrester42.

42Vgl. Forrester, J. W.: ebenda, S. 17 ff.

Differenzen-gleichung

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3. Systemtheoretische Grundlagen

84

In manchen Fällen ist es hilfreicher, anstelle der kontinuierlichen Darstellung und Berechnung des Systemverhaltens, den zeitdiskreten Ansatz43 zu wählen. Insbesondere das bei Freeman beschriebene Matrizenkalkül zur Berechnung von Zustandsgleichungen eignet sich gut für die Berechnung von Modellen.

3.4.2.2 Modell des (linearen) positiven Regelkreises Dieses Elementar-Modell heißt linear und positiv, weil der

Zusammenhang zwischen der Flußgröße (rate) und der Zustandsgröße (level), der Flußgröße also und dem Zustand, als Lineargleichung mit positiver Steigung beschrieben werden kann (vgl. Abbildung 3.4-7). Die zentralen Eigenschaften sind:

Der Aufbau des Regelkreises entspricht dem Modell elementarer betriebswirtschaftlicher Wachstumsprozesse. Dabei erfolgt die Kopplung der einzelnen Systemelemente, d. h. ihre Kommunikation und Interaktion ohne Verzögerung. Ebenfalls ohne Verzögerung erfolgt die Verarbeitung von Informationen, Materie oder Energie in den Elementen.

Das mathematische Modell eines linearen, positiven Regelkreises kann als Exponentialfunktion entwickelt werden: (31) level (t) = er

e selbst entwickelt sich nach der Gleichung

(32) n1 +1

n

lim

n = e

Diese Darstellung zeigt, daß sehr viele Rückkopplungen nötig sind, bis exponentielles Wachstum erreicht wird. Das Symboldiagramm ist in der Abbildung 3.4-7 dargestellt.

43Vgl. Fußnoten 15 und 32 in diesem Kapitel. Außerdem: Freeman, H.: Discrete-Time Systems. An Introduction to the Theory. New York, London, Sydney 1965, S. 15 u. 19 ff. vgl. auch Naylor Th. H., J. L. Balintfy, D. S. Burdick u. K. Chu: Computer Simulation Techniques. New York, London, Sydney 1966, S. 123 ff.

Positive Regelkreise erzeugen Wachstum

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3.4 Architekturprinzipien in der Systemtheorie

85

Abb. 3.4-7: Modell des positiven Regelkreises Positiven Regelkreisen kommt in der Betriebswirtschaftslehre eine

große Bedeutung zu. Marktwachstum kann - zumindest vorübergehend - linear positiv sein. Allgemeinere Modelle, in denen auch Sättigung möglich ist, sind dagegen nicht-linear, positiv. Unternehmen, vereinfacht als negativer Regelkreis interpretiert, müssen kontinuierlich ihr "Ziel" anpassen, um dem positiven Regelkreis folgen zu können.

3.4.2.3 Steuerung Bei der Steuerung handelt es sich um das dritte Elementar-Modell, das

durchaus Ähnlichkeit mit Entscheidungsprozessen hat. Die Grundannahmen betreffen auch hier Verzögerungsfreiheit bei Interaktionen und bei der Informationsverarbeitung. Entscheidungsprozesse, die nach diesem Prinzip organisiert sind, setzen genaueste Systemkenntnis voraus. Außerdem darf es während der Prozesse nicht zu Abweichungen von den Annahmen kommen. In Abbildung 3.4-8 ist ein einfaches Modell dargestellt.

Abb. 3.4-8: Einfaches Modell der Steuerung

Um die Wasserbehälter auf das Zielniveau (1 l) aufzufüllen, muß bei gegebenem Wasserdruck und Leitungsrohrquerschnitt der Wasserhahn 10 Sekunden geöffnet bleiben. Ein Vorgehen nach diesem Modell setzt voraus, daß alle diese Größen bekannt sind. Außerdem dürfen keine Störungen, z. B. Druckabweichungen, vorkommen.

In der Praxis ist eine Kombination von Regelung und Steuerung üblich. In gutbeherrschten Systemumgebungen wird Steuerung als Prinzip angewen-det und durch negative Rückkopplungen verfeinert, um Abweichungen unter Kontrolle zu halten. Nach dem Prinzip der Steuerung waren in der Vergan-genheit vor allem die Planungssysteme (Absatzplanung, Produktionsplanung,

"Steuerung" wird mit "Regelung" kombiniert

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3. Systemtheoretische Grundlagen

86

Personalplanung, Investitionsplanung usw.) in den Unternehmen eingebettet. Zeitnahe feed-back-Mechanismen fehlten völlig. Die errechneten Vorgaben aus der Planung wurden an die Steuerstrecke "Unternehmen" weitergegeben. Die Planüberprüfungen nach sechs Wochen und mehr hatten kaum "regelnden" Einfluß. Die Plausibilität der Planung wird als Folge bezweifelt und verliert nach und nach auch die Bedeutung als Instrument der Steuerung.

3.4.2.4 Übergang zu Systemmodellen höherer Ordnung Die Annahmen über verzögerungsfreie Interaktionen und Verarbeitung

von Informationen in den betrachteten Elementarsystemen können i.d.R. in der Realität nicht aufrecht erhalten werden. Zum Beispiel erfolgt die Erfassung der Information über den Ist-Zustand und die Übermittlung an das Element, das aus Ziel und Ist-Zustand in der Abbildung 3.4-9 die Abweichung ermittelt, nicht verzögerungsfrei. Nimmt man also an, daß zur Übermittlung der Information, wie in Abbildung 3.4-8, ein eigenständiges Subsystem, z. B. ein linearer, negativer Regelkreis, eingeschaltet wird, dann tritt im Gesamtsystem eine Verzögerung auf.

Verzögerungen

Abweichungen

Zeit

Ziel

Ist

Entscheidung

e1 e2e4e3

e0

e41

e42e43

VV

V

V

V

Abb. 3.4-9: Modell eines Systems "höherer Ordnung"

In Abbildung 3.4-9 wird außerdem deutlich, daß in dem für die

Informationsübermittlung eingeschalteten Subsystem weitere Subsysteme involviert sein können. Diese Art der Betrachtung macht deutlich, daß durch Deduktion (zooming) einfacher Modelle Systeme höherer Ordnung entstehen können. In Systemen höherer Ordnung auftretende Verzögerungen können das Gesamtsystem in seiner Existenz bedrohen, es unfähig machen, nach bekannten Maßstäben vernünftig zu reagieren, z. B. die Erreichung eines Zieles verhindern.

Systeme höherer Ordnung verursachen Verzögerungen

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3.4 Architekturprinzipien in der Systemtheorie

87

Ein einfaches Dynamo-Modell eines linearen, negativen Regelkreises (zweiter Ordnung), eröffnet bereits die Möglichkeit, die gesamte Problematik solcher Systeme zu diskutieren. Dabei interessieren vor allem die Bedingungen, unter denen stabiles Verhalten erreichbar ist. Diese Bedingungen sind auf analytischem Wege (noch) berechenbar. Für das betrachtete Modell gilt die Bedingung: AT D 4 (s. u.).

Systemzustand

Zeit

0

2

4

6

8

10

12

14

0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30

Ziel

Level, Ziel

Zeit

0

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20

Rate

Level, Ziel

Systemzustand

Ziel

System 2. Ordnung

System 1. Ordnung

Abb. 3.4-10: "Gedämpftes" System zweiter Ordnung und System erster Ordnung

PAGE 1 EINFACHES BEISPIEL FüR EIN SYSTEM ZWEITER ORDNUNG 04/18/93 18:54 L L2.K=L2.J+DT*R2.JK L2:=Zustandsgröße2 (Level) R R2.KL=L1.K/D R2:=Flußgröße 2 (Rate) L L1.K=L1.J+DT*(R1.JK-R2.JK) L1:=Zustandsgröße 1 R R1.KL=(ZIEL-L2.K)/AT R1:=Flußgröße 1 C D=2 D:=Verzögerungskonstante

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3. Systemtheoretische Grundlagen

88

C AT=1 AT:=Verzögerungskonstante C ZIEL=10 Ziel:=Zielzustand N L1=5 L1=5:=Anfangswert für L1 N L2=2 L2=2:=Anfangswert für L2 SAVE L1,L2,R1,R2,ZIEL Speicher f. Variable res. SPEC DT=0.25/LENGTH=30/SAVPER=1 Systemanweisungen

Die Abbildung 3.4-10 zeigt ein Einschwingverhalten des

angenommenen Systems zweiter Ordnung mit nachfolgender Stabilisierung im Beobachtungszeitraum (oben). Zum Vergleich ist außerdem ein System erster Ordnung dargestellt (unten).

Das zugehörige LISTING des Modells ist im Anschluß an die Abbildung dargestellt. Die beiden Konstanten AT und D determinieren das Verhalten des Systems (s.o.) bei gegebenen Anfangswerten und bei gegebener Zielsetzung.

Das Modell entspricht dem in Abschnitt 3.4.3 dargestellten Vereinigungsfall.

Die Differentialgleichung für dieses System zweiter Ordnung kann in der folgenden Form geschrieben werden:

(33) L LT

LT T

ZielT T

2 2

22

2 1 2 1

Die Lösung, insbesondere die Feststellung kritischer Verhaltensberei-che, ist in diesem einfachen Fall analytisch noch leicht feststellbar. Als Lösungsverfahren für homogene und inhomogene Differentialgleichungen zweiter Ordnung bieten sich an44:

die Runge-Kutta-Nystrom-Methode, die Rayleigh-Ritz und Finite Differenzen-Methode und die Cauchy-Euler-Differentialgleichungssysteme.

Außerdem gibt es die Möglichkeit, Differentialgleichungssysteme zweiter Ordnung durch ein System von Differentialgleichungen erster Ordnung mit den dafür bekannten Verfahren zu lösen45.

Für die Einführung nicht-linearer Zusammenhänge und für Systeme höherer Ordnung ist es einfacher, die Systemzustände für einen bestimmten Zeitausschnitt rekursiv zu berechnen.

Bei der Betrachtung eines Systems höherer Ordnung sind die folgenden Situationen möglich:

44Vgl. Roberts, L.F.: Introduction to Ordinary Differential Equations. In: Mathcad Education Library (Electronic Handbook). Cambridge MA, 1993, Kap. 2. 45Vgl. ebenda, Kap. 3, und Wunsch, G.: Geschichte der Systemtheorie, a.a.O., S. 92 ff.

Analytische Verfahren zur Lösung höherer Differential-gleichungen

Beispiele für Grenzsituationen in Systemen höherer Ordnung

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3.4 Architekturprinzipien in der Systemtheorie

89

Die Systemparameter sind gut abgestimmt, das System ist zielsuchend und erreicht das Systemziel durch asymptotische Annäherung.

Die Systemparameter sind zu sehr gedämpft, das System erreicht das Ziel trotz asymptotischer Annäherung nicht.

Das System beginnt zunächst zu oszillieren, schwingt sich dann aber im Ziel ein.

Das System beginnt zu oszillieren, die Schwingungen werden stärker; das System gerät außer Kontrolle.

An Systemen zweiter Ordnung kann bereits sehr eindrucksvoll demonstriert werden, wie sich Verzögerungen einstellen. Vor allem auch die Doppel- und Mehrfachfunktionen, die in mehrstufigen hierarchischen Organisationen, aber auch in der klassischen Funktionsteilung: Vertrieb, Produktion, Beschaffung usw. verankert sind, können demonstriert werden.

Ein bemerkenswerter Spezialfall für Systeme 2. Ordnung ist der sogenannte Resonanzfall. In einem Beispiel für ein mehrstufiges Vertriebs-/Distributionssystem kann gezeigt werden46, daß bei unabgestimmter Disposition auf jeder Distributionsstufe (Doppelfunktion), das Gesamtsystem unter bestimmten Bedingungen mit immer größerer Amplitude zu schwingen beginnt. Die Folge ist wechselweise Unter- bzw. Überversorgung (vgl. Abbildung 3.4-11):

Abb. 3.4-11: Auswirkungen unabgestimmter Doppelfunktionen (ungedämpfte Resonanz)

46Vgl. Merkel, H.: Simulationsmodelle für die Optimierung interdependenter logistischer Prozesse, a.a.O., S. 167 ff.

Resonanzfall

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3. Systemtheoretische Grundlagen

90

Als Konsequenz wurde in dem angegebenen Beispiel die Disposition auf einer Vertriebs-/Dispositionsstufe zusammengefaßt.

Am Beispiel eines (nicht-linearen) positiven Regelkreises wird jetzt kurz dargestellt, wie schnell bereits Grenzsituationen erreicht werden. Verhulst, ein holländischer Biologe47, entwickelte aus einem einfachen linearen Wachstumsmodell (34) Xn B Xn 1 (positiver Regelkreis) einen nicht-linearen positiven Regelkreis, indem er ein Normierungsglied einführte, das Populationen besser vergleichbar machen sollte. (35) Xn B Xn 1(1 Xn 1) Alternativ ist auch die folgende (geläufigere) Darstellung möglich48: (36) Xn Xn rXn 1 1 beziehungsweise (37) Xn Xn rXn Xn 1 1 1 1( )

In Zonen "normalen" Wachstums verhält sich dieses System stabil, es hat für ausgewählte Wachstumsraten jeweils einen punktförmigen Attraktor. Die Abbildung 3.4-13(a) zeigt die zeitliche Entwicklung einer Population. Die Population entwickelt sich von einem Initialwert her sehr schnell auf ihren Grenzwert zu und verharrt dort (punktförmiger Attraktor). Die nächste Abbildung (b) zeigt für B=3 bereits eine ambivalente Situation. Das System springt zwischen zwei Attraktoren hin und her, was in der Abbildung bereits deutlich sichtbar ist. Wird B größer als 3, spalten sich die Attraktoren wieder und wieder, bis das System "chaotisch" wirkt, d.h. es folgt jetzt sehr vielen Attraktoren gleichzeitig. Die chaotische Reaktion ergibt sich als Zusammenbruch der Vorhersagbarkeit (breakdown of predictibility)49 im mathematischen Sinne.

Die Abbildung 3.4-13c zeigt einen solchen Übergang in das Chaos für das Verhulst'sche Modell.

47Vgl. Briggs, J. u. F. D. Peat: Die Entdeckung des Chaos. München 1993, S. 80 ff. 48Vgl. Peitgen, H.-O., H. Jürgens und D. Saupe: a.a.O., S. 44 ff. 49Vgl. ebenda, S. 49 ff.

Zusammenbruch der Berechenbarkeit als "Chaos"

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3.4 Architekturprinzipien in der Systemtheorie

91

Mit der Berechnung der Mandelbrot'schen Menge wurde der Systemtheorie ein Weg gewiesen, um die "fraktale Dimension" der Systemverhaltensmuster sichtbar zu machen50. Dabei wird vor allem deutlich, daß a u c h das Chaos jenseits der Darstellung im Zeitbereich eine Ordnung besitzt (vgl. Abbildung 3.4-14). Dieser Zusammenhang zwischen Prozeß einerseits und Muster (pattern) andererseits ist sehr interessant. Es wird deutlich, daß das Verhalten eines Systems zwar aus der Prozeßdarstellung im Zeitablauf (Zustands-/Zeitdiagramme) beurteilt werden kann, daß aber eine Betrachtung einer zwei- oder dreidimensionalen Transformation in die komplexe Ebene neue Erkenntnisse hinsichtlich bestimmter Regelmäßigkeiten liefert. Von dieser Erkenntnis machte bereits Kepler Gebrauch, als er sein erstes und zweites Bewegungsgesetz grafisch umsetzte. Die Umkehrung ist genauso interessant. Viele Formen und Muster in unserer dreidimensionalen Welt entpuppen sich bei näherer Betrachtung als selbstähnliche, sich wiederholende regelmäßige Muster, die mit Hilfe einfacher Algorithmen berechnet werden können. Die Darstellung der Ergebnisse der gleichen algorithmischen Berechnung im Zeitablauf würde diese Ergebnisse niemals vermuten lassen. Bekannte Darstellungen sind in diesem Zusammenhang der Barnsley'sche Farn und die Mandelbrot'sche Menge (Apfelmännchen).

Abb. 3.4-12: Der Barnsley'sche Farn und die Mandelbrot'sche Menge, berechnet mit Winfract51

Bereits früher wurde gezeigt , daß durch den Wechsel vom Zeit- in den

Frequenzbereich zusätzliche Informationen über das Systemverhalten gewonnen wurden. Mandelbrot ging bei der Berechnung der nach ihm

50Vgl. ebenda, S. 44 ff. 51Fractals for Windows, Version 17.5, 1992, Shareware-Version, Hrsg.: The Stone Soup Group and Waite Group Press.

Ein Wechsel der Betrachtungsebene bringt neue Einsichten

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3. Systemtheoretische Grundlagen

92

benannten Mandelbrot'schen Menge deshalb keinen grundsätzlich neuen Weg. Sein Verdienst ist, daß er die Aufmerksamkeit vieler Wissenschaftler auf diese Betrachtung konzentrieren konnte.

Bei der Berechnung der Mandelbrot'schen Mengen wird nicht das Systemverhalten von der Zeit in den Frequenzbereich projiziert, sondern jeder einzelne Punkt eines Ausschnittes der komplexen Ebene wird geprüft, ob er bestimmten Bedingungen genügt52.

Für die Überprüfung der Bedingung wird ein beliebiger Punkt des Ausschnitts der komplexen Ebene ausgewählt. Auf ihn wird die Rechenvorschrift, die für das Systemverhalten im Zeitbereich gilt, wiederholt angewendet, z. B.:

(38) zn zn c 12 mit c=a+bi,

d.h. c ist eine komplexe Zahl, a ist der reelle Teil der Zahl, b der Absolutwert des imaginären Teils (i= 1 ).

Dabei werden neue Punkte erzeugt. Für die neuen Punkte interessiert vor allem, ob sie im Orbit des Ausgangspunktes, innerhalb des Ausschnittes bleiben oder ob sie "fliehen". Falls gilt:

(39) zn1 < 2,

wird der nächste Punkt berechnet, falls nicht, ist er "entflohen". Nach einer zu definierenden maximalen Zahl von Berechnungen wird der Punkt in die Mandelbrot'sche Menge aufgenommen. Als Rechenvorschrift kann auch jede andere Systemverhaltensbeschreibung angewendet werden. Die in den Darstellungen 3.4-13 gezeigten Punktmengen wurde so berechnet.

00,10,20,30,40,50,60,70,8

0 5 10 15 20 25 300

0,1

0,2

0,3

0,4

0,5

0,6

0 5 10 15 20 25 30 Abb. 3.4-13 (a) und (b): Verhulst-Modell mit B=2.5 und B=3

Die Bedeutung dieses Modells geht weit über die Berechnungen bzw.

Experimente von Verhulst hinaus. In der Volks- und Betriebswirtschaftslehre

52Vgl. Peitgen, H.-O., H. Jürgens und D. Saupe: a.a.O., S. 847 ff.

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3.4 Architekturprinzipien in der Systemtheorie

93

haben Märkte grundsätzlich Eigenschaften, die mit vergleichbaren Wachs-tumsgesetzen beschreibbar sind53.

00,10,20,30,40,50,60,70,80,9

1

0 5 10 15 20 25 30

Abb. 3.4-13(c): Verhulst-Modell mit B=3,9999 Dabei erinnern viele Verhaltensausschnitte des Verhulst-Modells an

Ausschnitte der Lebenszykluskurven, wie sie für die Beschreibung der Pro-duktlebensgeschichte genutzt werden. Märkte sind so gesehen positive Regel-kreise und wirken als trigger für Unternehmen. Bei der Betrachtung unter-nehmensinterner Subsysteme muß immer die trigger-Funktion des Marktes mitbetrachtet werden.

Die Abbildung 3.4-14 zeigt die Visualisierung des zugehörigen Fraktals (Verhulst Bifurcation). Die Interpretation ist interessant und überraschend. Sie zeigt genau den Bereich punktförmiger Attraktoren als Linie, bis zur er-sten Spaltung ab einer Wachstumsrate größer 3, und eine erneute Spaltung der Attraktoren usw. Der Übergang in das Chaos im Zeitbereich erscheint hier als Punktemuster mit Intermittenzen.

Unternehmen als komplexe Organisationen, mit vielen dezentralen Ab-teilungen, mit hunderten von Lieferanten, mit vielen Produktionseinrichtun-gen, mit vielen Distributionszentren und mit vielen hundert Verkaufsstel-len/Filialen sind als baumartige, selbstähnliche Fraktale darstellbar. Die ele-mentaren Subsysteme sind die sich selbst ähnlichen Grundstrukturen, die sich wieder und wieder wiederholen: die positiven und negativen Regelkreise. Das Prinzip der Steuerung muß ebenfalls zugelassen werden. Ordnungsinforma-tionen veranlassen dieses System, sich nach der Vision einzelner Entscheider so zu entwickeln, wie sie sich darstellen. Die Einfachheit dieser Erklärung heißt nicht, daß die Prozesse, die dem Wachstumsprozeß des Organismus' Unternehmen zugrunde liegen, einfach verständlich wären. Aber ein Anfang ist gemacht.

53Vgl. Peitgen, H.-O., H. Jürgens und D. Saupe: a.a.O., S. 135ff.

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3. Systemtheoretische Grundlagen

94

Population

WachstumsrateB=3.0

Attraktor

Abb. 3.4-14: Bifurcation, erzeugt mit FRACTINT

3.4.2.5 Annahmen über das Verhalten dezentraler Subsysteme Viele dezentrale Systeme (Subsysteme) bestehen in der Realität aus

Kombinationen der vorgestellten elementaren Subsysteme. So sind Steuerung und Regelung häufig in einem Subsystem integriert. Positive Regelkreise stimulieren einerseits z. B. als Marktnachfrage die Vertriebs-, Produktions- und Beschaffungssysteme, die als negative Regelkreise organisiert sind. Die zielsuchenden negativen Regelkreise versuchen andererseits das Verhalten der positiven Regelkreise zu antizipieren, also z. B. die Nachfrage richtig einzuschätzen und nach einem vorgegebenen Lieferbereitschaftsgrad zu befriedigen. Aber nicht nur das Modell des gesamten Unternehmens läßt sich als negativer Regelkreis beschreiben, sondern auch die Modelle der dezentralen Organisationseinheiten wie Bereiche, Abteilungen, Gruppen usw. sind selbstähnlich.

Die Vorhersage des Systemverhaltens mit gedanklichen Hilfsmitteln ist schwierig und bereits nach zwei bis drei Zeitschritten unmöglich. Selbst Systeme mit nur wenigen Rückkopplungsschleifen sind mit Hilfe des gesunden Menschenverstandes nicht einschätzbar. Die Computersimulation ist zur Zeit das einzige Hilfsmittel, das es erlaubt, komplexe Zusammenhänge transparent zu machen.

Unternehmen sind komplexe dynamische Systeme höherer Ordnung. Ihr Verhalten im Zeitablauf wird endogen durch Verzögerungen beeinflußt. Verzögerungen bedeuten slack, also Schlupf im Sinne von Ineffektivität bzw. Inneffizienz. Erwünschtes Verhalten, z. B. Zielerreichung, Effektivität, Effizienz usw. stellt sich im Gesamtsystem ohne Eingriffe nur zufällig ein. Überdämpfung, unkontrollierbare Oszillation, Resonanz usw. sind

Das System-verhalten ist z. Zt. nur mit Hilfe der Computersimulation vorhersagbar

Unternehmen werden durch endogene und exogene Einflüsse bedroht

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3.4 Architekturprinzipien in der Systemtheorie

95

wahrscheinlich. Exogen wird das Verhalten durch negative und positive Regelkreise

getriggert. Ein Einfluß auf die Struktur dieser Regelkreise ist nicht möglich. Marktwachstum wird in bestimmten Grenzen durch positive Regelkreise dargestellt, während das Wettbewerbsverhalten anderer Unternehmen durch negative Regelkreise beschreibbar ist.

Als Maßnahme gegen slack sind zunächst die Ursachen für die auftre-tenden Verzögerungen ausfindig zu machen. Verzögerungen sind offensicht-lich auf Kopplungen von Systemelementen zurückzuführen, bei denen Infor-mationen nicht berücksichtigt werden, untergehen, verfälscht oder nicht rechtzeitig bereitgestellt werden. Die mangelnde Qualität der Informationen ist hier ebenfalls angesprochen. Die Kopplung von Subsystemen umfaßt die Kommunikation und die festgelegte Arbeitsteiligkeit zwischen den Elemen-ten. Damit ist sowohl der Prozeß als auch die Struktur eines Systems ange-sprochen. Das Systemverhalten kann also offensichtlich durch eine Verände-rung des Prozesses, also durch eine Veränderung der Kommunikation oder der Arbeitsteilung zwischen den Subsystemen beeinflußt werden. Eine Strukturveränderung folgt der Prozeßänderung, i.e. der Veränderung der

Kommunikation oder Arbeitsteilung - und nicht umgekehrt. Es gibt in komplexen Systemen allerdings immer nur wenige

kritische Eingriffsstellen, an denen die Kommunikation und die Arbeitsteiligkeit und damit das Verhalten des Systems nachhaltig beeinflußt und dauerhaft verändert werden können. Diese Eingriffsstellen oder konkret die angesprochenen Kopplungen von Elementen sind schwierig aufzuspüren.

In komplexen Systemen pflanzen sich Maßnahmen und Eingriffe im Wirkungszusammenhang schnell fort und können sich sehr entfernt vom Ort der direkten Einwirkung massiv auswirken54.

Was wie eine Ursache erscheint, kann sich bei detaillierter Analyse lediglich als Wirkung und als ein Symptom herausstellen.

Was in einem dezentralen Subsystem als Nachteil angesehen werden muß, kann in einem anderen Subsystem die Ursache für einen substantiellen Vorteil sein. So ist es z. B. in Versorgungsketten möglich, daß in einzelnen Teilbereichen Kosteneinsparungen realisiert werden können, die in anderen Subsystemen dann aber zu Kostenerhöhungen führen. Mit mehr Lägern können in einem Distributionssystem die Transportkosten gesenkt werden. Gleichzeitig steigen die Lagerhaltungskosten.

54Ein anschauliches Beispiel ist bei Fuchs, D.: Ohne Information ist Material wertlos. 'Beschaffung Aktuell', H. 2, 1992, S. 46-49, hier S. 46 f. dargestellt.

Um das System-verhalten zu ändern, müssen die Kommunikation oder die Arbeits-teilung zwischen den Subsystemen beeinflußt werden

Kritische Eingriffs-stellen

Die dezentralen Subsysteme eines komplexen Systems müssen immer im Zusammenhang betrachtet werden; dies gelingt nur bei konsequenter Be-trachtung des ge-samten Prozesses

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3. Systemtheoretische Grundlagen

96

Es darf außerdem nicht erwartet werden, daß sich Eingriffe sofort auswirken. "Erst schlechter, dann besser"55 ist eine Reaktion, die man in komplexen Systemen erwarten muß, wenn in Strukturen (i.e. Kopplung von Systemelementen) eingegriffen wird.

Ungeduld bei der Erwartung meßbarer Reaktionen nach Eingriffen in das Systemverhalten kann zu Fehlreaktionen und damit zu einer Verfälschung der erwarteten Auswirkungen führen. Bei vielen tiefgreifenden Eingriffen in Unternehmen sind Auswirkungen erst nach drei bis fünf Jahren meßbar festzustellen. Bei börsennotierten Unternehmen führt gerade dieser Umstand bei beginnenden Unternehmenskrisen noch zu einer Verschärfung der Krise. Amerikanische Unternehmen stellen bei erkennbaren Problemen deshalb häufig sehr hohe Beträge für drohende Verluste und die bevorstehende Restrukturierung zurück, um kurze Zeit nach Beginn der Sanierung bereits wieder positive Auswirkungen melden zu können. auch wenn die Krise noch nicht nachhaltig überwunden ist, führt diese Vorgehensweise schneller wieder zu einer Verminderung des Druckes durch die Öffentlichkeit und damit oft zu Umkehrung der negativen Denkspirale im betroffenen Unternehmen.

Die Abwehr der Bedrohung eines Unternehmens durch endogene und exogene Einflüsse muß neben vielen situativen Maßnahmen vor allem durch das Aufspüren der Ursachen der Verzögerungen in den Prozeßketten innerhalb des Unternehmens ansetzen. Die Vermeidung von slack führt zu einer verbesserten Effektivität oder Effizienz der Prozesse. Da die Prozesse die Wirkung der Wettbewerbsinstrumente determinieren, werden damit auch die exogenen Einflüsse sukzessive kontrollierbar.

Um über Ursachen der Verzögerungen mehr zu erfahren, muß die Ar-beitsteilung und die daraus resultierende Kommunikation zwischen den (dezentralen) Subsystemen näher untersucht werden. Aus Sicht des Gesamt-systems wird hier eine Ordnung angestrebt, die dem Gesamtsystem effektives (in bezug auf die gesetzten Ziele) oder effizientes (in bezug auf den Ressour-ceneinsatz) Verhalten ermöglicht. Die Optimierung des Gesamtsystems hat Vorrang vor der Suboptimierung.

Da komplexe Systeme nicht als Ganzes optimiert werden können, wird hier der Gedanke der Selbstähnlichkeit weiter ausgeführt. Dezentrale Systeme wurden als selbstähnliche Modelle des Gesamtsystems beschrieben. Für ein-fache dezentrale Systeme (niedriger Ordnung) können zuverlässig Annahmen über ihr Verhalten berechnet bzw. simuliert werden. Zunächst werden für de-zentrale Subsysteme eines Unternehmens die folgenden Verhaltenseigen-schaften und Fähigkeiten unterstellt56:

55Vgl. Büttner, P.: What is Systems Thinking? 'The Brattleboro Bulletin', Juli 1985. Zitiert bei Briggs, J. u. F. D. Peat: Die Entdeckung des Chaos. a.a.O., S. 270. 56Vgl. Warnecke, H. J.: Die Fraktale Fabrik. Revolution der Unternehmenskultur. Berlin, Heidelberg, New York u.a.O. 1993, S. 142 ff.

Das Systemver-halten kann nur bei ausreichend langer Beobachtung richtig eingeschätzt werden.

Die Kommunikation zwischen dezentralen Subsystemen steht im Mittelpunkt

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3.4 Architekturprinzipien in der Systemtheorie

97

Autarkie; Dezentrale Subsysteme sind autark. Die Interaktion mit anderen Subsystemen auf der Basis des Austauschs von Materie, Energie oder Information erfolgt auf der Grundlage von Regeln, die die Subsysteme untereinander selbst bestimmen.

Selbstorganisation; Dezentrale Subsysteme können ihre Organisation, also ihre Struktur (im Sinne von Kopplung der Elemente) jederzeit ändern und Parameter, z. B. Ziele, selbst anpassen. Zu einem späteren Zeitpunkt wird die Annahme eingeführt werden müssen, daß Subsysteme nach Vereinbarung in diesem Bereich nur aktiv werden, wenn übergreifende Ordnungsinformationen57 bekannt werden.

Mikrooptimierung; Dezentrale Subsysteme haben die Kompetenz, sich in ihrem Mikrobereich selbst zu optimieren, d.h., sie sind zielsuchend. Dabei nehmen sie aufgrund der oben definierten Regel keine Rücksicht auf das Verhalten oder Bedürfnisse anderer dezentraler Systeme. Das Verhalten der Elementarsysteme ist meßbar, z. B. der Grad ihrer Zielerreichung oder bestimmte Systemzustände sind transparent.

Diese Verhaltensgewohnheiten werden aus individueller (dezentraler) Sicht als ideal im Sinne von flexibel, schlagkräftig, anpassungsfähig, schnell usw. eingeschätzt. Angenommen, ein Unternehmen besteht ausschließlich aus solchen dezentralen, flexiblen, schlagkräftigen, anpassungsfähigen und schnellen Elementarsystemen58. Wie wird sich das gesamte Unternehmen als Ganzes verhalten?

Zur Beantwortung dieser Frage werden im folgenden Interaktions-modelle entwickelt, die sich durch die Qualität der Kopplung zwischen den dezentralen Systemen untereinander unterscheiden. Interaktionsmodelle die-nen dem besseren Verständnis der Prozesse, also der Kommunikation und Arbeitsteiligkeit sowie den Aktions- und Reaktionsmechanismen.

Die abzugrenzenden dezentralen Subsysteme müssen strukturell nach ihren unterschiedlichen Interessen und Beiträgen zur Gesamtzielerreichung charakterisierbar sein. In den Unternehmen wird deshalb funktional organisiert. Bei divisionaler Organisation werden die Funktionen innerhalb einer Division oder Sparte angesiedelt.

Es wird erwartet, daß Prognosen in bezug auf Störungen und damit auf Verzögerungen in der Zusammenarbeit zwischen den dezentralen Systemen möglich sind. Diese Störungen lassen sich systematisieren und eingrenzen. Über diese Störungen, die als Folge bestimmter Verhaltensweisen dezentraler Systeme auftreten werden, können zunächst für die dezentralen Systeme

57Vgl. Briggs, J. u. F. D. Peat: Die Entdeckung des Chaos. München 1993, S. 123 ff. und Ruelle, D.: Chance and Chaos. Princeton NJ 1993, S. 129 ff. 58Diese Forderung ist keineswegs abwegig. In Zeiten notwendiger struktureller Veränderungen wird sie regelmäßig gestellt werden.

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3. Systemtheoretische Grundlagen

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Prinzipien definiert werden, die in den dezentralen Systemen zu einer Verhaltensanpassung und Störungsvermeidung führen. Durch Generalisierung lassen sich einige dieser Prinzipien auf komplexe Systeme, also auf Unternehmen, übertragen. Außerdem erleichtert die Kenntnis der typischen Störungen in der Interaktion dezentraler Systeme die Symptomforschung in Unternehmen. 3.4.3 Interaktions- und Führungsmodelle

3.4.3.1 Grundtypen der Interaktion Aus den Vorüberlegungen ergeben sich die nachfolgend zu beschreiben-

den Interaktionsmodelle "lose Kopplung", "Kooperation", "Vereinigung" und "Wettbewerb". In Verbindung mit allen Modellen müssen positive Regel-kreise als trigger für Wachstum bzw. Schrumpfung mitberücksichtigt werden (vgl. Abbildung 3.4-15).

Bei loser Kopplung wird unterstellt, daß die miteinander agierenden und reagierenden dezentralen Systeme den Gesetzmäßigkeiten negativer Regel-kreise folgen, d.h. die Subsysteme sind in der Regel zielsuchend, selbstorga-nisierend und autark. Durch die Selbstähnlichkeit ist der Abstraktionsgrad wählbar.

Bei Kooperation wird unterstellt, daß die beteiligten dezentralen Systeme sich in noch festzulegenden Bereichen abstimmen und sich an die Vereinbarungen auch halten.

Bei der Vereinigung geben einzelne Subsysteme ihre Struktur auf und verschmelzen mit anderen. Das so entstehende neue dezentrale System ist selbst wieder zielsuchend, selbstorganisierend und autark. Ein häufig gebrauchtes Argument für die Motivation der Vereinigung von Unternehmen, z. B. durch wirtschaftliche Übernahme, ist die vermutete Synergie. Es gibt theoretisch tatsächlich viele Hinweise auf solche Synergieeffekte. Allerdings ist die Aufgabe gewohnter Strukturen zugunsten neu zu definierender Strukturen in Unternehmen mit erheblichen sozialen Begleiterscheinungen gekoppelt, die die positiven wirtschaftlichen Auswirkungen zumindest vorübergehend in Frage stellen.

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3.4 Architekturprinzipien in der Systemtheorie

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Wettbewerb

Kooperation

VereinigungWachstumpos. Regelkr.

lose Kopplung

Abb. 3.4-15: Alle Interaktionsmodelle sind im Zusammenhang mit "triggern" zu sehen

Wettbewerb zeigt sich auch innerhalb von Unternehmen in den

vielfältigsten Erscheinungsformen. Regulative müssen bei gewolltem Wettbewerb dafür sorgen, daß keine negativen Wirkungen auftreten können. In Schmalenbachs Modell der pretialen Lenkung beispielsweise hatte der Preis diese Funktion. Wettbewerb zwischen Unternehmen, als ein elementares Regulativ in der Weltwirtschaft, kann auch als "Super-Interaktionsmodell" interpretiert werden, in dem alle anderen Modelltypen wiederum in beliebiger Wiederholung vorkommen.

Unternehmen als komplexe Systeme werden sowohl durch exogene (Wettbewerb auf den Märkten) als auch durch endogene Einflüsse (slack) bedroht. Bei den endogenen Faktoren handelt es sich vor allem um die Fähigkeit, die beteiligten dezentralen Systeme aufeinander abzustimmen. Die exogenen Einflüsse resultieren aus den Veränderungen der Marktwachstums-/Schrumpfungsprozesse, die aus den positiven Regelkreisen resultieren (trigger). Wie aus dem oben dargestellten Verhulst-Modell hervorgeht, sind auch Übergänge in Chaos-Situationen möglich.

3.4.3.2 Lose Kopplung Bei der losen Kopplung werden zunächst zwei negativ lineare

Regelkreise im Zusammenhang betrachtet (vgl. Abbildung 3.4-16).

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3. Systemtheoretische Grundlagen

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Subsystem A Subsystem B Subsystem C

LevelA

LevelB

LevelCRate

ARate

BRate

C

AT-A AT-BZiel BZiel A

Nachfrage-Wachstum

Abb. 3.4-16: Lose Kopplung

Die Erwähnung des positiven Regelkreises als trigger erfolgt lediglich als Hinweis auf eine exogene Einflußnahme. Die beiden dezentralen Elemen-tarsysteme interagieren in der oben angenommenen Weise. Sie tauschen sich aus, verhalten sich aber autark und jeweils zielsuchend. Die Abbildung zeigt einfache, in Reihe geschaltete lineare Regelkreise erster Ordnung für A und B. Es findet nur begrenzt Informationsaustausch statt. Es ist lediglich erklärt, daß B reagierend von A Waren, Materie, Energie o.ä. bezieht. Dieser Vorgang muß nicht einmal mit einer Information über den Vorgang ausgestattet sein. B antizipiert die Entwicklung des Marktes, indem eine (geglättete) Information über das Marktwachstum bei der eigenen Entscheidung berücksichtigt wird. Auch in der betriebswirtschaftlichen Praxis haben die Subsysteme A und B unterschiedliche Zielsetzungen, die sie je nach Unternehmenskultur mehr oder weniger autark verfolgen werden. Übertragen auf betriebswirtschaftliche Zusammenhänge, entspricht der positive Regelkreis einem Marktmodell, das die beiden Subsysteme Vertrieb (B) und Produktion (A) durch wachsende, stabile oder schrumpfende Nachfrage triggert. Das Subsystem B entspricht z. B. dem Vertrieb, das den Markt versorgt und dabei auf die Ressourcen des Subsystems A, der Produktion und Beschaffung (im Modell) zurückgreift. Da die logistische Kette eines Unternehmens erheblich mehr Subsysteme mit abgrenzbaren Interessenkonflikten umfaßt, sind die folgenden Aussagen noch stärker zu gewichten. Der Vertrieb ist in der Regel daran interessiert, flexibel auf Kundenanforderungen zu reagieren, er will die Lieferbereitschaft (Versorgungsniveau) hochhalten usw. Die Produktion ist dagegen eher an einer ausgeglichenen Produktion mit wenig Varianten interessiert usw. In einer typischen Verkäufermarktsituation wird sich die Produktion mit Kostenargumenten gegen den Vertrieb durchsetzen können, was allerdings schnell umschlägt, wenn der Markt zu einem Käufermarkt wird, was viele Branchen in der Vergangenheit leidvoll erfahren mußten.

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3.4 Architekturprinzipien in der Systemtheorie

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Angenommen, die Subsysteme A und B verhalten sich autark, dann wird es im Zeitablauf bald zu erheblichen Diskussionen zwischen den Beteiligten kommen. Ursachen sind nicht einhaltbare Lieferzusagen oder ein zu hohes Produktionsniveau. Ferner werden immer wieder Engpässe im Tagesgeschäft auftreten oder es werden Informationen nicht rechtzeitig verfügbar sein, was zu Reaktionen und Überreaktionen führen wird. Abstrakt gesehen, handelt es sich, wie bereits erwähnt, um Verzögerungen, die eine endogene Ursache für die Bedrohung von Unternehmen darstellen.

Die zentrale Ursache für "Verzögerungen" liegt in der mangelnden Verfügbarkeit von Informationen begründet. Hohe Verfügbarkeit der qualitativ richtigen Information bedeutet geringe oder keine Verzögerung, mangelnde Verfügbarkeit bedeutet große Verzögerungen. Die Verfügbarkeit wird durch mehrere Einflußfaktoren bestimmt.

Der gewichtigste Einflußfaktor ist das praktizierte Kommunikations- und Interaktionsmodell. So führt lose Kopplung regelmäßig zu einer geringen Verfügbarkeit von Informationen und verursacht hierdurch Verzögerungen.

Die lose gekoppelten Systeme verhalten sich in diesem Fall autark, ob-wohl sie untereinander alle voneinander abhängig sind. Die Abhängigkeit besteht exakt durch den Zusammenhang der Subsysteme über die Ziele, Ent-scheidungen und Ressourcen der jeweils anderen Subsysteme. Hinzu kommt die gemeinsame Abhängigkeit von öffentlicher oder unternehmensindivi-dueller Infrastruktur. Der Vertrieb ist von den Zielen, Entscheidungen und Ressourcen der Produktion abhängig und umgekehrt. Die Produktion ist von den Zielen, Entscheidungen und Ressourcen der Beschaffung/des Einkaufs abhängig usw. Autarkes Verhalten ignoriert z. B. die Begrenzung der Res-sourcen bei den benachbarten Subsystemen. Bislang unbekannte (ignorierte) Ressourcenengpässe bei benachbarten Subsystemen führen zu überraschend aufkommenden Fehlleistungen des betrachteten autarken Subsystems ohne Vorwarnung. Die kritischen Prozeßzustände des Nachbarsystems wurden nicht beobachtet. Anpassungsreaktionen können also nur verspätet stattfinden.

Der Produktionsbereich, der die Ressourcen der Lieferanten nicht exakt kennt oder geprüft hat, muß mit solchen überraschenden Lieferengpässen rechnen. Im Handel existiert genau die gleiche Situation auf allen Stufen. Eine Überprüfung vieler Planungssysteme in jahrelanger Praxis hat ergeben, daß die Einschätzung der Ressourcen der jeweils involvierten Teilnehmer einer logistischen Kette - übergreifend/gesamthaft - weder üblich noch vorgesehen/geplant ist.

Die Abhängigkeit der Subsysteme untereinander über die Ressourcen ist immanent. Bei den bei Autarkie geltenden Verhaltensregeln werden die Subsysteme in ihrer Tendenz zur Mikrooptimierung die Ressourcen der ande-ren Subsysteme für ihre Zwecke in Anspruch nehmen. Da die Subsysteme ihre Ressourcenkapazität nur im Zeitablauf und niemals ad hoc ändern kön-

Die Subsysteme A und B verhalten sich autark und suboptimal

Lose Kopplung ist für Verzögerungen verantwortlich

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3. Systemtheoretische Grundlagen

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nen, werden die Ressourcen zu gravierenden Engpässen59. Die Abstimmung der Ressourcen wurde in der Vergangenheit unterschätzt. Im Verlauf der Interaktion treten Ressourcenengpässe bei dynamischer Betrachtung ohne Vorwarnung auf. Da eine kurzfristige Beseitigung i.d.R. nicht möglich ist, sind Wachstumsverluste die Folge. Bei dicht beieinander liegenden Engpäs-sen kommt hinzu, daß sich Engpässe gegenseitig ablösen. Ohne ständigen Überblick über die Ressourcensituation, ist eine Vermeidung von Verzöge-rungen durch Engpässe ausgeschlossen. Die Kooperationsgespräche müssen sich deshalb zunächst darauf konzentrieren, die Information über die in den jeweils beteiligten Subsystemen vorhandenen und einsetzbaren Ressourcen bereitzustellen. Das Überprüfen der Ressourcen muß im Planungsablauf fest verankert werden.

Ein ähnliches Phänomen zeigt sich bei mangelnder Ziel- und Entschei-dungsabstimmung. Lediglich einige wenige, in der Regel benachbarte Teil-nehmer einer logistischen Kette stimmen sich über ihre Ziele und Entschei-dungen regelmäßig ab. Über die Entwicklung kritischer Prozeßzustände informiert man sich nur in den Ausnahmefällen.

Die Abstimmung der Ressourcen ist eng gekoppelt an die Abstimmung der Ziele. Aber auch bei abgestimmten Ressourcen kommt es bei Zielkonflik-ten oder bei divergierenden Zielsetzungen zu Verzögerungen und damit zu Störungen zwischen den Subsystemen. Eine Vermeidung von Zielkonflikten ist i.d.R. jedoch nur möglich, wenn Prioritäten-Entscheidungen möglich sind. Auf dem freien Verhandlungswege zwischen Subsystemen ist dies sicherlich nicht möglich. Da innerhalb von Unternehmen die Subsysteme noch am ehe-sten bereit sind, sich einer einheitlichen Unternehmenszielsetzung zu unter-werfen, ist die Ordnungsinformation: "Unternehmenszielsetzung" der Anstoß für die Kooperation. Die Abstimmung der Ziele muß top down im Rahmen einer sorgfältig überlegten Planungslogik geschehen. Im Zusammenhang mit den Vereinbarungen über die gegenseitige Ressourcennutzung wird die Planung damit zu einem wichtigen Koordinierungsinstrument.

Insbesondere fehlt in den Unternehmen aber auch häufig eine Ordnungsinformation, die die Subsysteme veranlaßt, sich abzustimmen.

Die Erfahrung zeigt, daß selbst bei abgestimmten Ressourcen und Zielen Risiken für Verzögerungen verbleiben. In der Praxis sind interagierende Subsysteme i.d.R. nicht vom Typ erster Ordnung, sondern die Subsysteme sind selbst komplexere Systeme höherer Ordnung. Aus diesem Grunde ist nicht sichergestellt, daß die Prozesse den Verlauf nehmen, wie nach Abstim-mung von Ressourcen und Zielen zu erwarten ist. Lange Zeit erkannte man nicht, daß die Abstimmung über den Prozeßverlauf im Störungsfall nicht aus-reicht. Vorabinformationen über den Prozeßverlauf geben den eingeschlosse-

59Vgl. Kilger,Wolfgang: Flexible Plankostenrechnung, Opladen, 5. Aufl. 1972, S. 357 ff. und S. 647

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3.4 Architekturprinzipien in der Systemtheorie

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nen Subsystemen die Chance, Abweichungen frühzeitig zu erkennen und ihrerseits bereits zu reagieren. In der Praxis sind die Informationen über den Prozeßverlauf häufig auch an die physikalische Abwicklung der Prozesse selbst gekoppelt. Bei der Materialversorgung ist die Information über eine zu spät eingetroffene Warensendung z. B. erst verfügbar, nachdem die Ware ver-spätet eingetroffen ist. Wäre bereits beim Auftreten der Verspätung eine Information an alle betroffenen Subsysteme übermittelt worden, verbliebe für die benachbarten Subsysteme ausreichend Zeit zur entsprechenden Disposi-tion. Trigger-Konzepte60 konzentrieren sich genau auf diesen Ansatz und zei-gen informationstechnisch, wie kaskadenförmige Regelmechanismen instal-liert werden können. Bei der Prozeßkommunikation ist eine Verabredung von Protokollen und Standards eine wichtige Vorausbedingung für eine schnelle Kommunikation. Die bereits auf dem Markt verfügbaren EDI (electronic data interchange)-Produkte gewährleisten guten Erfolg. Die Verabredung der wichtigsten Prozeß-Statusgrößen ist dagegen sehr viel schwieriger.

Autarkes Verhalten bedeutet also Verzicht auf Informationen oder Ignorieren von Informationen trotz gegenseitiger Abhängigkeit durch die vorgegebene einzel- oder volkswirtschaftliche Arbeitsteiligkeit. Im einzelnen fehlen Informationen zu:

den strategischen Zielen und Visionen, den Ressourcenbedarfen, dem Infrastrukturbedarf sowie über operative Ziele und über Entscheidungen als Folge von Abweichungen bei geschäftskritischen Prozeßzuständen.

Die Nicht-Verfügbarkeit von Informationen hat aber, wie erwähnt,

neben dem autarken Verhalten von Subsystemen auch noch weitere Einflußfaktoren. Dazu gehören die mangelnde Qualität von Informationen, unzulängliche Prinzipien und Methoden der Informationsbeschaffung, sowie Doppel- oder Mehrfachfunktionen in Prozeßketten.

Mangelnde Informationsqualität äußert sich in Unschärfe. Unscharfe Informationen als Ursache für Verzögerungen sind in der betriebswirtschaft-lichen Entscheidungstheorie bereits umfangreich diskutiert worden. Unsichere oder fehlende Informationen führen zu Spekulationen und damit zu Parametereinstellungen oder Entscheidungen, die später korrigiert werden müssen, wenn die Informationen korrekt verfügbar sind.

In den Modellen der betriebswirtschaftlichen Entscheidungstheorie sind Informationen "objektiv" nicht verfügbar. In den Unternehmen sind Informationen in bezug auf einzelne Informationsobjekte dagegen oft bekannt, aber nicht verteilt und damit ebenfalls nicht verfügbar. Information 60Hofmann, Jürgen: Aktionsorientierte Datenverarbeitung im Fertigungsbereich. Berlin, Heidelberg, New York u.a.O., 1988, S. 34 ff.

Fehlende Informationen

Unzureichende Informations-qualität

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3. Systemtheoretische Grundlagen

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hat hier deshalb den Charakter einer Ressource. Entscheidend aber ist, daß die Information über die richtige oder kritische Information bekannt ist. In Unternehmen ist manchmal beobachtbar, wie die mangelnde Datenqualität zu Störungen im Gesamtprozeß führt. Annahmen über Kapazitäten sind falsch und Prozeßzeiten in Arbeitsgängen sind entweder zu kurz oder zu lang. Beide Fälle führen zu unrealistischen Terminen für interne Aufträge. Dies wiederum hat ein (begründetes) Mißtrauen gegenüber der Planung zur Folge. Damit lassen sich dann individuelle Eingriffe begründen, die in der Planung nicht berücksichtigt wurden, die ihrerseits aber zu weiteren Störungen führen. Mangelnde Informations- und Datenqualität ist die Hauptursache für Plausibiliät im Zusammenhang mit der Planung.

Unzulängliche Prinzipien der Informationsbeschaffung resultieren aus der unkritischen Übernahme traditioneller Regeln. Auf Informationen "über" Vorgänge wurde z. B. in Transportketten häufig verzichtet, weil die physische Abwicklung der logistischen Prozesse selbst Ereignisse produziert, die die Folgeprozesse dann auslösen. Der Effekt ist mit einer Kettenreaktion sich gegenseitig anstoßender Dominosteine vergleichbar.

Ein an der Laderampe eines Lagers ankommender LKW eines Lieferan-ten löst in diesem Augenblick, also ereignisorientiert, einen Dispositionsvor-gang aus, der zur Entladung führt. Wertvolle Zeit, nämlich die gesamte Zeit, die der LKW unterwegs war, wurde für die Disposition und das Rüsten nicht genutzt. Das Beispiel mag trivial klingen, besitzt aber ein abstraktes Muster mit einer konkreten Verbesserungsmöglichkeit: Informationen können von den physischen Vorgängen getrennt und vorab gesendet werden (vorauseilen-de Informationen). Die Zeiteinsparung in bezug auf den Gesamtprozeß ist in der Regel substantiell. Abstrakt betrachtet, muß die rein ereignisorientierte, prozeßgebundene Information also durch vorauseilende Information über die zu erwartenden Ereignisse (Ankunft) ersetzt werden, um den nachfolgenden Subsystemen Zeitvorteile zu verschaffen.

Unzulängliche Methoden der Informationsbeschaffung sind weit verbreitet. Die häufigste: Medienbrüche, die die Kommunikation zwischen Subsystemen erheblich behindern. Beim Wareneingang an einem beliebigen point of sales (POS) werden die Lieferscheine zunächst gesammelt und anschließend per Post an die zentrale Datenerfassung weitergeleitet. Nach ca. vier bis fünf Tagen wird die Information dann digital erfaßt und verarbeitet. Inzwischen haben bereits aber wieder viele Warenein- und -ausgänge stattgefunden. Die Information über den richtigen Warenbestand ist äußerst zweifelhaft. Informationen müssen möglichst am Ort ihrer Entstehung in ihrer endgültigen Form erfaßt (digitalisiert) und sofort übertragen bzw. weiterverarbeitet werden.

Ähnlich verhält es sich mit Schnittstellen zwischen Systemen, die aus technischen Gründen (performance, Aufwand) die Kommunikation zwischen Anwendungssystemen reglementieren. Aber auch batch-bedingte Verarbei-

Unzulängliche Prinzipien der Informations-beschaffung

Unzulängliche Methoden der Informations-beschaffung

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3.4 Architekturprinzipien in der Systemtheorie

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tungsroutinen nach einem vorgegebenen Betriebskalender können Verzöge-rungen auslösen.

Eine weitere Klasse von Ursachen von Verzögerungen sind die identischen Doppel- oder Mehrfachfunktionen. Gerade in Logistikketten mit ausgeprägtem autarkem Verhalten einzelner Subsysteme ist es nicht auszuschließen, daß einzelne Funktionen, z. B. die Bestandsdisposition, mehrfach vorkommen. Dies kann zu Überreaktionen oder Überdämpfung führen. In einem Beispiel werden bei der Prognose von Primärbedarfen auf der letzten Verteilstufe eines dreistufigen Distributionssystems aufgrund z. B. spezieller Wettererwartungen Aufschläge berücksichtigt, um die Lieferbereitschaft sicherzustellen. Die zweite Verteilstufe, die ebenfalls autark disponiert, ist über die Aufschläge der ersten Stufe nicht informiert und berechnet ihrerseits Aufschläge aufgrund der erwarteten Wettersituation. Verhält sich die dritte Verteilstufe genauso, dann wird es in diesem System eine dramatische Überversorgung geben, auch dann, wenn die erwartete Wettersituation eintritt. Gerade diese Ursache wird oft herangezogen, um die Vereinigung von Subsystemen zu begründen.

Aus den Beispielen kann abgeleitet werden, daß lose Kopplung als Koordinationsprinzip versagt, da für das Zusammenwirken der elementaren Subsysteme Verzögerungen nicht ausgeschaltet werden können. Dezentrale Systeme müssen minimal kooperieren, um effektiv sein zu können. Unterneh-men als komplexe Organisationen müssen durch Ordnungsinformationen sicherstellen, daß sich die Kooperation der Subsysteme im Unternehmen an den dargestellten Verzögerungsursachen (als Engpässe) orientiert. Diese Forderung hat allerdings auch einen qualitativen Aspekt. So ist z. B. heraus-zufinden, welche Ressourcen eine Schlüsselrolle spielen und welche nicht. Eine perfekt funktionierende Abstimmung scheitert im Ergebnis, wenn sie sich auf die falschen Informationsobjekte und Entitäten bezieht. Die Prinzi-pien und Methoden der Informationsbeschaffung müssen überprüft und ange-paßt, Doppel- und Mehrfachfunktionen vermieden werden.

Die Bedrohung eines Unternehmens durch inhärente Probleme mangelnder Abstimmung, z. B. innerhalb der logistischen Kette, ist weitaus größer als die Bedrohung durch übermächtige Wettbewerber. In der Diskus-sion Zentralismus vs. Dezentralismus wird häufig gegen zentrale Systeme ins Feld geführt, sie seien inflexibel, hätten lange Entscheidungswege usw. Der Vorteil, überschaubare, autarke und mikrooptimierende Subsysteme (Unternehmenseinheiten) zu haben, droht allerdings durch die negativen Fol-gen der Verzögerungen kompensiert zu werden. Die Frage ist demnach, wie einerseits der Vorteil dezentraler Systeme ausgebaut und andererseits der Nachteil zentraler Systeme vermieden werden kann.

Im einzelnen werden nachfolgende Alternativen zur losen Kopplung un-tersucht.

Doppel- und Mehrfachfunktionen

Zentralismus vs. Dezentralismus

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3. Systemtheoretische Grundlagen

106

3.4.3.3 Kooperation Unterstellt, die beiden oben betrachteten Subsysteme A und B setzen die

Verhaltensregeln der losen Kopplung außer Kraft und beginnen Verhand-lungen darüber, die Effektivität zu verbessern, ohne ihre Eigenständigkeit aufzugeben. Die Gespräche werden sich bei gegebenen strategischen Zielen auf die folgenden Themen konzentrieren:

Abstimmung der aus den individuellen strategischen Zielen resultierenden Ressourcen- und Infrastrukturbedarfen,

Abstimmung der wichtigen (operativen) Ziele und Entscheidungen bei bestimmten Abweichungen,

Abstimmung der kritischen Prozeßzustände, die verfolgt werden sollen.

Die Kooperationspartner müssen sich demnach auf die Ausschließung bzw. Überwindung der Verzögerungsursachen einigen.

Dabei gibt es eine zeitliche Problematik, die Oliver Wight bei der Entwicklung von MRP II deutlich gesehen hat. Engpässe bei Ressourcen und und Infrastruktur lassen sich in der Gegenwart nicht beheben. Ressourcen- und Infrastrukturentscheidungen der Vergangenheit beeinflussen so die Gegenwart und die Zukunft. Um absehbare Engpässe in der Zukunft zu vermeiden, muß möglichst in der Gegenwart eine Anpassung entschieden werden, weil bis zum Wirksamwerden der Maßnahmen Beschaffungs-, Bau- und ggf. Implementierungszeitaufwand erforderlich ist. Die Maßnahmen beeinflussen die Fixkosten des Unternehmens.

Zielanpassungen nach Abstimmungen sind dagegen auch kurzfristig möglich, sofern keine Fixkostenmaßnahmen erforderlich sind. Reaktionen auf kritische Prozeßzustandsänderungen sind sogar kontinuierlich möglich.

Aus diesem Grunde gibt es eine Priorität bei den Kooperationsverhand-lungen, die eine zeitliche Reihenfolge der Maßnahmen bei gegebener strate-gischer Zielsetzung bedeuten: Ressourcen und Infrastruktur, (operative) Ziel-anpassungen und Reaktionen auf Abweichungen bei kritischen Prozeßzustän-den. Folglich wird eine minimale Kooperation auf dieser Basis im folgenden RZP-Kooperation genannt. Sie führt zu einer systematischen Koordination in bekannten, durchdachten Einzelangelegenheiten, und zu einem planmäßigen networking der beteiligten Subsysteme. Voraussetzung dafür ist die Kenntnis der Einzelprozesse bzw. das Know-how über die Abhängigkeiten. Die Infor-mation fließt nicht erst über übergeordnete Hierarchien. Eine (zentrale) Koordination aller Themen (Ressourcen, Ziele, Prozeßkommunikation), für alle Subsysteme, z. B. durch eine dafür vorgesehene zentrale Koordinierungs-stelle, wird nicht angestrebt.

In der Tat ist die moderne Informationsverarbeitung heute in der Lage, dieses networking durch Bereitstellung aller Informationen in der Interprozeßkommunikation zu ermöglichen, wenn die beteiligten Subsysteme

Themen der Kooperation

RZP-Kooperation

Networking

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3.4 Architekturprinzipien in der Systemtheorie

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auf den Grundsatz verzichten, daß die Informationen innerhalb ihrer Hoheitsbereiche nur hierarchisch verteilt werden dürfen. Ein praktisches Beispiel für networking erkennt man bei der Organisation von Projekten, die sich parallel oder neben der Linienorganisation etabliert (vgl. auch Kap. 5). Abbildung 3.4-17 zeigt, wie sich ein Projektteam aus den Mitarbeitern einer bestehenden Linienorganisation rekrutiert.

Die Tendenz zur (physisch/organisatorischen) Zentralisierung der Entscheidungen war im Zeitalter unzulänglicher Informationssysteme die einzige Möglichkeit für die Führung, Transparenz herzustellen. Denn um zentral entscheiden zu können, mußten auch die Informationen zentral ver-fügbar gemacht werden. Dieses Beispiel verdeutlicht, wie eng die gewachsenen Führungsmodelle mit den technischen Möglichkeiten der Informationserfassung, Verarbeitung und Distribution verbunden sind. Andererseits gilt, daß bei Anlässen wie Kooperation und Vereinigung kaum über diese Möglichkeiten nachgedacht wird. Vielmehr wird die Informationstechnik dazu benutzt, existierende unzulängliche Modelle technisch besser nachzubilden.

Es ist effektiver, neue, wichtige Aufgaben im Unternehmen mehr und mehr in die Hände (temporär) agierender Subsysteme (Projekte) zu legen. Allerdings muß streng darauf geachtet werden, daß die

(temporär) agierenden Projekte auch wirklich formell eingerichtet werden, d. h. Verantwortlichkeit, Aufgabenbeschreibung, Rollenver-ständnis usw. festgelegt sind,

einzelnen Teammitglieder nicht überlastet werden, z. B. durch Mitwirkung an vielen Projekten,

organisationsübergreifenden Aspekte durch eine Beteiligung der einzelnen Organisationseinheiten berücksichtigt wurden und

daß auch für die Projekte ein Budget geplant bzw. vereinbart wird.

Temporär heißt durchaus auch mehrjährig. Jedoch müssen die Projektergebnisse permanent durch eine Entscheidungs- und Abstimminstanz kontrolliert werden (vgl. Kapitel 5).

Regeln für tempo-räre dezentrale Systeme (Projekte)

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3. Systemtheoretische Grundlagen

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Geschäftsführung

Logistik Einkauf Produktion Verkauf

Projekt: Auftragsverfolgung

Abb. 3.4-17: Mitarbeiter unterschiedlicher Hierarchieebenen arbeiten in einer einstufigen, temporären Organisation zusammen

Die Realisierung der Idee des networking (Interprozeßkommunikation)

in Unternehmen wird möglich, wenn alle z. B. an der Logistikkette beteiligten Subsysteme, also auch die Lieferanten, die Spediteure, die Distributionsorga-nisation, die Kunden usw. im Sinne eines geschlossenen Regelkreises zu-sammenwirken.

Doppel- und Mehrfachfunktionen bleiben bei diesem Modell erhalten und damit (ineffizient) wirksam.

Die RZP-Koordination ist ein Basiselement der ressourcenorientierten Unternehmensplanungs-Philosophie, die im nächsten Kapitel vorgestellt wird.

3.4.3.4 Vereinigung Bei der Vereinigung entscheiden sich die Subsysteme, nicht nur die

Ressourcen, Ziele und Prozeßzustände abzustimmen, sondern sie geben darüber hinaus in bestimmten Bereichen ihre Eigenständigkeit zu Gunsten einer gemeinsamen Struktur auf. So werden auch strategische Ziele und Visionen langfristig aufeinander abgestimmt, was bei "Kooperation" nicht notwendig ist. Die Idee dabei ist, die gemeinsamen Ressourcen und Infrastruktur intensiver zu nutzen und auf individuelle Reservekapazitäten zu verzichten. Weiterhin soll die Ablauforganisation durch Verzicht auf Doppel- und Mehrfachfunktionen effektiver gestaltet werden, d.h. auch Ziele und

Gemeinsame Ressourcen und Verzicht auf Doppelfunktionen

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3.4 Architekturprinzipien in der Systemtheorie

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Prozesse neu zu organisieren. In der Literatur wird die Attraktivität dieser Maßnahme mit realisierbaren Synergiepotentialen beschrieben61.

Zum Beispiel wird bei der Planung von Ressourcen/Kapazitäten und Infrastruktur grundsätzlich nach einem Ansatz gerechnet, der vom Erwartungswert der zukünftigen Inanspruchnahme plus der gewichteten Standardabweichung ausgeht. Die gewichtete Standardabweichung wird als "Sicherheitsreserve" angesehen. Der Formelzusammenhang ist wie folgt:

(40) RP E(Yn ) ks var(Yn )

RP entspricht der errechneten Plan-Ressource, E(Yn) dem Erwartungs-wert, ks dem Gewichtungs- oder Sicherheitsfaktor (vgl. auch Kapitel 2.2.3, S. 31) und der Wurzelausdruck der Standardabweichung. Yn ist eine Zufallsva-riable, die die Inanspruchnahme als Zufallsprozeß beschreibt. Falls in einem System sehr viele Subsysteme existieren, die nach diesem Grundsatz ihre Ressourceninanspruchnahme berechnen, werden individuelle Reserven auf-gebaut. Falls die Ressourcen durch eine Vereinigung mehrerer Subsysteme gebündelt werden können, lassen sich die individuellen Wahrscheinlichkeits-verteilungen "falten". Auf der Grundlage der neuen, gefalteten Wahrschein-lichkeitsverteilung kommt es bei erneuter Berechnung der Sicherheitsreserve für die zusammengefaßten Ressourcen zu einer erheblichen Einsparung durch den Wegfall der individuellen Reserven. Bei "n" Subsystemen mit Gleichver-teilung und Unabhängigkeit der individuellen Inanspruchnahme beträgt der uneingeschränkte Effekt bzw. die Einsparung:

(41) n n

Diese Gesetzmäßigkeit tritt z. B. beim Sicherheitsbestand ein, falls meh-rere Außenlager zu einem Zentrallager zusammengefaßt werden. Dagegen sind die Transport- bzw. Distributionskosten zu rechnen. Der gleiche Aus-gleichs- oder Poolungseffekt tritt bei der Kassenhaltung einer Bank bei überwiegend bargeldlosem Zahlungsverkehr für die Bargeldreserve ein und z. B. auch bei Versicherungen durch Poolung von Risiken für den zu erwar-tenden Schadensverlauf. Die Annahmen "Gleichverteilung" und "Unab-hängigkeit" sind nicht zwingend.

Die Kritiker zentraler Systeme akzeptieren zwar den Poolungs- bzw. Ausgleichseffekt, argumentieren aber mit der in diesem Ansatz liegenden Gefahr ineffizienter Prozesse und Strukturen durch größere Einheiten. Die Furcht ist berechtigt. Bei der Hierarchisierung der Prozesse wurden in der Vergangenheit durch zu geringe Leitungsspannen Doppel- und Mehrfach-

61Merkel, H.: Simulationsmodelle zur Gestaltung mehrstufiger Distributionssysteme. a.a.O., S. 148 ff.

Ausgleichs- oder Poolungseffekt

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3. Systemtheoretische Grundlagen

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funktionen durch zu viele Führungsebenen systematisch aufgebaut62. Mehr-fachfunktionen bedeuten Verzögerungen und führen damit zu Ineffizienz. Was für große Organisationen in der Realität beobachtbar ist, kann durch Experimente, z. B. mit Betriebssystemen für multicluster-Rechner, simuliert werden. Dort ist der Effekt bekannt, daß die performance des Gesamtsystems mit zusätzlichen clustern zunächst zunimmt, dann aber durch den nötigen (zentralen) Koordinationsaufwand wieder eingeschränkt wird. Dieser durch die zentrale Koordination erforderliche zusätzliche Aufwand, der die performance des Gesamtsystems wieder reduziert, heißt slack (Schlupf) (s.o.).

Im Gegensatz zur "Kooperation" zwischen Subsystemen wird bei der Vereinigung in Verbindung mit zentraler Koordination "konservativ" darauf geachtet, daß Entscheidungen zentral getroffen werden und daß Informatio-nen stets autorisiert hierarchisch verteilt und zur Verfügung gestellt werden. Bei zu vielen Leitungsebenen ist ein großes Unternehmen durch die Glät-tungs- und Verzögerungseffekte damit nahezu handlungsunfähig. Das zentrale Prinzip, das durch Hierarchie und Autorisierung begründet ist, steht durch Verzögerungen im Konflikt zum Handlungsbedarf, der z. B. aus unerwarteten Prozeß-Statusänderungen resultiert.

In der Konsequenz fordern die "Dezentralisten" die Auflösung zentraler hierarchischer Strukturen zugunsten flexibler, handlungsfähiger dezentraler Einheiten63, ohne allerdings auf die Gefahr aufmerksam zu machen, daß beim Übergang auf dezentrale Strukturen

auch diejenigen Mechanismen außer Kraft gesetzt werden, die der Ab-stimmung der strategischen Ziele, der Ressourcen- und Infrastruktur-bedarfe, der Ziele und der kritischen Prozeßzustände dienen und

Poolungseffekte regelmäßig verloren gehen, wenn die gemeinsame Inanspruchnahme der Ressourcen bzw. Infrastruktur infrage gestellt wird.

Als Konsequenz werden Doppel- und Mehrfachfunktionen wieder eingeführt.

Das Mehr an Kunden- und Marktnähe reicht ggf. nicht zur Kompen-sation der neu entstandenen Nachteile. Bei der Dezentralisierung muß unbe-dingt darauf geachtet werden, daß die RZP-Koordinationsmechanismen für die systemübergreifenden Prozesse mit weniger Hierarchieebenen erhalten bleiben oder netzwerkartig neu eingerichtet werden. Die neu entstandenen dezentralen Subsysteme dürfen nicht in die lose Kopplung zurückfallen. Dies kann sichergestellt werden, wenn die Dezentralisierung durch geeignete Ord-

62Vgl. Schäfer, D.: Management und hierarchische Arbeitsteilung. Frankfurt (M), Berlin, Bern u.a.O. 1993, S. 87 ff. 63Vgl. Droege & Comp. (Hrsg.): Herausforderung Organisation. Perspektiven in Zeiten des strategischen Umbruchs. Düsseldorf 1993, S. 5 ff., und Warnecke, H. J.: Die Fraktale Fabrik. a.a.O., S. 142 ff.

Risiko zentraler Systeme

Risiko dezentraler Systeme

Erhaltung der RZP-Koordinations-mechanismen bei Dezentralisierung

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3.4 Architekturprinzipien in der Systemtheorie

111

nungsinformationen flankiert wird. Gegebenenfalls müssen zur Erhaltung bestimmter Poolungseffekte und zur Vermeidung von Mehrfachfunktionen die Flexibilitätsvorteile quantifiziert werden.

Vereinigung, z. B. durch die Eingliederung akquirierter Unternehmen in stark expandierende und globalisierende Unternehmen, bewirkt kurzfristig immer Verhaltensänderungen des Gesamtsystems, die unerwünscht sind, da sie die Effektivität beeinträchtigen. Da die Vereinigung von Subsystemen mit damit einhergehenden Strukturveränderungen in Unternehmen in der Regel nur möglich ist, wenn die Subsysteme auch rechtlich/wirtschaftlich eine Ein-heit bilden, wird oft der Schluß abgeleitet, daß einer rechtlich/wirtschaftlichen Vereinigung auch die Veränderung der bisherigen, vielleicht erfolgreichen Strukturen folgen müsse - immer mit der Konsequenz neu zu schaffender zentraler Koordinationseinrichtungen.

In der Praxis führen gravierende Strukturveränderungen regelmäßig zu einer vorübergehenden Desorientierung und zu Instabilitäten ("Erst schlecher, dann besser", vgl. S. 93). Dabei ist gut vorstellbar, daß gerade bei wirt-schaftlich erfolgreichen Subsystemen im Falle einer wirtschaftlich/rechtlichen Vereinigung alle Anstrengungen in Richtung "Kooperationsmodell" (networking) unternommen werden. Poolungseffekte und die Vermeidung von Doppel- und Mehrfachfunktionen können auch ohne Eingliederung realisiert werden. Auf eine Einführung neuer (zentraler) Strukturen sollte speziell auch in diesem Fall verzichtet werden. Mit Hilfe einer gut durchdachten, transpa-renten Interprozeßkommunikation können selbst Poolungseffekte in Lägern mit physisch verteilten Beständen realisiert werden, da die schnelle Kommu-nikation und Verarbeitung dafür sorgt, daß die Information "zentralisiert" er-scheint. Diese informationstechnische, logische Zentralisierung der verfüg-baren Informationen über Prozeßzustände ist mit der physisch/organisatori-schen Zentralisierung absolut gleichwertig.

Abb. 3.4-18: Strukturvereinigung in einem einfachen System zweiter Ordnung unter Verzicht auf Doppelfunktionen (z. B. Disposition)

Vorteile der Vereinigung durch zentrale Information

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3. Systemtheoretische Grundlagen

112

Das Elementarmodell der Vereinigung zweier Subsysteme ist in Abbildung 3.4-18 dargestellt. Der Gleichungszusammenhang wurde bereits S. 85 behandelt.

Daneben existieren weitere Elementarstrukturen, die sich aus der Abbildung durch Variation der Informationsströme ableiten lassen. Das Studium dieses Systems zweiter Ordnung zeigt, daß eine große Bandbreite von Verhaltensweisen möglich ist.

3.4.3.5 Wettbewerb Wettbewerb ist ebenfalls als elementares Verhaltensmodell beschreib-

bar. Marktprozesse64, unter Wettbewerbsbedingungen betrachtet, entsprechen am ehesten dem Basismodell nach dem Prinzip der losen Kopplung. Hinzu kommt, daß die konkurrierenden Systeme versuchen, sich gegenseitig von der Nutzung bestimmter Ressourcen oder Infrastruktureinrichtungen auszu-schließen. Informationen über Ziele oder Prozeßzustände werden ggf. gezielt falsch kommuniziert, um Vorteile zu erzielen.

Was für ein Unternehmen betrachtet einzelwirtschaftlich als nachteilig angesehen werden muß, erscheint bei der Betrachtung der gesamten Volkswirtschaft als Prinzip, das der Selektion der besten Anbieter dient. Die fortschreitende Konzentration in vielen Branchen ist so gesehen der Beweis dafür, daß Unternehmen im Erfolgsfalle bemüht sind, Wettbewerber durch Kooperations- bzw. Vereinigungsstrategien zum einzelwirtschaftlichen Vorteil auszuschalten.

Sehr große Unternehmen oder staatliche Aufsichtsbehörden greifen in Krisensituationen dann zu Deregulierungsmaßnahmen. Großunternehmen werden zerschlagen, in einzelwirtschaftliche Einheiten zerlegt, um durch Wettbewerb neue Kräfte freizusetzen. Der Zusammenbruch der östlichen Planwirtschaften ist in diesem Sinne als Deregulierungs-Prozeß zu begreifen.

Das Schmalenbach'sche Modell der pretialen Lenkung für ein einzelnes Unternehmen zeigt aber auch, daß der (Markt-)Preis für knappe Ressourcen unter bestimmten Bedingungen genau zu der optimalen Situation65 führt, die durch mathematische Optimierung des Ressourceneinsatzes gefunden werden kann. Offensichtlich sind aber der Beherrschbarkeit von Systemen aufgrund unzulänglicher Koordinationsinstrumente und -mittel Grenzen gesetzt.

Die Abbildung 3.4-19 zeigt die Merkmale der Interaktionsmodelle noch einmal im Zusammenhang.

Alle Systeme werden durch (nichtlineare) positive Regelkreise getriggert oder stimuliert. Die Marktentwicklung als Wachstums-, 64Vgl. Krämer, Thomas: Simulation und Funktionsfähigkeitsprüfung verbundener Marktprozesse. Eine Untersuchung auf der Basis des Koordinationsmängelkonzepts. Frankfurt (M), Berlin, Bern u.a.O. 1991, S. 13 ff. 65Opfermann, K. u. H. Reinermann: Opportunitätskosten, Schattenpreise und optimale Geltungszahl, "ZfB" 1965, S. 237 ff.

Selektion des besten Anbieters

Deregulierung in Krisen

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3.4 Architekturprinzipien in der Systemtheorie

113

Gleichgewichts- oder Schrumpfungsprozeß muß durch die Unternehmen adaptiert werden. Bei der Adaption stehen sie im Wettbewerb mit anderen Unternehmen, die um den gleichen Markt kämpfen. Die eigene Position, die Vision vom Marktauftritt und die Fähigkeit, diese Vision durch die Kalibrierung der Wettbewerbsinstrumente durch gut abgestimmte, effektive und effiziente Unternehmensprozesse ständig umzusetzen, entscheidet über den Erfolg.

lose Kopplung Kooperation Vereinigung Wettbewerb

Abstimmung der strategischen Ziele und Visionen

nein nein ja nein

Abstimmung der Ressourcen- und Infrastrukturbedarfe

nein ja ja gegenseitiger Ausschluß v. Ressourcen

... der Ziele nein ja ja Fehlinforma-tionen über Ziele und Strategien

... der Prozeß-zustände

nein ja ja nein

Verzicht auf individuelle Reservekapazität (Ressourcen u. Infrastruktur)

nein nein ja Zwang zur Wirtschaft-lichkeit, um Nachteile zu kompensieren

Verzicht auf Doppel- oder Mehrfachfunk-tionen

nein nein ja Zwang zur Wirtschaftlich-keit, um Nachteile zu kompensieren

Abb. 3.4-19: Die Interaktionsmodelle im Zusammenhang

Im Widerstreit der Anschauungen über die Wirksamkeit zentraler vs.

dezentraler Strukturen muß sich die Unternehmensführung darüber klar wer-den, über welche Möglichkeiten sie verfügt, mit Hilfe von Ordnungsinforma-tionen die Folgen loser Kopplung zu vermeiden. Die Informationstechnik ist heute in der Lage, die Voraussetzungen für die effektive und effiziente Gestaltung der Prozesse nach jedem gewählten Modell zu schaffen. 3.5 Die Gestaltung der Unternehmensprozesse 3.5.1 Die Notwendigkeit einer Konstruktionslehre für Informations-systeme

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3. Systemtheoretische Grundlagen

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Die Gestaltung der Unternehmensprozesse wird maßgeblich durch die verfügbare Informationstechnologie beeinflußt. Die Frage, wie Informationen bereitgestellt werden können, wirkt unmittelbar auf die Gestaltung von Ent-scheidungsprozessen ein. Aus Wirtschaftlichkeitsgründen mußten viele Ent-scheidungsprozesse in der Vergangenheit zentral organisiert werden, da z. B. Computer und die dazugehörige System- und Anwendungssoftware viel zu teuer waren, um sie im Unternehmen verteilt einsetzen zu können66. Erst mit dem massiven Preisverfall aller Komponenten und mit fortschreitenden Erfol-gen in der Kommunikationstechnologie können Alternativen zu zentral orga-nisierten Prozessen wirtschaftlich sinnvoll angedacht werden. Entwicklungen wie das "client server computing" spiegeln solche alternativen Entscheidungs-prozeß- und Kommunikationsmodelle wider. Die technischen Möglichkeiten, die bereits zu einer Reduzierung von Hilfstätigkeiten in Verwaltungen geführt hat, ermöglichen eine Ausweitung der Kontrollspanne und treffen die Forde-rungen, die zur Zeit aus Kosten- und Effektivitätsüberlegungen erhoben wer-den: Abbau von Hierarchiestufen und Übergang zu vernetztem Arbeiten (networking). Trotz aller Euphorie bleiben einige gravierende Probleme zu bewältigen, die die Gestaltung der Unternehmensprozesse lediglich suboptimal auszuführen erlauben. Fehlen einer verbindlichen Konstruktionslehre für Informationssysteme

Seit die kommerzielle und technische Datenverarbeitung in den 60er Jahren nutzbar wurde, hat sich das Wissen über Informationssysteme vervielfacht. Mehrere gravierende Technologie-Änderungen haben die Entwicklung seitdem geprägt, so z. B.

der Übergang von der batch- zur Dialogverarbeitung, die Entwicklung und Einführung von Datenbanksystemen, die Entwicklung höherer Programmiersprachen und leistungsfähiger

Betriebssysteme, die Explosion der Leistungsfähigkeit von Rechnersystemen, die Entwicklung der CASE-Technologie und von Data-Dictionaries, die Markteinführung der Arbeitsplatzrechner (PC's) und die schnelle

Entwicklung leistungsfähiger Prozessoren, die Entwicklung und Einführung graphischer Benutzerschnittstellen, die Zunahme der Bedeutung der technischen Kommunikation und die

Entwicklung leistungsfähiger LAN's (Local Area Networks) sowie von WAN (Wide Area Network)-Schnittstellen,

die Präzisierung neuer Systemarchitekturen (client server-Modell).

66Vgl. Merkel, H.: Auswirkungen der neuen Technologien der Bürokommunikation auf Wirtschaftlichkeit und Effektivität. In: Büroorganisation - Bürokommunikation. Mittel zur Steigerung der Produktivität. Hrsg. G. Tenzer, Heidelberg, 2. Aufl. 1989, S. 235-261, insbes. S. 242 ff.

Technische Dezentralisierung durch günstige Preisentwicklung für Hard- und Software

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3.5 Die Gestaltung der Unternehmensprozesse

115

Die Informatik als Wissenschaft war in der kurzen Zeit von 1960 bis

1990 bislang nicht in der Lage, eine stabile Konstruktionslehre für Informati-onssysteme zu beschreiben. Disziplinen wie die Elektrotechnik oder der Ma-schinenbau sind hier in einer vergleichsweise besseren Situation. Sie können auf die Physik zurückgreifen, die sich zwar auch permanent weiterentwickelt, aber seit Generationen auch Grundgesetze für Entwicklungen von Bauwer-ken, Maschinen und elektrotechnischen Schaltungen und Anlagen bietet. Hinzu kommt, daß in diesen Disziplinen die Beschreibung von Spezifikatio-nen (Bauzeichnungen, Schaltpläne usw.) weitgehend standardisiert ist und damit allgemein interpretiert werden kann, während sich die Informatiker bislang nicht auf eine allgemeine Beschreibungssprache für Spezifikationen von Informationssystemen einigen konnten. Lediglich im Bereich der Daten-modellierung zeichnet sich mit den sogenannten entity relationship-Modell (ERM)-Darstellungen eine solche Entwicklung ab.

Setzt man die Zahl der gravierenden Technologiebrüche zur gesamten Entwicklungsphase der kommerziellen Informationsverarbeitung in Bezie-hung, dann stellt man fest, daß jeweils alle 3-5 Jahre gravierende Umwälzun-gen stattfanden. Diese Umwälzungen haben immer auch bereits existierendes Know-how obsolet werden lassen. Unternehmen, die bereits in den ersten Phasen Anwendungen entwickelt hatten, mußten deshalb zunehmend mit ei-ner heterogenen Welt aus mehreren Entwicklungsabschnitten gleichzeitig fer-tig werden. Koexistenz ist heute deshalb eines der drängendsten Bedürfnisse. Fehlendes Know-how in den Unternehmen

Da Informationssysteme immer komplexer werden und der Bestand an Software in allen Unternehmen und Einrichtungen immer größer wird, ist der Bedarf an gesichertem Wissen über Grundsätze der Informationssystem-Inte-gration, -Migration (einschließlich re-engineering) und -Neuentwicklung enorm. Die Know-how-Basis in den Unternehmen ist unterschiedlich zu beurteilen. Während die Mitarbeiter der EDV-Bereiche in der Regel das Koexistenzbedürfnis formulieren und ihr traditionelles Wissen verteidigen, greifen die Fachbereiche mit selektivem PC-Know-how an und stellen Forderungen, die die EDV-Bereiche zunächst nicht befriedigen können. Diese Schnittstelle, die einerseits gesichertes Informationstechnologie(IT)-Know-how für die Definition von Anforderungen an die Informationstechnik verlangt und andererseits soviel Fachbereichs-Erfahrung erfordert, um sehen zu können, wie die Informationstechnik betriebswirtschaftlich/technische Lösungen gestalterisch beeinflussen kann, ist nach wie vor nicht befriedigend herzustellen.

Erst wenn EDV- und Fachbereichsmitarbeiter mißverständisfrei miteinander kommunizieren können, sind Fortschritte zu erzielen. Hinzu kommt die Problematik der Ausbildungs- und Technologiezyklen.

Der schnelle tech-nologische Fort-schritt behinderte die Standardi-sierung

Definition von Anforderungen auf gesicherter Know-how-Basis

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3. Systemtheoretische Grundlagen

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Um Anwendungssoftware zu entwickeln, müssen die Entwickler auf Werkzeuge zurückgreifen können, die zum Zeitpunkt der Vorhabensplanung zur Verfügung stehen. Diese Werkzeuge stammen, sofern sie wirklich zur Verfügung stehen, aus einer früheren Inventionsgeneration. Bis die Anwendungssoftware fertig entwickelt ist, sind viele Elemente der Lösung nicht mehr zeitgerecht, weil inzwischen bereits wieder modernere tools verfügbar sind. Software, die gegenwärtig im Einsatz ist, wurde mit Hilfe von tools entwickelt, die aus aktueller Sicht technisch lange überholt sind. Mitarbeiter, die heute von der Hochschule kommen und in den Unternehmen eingearbeitet werden, waren aufgrund ihrer Informatikausbildung auch an tool-Entwicklungen beteiligt, die sich gerade im Inventionszyklus befinden, z. Z. vor allem im Bereich der objektorientierten Systementwicklung (OOP). Die Diskrepanz zum Tagesgeschäft und zur (stabilen) Produktion in den Unternehmen, in denen häufig noch Assembler- und COBOL-Anwendungen das Geschehen beherrschen, ist beträchtlich.

Es ist deshalb notwendig, für die nächste Evolutionsphase Elemente einer Konstruktionslehre für Informationssysteme als Arbeitsgrundsätze zu definieren, um Informationssysteme effektiv und wirtschaftlich integrieren, migrieren und entwickeln zu können.

Solche Arbeitsgrundsätze müssen durch die folgenden Leitvorstellungen geprägt sein, die für die Planungsarbeit grundsätzlich gelten müssen:

bei der Planung von Informationssystemen ist ein umfassendes, gesamt-heitliches Denken im Hinblick auf die funktionale und wirtschaftliche Zweckerfüllung des gewünschten Informationssystems erforderlich;

Informationssysteme müssen als notwendige Voraussetzung für die Infor-mationssystem-Weiterentwicklung und den Investitionsschutz technolo-gisch state of the art sein;

die Stringenz der Grundsätze und deren praktische Umsetzbarkeit muß in bezug auf eine effektive Zusammenarbeit und Kommunikation aller beteiligten Personen gewährleistet sein;

der Aufwand muß planbar und nachvollziehbar sein, um eine rechtzeitige Einschätzung der wirtschaftlichen Konsequenzen von Entwicklungen bzw. Projektvorhaben zu ermöglichen.

CASE (Computer Aided Systems Engineering)-Werkzeuge haben in diesem Zusammenhang die Bedeutung einer Technologie. Erst das Zusammenspiel von technologischen, organisatorischen und auch sozialen/ psychologischen Maßnahmen kann den arbeitsteilig organisierten Entwicklungsprozeß stabilisieren. Aus der Arbeitsteilung resultieren Rollen und Kommunikationsbeziehungen zwischen den beteiligten Mitarbeitern. Je nach Entwicklungsphilosophie werden von den Rollen bestimmte Ergebnisse verlangt, die mit Hilfe der CASE-Werkzeuge erstellt und kommuniziert

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3.5 Die Gestaltung der Unternehmensprozesse

117

werden. Aus diesem Grunde wird dem Menschen als Konstrukteur von Informationssystemen bei dieser Darstellung ein besonderer Stellenwert eingeräumt. Verstehen der gegenwärtigen Architektur-Diskussion

Die Architektur von Informationssystemen war ursprünglich sehr einfach. Programme, in Assembler geschrieben, waren auf die Großrechner-Systemsoftware zugeschnitten. Die Daten, die von einem Programm benötigt wurden, lagen entweder im Programm selbst oder als "Datei" in einem batch unmittelbar dahinter67.

Mit der wachsenden Zahl von Anwendungen in den Unternehmen wuchs das Redundanz-Problem. Die Pflege der Datenbestände erforderte immer höhere Aufwendungen. Diese Situation führte zur Entwicklung von Datenbanken (DB) und Datenbank-Managementsystemen (DBMS), die als eigenständige Subsysteme aus den eigentlichen Applikationen herauswuchsen und eine große Effizienzsteigerung mit sich brachten. Eine ganze Generation von Entwurfs- und Realisierungswerkzeugen basiert auf dieser Entwicklung.

Die Basis für eine standardisierte Entflechtung von Datenverwaltung und Anwendungsfunktionalität ist heute durch die auf dem Markt verfügbaren relationalen Datenbank-Managementsysteme (RDBMS) perfektioniert. Eine vollständige Standardisierung der Datenzugriffs-Schnittstelle (SQL) erscheint jetzt realistisch. Ein Blick in die Zukunft der Datenbanksysteme zeigt drei Tendenzen:

Verteilung der Datenhaltung in Netzwerken (SQL-Server), Integration von Multimedia-Objekten (Bilder, Sprache usw.) in relationa-

len Datenbanksystemen Übergang zu objektorientierten Daten-/Informationsbanksystemen68.

Ähnlich der Evolution bei der Trennung von Funktionalität und Daten-haltung zeichnet sich seit Jahren eine zweite Architektur-Evolution ab: die Trennung von Funktionalität und Benutzeroberfläche (Präsentationsoberflä-che oder -schicht). Für eine rasche Akzeptanz und Durchdringung verteilter Systeme ist eine durchgängig einheitliche, verständliche und deshalb mög-lichst grafisch orientierte Benutzerschnittstelle von größter Bedeutung. Es ist keinem Benutzer zumutbar, die durch Systemintegration zusammenwach-sende, heterogene Hard- und Softwarelandschaft mit unterschiedlichen Dia-logabläufen und Bildschirmmasken zu beherrschen. Die Hersteller haben das 67Vgl. Merkel, H. u. A. R. Kremer: Verfahrenstechnik - Ansätze einer Systematik für Planung, Projektmanagement und Qualitätssicherung von Informationssystemen, "Wissenschaftliche Beiträge zur Informatik", Hrsg.: Technische Universität (TU) Dresden, 5. Jg., Heft 4, 1991, S. 38-59. 68Diese Entwicklung dauert bereits seit geraumer Zeit an. DAMOKLES ist eine dieser Entwicklungen, die in Deutschland bereits 1982 aufgenommen wurden.

Trennung von Programmen und Datenhaltung

Trennung von Programmen und User-Interface

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3. Systemtheoretische Grundlagen

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Erfordernis erkannt und bieten dem Evolutionstrend folgend systemtypunab-hängige, standardisierte Oberflächen bzw. Werkzeuge zu deren Erstellung an (IBM-Umgebungen: OS/2 Presentation-Manager, Windows, Windows NT usw. Unix: MOTIF oder OPEN LOOK). Die User-Interface-Managementsy-steme (UIMS) sind daher ähnlich wie die Datenbank-Managementsysteme emanzipiert von den Funktionen der Applikationen.

Für die Programmentwicklung - unabhängig ob für Host oder PC - be-deutet dies einerseits die Trennung von Funktionalität (Prozesse) und Ober-fläche (Präsentationsschicht) durch definierte Schnittstellen, andererseits die Berücksichtigung der Regeln und Werkzeuge des jeweiligen Oberflächen-standards (Beispiel: SAA-CUA [Common User Access])69. Diese Basis för-dert zur Zeit die Entwicklung neuer, "intelligenter" Werkzeuge, die das Pro-grammieren der Oberflächenkomponenten durch einen Modellierungsvorgang ersetzen (prototyping), der auf der Grundlage eben dieser Oberflächen statt-findet. Die einzelnen Komponenten der Anwendungs-Präsentationsschicht (Menüs, Fenster, Symbole ...) werden dabei visuell wie Bausteine zusammen-gefügt. Den Konzepten der modernen, grafisch orientierten Oberflächenstan-dards liegt die Erkenntnis zugrunde, daß man das Auge als breitbandigstes und schnellstes Sinnesorgan des Menschen zur Interaktion mit dem Computer nicht über eine schmalbandige Terminalleitung versorgen kann. Visualisie-rung und direkte Manipulation stehen fortan im Vordergrund. Der Benutzer kann - entsprechend der menschlichen Denk- und Handlungsweise - an meh-reren Vorgängen auf einem virtuellen Schreibtisch (Desktop) arbeiten, die sich ihm in der bekannten Form (grafisch) am Bildschirm präsentieren. Dabei wird ein traditionelles Prinzip auf den Kopf gestellt: früher steuerte das Pro-gramm den Benutzer, jetzt soll (kann) der Benutzer die Prozesse ereignisori-entiert steuern.

Dieser Trend hat einen Preis: am Arbeitsplatz ist viel Computerleistung notwendig, um den grafischen, virtuellen Schreibtisch abzubilden. Tenden-ziell werden die UIMS deshalb resident am Arbeitsplatzsystem vorgehalten, während Prozesse und Datenverwaltung auch räumlich entfernt ablaufen kön-nen. Technisch besteht aber auch die Möglichkeit, ausschließlich die Oberflä-che (Benutzerschnittstelle) auf ein Arbeitsplatzterminal ("X-Terminal") aus-zulagern. Die Tatsache, daß ein solches Terminal allein in dieser Hinsicht "Intelligenz" aufweist, macht dieses Konzept allerdings umstritten.

Aus der Arbeitsteiligkeit zwischen Oberfläche (Präsentation), Prozeß, Datenbasis und Vernetzung der Systeme resultiert die Kommunikation (connectivity; vgl. Abbildung 3.5-1). Dabei werden u.a. hohe Anforderungen und Erwartungen an den elektronischen Austausch von Informationen (Electronic Data

69Vgl. IBM (Hrsg.): Systems Application Architecture. A Design Guide. Doc. SC26-4362-0, 1988, S. 19 ff.

Standardisierung der Computer-Bedienung durch grafische Oberflächen

User-Interface- Management-System

Die technische Kommunikation ist die Voraussetzung für die elektronische Arbeitsteiligkeit

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3.5 Die Gestaltung der Unternehmensprozesse

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Interchange [EDI]) einerseits gestellt, während auf der technischen Ebene die Standardisierungsdiskussion noch lange nicht zu Ende ist. Die Auseinandersetzung zwischen den Konzepten ATM (Asynchronous Transfer Mode) und FDDI (Fibre Distributed Data Interface) ist in vollem Gange. ATM werden für die Zeit nach 1998 die besten Chancen eingeräumt. Große Mengen von Informationen, die normale Geschäftsvorfälle betreffen, werden heute mit dem Darstellungs- und Transportmedium Papier unter hohem Aufwand und qualitativen Informationseinbußen bewegt. Dieser Zustand wird zunehmend durch den direkten Informationsaustausch über die informationstechnologische Infrastruktur abgelöst. Im lokalen Bereich (z. B. Abteilung des Unternehmens) bilden LANs (Local Area Network) die Basis für Verteilungsdienste. Diese können über "Brücken" an weitere LANs oder auch WANs (Wide Area Network) z. B. zur Kopplung mehrerer Betriebsstätten angebunden werden. Voraussetzung für den elektronischen Informationsaustausch ist eine Absprache bzw. Norm, welche Nachrichtenty-pen wie (elektronisch) verschlüsselt werden. Auch hier existieren Normen (z.B. EDIFACT70, X.400, ODA/ODIF) und softwaretechnische Hilfsmittel (Protokolle, Schnittstellenmodule, ...) zur Realisierung.

Die eigentliche Programmlogik ist im mittleren Bereich der Abbildung dargestellt. Derzeit werden objektorientierte (OOP) Techniken der Program-mierung breit diskutiert. Dabei wird vor allem die Wiederverwendbarkeit von Softwarekomponenten in den Vordergrund gestellt. Viele Hersteller von Softwareanwendungen beziehen den Begriff häufig allerdings nur auf die Darstellung und Behandlung von "Objekten" auf der grafischen Oberfläche des Anwendungs- oder Entwicklungssystems. So wird z. B. Visual Basic von Microsoft als "objektorientiert" bezeichnet, nur weil die Gestaltungselemente der grafischen Oberfläche ereignisorientiert genutzt werden können. Darüber hinaus bietet das Entwicklungssystem einen vollständigen Attributkatalog für die einzelnen Bedienungselemente.

Dieser Ansatz wurde ursprünglich, wie erwähnt, für die Simulation komplexer Systeme bereits in ALGOL, insbesondere aber in SIMULA, einer ereignisorientierten Simulationsentwicklungssprache, eingeführt.

Auch hier handelt es sich wieder um einen Paradigmawechsel, der die bisherigen Erfahrungen mit Programmiertechniken im Sinne der oben geforderten Konstruktionslehre obsolet werden läßt. Allerdings müssen alle Analytiker und Entwickler so gründlich umdenken lernen, daß viele Jahre vergehen dürften, bis komplexe Applikationen objektorientiert zur Verfügung

70Vgl. Frank, U.: Anwendungsnahe Standards der Datenverarbeitung. Anforde-rungen und Potentiale. Illustriert am Beispiel von ODA/ODIF und EDIFACT. Wirtschaftsinformatik, 33. Jg., Heft 2, April 1991, außerdem Petri, Chr.: Externe Integration der Datenverarbeitung. Unternehmensübergreifende Konzepte für Handelsunternehmen. Berlin u.a.O. 1990, S. 37 ff.

Wiederverwend-barkeit von Software durch OOP

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3. Systemtheoretische Grundlagen

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stehen. Die oben dargestellte Architektur von Anwendungen steht nicht im Widerspruch zu diesem Ansatz.

Der Einsatz von client server-Lösungen erfordert gegenüber den konservativen Anwendungsprogrammsystemen eine entsprechende Aufteilung der Software. Das monolithische Programm, das die Kontrolle und die Abarbeitung eines Bündels von Anwendungsfunktionalitäten wahrnimmt, wird ersetzt durch ein Netz anzusteuernder Funktionen. Das Programm wird zunehmend zu einem ereignisorientierten "Funktions-Server". Die Prozesse (= Ausführung der Programme) können flexibel den jeweils verfügbaren, d.h. unbelasteten Prozessoren (Zentraleinheiten, CPU's) im Netz zugeordnet werden (distributed processing, cooperative processing).

Präsentation Prozeß Datenbasis

grafischeBenutzeroberfläche

Funktionalität

User Agent Application Agent DBMS-Agent(Benutzungsprozessor) (Anwendungsprozessor) (Datenhaltungsprozessor)

Darstellung der Daten

Connectivity

in (rel.) Tabellen

(Anwendung)

Abb. 3.5-1: PPDC-Architektur als Voraussetzung für client/server-Lösungen

In diesem Zusammenhang kann beobachtet werden, daß auf der Seite

der Hardware in Verbindung mit (Unix-)orientierter Systemsoftware parallele Systeme mit gewaltigen Leistungsmerkmalen wirtschaftlich interessant zu werden beginnen. Konzeptionell stehen sich die Symetric Multi Processing Architecture (SMP) und die Massiv Parallel Processing Architecture (MPP) gegenüber. Firmen wie nCube, Pyramid und Sequent erzielen mit solchen Systemen bereits beachtliche wirtschaftliche Erfolge. In der Bundesrepublik ist auf diesem Sektor die Firma Parsytech in Aachen tätig.

Die Abbildung 3.5-2 zeigt einige typische client/server-Lösungen auf der Basis des oben dargestellten Architekturmodells.

Für die Umsetzung dieser Alternativen in den Unternehmen gibt es er-hebliche konzeptionelle Unterschiede, die von der Systemsoftware-Entschei-

Client/Server-Architekturen benötigen enorme Computer-Leistung

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3.5 Die Gestaltung der Unternehmensprozesse

121

dung (Betriebssysteme) geprägt wird. An dem einen Ende der Skala techni-scher Möglichkeiten ist vorstellbar, daß in einem kleinen bis mittleren Unter-nehmen einzelne PC's in einem Netzwerk miteinander verbunden sind. Einige PC's übernehmen Server-Funktionen z. B. für die externe Kommunikation oder für bestimmte Datenhaltungsaufgaben, für das Drucken usw. Ansonsten ist jeder PC mit der für den Benutzer speziell ausgewählten Software be-stückt. Es gibt zwischenzeitlich auch gute Buchführungs-, Personalabrech-nungs- und Einkaufs- sowie Materialwirtschafts-Softwarepakete, die in sol-chen Netzwerken "kooperativ" gut lauffähig sind.

Diese Lösungsalternative wurde möglich, weil CPU's, Speicher und Platten sowie die anderen Peripheriegeräte immer preiswerter wurden. Am anderen Ende der Skala standen in der Vergangenheit mainframe-Computer. Da die CPU's, die Platten, die Speicherchips usw. sehr teuer waren, konnte man das equipment nur einmal beschaffen und zentral einsetzen. Die Benutzer haben sich die Systemressourcen mit Hilfe ausgeklügelter multitasking-Betriebssysteme geteilt, ohne daß bewußt war, daß gleichzeitig mehrere Hundert oder sogar mehrere Tausend Benutzer gleichzeitig aktiv waren. Durch die grafischen Oberflächen und die neuen Multimedia-Anwendungen ist direkt am Arbeitsplatz soviel Computerleistung nötig, daß herkömmliche mainframes nicht in der Lage sind, sie in gewohnter Form mit Hilfe von (dummen) Terminals zur Verfügung zu stellen.

Betriebsebenen

Arbeitsplatzebene Abteilungsebene Zentralebene

DDE/OLE

Connectivity

Connectivity

Variante

1

Variante

2

Variante

3

Abb. 3.5-2: Typische client/server-Lösungen

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3. Systemtheoretische Grundlagen

122

Aus diesem Grunde wurden Schlagworte wie "down sizing" oder "right sizing" geboren, um anzudeuten, daß die zentrale Computerleistung aufgebro-chen und auf die Arbeitsplätze nach Möglichkeit verteilt werden soll. Inzwi-schen zeichnet sich durch die massiv parallelen Rechner mit UNIX-Mutatio-nen als Betriebssystem die Rückkehr einer neuen Generation von mainframes ab. Der Unterschied ist lediglich, daß diese Rechner konzeptionell in PC- oder workstation-Netzwerke als server eingebunden werden. Auf dieses Weise entstand zwischen den beiden extremen Varianten "PC-Netzwerk" und "herkömmliche mainframe-Lösung" ein dritter Betriebstyp. In diesen Netz-werken übernehmen die Super-Rechner dann zukünftig typische server-Funk-tionen, wie sie bereits angesprochen wurden. Durch die enorme Leistungsfä-higkeit gehören dazu auch Multimedia-Anwendungen.

Datenbanksysteme wie ORACLE71 sind konzeptionell bereits vollstän-dig in dieser Weise positioniert. 3.5.2 Die Organisation von Geschäftsprozessen

Für die Gestaltung der Geschäftsprozesse ist die informationstechnische

Infrastruktur, wie oben erläutert, eine Rahmenbedingung, die die Konzeption des organisatorischen Modells erheblich beeinflußt. Bei einer hohen Durchdringung der Unternehmen mit EDV72 sind die betriebswirtschaftlichen Funktionen soweit untergliedert und formalisiert, daß die Teilfunktionen unmittelbar auf Bildschirm-Masken oder Bildschirm-Fenster (windows) abbildbar sind.

Ein wichtiges Kriterium bei der Definition von Funktionen ist die Wie-derholbarkeit im Sinne einer generell regelbaren Funktion73. Die einzelnen Masken oder Fenster ergeben dann nach ihrem logischen Zusammenhang einen betriebswirtschaftlichen Vorgang oder Teilvorgang. Die Wiederholbar-keit macht den Vorgang (Prozeß) zu einem Basiselement der Organisation. Der zugehörige Arbeitsablauf ergibt sich aus den einzelnen Arbeitsschritten zur Erledigung des Vorganges.

Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: in einem Unternehmen ist die betriebswirtschaftliche Funktion Einkauf nach Einkaufsobjekten gegliedert: Hauptproduktgruppen, Verpackung, Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe. Jede

71Vgl. Stürner, G.: ORACLE. Die verteilte Semantische Datenbank. Weissach 1993. 72Vgl. Kroner, K.: IV-Kennzahlen und Kostenstrukturen. Tagungsband. Böblingen 1992, S. 10 ff. Außerdem Merkel, H.: Strategisches Informationsmanagement. Planung und Aufbau. in: Zeitschrift Führung und Organisation (ZFO), 57. Jg., H. 5, 1988, S. 304-312, insbes. S. 306. 73Vgl. Gutenberg, E.: Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre, 1. Bd.: Die Produktion, 17. Aufl., Berlin, Heidelberg, New York 1970, S. 236 f.

Die massiv parallelen Server sind die neuen Mainframes

Voraussetzung für die hohe EDV-Durchdringung waren bisher Aufgaben mit Wiederholungs-charakter

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3.5 Die Gestaltung der Unternehmensprozesse

123

Funktion ist in Teilfunktionen zerlegt. Bei den Hauptproduktgruppen sind die Teilfunktionen z. B. Verwaltung der Lieferanten-Daten, Angebote einholen, Kalkulationen prüfen, Bestellabwicklung usw.

Umsatz: Firmengröße

%-Durchdringung

0102030

4050

6070

8090

> 10 Mrd. DM > 5 Mrd. DM > 1 Mrd. DM >0,5 Mrd. DM >0,25 Mrd. DM

65

85

75

62

5055

6560

5040

bwl. Funktionen

Abb. 3.5-3: EDV-Durchdringungsgrad nach einer Erhebung von Kroner Jede Teilfunktion ist einem Vorgang oder Teilvorgang zugeordnet (vgl.

Abbildung 3.5-4), der als Ersatz für Formulare aus den eben erwähnten Bildschirm-Masken oder Fenstern besteht. Vorgänge werden so konfiguriert, daß die Masken oder Fenster ablauffähig auf Arbeitsplatz-Endgeräten (PC's oder Terminals) zur Verfügung stehen. Ein weiteres Element der Ablauforganisation ist die Zuordnung von Mitarbeitern, die diese Endgeräte bedienen und die Arbeitsabläufe vollziehen74.

Für die Mitarbeiter der Einkaufsabteilung wird so eine Aufgabenzu-ordnung festgelegt, die in der Erledigung bestimmter Vorgänge oder Teilvor-gänge besteht. Solche Arbeitsplatz- oder Rollenbeschreibungen sind fester Bestandteil der Abteilungsorganisation für den Einkauf. Es ergibt sich eine spiegelbildliche Abbildung der Abteilungsorganisation auf die Funktion Einkauf und umgekehrt.

74Dieser Zusammenhang läßt sich ideal für das re-engineering von Geschäftsprozes-sen nutzen. Vgl. Keller, G. u. S. Meinhardt: SAP R/3-Analyzer. Optimierung von Geschäftsprozessen auf Basis des R/3-Referenzmodells. (Hrsg.: SAP AG, Walldorf) Walldorf 1994, S. 19 ff., vgl. auch: UBIS GmbH (Hrsg.): BONAPART. Model your business. Berlin 1933. BONAPART ist ein re-engineering-tool, das auf der Dreitei-lung: Funktionen, Vorgänge und Daten basiert; vgl. auch IDS Prof. Scheer (Hrsg.): Der ARIS-Analyzer für die Erfassung der Ist-Situation, die Schwachstellen-Analyse und die grobe Soll-Konzeption. o. J. Saarbrücken, ferner Institut für Wirtschaftsin-formatik der Universität Hannover (Hrsg.): AENIS - objektorientierte Modellierung von Geschäftsprozessen. Hannover 1994.

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3. Systemtheoretische Grundlagen

124

Bei der Einführung von betriebswirtschaftlicher Standardsoftware wer-den Projektteams gebildet und zugeordnet. Diese Projektteams, idealerweise nach der zukünftigen Abteilungsstruktur geordnet, bilden die Standardge-schäftsvorgänge weitestgehend auf die existierenden Funktionen (proto-typing) ab. Gleichzeitig müssen sie versuchen, die konzeptionellen Möglichkeiten der Standardsoftware-Lösung nachzubilden und nicht die bis-herige organisatorische Lösung (vgl. Kapitel 5).

Die Organisation eines Vorganges nach dem Prinzip der Wiederholbar-keit stellt sicher, daß eine Lernkurve75 realisierbar ist. Mit zunehmender Durchführung nimmt die Fähigkeit der beteiligten Mitarbeiter zu, sowohl qualitative als auch quantitative Leistungssteigerungen zu realisieren. Grund-sätzlich besteht die Möglichkeit, Vorgänge nach der Verrichtung76 oder nach dem Objekt (gesamthafte Bearbeitung) zu organisieren. Während die Verrich-tungsorganisation streng tayloristisch schnelle Lerneffekte garantiert, aber zur Monotonie führt, setzt die gesamthafte Bearbeitung auf höhere Mitarbeiterzu-friedenheit. Die Konsequenz sind niedrigere Fallzahlen, aber ggf. höhere Qualität. Insgesamt setzt die gesamthafte Bearbeitung höhere Qualifikationen voraus.

Datenmodellbwl. Funktion

Vorgänge

Vorgang 1 Vorgang 2 Vorgang 3Bildschirm-Masken(Maps, Windows)

75Vgl. Kreikebaum, H.: Strategische Unternehmensplanung. 4. Aufl., a.a.O., S. 75 ff. 76Vgl. Kosiol, E., E. Grochla und Wilfried Krüger: Organisation der Unternehmung. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1984, S. 89 ff.

Mit Hilfe des Prototypings wird die Ablauf-organisation konzipiert

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3.5 Die Gestaltung der Unternehmensprozesse

125

Abb. 3.5-4: Zusammenhang zwischen betriebswirtschaftlichen Funktionen, Vorgängen und Daten

Ob eine Ablauforganisation effektiv (in bezug auf die Leistungsziele) und effizient (in bezug auf den Ressourceneinsatz) ist, entscheidet einerseits die Organisation eines einzelnen Vorganges nach der Verrichtung oder nach dem Objekt und andererseits die Vorgangsverkettung (Prozeß-Interkommunikation) bis hin zum gesamten Geschäftsprozeß. Dabei ist entscheidend, welche Informationstechnik verfügbar ist, ob viele Hierarchiestufen eingebunden sind oder ob eher netzwerkartige Verknüpfungen bestehen und schließlich, ob zentral oder dezentral geführt, d.h. entschieden wird (vgl. Kapitel 3.4.2.5, S. 91).

Die verfügbare Informationstechnik hat einen erheblichen Einfluß auf die Organisierbarkeit von Abläufen. So war in der Vergangenheit die Abteilungsorganisation an den konventionellen Arbeitsmitteln ausgerichtet. Die Ablage, die Kopiertechnik, die Arbeitsmittelverwaltung usw. mußten aus wirtschaftlichen Gründen zentralisiert sein. Aufgrund der einfunktionalen Arbeitsmittel wie Schreibmaschine, Tischrechner usw. waren die Arbeitsabläufe danach auszurichten77. Die konventionelle Herstellung und Distribution von Papieren als Arbeitsmittel bewirkte einen erheblichen Aufwand und verursachte Verzögerungen. Erst der Übergang zu multifunktionaler Informationstechnik am Arbeitsplatz hebt diese Nachteile auf. Es besteht nun eine reelle Chance für die gesamthafte Bearbeitung von Vorgängen, die lediglich durch die Mitarbeiterqualifikation begrenzt wird.

"Verzögerungen" beeinträchtigen die Effektivität und Effizienz von Prozessen. Aus diesem Grunde müssen die früher abgeleiteten Ursachen von Verzögerungen (mangelnde Verfügbarkeit von Informationen):

lose Kopplung, mangelnde Informationsqualität, unzulängliche Prinzipien oder Methoden der Informationsbeschaffung, Doppel- oder Mehrfachfunktionen

konzeptionell umgangen werden, z. B. auch durch das Vermeiden zu vieler Hierarchien. So kann das Vier-Augen-Prinzip dazu führen, daß Vorgänge immer wieder unterbrochen werden müssen, um Genehmigungen einzuholen.

Den Zusammenhang zwischen Daten bilden Funktionen und Vorgänge und umgekehrt. Das Teil- oder Unternehmensdatenmodell stellt sicher, daß die durch die Funktionen angesprochenen Daten kontrolliert redundant

77Vgl. Merkel, H.: Auswirkungen der neuen Technologie der Bürokommunikation auf Wirtschaftlichkeit und Effektivität. In: Büroorganisation - Bürokommunikation. Mittel zur Steigerung der Produktivität. Hrsg. G. Tenzer, Heidelberg, 2. Aufl. 1989, S. 235-261, insbes. S. 242 ff.

Der IT-Einsatz zielt auf die Vermeidung von Verzögerungen

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3. Systemtheoretische Grundlagen

126

(normalisiert) im sachlogischen Zusammenhang, z. B. in Form von entity relationship-Modell-Darstellungen bekanntgemacht und verwaltet werden. Betriebswirtschaftlich ist damit sichergestellt, daß Funktionen rationell auf Vorgänge umgesetzt werden können - oder umgekehrt, daß Vorgänge die notwendigen Funktionen vollständig abdecken. Gleichzeitig sind in ihm die Geschäftsregeln abgelegt. Es dient ferner der sprachlichen Vereinheitli-chung/Normierung der in einem Unternehmen verwendeten Daten bzw. In-formationen.

Das Datenmodell ist außerdem die Voraussetzung für die Automatisie-rung der (informationstechnischen) Systemgestaltung. Datenmodelle werden in modernen Datenbanksystemen bereits beim Entwurf erfaßt und anschlie-ßend im data dictionary umgesetzt. Daraus lassen sich die (relationalen) Datentabellen ableiten. Basierend auf data dictionary und Tabellen kann dann der Bildschirmmasken- oder Fenster-Entwurf weitgehend automatisiert wer-den. Diese Fähigkeit erlaubt den Projektteams beim prototyping eine enorme Flexibilität.

Informationstechnisch gesehen müssen Anwendungen, die auf dieser Architektur beruhen, als datenbankorientiert bezeichnet werden. Durch die Erweiterung der Sichtweise durch objektorientierte Systeme, kommt der Be-griff workflow-Anwendung hinzu (Kap. 3.2, S. 59 ff). Die Benutzungsober-fläche (UIMS) unterscheidet sich grundsätzlich nicht von der hier gewählten Darstellung. Konzeptionell ergibt sich bei der Datenbank ein Unterschied durch die von Grund auf andere Behandlung von Vorgängen.

Ein Hierarchiemodell der betrieblichen Prozesse siedelt die formalisierbaren und repetitiven Vorgänge an der Basis des Unternehmens an. Sie heißen deshalb auch operativ. Die zugehörigen Informationssystem-Anwendungen werden entsprechend auch als operative Anwendungen bezeichnet. Bestandteil dieser Anwendungen sind regelmäßig auch die fallweise geregelten78 Entscheidungen. Das Kriterium für die Abgrenzung von generell geregelten Entscheidungen/Anweisungen ist unter anderem die Wiederholungsstruktur und die Formalisierbarkeit. Die Wiederholung für das Auftreten solcher Fälle kann völlig unregelmäßig sein und gleichzeitig können alle sonst gültigen Kriterien für eine Entscheidung nicht ausreichend sein, so daß "Ermessen" eine Rolle spielt. Für diesen Prozeßtyp hat sich die Bezeichung "dispositiv" durchgesetzt79. Für dispositive Prozesse entstand in den letzten Jahren speziell durch die Bemühungen der KI (künstlichen

78Vgl. Gutenberg, E.: Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre. 1. Bd.: Die Produktion, 17. Aufl., a.a.O., S. 236 f. 79Vgl. Biethahn, J., H. Muksch u. W. Ruf: Ganzheitliches Informationsmanagement. Band I: Grundlagen. 2. Aufl., München, Wien 1992, S. 9 ff.

Durch KI-basierte Informationssysteme werden auch dispositive Vorgänge automatisierbar

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3.5 Die Gestaltung der Unternehmensprozesse

127

Intelligenz) ein neuer regelbasierter Anwendungstyp, der die Erfahrung von Spezialisten in EDV-Anwendungen einbringt (vgl. Kapitel 3.4.1, S. 73).

Parallel existieren in Unternehmen weitere Prozeßbereiche, für die es ebenfalls typische Anwendungen gibt80. In Sekretariaten dominieren z. B. die Anwendungstypen: Textverarbeitung, Tabellenkalkulation, persönliche In-formationssysteme (z. B. PackRat), Geschäftsgrafik und electronic mail. Im Assistenzbereich sind daneben zusätzliche Anwendungstypen wie: Projekt-management und Entscheidungs-Unterstützung (Executive Information Sy-stems81 [EIS]) üblich. Alle Anwendungen besitzen über Druckerschnittstellen zwischenzeitlich auch einen Zugang zu Fax-Servern. Da in diesen Geschäfts-bereichen häufig Daten zwischen gleichen Anwendungen wie persönlichen Informationssystemen mit Terminen, Personendaten, Projektdaten usw. aus-getauscht werden, spricht man auch von groupware-Anwendungen.

Für den Erfolg eines Unternehmens ist die Gestaltung der internen und externen Prozeßkette entscheidend. Neben den betriebswirtschaftlich/rechtli-chen Inhalten der Vorgänge, entscheidet über die Effektivität und die Effizi-enz die Organisation. Informationssysteme spielen dabei, wie dargestellt, eine wichtige Rolle. Die schnellen Veränderungen in der Informationstechnik ge-fährden das Unternehmen durch Investitionen, die zunächst in keinem ur-sächlichen Zusammenhang mit dem eigentlichen Geschäftszweck stehen. Die einzige Prävention ist das Verständnis der Zusammenhänge und eine zügige Umsetzung der Schlußfolgerungen. 3.5.3 Modell eines Logistik Managementsystems

Modelle82 sind homomorphe Abbilder der Wirklichkeit (vgl. Abschnitt

3.4.1). Ein Logistik Managementsystem besteht abstrakt betrachtet demnach als geschlossener Regelkreis aus der Versorgungskette (Regelstrecke) selbst, aus einer Planungslogik (Regler), die die Führungsgrößen (Stellgrößen) gene-riert und den feedback-Mechanismen, die die Regelgrößen erfassen und mit der Planungslogik kommunizieren. Die handelnden und ausführenden Men-schen sind Bestandteil dieses Systems. Alle Subsysteme (Regelstrecke, Reg-

80Vgl. Merkel, H.: Anwendungskonzept und Wirtschaftlichkeit benutzerorientierter Informationssysteme (BIS). In: Büroorganisation - Bürokommunikation. Mittel zur Steigerung der Produktivität. Hrsg. G. Tenzer, Heidelberg, 2. Aufl. 1989, S. 311-331, insbes. S. 242 ff. und ders.: Bürokommunikation in der Verwaltung. In: Moderne Kommunikationstechnologien und neue Medien. Hrsg. v. Bartz, Scheibl, Wippler. Sindelfingen 1986, S. 248-267. 81Vgl. Krallmann, H., J. Papke u. B. Rieger (Hrsg.): Rechnergestützte Werkzeuge für das Management. Berlin 1992, S. 5ff. 82Vgl. Pfohl, H.-Chr.: Planung und Kontrolle. Stuttgart, Berlin, Köln u. Mainz 1981, S. 145 ff. und Fußnote 6 dieses Kapitels.

Office-Systeme unterstützen Groupware-Anwendungen

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3. Systemtheoretische Grundlagen

128

ler, feedback-Mechanismen usw.) sind nach dem Selbstähnlichkeitsprinzip wiederum als Regelkreise organisiert.

Die Planungskomponente, die Ressourcenorientierte Unternehmenspla-nung (RUP) umschließt drei Planungsebenen mit unterschiedlichen Planungs-horizonten. Die einzelnen Planungsebenen müssen eigenständige und sich überlappende Regelkreise bilden, um bei gegebenen strategischen Zielen und Visionen Ressourcenbedarfe zu melden bzw. Ressourcenengpässe aufspüren zu können, lange bevor sie im Tagesgeschäft auftreten.

Die Stellgrößen- bzw. Führungsgrößenkomponente übernimmt die Kommunikation zwischen Regler und Regelstrecke. Die Ziele müssen von Planungsebene zu Planungsebene in Form von Servicezielen, Bestellmengen, Transportmengen, Lagerbeständen usw. konkret in Form von Aufträgen ver-bindlich zwischen allen verbundenen Subsystemen vereinbart werden.

Eine Rückmelde- und Regenerierungskomponente übernimmt die Kom-munikation zwischen Regelstrecke und Regler. Außerdem verarbeitet sie die Abweichungen und generiert neue Stellgrößen. Kritische Prozeßzustände müssen vereinbart und regelmäßig überwacht werden, damit auf alle Störun-gen, aber konkret auch auf die tatsächliche Kundennachfrage, kurzfristig rea-giert werden kann. Dies erfolgt idealerweise durch eine Rückkopplung aller Abweichungen auf die Planung, und durch Regenerierung der Planung, um sie aktuell zu halten.

Diese Strukturelemente müssen durch eine Festlegung von Aufgaben und durch ihre Zuordnung zu Verantwortungsbereichen organisiert werden. Im einzelnen geht es zunächst um die Zuordnung der Verantwortung für die Planungskomponente, die in die Unternehmensplanung eingebettet ist; danach um die Zuständigkeit für die logistischen Basissysteme und die Infrastruktur und schließlich um die Zuständigkeit für die Organisation und Informationstechnik (EDV). Das Zusammenspiel der für diese Aufgaben verantwortlichen Manager entscheidet über den Erfolg des Unternehmens.

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3.5 Die Gestaltung der Unternehmensprozesse

129

strategische Ziele,Visionen

Stellgrößen Regelgrößen

Regelstrecke Prozeß

RessourcenorientierteUnternehmens-

(RUP)-Logik

Verantwortung für:- RUP- Basissysteme, Infrastruktur- Organisation/IT (EDV)

planungs-

Abb. 3.5-5: Das Logistik Managementsystem hat als Regelkreis eine fraktale Struktur

Inhaltlich müssen die einzelnen Aufgabenbereiche weiter strukturiert

werden, bis die Prozeßketten abgeleitet werden können. Die Prozeßketten müssen gesamthaft alle Aufgaben der Versorgungskette und ihre Führung umfassen.