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Walter Benjamin Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit edition suhkamp SV 40 Jahre edition suhrkamp

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Walter BenjaminDas Kunstwerk

im Zeitalterseiner technischenReproduzierbarkeit

edition suhkampSV

40 Jahre edition suhrkamp

40 Jahre

edition suhrkamp

es 2424

In seinem Kunstwerk-Aufsatz beschreibt Walter Benjamin die geschicht-lichen, sozialen und ästhetischen Prozesse, die mit der technischen Repro-duzierbarkeit des Kunstwerks einhergehen. Dabei entwickelt er eine Be-grifflichkeit, die, so sein Programm, »für die Zwecke des Faschismus völligunbrauchbar«, dagegen »zur Formulierung revolutionärer Forderungen inder Kunstpolitik brauchbar« ist. Benjamins Einsicht in das »auratische«Wesen der Kunst etwa ist gerade deshalb ein Meilensteinen der philosophi-schen Ästhetik, weil sie der Betrachtung der Kunst in ihrem jeweiligenKontext erwächst. Dies ist im Einzelfall anhand der beiden weiteren Stu-dien dieses Bandes nachzuvollziehen.Walter Benjamin, geboren am 5. Juli 892 in Berlin, nahm sich am 27. Sep-tember 940 auf der Flucht vor der Gestapo an der französisch-spanischenGrenze das Leben.

Walter BenjaminDas Kunstwerk im Zeitalter seiner

technischen Reproduzierbarkeit

Drei Studien zur Kunstsoziologie

Suhrkamp

edition suhrkamp 2424Sonderausgabe zum 40jährigen Bestehen der edition suhrkamp 2003

© Suhrkamp Verlag Frankfun am Main 955, 966, 974, 977In der edition suhrkamp erstmals erschienen 963 als Band 28

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das derÜbersetzung, des öffentlichen Vortrags

sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,vervielfältigt oder verbreitet werden.

Satz: Jung Crossmedia, LahnauDruck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden

Umschlag gestaltet von Werner Zegarzewskinach einem Konzept von Willy Fleckhaus

Printed in GermanyISBN 3 – 58 – 2424 – 2

2 3 4 5 6 – 06 05 04 03

Inhalt

7 Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen

Reproduzierbarkeit

45 Kleine Geschichte der Photographie

65 Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker

Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit

Die Begründung der schönen Künste und die Ein-setzung ihrer verschiedenen Typen geht auf eineZeit zurück, die sich eingreifend von der unsrigenunterschied, und auf Menschen, deren Macht überdie Dinge und die Verhältnisse verschwindend imVergleich zu der unsrigen war. Der erstaunliche Zu-wachs aber, den unsere Mittel in ihrer Anpassungs-fähigkeit und ihrer Präzision erfahren haben, stelltuns in naher Zukunft die eingreifendsten Ver-änderungen in der antiken Industrie des Schö-nen in Aussicht. In allen Küsten gibt es einenphysischen Teil, der nicht länger so betrachtet undso behandelt werden kann wie vordem; er kannsich nicht länger den Einwirkungen der modernenWissenschaft und der modernen Praxis entziehen.Weder die Materie, noch der Raum, noch die Zeitsind seit zwanzig Jahren, was sie seit jeher gewesensind. Man muß sich darauf gefaßt machen, daß sogroße Neuerungen die gesamte Technik der Künsteverändern, dadurch die Invention selbst beeinflus-sen und schließlich vielleicht dazu gelangen werden,den Begriff der Kunst selbst auf die zauberhaftesteArt zu verändern.

Paul Valéry: Pièces sur l a̓rt. Paris [o. J.],p. 03/04 (»La conquête de l᾽ubiquité«).

VORWORT

Als Marx die Analyse der kapitalistischen Produktionsweiseunternahm, war diese Produktionsweise in den Anfängen.Marx richtete seine Unternehmungen so ein, daß sie progno-stischen Wert bekamen. Er ging auf die Grundverhältnisse derkapitalistischen Produktion zurück und stellte sie so dar, daßsich aus ihnen ergab, was man künftighin dem Kapitalismusnoch zutrauen könne. Es ergab sich, daß man ihm nicht nureine zunehmend verschärfte Ausbeutung der Proletarier zu-trauen könne, sondern schließlich auch die Herstellung von Be-dingungen, die die Abschaffung seiner selbst möglich machen.Die Umwälzung des Überbaus, die viel langsamer als die desUnterbaus vor sich geht, hat mehr als ein halbes Jahrhundertgebraucht, um auf allen Kulturgebieten die Veränderung derProduktionsbedingungen zur Geltung zu bringen. In welcherGestalt das geschah, läßt sich erst heute angeben. An diese An-gaben sind gewisse prognostische Anforderungen zu stellen. Esentsprechen diesen Anforderungen aber weniger Thesen überdie Kunst des Proletariats nach der Machtergreifung, geschweigedie der klassenlosen Gesellschaft, als Thesen über die Entwick-lungstendenzen der Kunst unter den gegenwärtigen Produk-tionsbedingungen. Deren Dialektik macht sich im Überbau nichtweniger bemerkbar als in der Ökonomie. Darum wäre es falsch,den Kampfwert solcher Thesen zu unterschätzen. Sie setzeneine Anzahl überkommener Begriffe – wie Schöpfertum undGenialität, Ewigkeitswert und Geheimnis – beiseite – Begriffe,deren unkontrollierte (und augenblicklich schwer kontrollier-bare) Anwendung zur Verarbeitung des Tatsachenmaterials infaschistischem Sinn führt. Die im folgenden neu in die Kunst-theorie eingeführten Begriffe unterscheiden sich von geläufige-ren dadurch, daß sie für die Zwecke des Faschismus vollkommenunbrauchbar sind. Dagegen sind sie zur Formulierung revolutio-närer Forderungen in der Kunstpolitik brauchbar.

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I

Das Kunstwerk ist grundsätzlich immer reproduzierbar gewe-sen. Was Menschen gemacht hatten, das konnte immer vonMenschen nachgemacht werden. Solche Nachbildung wurde auchausgeübt von Schülern zur Übung in der Kunst, von Meisternzur Verbreitung der Werke, endlich von gewinnlüsternen Drit-ten. Dem gegenüber ist die technische Reproduktion des Kunst-werkes etwas Neues, das sich in der Geschichte intermittierend,in weit auseinanderliegenden Schüben, aber mit wachsenderIntensität durchsetzt. Die Griechen kannten nur zwei Verfahrentechnischer Reproduktion von Kunstwerken: den Guß und diePrägung. Bronzen, Terrakotten und Münzen waren die einzigenKunstwerke, die von ihnen massenweise hergestellt werdenkonnten. Alle übrigen waren einmalig und technisch nicht zureproduzieren. Mit dem Holzschnitt wurde zum ersten Male dieGraphik technisch reproduzierbar; sie war es lange, ehe durchden Druck auch die Schrift es wurde. Die ungeheuren Verände-rungen, die der Druck, die technische Reproduzierbarkeit derSchrift, in der Literatur hervorgerufen hat, sind bekannt. Vonder Erscheinung, die hier in weltgeschichtlichem Maßstab be-trachtet wird, sind sie aber nur ein, freilich besonders wichtigerSonderfall. Zum Holzschnitt treten im Laufe des MittelaltersKupferstich und Radierung, sowie im Anfang des neunzehntenJahrhunderts die Lithographie.Mit der Lithographie erreicht die Reproduktionstechnik einegrundsätzlich neue Stufe. Das sehr viel bündigere Verfahren,das die Auftragung der Zeichnung auf einen Stein von ihrerKerbung in einen Holzblock oder ihrer Ätzung in eine Kupfer-platte unterscheidet, gab der Graphik zum ersten Mal die Mög-lichkeit, ihre Erzeugnisse nicht allein massenweise (wie vordem)sondern in täglich neuen Gestaltungen auf den Markt zu brin-gen. Die Graphik wurde durch die Lithographie befähigt, denAlltag illustrativ zu begleiten. Sie begann, Schritt mit demDruck zu halten. In diesem Beginnen wurde sie aber schon weni-ge Jahrzehnte nach der Erfindung des Steindrucks durch diePhotographie überflügelt. Mit der Photographie war die Handim Prozeß bildlicher Reproduktion zum ersten Mal von denwichtigsten künstlerischen Obliegenheiten entlastet, welche nun-

mehr dem ins Objektiv blickenden Auge allein zufielen. Da dasAuge schneller erfaßt, als die Hand zeichnet, so wurde derProzeß bildlicher Reproduktion so ungeheuer beschleunigt, daßer mit dem Sprechen Schritt halten konnte. Der Filmoperateurfixiert im Atelier kurbelnd die Bilder mit der gleichen Schnellig-keit, mit der der Darsteller spricht. Wenn in der Lithographievirtuell die illustrierte Zeitung verborgen war, so in der Photo-graphie der Tonfilm. Die technische Reproduktion des Tonswurde am Ende des vorigen Jahrhunderts in Angriff genommen.Diese konvergierenden Bemühungen haben eine Situation ab-sehbar gemacht, die Paul Valery mit dem Satz kennzeichnet:»Wie Wasser, Gas und elektrischer Strom von weither auf einenfast unmerklichen Handgriff hin in unsere Wohnungen kom-men, um uns zu bedienen, so werden wir mit Bildern oder mitTonfolgen versehen werden, die sich, auf einen kleinen Griff,fast ein Zeichen einstellen und uns ebenso wieder verlassen«.Um neunzehnhundert hatte die technische Reproduktion einenStandard erreicht, auf dem sie nicht nur die Gesamtheit derüberkommenen Kunstwerke zu ihrem Objekt zu machen undderen Wirkung den tiefsten Veränderungen zu unterwerfenbegann, sondern sich einen eigenen Platz unter den künstleri-schen V er fahrungsw eisen eroberte. Für das Studium diesesStandards ist nichts aufschlußreicher, als wie seine beiden ver-schiedenen Manifestationen – Reproduktion des Kunstwerksund Filmkunst – auf die Kunst in ihrer überkommenen Gestaltzurückwirken.

II

Noch bei der höchstvollendeten Reproduktion fällt eines aus:das Hier und Jetzt des Kunstwerks – sein einmaliges Daseinan dem Orte, an dem es sich befindet. An diesem einmaligenDasein aber und an nichts sonst vollzog sich die Geschichte, deres im Laufe seines Bestehens unterworfen gewesen ist. Dahinrechnen sowohl die Veränderungen, die es im Laufe der Zeit inseiner physischen Struktur erlitten hat, wie die wechselnden

Paul Valéry: Pièces sur l a̓rt. Paris [o. J.], p. 05 (»La conquête de l᾽ubiquité«).

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Besitzverhältnisse, in die es eingetreten sein mag2. Die Spur derersteren ist nur durch Analysen chemischer oder physikalischerArt zu fördern, die sich an der Reproduktion nicht vollziehenlassen; die der zweiten ist Gegenstand einer Tradition, derenVerfolgung von dem Standort des Originals ausgehen muß.Das Hier und Jetzt des Originals macht den Begriff seinerEchtheit aus. Analysen chemischer Art an der Patina einerBronze können der Feststellung ihrer Echtheit förderlich sein;entsprechend kann der Nachweis, daß eine bestimmte Hand-schrift des Mittelalters aus einem Archiv des fünfzehnten Jahr-hunderts stammt, der Feststellung ihrer Echtheit förderlich sein.Der gesamte Bereich der Echtheit entzieht sich der technischen -und natürlich nicht nur der technischen – Reproduzierbar-keit3. Während das Echte aber der manuellen Reproduktiongegenüber, die von ihm im Regelfalle als Fälschung abgestempeltwurde, seine volle Autorität bewahrt, ist das der technischenReproduktion gegenüber nicht der Fall. Der Grund ist ein dop-pelter. Erstens erweist sich die technische Reproduktion demOriginal gegenüber selbständiger als die manuelle. Sie kann, bei-spielsweise, in der Photographie Ansichten des Originals hervor-heben, die nur der verstellbaren und ihren Blickpunkt willkür-lich wählenden Linse, nicht aber dem menschlichen Auge zugäng-lich sind, oder mit Hilfe gewisser Verfahren wie der Vergröße-rung oder der Zeitlupe Bilder festhalten, die sich der natürlichenOptik schlechtweg entziehen. Das ist das Erste. Sie kann zudemzweitens das Abbild des Originals in Situationen bringen, diedem Original selbst nicht erreichbar sind. Vor allem macht sie

2 Natürlich umfaßt die Geschichte des Kunstwerks noch mehr: die Geschichte derMona Lisa z.B. Art und Zahl der Kopien, die im siebzehnten, achtzehnten, neun-zehnten Jahrhundert von ihr gemacht worden sind.3 Gerade weil die Echtheit nicht reproduzierbar ist, hat das intensive Eindringen ge-wisser Reproduktionsverfahren – es waren technische – die Handhabe zur Differen-zierung und Stufung der Echtheit gegeben. Solche Unterscheidungen auszubilden, wareine wichtige Funktion des Kunsthandels. Dieser hatte ein handgreifliches Interesse,verschiedene Abzüge von einem Holzstock, die vor und die nach der Schrift, voneiner Kupfcrplatte und dergleichen auseinanderzuhalten. Mit der Erfindung des Holz-schnitts, so darf man sagen, war die Echthcitsqualität an der Wurzel angegriffen, ehesie noch ihre späte Blüte entfaltet hatte. »Echt« war ein mittelalterliches Madonnen-bild ja zur Zeit seiner Anfertigung noch nicht; das wurde es im Laufe der nachfolgen-den Jahrhunderte und am üppigsten vielleicht in dem vorigen.

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ihm möglich, dem Aufnehmenden entgegenzukommen, sei esin Gestalt der Photographie, sei es in der der Schallplatte. DieKathedrale verläßt ihren Platz, um in dem Studio eines Kunst-freundes Aufnahme zu finden; das Chorwerk, das in einemSaal oder unter freiem Himmel exekutiert wurde, läßt sich ineinem Zimmer vernehmen.Die Umstände, in die das Produkt der technischen Reproduktiondes Kunstwerks gebracht werden kann, mögen im übrigen denBestand des Kunstwerks unangetastet lassen – sie entwerten aufalle Fälle sein Hier und Jetzt. Wenn das auch keineswegs vomKunstwerk allein gilt sondern entsprechend z. B. von einerLandschaft, die im Film am Beschauer vorbeizieht, so wirddurch diesen Vorgang am Gegenstande der Kunst ein empfind-lichster Kern berührt, den so verletzbar kein natürlicher hat.Das ist seine Echtheit. Die Echtheit einer Sache ist der Inbegriffalles von Ursprung her an ihr Tradierbaren, von ihrer materiel-len Dauer bis zu ihrer geschichtlichen Zeugenschaft. Da dieletztere auf der ersteren fundiert ist, so gerät in der Reproduk-tion, wo die erstere sich dem Menschen entzogen hat, auch dieletztere: die geschichtliche Zeugenschaft der Sache ins Wanken.Freilich nur diese; was aber dergestalt ins Wanken gerät, dasist die Autorität der Sache4.Man kann, was hier ausfällt, im Begriff der Aura zusammen-fassen und sagen: was im Zeitalter der technischen Reproduzier-barkeit des Kunstwerks verkümmert, das ist seine Aura. DerVorgang ist symptomatisch; seine Bedeutung weist über denBereich der Kunst hinaus. Die Reproduktionstechnik, so ließesich allgemein formulieren, löst das Reproduzierte aus dem Be-reich der Tradition ab. Indem sie die Reproduktion verviel-fältigt, setzt sie an die Stelle seines einmaligen Vorkommenssein massenweises. Und indem sie der Reproduktion erlaubt,dem Aufnehmenden in seiner jeweiligen Situation entgegenzu-kommen, aktualisiert sie das Reproduzierte. Diese beiden Pro-zesse führen zu einer gewaltigen Erschütterung des Tradierten –

4 Die kümmerlichste Provinzaufführung des »Faust« hat vor einem Faustfilm jeden-falls dies voraus, daß sie in Idealkonkurrenz zur Weimarer Uraufführung steht. Undwas an traditionellen Gehalten man vor der Rampe sich in Erinnerung rufen mag, istvor der Filmleinwand unverwertbar geworden – daß in Mephisto Goethes Jugend-freund Johann Heinrich Merck steckt, und was dergleichen mehr ist.

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einer Erschütterung der Tradition, die die Kehrseite der gegen-wärtigen Krise und Erneuerung der Menschheit ist. Sie stehenim engsten Zusammenhang mit den Massenbewegungen unsererTage. Ihr machtvollster Agent ist der Film. Seine gesellschaft-liche Bedeutung ist auch in ihrer positivsten Gestalt, und geradein ihr, nicht ohne diese seine destruktive, seine kathartische Seitedenkbar: die Liquidierung des Traditionswertes am Kulturerbe.Diese Erscheinung ist an den großen historischen Filmen amhandgreiflichsten. Sie bezieht immer weitere Positionen in ihrBereich ein. Und wenn Abel Gance 927 enthusiastisch ausrief:»Shakespeare, Rembrandt, Beethoven werden filmen … AlleLegenden, alle Mythologien und alle Mythen, alle Religions-stifter, ja alle Religionen … warten auf ihre belichtete Aufer-stehung, und die Heroen drängen sich an den Pforten«5 sohat er, ohne es wohl zu meinen, zu einer umfassenden Liquida-tion eingeladen.

III

Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mitder gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auchdie Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung. Die Art undWeise, in der die menschliche Sinneswahrnehmung sich organi-siert – das Medium, in dem sie erfolgt – ist nicht nur natürlichsondern auch geschichtlich bedingt. Die Zeit der Völkerwan-derung, in der die spätrömische Kunstindustrie und die WienerGenesis entstanden, hatte nicht nur eine andere Kunst als dieAntike sondern auch eine andere Wahrnehmung. Die Gelehrtender Wiener Schule, Riegl und Wickhoflf, die sich gegen das Ge-wicht der klassischen Überlieferung stemmten, unter dem jeneKunst begraben gelegen hatte, sind als erste auf den Gedankengekommen, aus ihr Schlüsse auf die Organisation der Wahr-nehmung in der Zeit zu tun, in der sie in Geltung stand. Soweittragend ihre Erkenntnisse waren, so hatten sie ihre Grenzedarin, daß sich diese Forscher begnügten, die formale Signaturaufzuweisen, die der Wahrnehmung in der spätrömischen Zeit

5 Abel Gance: Le temps de l᾽image est venu, in: L̓ art cinématographique II. Paris927, p. 94-96.

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eigen war. Sie haben nicht versucht – und konnten vielleichtauch nicht hoffen –, die gesellschaftlichen Umwälzungen zu zei-gen, die in diesen Veränderungen der Wahrnehmung ihrenAusdruck fanden. Für die Gegenwart liegen die Bedingungeneiner entsprechenden Einsicht günstiger. Und wenn Veränderun-gen im Medium der Wahrnehmung, deren Zeitgenossen wirsind, sich als Verfall der Aura begreifen lassen, so kann mandessen gesellschaftliche Bedingungen aufzeigen.Es empfiehlt sich, den oben für geschichtliche Gegenstände vor-geschlagenen Begriff der Aura an dem Begriff einer Aura vonnatürlichen Gegenständen zu illustrieren. Diese letztere definie-ren wir als einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie seinmag. An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszugam Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten aufden Ruhenden wirft – das heißt die Aura dieser Berge, diesesZweiges atmen. An der Hand dieser Beschreibung ist es einLeichtes, die gesellschaftliche Bedingtheit des gegenwärtigenVerfalls der Aura einzusehen. Er beruht auf zwei Umständen,die beide mit der zunehmenden Bedeutung der Massen im heu-tigen Leben zusammenhängen. Nämlich: Die Dinge sieb räum-lich und menschlich »näherzubringen« ist ein genau so leiden-schaftliches Anliegen der gegenwärtigen Massen6 wie es ihreTendenz einer Überwindung des Einmaligen jeder Gegebenheitdurch die Aufnahme von deren Reproduktion ist. Tagtäglichmacht sich unabweisbarer das Bedürfnis geltend, des Gegen-stands aus nächster Nähe im Bild, vielmehr im Abbild, in derReproduktion, habhaft zu werden. Und unverkennbar unter-scheidet sich die Reproduktion, wie illustrierte Zeitung undWochenschau sie in Bereitschaft halten, vom Bilde. Einmaligkeitund Dauer sind in diesem so eng verschränkt wie Flüchtigkeitund Wiederholbarkeit in jener. Die Entschälung des Gegenstan-des aus seiner Hülle, die Zertrümmerung der Aura, ist die Si-

6 Menschlich sich den Massen näherbringen zu lassen, kann bedeuten: seine gesell-schaftliche Funktion aus dem Blickfeld räumen zu lassen. Nichts gewährleistet, daßein heutiger Portraitist, wenn er einen berühmten Chirurgen am Frühstückstisch undim Kreise der Seinen malt, dessen gesellschaftliche Funktion genauer trifft als einMaler des sechzehnten Jahrhunderts, der seine Ärzte repräsentativ, wie zum BeispielRembrandt in der »Anatomie«, dem Publikum darstellt.

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gnatur einer Wahrnehmung, deren »Sinn für das Gleichartige inder Welt« so gewachsen ist, daß sie es mittels der Reproduktionauch dem Einmaligen abgewinnt. So bekundet sich im anschau-lichen Bereich was sich im Bereich der Theorie als die zuneh-mende Bedeutung der Statistik bemerkbar macht. Die Ausrich-tung der Realität auf die Massen und der Massen auf sie ist einVorgang von unbegrenzter Tragweite sowohl für das Denkenwie für die Anschauung.

IV

Die Einzigkeit des Kunstwerks ist identisch mit seinem Einge-bettetsein in den Zusammenhang der Tradition. Diese Tradi-tion selber ist freilich etwas durchaus Lebendiges, etwas außer-ordentlich Wandelbares. Eine antike Venusstatue z. B. stand ineinem anderen Traditionszusammenhange bei den Griechen, diesie zum Gegenstand des Kultus machten, als bei den mittelalter-lichen Klerikern, die einen unheilvollen Abgott in ihr erblick-ten. Was aber beiden in gleicher Weise entgegentrat, war ihreEinzigkeit, mit einem anderen Wort: ihre Aura. Die ursprüng-liche Art der Einbettung des Kunstwerks in den Traditionszu-sammenhang fand ihren Ausdruck im Kult. Die ältesten Kunst-werke sind, wie wir wissen, im Dienst eines Rituals entstanden,zuerst eines magischen, dann eines religiösen. Es ist nun vonentscheidender Bedeutung, daß diese auratische Daseinsweisedes Kunstwerks niemals durchaus von seiner Ritualfunktionsich löst7. Mit anderen Worten: Der einzigartige Wert des»echten« Kunstwerks hat seine Fundierung im Ritual, in demes seinen originären und ersten Gebrauchswert hatte. Diese magso vermittelt sein wie sie will, sie ist auch noch in den profanstenFormen des Schönheitsdienstes als säkularisiertes Ritual erkenn-

7 Die Definition der Aura als »einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie seinmag«, stellt nichts anderes dar als die Formulierung des Kultwerts des Kunstwerks inKategorien der raum-zeitlichen Wahrnehmung. Ferne ist das Gegenteil von Nähe.Das wesentlich Ferne ist das Unnahbare. In der Tat ist Unnahbarkeit eine Haupt-qualität des Kultbildes. Es bleibt seiner Natur nach »Ferne so nah es sein mag«. DieNähe, die man seiner Materie abzugewinnen vermag, tut der Ferne nicht Abbruch, diees nach seiner Erscheinung bewahrt.

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bar8. Der profane Schönheitsdienst, der sich mit der Renais-sance herausbildet, um für drei Jahrhunderte in Geltung zubleiben, läßt nach Ablauf dieser Frist bei der ersten schwerenErschütterung, von der er betroffen wurde, jene Fundamentedeutlich erkennen. Als nämlich mit dem Aufkommen des erstenwirklich revolutionären Reproduktionsmittels, der Photogra-phie (gleichzeitig mit dem Anbruch des Sozialismus) die Kunstdas Nahen der Krise spürt, die nach weiteren hundert Jahrenunverkennbar geworden ist, reagierte sie mit der Lehre voml a̓rt pour l a̓rt, die eine Theologie der Kunst ist. Aus ihr istdann weiterhin geradezu eine negative Theologie in Gestaltder Idee einer »reinen« Kunst hervorgegangen, die nicht nurjede soziale Funktion sondern auch jede Bestimmung durch ei-nen gegenständlichen Vorwurf ablehnt. (In der Dichtung hatMallarmé als erster diesen Standort erreicht.)Diese Zusammenhänge zu ihrem Recht kommen zu lassen, istunerläßlich für eine Betrachtung, die es mit dem Kunstwerkim Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit zu tun hat.Denn sie bereiten die Erkenntnis, die hier entscheidend ist, vor:die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks emanzipiertdieses zum ersten Mal in der Weltgeschichte von seinem parasi-tären Dasein am Ritual. Das reproduzierte Kunstwerk wird inimmer steigendem Maße die Reproduktion eines auf Reprodu-zierbarkeit angelegten Kunstwerks9. Von der photographischen

8 In dem Maße, in dem der Kultwert des Bildes sich säkularisiert, werden die Vor-stellungen vom Substrat seiner Einmaligkeit unbestimmter. Immer mehr wird dieEinmaligkeit der im Kultbilde waltenden Erscheinung von der empirischen Einmalig-keit des Bildners oder seiner bildenden Leistung in der Vorstellung des Aufnehmen-den verdrängt. Freilich niemals ganz ohne Rest; der Begriff der Echtheit hört nie-mals auf, über den der authentischen Zuschreibung hinauszutendieren. (Das zeigt sichbesonders deutlich am Sammler, der immer etwas vom Fetischdiener behält und durchseinen Besitz des Kunstwerks an dessen kultischer Kraft Anteil hat.) Unbeschadetdessen bleibt die Funktion des Begriffs des Authentischen in der Kunstbetrachtungeindeutig: mit der Säkularisierung der Kunst tritt die Authentizität an die Stelle desKultwerts.9 Bei den Filmwerken ist die technische Reproduzierbarkeit des Produkts nicht wiez. B. bei den Werken der Literatur oder der Malerei eine von außen her sich einfin-dende Bedingung ihrer massenweisen Verbreitung. Die technische Reproduzierbarkeitder Filmwerke ist unmittelbar in der Technik ihrer Produktion begründet. Dieseermöglicht nicht nur auf die unmittelbarste Art die massenweise Verbreitung derFilmwerke, sie erzwingt sie vielmehr geradezu. Sie erzwingt sie, weil die Produktion

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Platte z. B. ist eine Vielheit von Abzügen möglich; die Fragenach dem echten Abzug hat keinen Sinn. In dem Augenblickaber, da der Maßstab der Echtheit an der Kunstproduktionversagt, hat sich auch die gesamte soziale Funktion der Kunstumgewälzt. An die Stelle ihrer Fundierung aufs Ritual trittihre Fundierung auf eine andere Praxis: nämlich ihre Fundie-rung auf Politik.

V

Die Rezeption von Kunstwerken erfolgt mit verschiedenenAkzenten, unter denen sich zwei polare herausheben. Der einedieser Akzente liegt auf dem Kultwert, der andere auf demAusstellungswert des Kunstwerkes0, . Die künstlerische Pro-

eines Films so teuer ist, daß ein Einzelner, der z. B. ein Gemälde sich leisten könnte,sich den Film nicht mehr leisten kann. 927 hat man errechnet, daß ein größerer Film,um sich zu rentieren, ein Publikum von neun Millionen erreichen müsse. Mit demTonfilm ist hier allerdings zunächst eine rückläufige Bewegung eingetreten; seinPublikum schränkte sich auf Sprachgrenzen ein, und das geschah gleichzeitig mit derBetonung nationaler Interessen durch den Faschismus. Wichtiger aber als diesen Rück-schlag zu registrieren, der im übrigen durch die Synchronisierung abgeschwächt wurde,ist es, seinen Zusammenhang mit dem Faschismus ins Auge zu fassen. Die Gleich-zeitigkeit beider Erscheinungen beruht auf der Wirtschaftskrise. Die gleichen Störun-gen, die im Großen gesehen zu dem Versuch geführt haben, die bestehenden Eigen-tumsverhältnisse mit offener Gewalt festzuhalten, haben das von der Krise bedrohteFilmkapital dazu geführt, die Vorarbeiten zum Tonfilm zu forcieren. Die Ein-führung des Tonfilms brachte sodann eine zeitweilige Erleichterung. Und zwar nichtnur, weil der Tonfilm von neuem die Massen ins Kino führte, sondern auch weil derTonfilm neue Kapitalien aus der Elektrizitätsindustrie mit dem Filmkapital soli-darisch machte. So hat er von außen betrachtet nationale Interessen gefördert, voninnen betrachtet aber die Filmproduktion noch mehr internationalisiert als vordem.0 Diese Polarität kann in der Ästhetik des Idealismus, dessen Begriff der Schönheitsie im Grunde als eine ungeschiedene umschließt (demgemäß als eine geschiedene aus-schließt) nicht zu ihrem Rechte gelangen. Immerhin meldet sie sich bei Hegel sodeutlich an, wie dies in den Schranken des Idealismus denkbar ist. »Bilder«, soheißt es in den Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte, »hatte man schon lange:die Frömmigkeit bedurfte ihrer schon früh für ihre Andacht, aber sie brauchte keineschönen Bilder, ja diese waren ihr sogar störend. Im schönen Bilde ist auch ein Äußer-liches vorhanden, aber insofern es schön ist, spricht der Geist desselben den Menschenan; in jener Andacht aber ist das Verhältniß zu einem Dinge wesentlich, denn sieist selbst nur ein geistloses Verdumpfen der Seele … Die schöne Kunst ist … in derKirche selbst entstanden, … obgleich … die Kunst schon aus dem Principe der

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duktion beginnt mit Gebilden, die im Dienste des Kults stehen.Von diesen Gebilden ist, wie man annehmen darf, wichtiger,daß sie vorhanden sind als daß sie gesehen werden. Das Elen-tier, das der Mensch der Steinzeit an den Wänden seiner Höhleabbildet, ist ein Zauberinstrument. Er stellt es zwar vor seinenMitmenschen aus; vor allem aber ist es Geistern zugedacht.Der Kultwert als solcher scheint heute geradezu daraufhinzu-drängen, das Kunstwerk im Verborgenen zu halten: gewisseGötterstatuen sind nur dem Priester in der cella zugänglich,gewisse Madonnenbilder bleiben fast das ganze Jahr über ver-

Kirche herausgetreten ist.« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. VollständigeAusgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten. Bd. 9: Vorlesungenüber die Philosophie der Geschichte. Hrsg. von Eduard Gans. Berlin 837, p. 44.)Auch eine Stelle in den Vorlesungen über die Ästhetik weist darauf hin, daß Hegelhier ein Problem gespürt hat. »…wir sind«, so heißt es in diesen Vorlesungen, »dar-über hinaus Werke der Kunst göttlich verehren und sie anbeten zu können, der Ein-druck, den sie machen, ist besonnenerer Art, und was durch sie in uns erregt wird,bedarf noch eines höheren Prüfsteins«. (Hegel, . c. Bd. 0: Vorlesungen über dieAesthetik. Hrsg. von H. G. Hotho. Bd. . Berlin 835, p. 4.) Der Übergang von der ersten Art der künstlerischen Rezeption zur zweiten be-stimmt den geschichtlichen Verlauf der künstlerischen Rezeption überhaupt. Demun-gcachtet läßt sich ein gewisses Oszillieren zwischen jenen beiden polaren Rezeptions-arten prinzipiell für jedes einzelne Kunstwerk aufweisen. So zum Beispiel für dieSixtinische Madonna. Seit Hubert Grimmes Untersuchung weiß man, daß die Six-tinischc Madonna ursprünglich für Ausstellungszwecke gemalt war. Grimme erhieltden Anstoß zu seinen Forschungen durch die Frage: Was soll die Holzleiste im Vor-dergrunde des Bildes, auf die sich die beiden Putten stützen? Wie konnte, so fragteGrimme weiter, ein Raffael dazu kommen, den Himmel mit einem Paar Portierenauszustatten? Die Untersuchung ergab, daß die Sixtinische Madonna anläßlich deröffentlichen Aufbahrung des Papstes Sixtus in Auftrag gegeben worden war. DieAufbahrung der Päpste fand in einer bestimmten Seitenkapelle der Peterskirche statt.Auf dem Sarge ruhend war, im nischenartigen Hintergrunde dieser Kapelle, bei derfeierlichen Aufbahrung Raffaels Bild angebracht worden. Was Raffael auf diesem Bildedarstellt ist, wie aus dem Hintergrunde der mit grünen Portieren abgegrenzten Nischedie Madonna sich in Wolken dem päpstlichen Sarge nähert. Bei der Totenfeier fürSixtus fand ein hervorragender Ausstellungswert von Raffaels Bild seine Verwendung.Kinige Zeit danach kam es auf den Hochaltar in der Klosterkirche der SchwarzenMönche zu Piacenza. Der Grund dieses Exils liegt im römischen Ritual. Das römischeRitual untersagt, Bilder, die bei Bestattungsfeierlichkeiten ausgestellt worden sind,ilcm Kult auf dem Hochaltar zuzuführen. Raffaels Werk war durch diese Vorschrift ingewissen Grenzen entwertet. Um dennoch einen entsprechenden Preis dafür zu er-zielen, entschloß sich die Kurie, ihre stillschweigende Duldung des Bilds auf demHochaltar in den Kauf zu geben. Um Aufsehen zu vermeiden, ließ man das Bildan die Bruderschaft der entlegenen Provinzstadt gehen.

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hangen, gewisse Skulpturen an mittelalterlichen Domen sindfür den Betrachter zu ebener Erde nicht sichtbar. Mit der Eman-zipation der einzelnen Kunstübungen aus dem Schoße des Ri-tuals wachsen die Gelegenheiten zur Ausstellung ihrer Produkte.Die Ausstellbarkeit einer Portraitbüste, die dahin und dorthinverschickt werden kann, ist größer als die einer Götterstatue,die ihren festen Ort im Innern des Tempels hat. Die Aussteil-barkeit des Tafelbildes ist größer als die des Mosaiks oderFreskos, die ihm vorangingen. Und wenn die Aussteilbarkeiteiner Messe von Hause aus vielleicht nicht geringer war als dieeiner Symphonie, so entstand doch die Symphonie in demZeitpunkt, als ihre Ausstellbarkeit größer zu werden versprachals die der Messe.Mit den verschiedenen Methoden technischer Reproduktion desKunstwerks ist dessen Ausstellbarkeit in so gewaltigem Maßgewachsen, daß die quantitative Verschiebung zwischen seinenbeiden Polen ähnlich wie in der Urzeit in eine qualitative Ver-änderung seiner Natur umschlägt. Wie nämlich in der Urzeitdas Kunstwerk durch das absolute Gewicht, das auf seinemKultwert lag, in erster Linie zu einem Instrument der Magiewurde, das man als Kunstwerk gewissermaßen erst später er-kannte, so wird heute das Kunstwerk durch das absolute Ge-wicht, das auf seinem Ausstellungswert liegt, zu einem Gebildemit ganz neuen Funktionen, von denen die uns bewußte, diekünstlerische, als diejenige sich abhebt, die man später als einebeiläufige erkennen mag2. So viel ist sicher, daß gegenwärtigdie Photographie und weiter der Film die brauchbarsten Hand-haben zu dieser Erkenntnis geben.

2 Analoge Überlegungen stellt, auf anderer Ebene, Brecht an: »Ist der BegriffKunstwerk nicht mehr zu halten für das Ding, das entsteht, wenn ein Kunstwerk zurWare verwandelt ist, dann müssen wir vorsichtig und behutsam, aber unerschrockendiesen Begriff weglassen, wenn wir nicht die Funktion dieses Dinges selber mit-liquidieren wollen, denn durch diese Phase muß es hindurch, und zwar ohne Hinter-sinn, es ist kein unverbindlicher Abstecher vom rechten Weg, sondern was hier mit ihmgeschieht, das wird es von Grund auf ändern, seine Vergangenheit auslöschen, so sehr,daß, wenn der alte Begriff wieder aufgenommen werden würde – und er wird eswerden, warum nicht? – keine Erinnerung mehr an das Ding durch ihn ausgelöstwerden wird, das er einst bezeichnete.« ([Bertolt] Brecht: Versuche 8-0. [Heft] 3.Berlin 93, p. 30/302; »Der Dreigroschenprozess«.)

2

VI

In der Photographie beginnt der Ausstellungswert den Kult-wert auf der ganzen Linie zurückzudrängen. Dieser weicht abernicht widerstandslos. Er bezieht eine letzte Verschanzung, unddie ist das Menschenantlitz. Keineswegs zufällig steht das Por-trait im Mittelpunkt der frühen Photographie. Im Kult derErinnerung an die fernen oder die abgestorbenen Lieben hatder Kultwert des Bildes die letzte Zuflucht. Im flüchtigen Aus-druck eines Menschengesichts winkt aus den frühen Photogra-phien die Aura zum letzten Mal. Das ist es, was deren schwer-mutvolle und mit nichts zu vergleichende Schönheit ausmacht.Wo aber der Mensch aus der Photographie sich zurückzieht, datritt erstmals der Ausstellungswert dem Kultwert überlegenentgegen. Diesem Vorgang seine Stätte gegeben zu haben, ist dieunvergleichliche Bedeutung von Atget, der die Pariser Straßenum neunzehnhundert in menschenleeren Aspekten festhielt. Sehrmit Recht hat man von ihm gesagt, daß er sie aufnahm wieeinen Tatort. Auch der Tatort ist menschenleer. Seine Aufnahmeerfolgt der Indizien wegen. Die photographischen Aufnahmenbeginnen bei Atget, Beweisstücke im historischen Prozeß zuwerden. Das macht ihre verborgene politische Bedeutung aus.Sie fordern schon eine Rezeption in bestimmtem Sinne. Ihnenist die freischwebende Kontemplation nicht mehr angemessen.Sie beunruhigen den Betrachter; er fühlt: zu ihnen muß er einenbestimmten Weg suchen. Wegweiser beginnen ihm gleichzeitigdie illustrierten Zeitungen aufzustellen. Richtige oder falsche

–gleichviel. In ihnen ist die Beschriftung zum ersten Mal obligatgeworden. Und es ist klar, daß sie einen ganz anderen Charak-ter hat als der Titel eines Gemäldes. Die Direktiven, die derBetrachter von Bildern in der illustrierten Zeitschrift durch die Be-schriftung erhält, werden bald darauf noch präziser und gebiete-rischer im Film, wo die Auffassung von jedem einzelnen Bilddurch die Folge aller vorangegangenen vorgeschrieben erscheint.

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VII

Der Streit, der im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts zwi-schen der Malerei und der Photographie um den Kunstwertihrer Produkte durchgefochten wurde, wirkt heute abwegigund verworren. Das spricht aber nicht gegen seine Bedeutung,könnte sie vielmehr eher unterstreichen. In der Tat war dieserStreit der Ausdruck einer weltgeschichtlichen Umwälzung, dieals solche keinem der beiden Partner bewußt war. Indem dasZeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit die Kunst vonihrem kultischen Fundament löste, erlosch auf immer der Scheinihrer Autonomie. Die Funktionsveränderung der Kunst aber,die damit gegeben war, fiel aus dem Blickfeld des Jahrhundertsheraus. Und auch dem zwanzigsten, das die Entwicklung desFilms erlebte, entging sie lange.Hatte man vordem vielen vergeblichen Scharfsinn an die Ent-scheidung der Frage gewandt, ob die Photographie eine Kunstsei – ohne die Vorfrage sich gestellt zu haben: ob nicht durchdie Erfindung der Photographie der Gesamtcharakter der Kunstsich verändert habe – so übernahmen die Filmtheoretiker balddie entsprechende voreilige Fragestellung. Aber die Schwierig-keiten, welche die Photographie der überkommenen Ästhetikbereitet hatte, waren ein Kinderspiel gegen die, mit denen derFilm sie erwartete. Daher die blinde Gewaltsamkeit, die dieAnfänge der Filmtheorie kennzeichnet. So vergleicht AbelGance z. B. den Film mit den Hieroglyphen: »Da sind wirdenn, infolge einer höchst merkwürdigen Rückkehr ins Dage-wesene, wieder auf der Ausdrucksebene der Ägypter ange-langt … Die Bildersprache ist noch nicht zur Reife gediehen,weil unsere Augen ihr noch nicht gewachsen sind. Noch gibt esnicht genug Achtung, nicht genug Kult für das was sich in ihrausspricht.«3 Oder Séverin-Mars schreibt: »Welcher Kunstwar ein Traum beschieden, der … poetischer und realer zugleichgewesen wäre! Von solchem Standpunkt betrachtet würde derFilm ein ganz unvergleichliches Ausdrucksmittel darstellen, undes dürften in seiner Atmosphäre sich nur Personen adligsterDenkungsart in den vollendetsten und geheimnisvollsten Augen-

3 Abel Gance, . c. ‹S. 4›, p. 00/0.

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blicken ihrer Lebensbahn bewegen.«4 Alexandre Arnoux sei-nerseits beschließt eine Phantasie über den stummen Filmgeradezu mit der Frage: »Sollten nicht all die gewagten Beschrei-bungen, deren wir uns hiermit bedient haben, auf die Defini-tion des Gebets hinauslaufen?«5 Es ist sehr lehrreich zu sehen,wie das Bestreben, den Film der »Kunst« zuzuschlagen, dieseTheoretiker nötigt, mit einer Rücksichtslosigkeit ohnegleichenkultische Elemente in ihn hineinzuinterpretieren. Und dochwaren zu der Zeit, da diese Spekulationen veröffentlicht wur-den, schon Werke vorhanden wie »L̓ Opinion publique« und»La ruée vers l o̓r«. Das hindert Abel Gance nicht, den Ver-gleich mit den Hieroglyphen heranzuziehen, und Séverin-Mars spricht vom Film wie man von Bildern des Fra Angelicosprechen könnte. Kennzeichnend ist, daß auch heute noch beson-ders reaktionäre Autoren die Bedeutung des Films in der glei-chen Richtung suchen und wenn nicht geradezu im Sakralen sodoch im Übernatürlichen. Anläßlich der Reinhardtschen Ver-filmung des Sommernachtstraums stellt Werfel fest, daß es un-zweifelhaft die sterile Kopie der Außenwelt mit ihren Straßen,Interieurs, Bahnhöfen, Restaurants, Autos und Strandplät-zen sei, die bisher dem Aufschwung des Films in das Reich derKunst im Wege gestanden hätte. »Der Film hat seinen wahrenSinn, seine wirklichen Möglichkeiten noch nicht erfaßt … Siebestehen in seinem einzigartigen Vermögen, mit natürlichenMitteln und mit unvergleichlicher Überzeugungskraft das Feen-hafte, Wunderbare, Übernatürliche zum Ausdruck zu brin-gen.«6

VIII

Definitiv wird die Kunstleistung des Bühnenschauspielers demPublikum durch diesen selbst in eigener Person präsentiert; da-gegen wird die Kunstleistung des Filmdarstellers dem Publikumdurch eine Apparatur präsentiert. Das letztere hat zweierlei

4 cit. Abel Gance, . c. ‹S. 4›, p. 00.5 Alexandre Arnoux: Cinema. Paris 929, p. 28.6 Franz Werfel: Ein Sommernachtstraum. Ein Film von Shakespeare und Reinhardt.»Neues Wiener Journal«, cit. Lu, 5 novembre 935.

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zur Folge. Die Apparatur, die die Leistung des Filmdarstellersvor das Publikum bringt, ist nicht gehalten, diese Leistung alsTotalität zu respektieren. Sie nimmt unter Führung des Kame-ramannes laufend zu dieser Leistung Stellung. Die Folge vonStellungnahmen, die der Cutter aus dem ihm abgeliefertenMaterial komponiert, bildet den fertig montierten Film. Erumfaßt eine gewisse Anzahl von Bewegungsmomenten, die alssolche der Kamera erkannt werden müssen – von Spezialein-stellungen wie Großaufnahmen zu schweigen. So wird die Lei-stung des Darstellers einer Reihe von optischen Tests unterwor-fen. Dies ist die erste Folge des Umstands, daß die Leistung desFilmdarstellers durch die Apparatur vorgeführt wird. Die zwei-te Folge beruht darauf, daß der Filmdarsteller, da er nicht selbstseine Leistung dem Publikum präsentiert, die dem Bühnen-schauspieler vorbehaltene Möglichkeit einbüßt, die Leistungwährend der Darbietung dem Publikum anzupassen. Dieseskommt dadurch in die Haltung eines durch keinerlei persönli-chen Kontakt mit dem Darsteller gestörten Begutachters. DasPublikum fühlt sich in den Darsteller nur ein, indem es sich inden Apparat einfühlt. Es übernimmt also dessen Haltung: estestet7. Das ist keine Haltung, der Kultwerte ausgesetzt wer-den können.

IX

Dem Film kommt es viel weniger darauf an, daß der Darstellerdem Publikum einen anderen, als daß er der Apparatur sich

7 »Der Film … gibt (oder könnte geben): verwendbare Aufschlüsse über menschlicheHandlungen im Detail … Jede Motivierung aus dem Charakter unterbleibt, dasInnenleben der Personen gibt niemals die Hauptursache und ist selten das hauptsäch-liche Resultat der Handlung«. (Brecht, l. c. ‹S. 20›, p. 268.) Die Erweiterung desFeldes des Testierbaren, die die Apparatur am Filmdarsteller zustandebringt, ent-spricht der außerordentlichen Erweiterung des Feldes des Testierbaren, die durch dieökonomischen Umstände für das Individuum eingetreten ist. So wächst die Bedeutungder Berufseignungsprüfungen dauernd. In der Berufseignungsprüfung kommt es aufAusschnitte aus der Leistung des Individuums an. Filmaufnahme und Berufseignungs-prüfung gehen vor einem Gremium von Fachleuten vor sich. Der Aufnahmeleiter imFilmatelier steht genau an der Stelle, an der bei der Eignungsprüfung der Versuchs-leiter steht.

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selbst darstellt. Einer der ersten, der diese Umänderung desDarstellers durch die Testleistung gespürt hat, ist Pirandellogewesen. Es beeinträchtigt die Bemerkungen, die er in seinemRoman »Es wird gefilmt« darüber macht, nur wenig, daß siesich darauf beschränken, die negative Seite der Sache hervorzu-heben. Noch weniger, daß sie an den stummen Film anschließen.Denn der Tonfilm hat an dieser Sache nichts Grundsätzlichesgeändert. Entscheidend bleibt, daß für eine Apparatur – oder,im Fall des Tonfilms, für zwei – gespielt wird. »Der Filmdar-steller«, schreibt Pirandello, »fühlt sich wie im Exil. Exiliertnicht nur von der Bühne, sondern von seiner eigenen Person. Miteinem dunklen Unbehagen spürt er die unerklärliche Leere, diedadurch entsteht, daß sein Körper zur Ausfallserscheinungwird, daß er sich verflüchtigt und seiner Realität, seines Lebens,seiner Stimme und der Geräusche, die er verursacht, indem ersich rührt, beraubt wird, um sich in ein stummes Bild zu ver-wandeln, das einen Augenblick auf der Leinwand zittert undsodann in der Stille verschwindet … Die kleine Apparaturwird mit seinem Schatten vor dem Publikum spielen; und erselbst muß sich begnügen, vor ihr zu spielen.«8 Man kann dengleichen Tatbestand folgendermaßen kennzeichnen: zum erstenMal – und das ist das Werk des Films – kommt der Mensch indie Lage, zwar mit seiner gesamten lebendigen Person aber un-ter Verzicht auf deren Aura wirken zu müssen. Denn die Auraist an sein Hier und Jetzt gebunden. Es gibt kein Abbild vonihr. Die Aura, die auf der Bühne um Macbeth ist, kann von dernicht abgelöst werden, die für das lebendige Publikum um denSchauspieler ist, welcher ihn spielt. Das Eigentümliche der Auf-nahme im Filmatelier aber besteht darin, daß sie an die Stelledes Publikums die Apparatur setzt. So muß die Aura, die umden Darstellenden ist, fortfallen – und damit zugleich die umden Dargestellten.Daß gerade ein Dramatiker, wie Pirandello, in der Charak-teristik des Films unwillkürlich den Grund der Krise berührt,von der wir das Theater befallen sehen, ist nicht erstaunlich. Zudem restlos von der technischen Reproduktion erfaßten, ja –wie der Film – aus ihr hervorgehenden Kunstwerk gibt es in

8 Luigi Pirandello: On tourne, cit. Léon Pierre-Quint: Signification du cinéma, in:L̓ art cinématographique II, l. c. ‹S. 4›, p. 4/5.

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der Tat keinen entschiedeneren Gegensatz als das der Schau-bühne. Jede eingehendere Betrachtung bestätigt dies. Sachkun-dige Beobachter haben längst erkannt, daß in der Filmdarstel-lung »die größten Wirkungen fast immer erzielt werden, indemman so wenig wie möglich ›spielt‹ … Die letzte Entwicklung«sieht Arnheim 932 darin, »den Schauspieler wie ein Requisitzu behandeln, das man charakteristisch auswählt und … an derrichtigen Stelle einsetzt.«9 Damit hängt aufs Engste etwasanderes zusammen. Der Schauspieler, der auf der Bühne agiert,versetzt sich in eine Rolle. Dem Filmdarsteller ist das sehr oftversagt. Seine Leistung ist durchaus keine einheitliche, sondernaus vielen einzelnen Leistungen zusammengestellt. Neben zu-fälligen Rücksichten auf: Ateliermiete, Verfügbarkeit von Part-nern, Dekor usw., sind es elementare Notwendigkeiten derMaschinerie, die das Spiel des Darstellers in eine Reihe montier-barer Episoden zerfallen. Es handelt sich vor allem um die

9 Rudolf Arnheim: Film als Kunst. Berlin 932, p. 76/77. – Gewisse scheinbarnebensächliche Einzelheiten, mit denen der Filmregisseur sich von den Praktiken derBühne entfernt, gewinnen in diesem Zusammenhang ein erhöhtes Interesse. So derVersuch, den Darsteller ohne Schminke spielen zu lassen, wie unter anderen Dreyerihn in der Jeanne d A̓rc durchführt. Er verwendete Monate darauf, die einigenvierzig Darsteller ausfindig zu machen, aus denen das Ketzergericht sich zusammen-setzt. Die Suche nach diesen Darstellern glich der nach schwer beschaffbaren Requisi-ten. Dreyer verwandte die größte Mühe darauf, Ähnlichkeiten des Alters, der Statur,der Physiognomie zu vermeiden, (cf. Maurice Schultz: Le masquillage, in: L̓ artcinématographique VI. Paris 929, p. 65/66.) Wenn der Schauspieler zum Requisitwird, so fungiert auf der andern Seite das Requisit nicht selten als Schauspieler.Jedenfalls ist es nichts Ungewöhnliches, daß der Film in die Lage kommt, demRequisit eine Rolle zu leihen. Anstatt beliebige Beispiele aus einer unendlichen Fülleherauszugreifen, halten wir uns an eines von besonderer Beweiskraft. Eine in Gangbefindliche Uhr wird auf der Bühne immer nur störend wirken. Ihre Rolle, die Zeitzu messen, kann ihr auf der Bühne nicht eingeräumt werden. Die astronomische Zeitwürde auch in einem naturalistischen Stück mit der szenischen kollidieren. Unterdiesen Umständen ist es für den Film höchst bezeichnend, daß er bei Gelegenheitohne weiteres eine Zeitmessung nach der Uhr verwerten kann. Hieran mag mandeutlicher als an manchen anderen Zügen erkennen, wie unter Umständen jedes ein-zelne Requisit entscheidende Funktionen in ihm übernehmen kann. Von hier ist es nurein Schritt bis zu Pudowkins Feststellung, daß »das Spiel des Darstellers, das miteinem Gegenstand verbunden und auf ihm aufgebaut ist, … stets eine der stärkstenMethoden filmischer Gestaltung« ist. (W. Pudowkin: Filmregie und Filmmanuskript.[Bücher der Praxis, Bd. 5] Berlin 928, p. 26.) So ist der Film das erste Kunstmittel,das in der Lage ist zu zeigen, wie die Materie dem Menschen mitspielt. Er kann daherein hervorragendes Instrument materialistischer Darstellung sein.

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Beleuchtung, deren Installation die Darstellung eines Vorgangs,der auf der Leinwand als einheitlicher geschwinder Ablauf er-scheint, in einer Reihe einzelner Aufnahmen zu bewältigenzwingt, die sich im Atelier unter Umständen über Stunden ver-teilen. Von handgreiflicheren Montagen zu schweigen. So kannein Sprung aus dem Fenster im Atelier in Gestalt eines Sprungsvom Gerüst gedreht werden, die sich anschließende Flucht abergegebenenfalls wochenlang später bei einer Außenaufnahme.Im übrigen ist es ein Leichtes, noch weit paradoxere Fälle zukonstruieren. Es kann, nach einem Klopfen gegen die Tür, vomDarsteller gefordert werden, daß er zusammenschrickt. Vielleichtist dieses Zusammenfahren nicht wunschgemäß ausgefallen. Dakann der Regisseur zu der Auskunft greifen, gelegentlich, wennder Darsteller wieder einmal im Atelier ist, ohne dessen Vor-wissen in seinem Rücken einen Schuß abfeuern zu lassen. DasErschrecken des Darstellers in diesem Augenblick kann aufge-nommen und in den Film montiert werden. Nichts zeigt drasti-scher, daß die Kunst aus dem Reich des »schönen Scheins« ent-wichen ist, das solange als das einzige galt, in dem sie gedeihenkönne.

X

Das Befremden des Darstellers vor der Apparatur, wie Piran-dello es schildert, ist von Haus aus von der gleichen Art wie dasBefremden des Menschen vor seiner Erscheinung im Spiegel.Nun aber ist das Spiegelbild von ihm ablösbar, es ist transpor-tabel geworden. Und wohin wird es transportiert? Vor dasPublikum20. Das Bewußtsein davon verläßt den Filmdarsteller

20 Die hier konstatierbare Veränderung der Ausstellungsweise durch die Reproduk-tionstechnik macht sich auch in der Politik bemerkbar. Die heutige Krise derbürgerlichen Demokratien schließt eine Krise der Bedingungen ein, die für dieAusstellung der Regierenden maßgebend sind. Die Demokratien stellen den Regieren-den unmittelbar in eigener Person und zwar vor Repräsentanten aus. Das Parlamentist sein Publikum! Mit den Neuerungen der Aufnahmeapparatur, die es erlauben, denRedenden während der Rede unbegrenzt vielen vernehmbar und kurz darauf unbe-grenzt vielen sichtbar zu machen, tritt die Anstellung des politischen Menschen vordieser Aufnahmeapparatur in den Vordergrund. Es veröden die Parlamente gleich-zeitig mit den Theatern. Rundfunk und Film verändern nicht nur die Funktion des

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nicht einen Augenblick. Der Filmdarsteller weiß, während ervor der Apparatur steht, hat er es in letzter Instanz mit demPublikum zu tun: dem Publikum der Abnehmer, die den Marktbilden. Dieser Markt, auf den er sich nicht nur mit seiner Ar-beitskraft, sondern mit Haut und Haaren, mit Herz und Nierenbegibt, ist ihm im Augenblick seiner für ihn bestimmten Lei-stung ebensowenig greifbar, wie irgendeinem Artikel, der ineiner Fabrik gemacht wird. Sollte dieser Umstand nicht seinenAnteil an der Beklemmung, der neuen Angst haben, die, nachPirandello, den Darsteller vor der Apparatur befällt? Der Filmantwortet auf das Einschrumpfen der Aura mit einem künst-lichen Aufbau der »personality« außerhalb des Ateliers. Dervom Filmkapital geförderte Starkultus konserviert jenen Zau-ber der Persönlichkeit, der schon längst nur noch im fauligenZauber ihres Warencharakters besteht. Solange das Filmkapitalden Ton angibt, läßt sich dem heutigen Film im allgemeinenkein anderes revolutionäres Verdienst zuschreiben, als einerevolutionäre Kritik der überkommenen Vorstellungen vonKunst zu befördern. Wir bestreiten nicht, daß der heutige Filmin besonderen Fällen darüber hinaus eine revolutionäre Kritikan den gesellschaftlichen Verhältnissen, ja an der Eigentumsord-nung befördern kann. Aber darauf liegt der Schwerpunkt dergegenwärtigen Untersuchung ebenso wenig wie der Schwerpunktder westeuropäischen Filmproduktion darauf liegt.Es hängt mit der Technik des Films genau wie mit der desSports zusammen, daß jeder den Leistungen, die sie ausstellen,als halber Fachmann beiwohnt. Man braucht nur einmal eineGruppe von Zeitungsjungen, auf ihre Fahrräder gestützt, dieErgebnisse eines Radrennens diskutieren gehört zu haben, umsich das Verständnis dieses Tatbestandes zu eröffnen. Nicht um-sonst veranstalten Zeitungsverleger Wettfahrten ihrer Zeitungs-jungen. Diese erwecken großes Interesse unter den Teilnehmern.Denn der Sieger in diesen Veranstaltungen hat eine Chance,

professionellen Darstellers, sondern genau so die Funktion dessen, der, wie es dieRegierenden tun, sich selber vor ihnen darstellt. Die Richtung dieser Veränderung ist,unbeschadet ihrer verschiedenen Spezialaufgaben, die gleiche beim Filmdarsteller undbeim Regierenden. Sie erstrebt die Aufstellung prüfbarer, ja übernehmbarer Leistun-gen unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen. Das ergibt eine neue Auslese,eine Auslese vor der Apparatur, aus der der Star und der Diktator als Sieger hervor-gehen.

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vom Zeitungsjungen zum Rennfahrer aufzusteigen. So gibt zumBeispiel die Wochenschau jedem eine Chance, vom Passantenzum Filmstatisten aufzusteigen. Er kann sich dergestalt unterUmständen sogar in ein Kunstwerk – man denke an Wertoffs»Drei Lieder um Lenin« oder Ivens »Borinage« – versetztsehen. Jeder heutige Mensch kann einen Anspruch vorbringen,gefilmt zu werden. Diesen Anspruch verdeutlicht am besten einBlick auf die geschichtliche Situation des heutigen Schrifttums.Jahrhunderte lang lagen im Schrifttum die Dinge so, daß einergeringen Zahl von Schreibenden eine vieltausendfache Zahl vonLesenden gegenüberstand. Darin trat gegen Ende des vorigenJahrhunderts ein Wandel ein. Mit der wachsenden Ausdehnungder Presse, die immer neue politische, religiöse, wissenschaftliche,berufliche, lokale Organe der Leserschaft zur Verfügung stellte,gerieten immer größere Teile der Leserschaft – zunächst fall-weise – unter die Schreibenden. Es begann damit, daß die Ta-gespresse ihnen ihren »Briefkasten« eröffnete, und es liegt heuteso, daß es kaum einen im Arbeitsprozeß stehenden Europäergibt, der nicht grundsätzlich irgendwo Gelegenheit zur Publika-tion einer Arbeitserfahrung, einer Beschwerde, einer Reportageoder dergleichen finden könnte. Damit ist die Unterscheidungzwischen Autor und Publikum im Begriff, ihren grundsätzlichenCharakter zu verlieren. Sie wird eine funktioneile, von Fall zuFall so oder anders verlaufende. Der Lesende ist jederzeit be-reit, ein Schreibender zu werden. Als Sachverständiger, der erwohl oder übel in einem äußerst spezialisierten Arbeitsprozeßwerden mußte – sei es auch nur als Sachverständiger einer ge-ringen Verrichtung –, gewinnt er einen Zugang zur Autorschaft.In der Sovjetunion kommt die Arbeit selbst zu Wort. Und ihreDarstellung im Wort macht einen Teil des Könnens, das zu ihrerAusübung erforderlich ist. Die literarische Befugnis wird nichtmehr in der spezialisierten, sondern in der polytechnischen Aus-bildung begründet, und so Gemeingut2.

2 Der Privilegiencharakter der betreffenden Tediniken geht verloren. Aldous Hux-Icy schreibt: »Die technischen Fortschritte haben … zur Vulgarität geführt …die technische Reproduzierbarkeit und die Rotationspresse haben eine unabsehbareVervielfältigung von Schriften und Bildern ermöglicht. Die allgemeine Schulbildungund die verhältnismäßig hohen Gehälter haben ein sehr großes Publikum geschaffen,das lesen kann und Lesestoff und Bildmaterial sich zu verschaffen vermag. Um diese

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Alles das läßt sich ohne weiteres auf den Film übertragen, woVerschiebungen, die im Schrifttum Jahrhunderte in Anspruchgenommen haben, sich im Laufe eines Jahrzehnts vollzogen.Denn in der Praxis des Films – vor allem der russischen – istdiese Verschiebung stellenweise bereits verwirklicht worden. EinTeil der im russischen Film begegnenden Darsteller sind nichtDarsteller in unserem Sinn, sondern Leute, die sich – und zwarin erster Linie in ihrem Arbeitsprozeß – darstellen. In West-europa verbietet die kapitalistische Ausbeutung des Films demlegitimen Anspruch, den der heutige Mensch auf sein Reprodu-ziertwerden hat, die Berücksichtigung. Unter diesen Umständenhat die Filmindustrie alles Interesse, die Anteilnahme der Mas-sen durch illusionäre Vorstellungen und durch zweideutigeSpekulationen zu stacheln.

bereitzustellen, hat sich eine bedeutende Industrie etabliert. Nun aber ist künstlerischeBegabung etwas sehr Seltenes; daraus folgt …, daß zu jeder Zeit und an allenOrten der überwiegende Teil der künstlerischen Produktion minderwertig gewesenist. Heute aber ist der Prozentsatz des Abhubs in der künstlerischen Gesamtproduk-tion größer als er es je vorher gewesen ist … Wir stehen hier vor einem einfachenarithmetischen Sachverhalt. Im Laufe des vergangenen Jahrhunderts hat sich dieBevölkerung Westeuropas etwas über das Doppelte vermehrt. Der Lese- und Bild-stoff aber ist, wie ich schätzen möchte, mindestens im Verhältnis von zu 20,vielleicht aber auch zu 50 oder gar zu 00 gewachsen. Wenn eine Bevölkerung von xMillionen n künstlerische Talente hat, so wird eine Bevölkerung von 2x Millionenwahrscheinlich 2n künstlerische Talente haben. Nun läßt sich die Situation folgender-maßen zusammenfassen. Wenn vor 00 Jahren eine Druckseite mit Lese- und Bild-stoff veröffentlicht wurde, so veröffentlicht man dafür heute zwanzig, wenn nichthundert Seiten. Wenn andererseits vor hundert Jahren ein künstlerisches Talentexistierte, so existieren heute an dessen Stelle zwei. Ich gebe zu, daß infolge derallgemeinen Schulbildung heute eine große Anzahl virtueller Talente, die ehemalsnicht zur Entfaltung ihrer Gaben gekommen wären, produktiv werden können.Setzen wir also …, daß heute drei oder selbst vier künstlerische Talente auf einkünstlerisches Talent von ehedem kommen. Es bleibt nichtsdestoweniger unzweifel-haft, daß der Konsum von Lese- und Bildstoff die natürliche Produktion an begabtenSchriftstellern und begabten Zeichnern weit überholt hat. Mit dem Hörstoff steht esnicht anders. Prosperität, Grammophon und Radio haben ein Publikum ins Lebengerufen, dessen Konsum an Hörstoffen außer allem Verhältnis zum Anwachsen derBevölkerung und demgemäß zum normalen Zuwachs an talentierten Musikern steht.Es ergibt sich also, daß in allen Künsten, sowohl absolut wie verhältnismäßig gespro-chen, die Produktion von Abhub größer ist als sie es früher war; und so muß esbleiben, so lange die Leute fortfahren so wie derzeit einen unverhältnismäßig großenKonsum an Lese-, Bild- und Hörstoff zu üben.« (Aldous Huxley: Croisière d᾽hiver.Voyage en Amérique Centrale (933) [Traduction de Jules Castier]. Paris 935, p.273-275.) Diese Betrachtungsweise ist offenkundig nicht fortschrittlich.

3

XI

Eine Film- und besonders eine Tonfilmaufnahme bietet einenAnblick, wie er vorher nie und nirgends denkbar gewesen ist.Sie stellt einen Vorgang dar, dem kein einziger Standpunkt mehrzuzuordnen ist, von dem aus die zu dem Spielvorgang als sol-chen nicht zugehörige Aufnahmeapparatur, die Beleuchtungs-maschinerie, der Assistentenstab usw. nicht in das Blickfeld desBeschauers fiele. (Es sei denn, die Einstellung seiner Pupillestimme mit der des Aufnahmeapparats überein.) Dieser Um-stand, er mehr als jeder andere, macht die etwa bestehendenÄhnlichkeiten zwischen einer Szene im Filmatelier und auf derBühne zu oberflächlichen und belanglosen. Das Theater kenntprinzipiell die Stelle, von der aus das Geschehen nicht ohneweiteres als illusionär zu durchschauen ist. Der Aufnahmeszeneim Film gegenüber gibt es diese Stelle nicht. Dessen illusionäreNatur ist eine Natur zweiten Grades; sie ist ein Ergebnis desSchnitts. Das heißt: Im Filmatelier ist die Apparatur derarttief in die Wirklichkeit eingedrungen, daß deren reiner, vomFremdkörper der Apparatur freier Aspekt das Ergebnis einerbesonderen Prozedur, nämlich der Aufnahme durch den eigenseingestellten photographischen Apparat und ihrer Montierungmit anderen Aufnahmen von der gleichen Art ist. Der apparat-freie Aspekt der Realität ist hier zu ihrem künstlichsten gewor-den und der Anblick der unmittelbaren Wirklichkeit zur blauenBlume im Land der Technik.Der gleiche Sachverhalt, der sich so gegen den des Theaters ab-hebt, läßt sich noch aufschlußreicher mit dem konfrontieren, derin der Malerei vorliegt. Hier haben wir die Frage zu stellen:wie verhält sich der Operateur zum Maler? Zu ihrer Beantwor-tung sei eine Hilfskonstruktion gestattet, die sich auf den Begriffdes Operateurs stützt, welcher von der Chirurgie her geläufigist. Der Chirurg stellt den einen Pol einer Ordnung dar, anderen anderm der Magier steht. Die Haltung des Magiers, dereinen Kranken durch Auflegen der Hand heilt, ist verschiedenvon der des Chirurgen, der einen Eingriff in den Kranken vor-nimmt. Der Magier erhält die natürliche Distanz zwischen sichund dem Behandelten aufrecht; genauer gesagt: er vermindertsie – kraft seiner aufgelegten Hand – nur wenig und steigert

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sie – kraft seiner Autorität – sehr. Der Chirurg verfährt umge-kehrt: er vermindert die Distanz zu dem Behandelten sehr -indem er in dessen Inneres dringt – und er vermehrt sie nurwenig – durch die Behutsamkeit, mit der seine Hand sich unterden Organen bewegt. Mit einem Wort: zum Unterschied vomMagier (der auch noch im praktischen Arzt steckt) verzichtet derChirurg im entscheidenden Augenblick darauf, seinem Krankenvon Mensch zu Mensch sich gegenüber zu stellen; er dringt viel-mehr operativ in ihn ein. – Magier und Chirurg verhalten sichwie Maler und Kameramann. Der Maler beobachtet in seinerArbeit eine natürliche Distanz zum Gegebenen, der Kamera-mann dagegen dringt tief ins Gewebe der Gegebenheit ein22.Die Bilder, die beide davontragen, sind ungeheuer verschieden.Das des Malers ist ein totales, das des Kameramanns ein viel-fältig zerstückeltes, dessen Teile sich nach einem neuen Gesetzezusammen finden. So ist die filmische Darstellung der Realität fürden heutigen Menschen darum die unvergleichlich bedeutungsvol-lere, weil sie den apparatfreien Aspekt der Wirklichkeit, den ervom Kunstwerk zu fordern berechtigt ist, gerade auf Grund ihrerintensivsten Durchdringung mit der Apparatur gewährt.

XII

Die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verändertdas Verhältnis der Masse zur Kunst. Aus dem rückständigsten,z. B. einem Picasso gegenüber, schlägt es in das fortschrittlichste,

22 Die Kühnheiten des Kameramanns sind in der Tat denen des chirurgischenOperateurs vergleichbar. Luc Durtain führt in einem Verzeichnis spezifisch gestischerKunststücke der Technik diejenigen auf, »die in der Chirurgie bei gewissen schwieri-gen Eingriffen erforderlich sind. Ich wähle als Beispiel einen Fall aus der Oto-Rhino-Laryngologie …; ich meine das sogenannte endonasale Perspektiv-Ver-fahren; oder ich weise auf die akrobatischen Kunststücke hin, die, durch dasumgekehrte Bild im Kehlkopfspiegel geleitet, die Kehlkopfchirurgie auszuführenhat; ich könnte auch von der an die Präzisionsarbeit von Uhrmachern erinnerndeOhrenchirurgie sprechen. Welch reiche Stufenfolge subtilster Muskelakrobatik wirdnicht von dem Mann gefordert, der den menschlichen Körper reparieren oder ihnretten will, man denke nur an die Staroperation, bei der es gleichsam eine Debattedes Stahls mit beinahe flüssigen Gewebeteilen gibt, oder an die bedeutungsvollenEingriffe in die Weichgegend (Laparotomie).« (Luc Durtain: La technique et l᾽homme,in: Vendredi, 3 mars 936, No. 9.)

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z. B. angesichts eines Chaplin, um. Dabei ist das fortschrittlicheVerhalten dadurch gekennzeichnet, daß die Lust am Schauenund am Erleben in ihm eine unmittelbare und innige Verbin-dung mit der Haltung des fachmännischen Beurteilers eingeht.Solche Verbindung ist ein wichtiges gesellschaftliches Indizium.Je mehr nämlich die gesellschaftliche Bedeutung einer Kunst sichvermindert, desto mehr fallen – wie das deutlich angesichts derMalerei sich erweist – die kritische und die genießende Haltungim Publikum auseinander. Das Konventionelle wird kritiklosgenossen, das wirklich Neue kritisiert man mit Widerwillen.Im Kino fallen kritische und genießende Haltung des Publikumszusammen. Und zwar ist der entscheidende Umstand dabei:nirgends mehr als im Kino erweisen sich die Reaktionen derEinzelnen, deren Summe die massive Reaktion des Publikumsausmacht, von vornherein durch ihre unmittelbar bevorstehendeMassierung bedingt. Und indem sie sich kundgeben, kontrollie-ren sie sich. Auch weiterhin bleibt der Vergleich mit der Malereidienlich. Das Gemälde hatte stets ausgezeichneten Anspruch aufdie Betrachtung durch Einen oder durch Wenige. Die simultaneBetrachtung von Gemälden durch ein großes Publikum, wie sieim neunzehnten Jahrhundert aufkommt, ist ein frühes Sym-ptom der Krise der Malerei, die keineswegs durch die Photo-graphie allein, sondern relativ unabhängig von dieser durchden Anspruch des Kunstwerks auf die Masse ausgelöst wurde.Es liegt eben so, daß die Malerei nicht imstande ist, den Gegen-stand einer simultanen Kollektivrezeption darzubieten, wie esvon jeher für die Architektur, wie es einst für das Epos zutraf,wie es heute für den Film zutrifft. Und so wenig aus diesemUmstand von Haus aus Schlüsse auf die gesellschaftliche Rolleder Malerei zu ziehen sind, so fällt er doch in dem Augenblickals eine schwere Beeinträchtigung ins Gewicht, wo die Malereidurch besondere Umstände und gewissermaßen wider ihre Na-tur mit den Massen unmittelbar konfrontiert wird. In denKirchen und Klöstern des Mittelalters und an den Fürstenhöfenbis gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts fand die Kollek-tivrezeption von Gemälden nicht simultan, sondern vielfachgestuft und hierarchisch vermittelt statt. Wenn das anders ge-worden ist, so kommt darin der besondere Konflikt zum Aus-druck, in welchen die Malerei durch die technische Reproduzier-

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barkeit des Bildes verstrickt worden ist. Aber ob man auchunternahm, sie in Galerien und in Salons vor die Massen zuführen, so gab es doch keinen Weg, auf welchem die Massen insolche Rezeption sich selbst hätten organisieren und kontrollie-ren können23. So muß eben dasselbe Publikum, das vor einemGroteskfilm fortschrittlich reagiert, vor dem Surrealismus zueinem rückständigen werden.

XIII

Seine Charakteristika hat der Film nicht nur in der Art, wieder Mensch sich der Aufnahmeapparatur, sondern wie er mitderen Hilfe die Umwelt sich darstellt. Ein Blick auf die Lei-stungspsychologie illustriert die Fähigkeit der Apparatur zutesten. Ein Blick auf die Psychoanalyse illustriert sie von ande-rer Seite. Der Film hat unsere Merkwelt in der Tat mit Metho-den bereichert, die an denen der Freudschen Theorie illustriertwerden können. Eine Fehlleistung im Gespräch ging vor fünfzigJahren mehr oder minder unbemerkt vorüber. Daß sie miteinem Male eine Tiefenperspektive im Gespräch, das vorhervordergründig zu verlaufen schien, eröffnete, dürfte zu denAusnahmen gezählt haben. Seit der »Psychopathologie desAlltagslebens« hat sich das geändert. Sie hat Dinge isoliert undzugleich analysierbar gemacht, die vordem unbemerkt im brei-ten Strom des Wahrgenommenen mitschwammen. Der Film hatin der ganzen Breite der optischen Merkwelt, und nun auch derakustischen, eine ähnliche Vertiefung der Apperzeption zurFolge gehabt. Es ist nur die Kehrseite dieses Sachverhalts, daßdie Leistungen, die der Film vorführt, viel exakter und unter

23 Diese Betrachtungsweise mag plump anmuten; aber wie der große TheoretikerLeonardo zeigt, können plumpe Betrachtungsweisen zu ihrer Zeit wohl herangezogenwerden. Leonardo vergleicht die Malerei und die Musik mit folgenden Worten: »DieMalerei ist der Musik deswegen überlegen, weil sie nicht sterben muß, sobald sie insLeben gerufen ist, wie das der Fall der unglücklichen Musik ist … Die Musik, diesich verflüchtigt, sobald sie entstanden ist, steht der Malerei nach, die mit dem Ge-brauch des Firnis ewig geworden ist.« ([Leonardo da Vinci: Frammenti letterarii efilosofici] cit. Fernand Baldensperger: Le raffermissement des techniques dans lalittérature occidentale de 840, in: Revue de Littérature Comparée, XV/I, Paris 935,p. 79 [Anm. ].)

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viel zahlreicheren Gesichtspunkten analysierbar sind, als dieLeistungen, die auf dem Gemälde oder auf der Szene sich dar-stellen. Der Malerei gegenüber ist es die unvergleichlich genauereAngabe der Situation, die die größere Analysierbarkeit der imFilm dargestellten Leistung ausmacht. Der Szene gegenüber istdie größere Analysierbarkeit der filmisch dargestellten Leistungdurch eine höhere Isolierbarkeit bedingt. Dieser Umstand hat,und das macht seine Hauptbedeutung aus, die Tendenz, diegegenseitige Durchdringung von Kunst und Wissenschaft zubefördern. In der Tat läßt sich von einem innerhalb einer be-stimmten Situation sauber – wie ein Muskel an einem Körper –herauspräparierten Verhalten kaum mehr angeben, wodurch esstärker fesselt: durch seinen artistischen Wert oder durch seinewissenschaftliche Verwertbarkeit. Es wird eine der revolutionä-ren Funktionen des Films sein, die künstlerische und die wissen-schaftliche Verwertung der Photographie, die vordem meistauseinander fielen, als identisch erkennbar zu machen24.Indem der Film durch Großaufnahmen aus ihrem Inventar,durch Betonung versteckter Details an den uns geläufigen Re-quisiten, durch Erforschung banaler Milieus unter der genialenFührung des Objektivs, auf der einen Seite die Einsicht in dieZwangsläufigkeiten vermehrt, von denen unser Dasein regiertwird, kommt er auf der anderen Seite dazu, eines ungeheurenund ungeahnten Spielraums uns zu versichern! Unsere Kneipenund Großstadtstraßen, unsere Büros und möblierten Zimmer,unsere Bahnhöfe und Fabriken schienen uns hoffnungslos einzu-schließen. Da kam der Film und hat diese Kerkerwelt mit demDynamit der Zehntelsekunden gesprengt, so daß wir nun zwi-

24 Suchen wir zu dieser Situation eine Analogie, so eröffnet sich eine aufschlußreichein der Renaissancemalerei. Auch da begegnen wir einer Kunst, deren unvergleichlicherAufschwung und deren Bedeutung nicht zum wenigsten darauf beruht, daß sie eineAnzahl von neuen Wissenschaften oder doch von neuen Daten der Wissenschaftintegriert. Sie beansprucht die Anatomie und die Perspektive, die Mathematik, dieMeteorologie und die Farbenlehre. »Was ist uns entlegener«, schreibt Valéry, »als derbefremdliche Anspruch eines Leonardo, dem die Malerei ein oberstes Ziel und einehöchste Demonstration der Erkenntnis war, so zwar, daß sie, seiner Überzeugungnach, Allwissenheit forderte und er selbst nicht vor einer theoretischen Analysezurückschreckte, vor welcher wir Heutigen ihrer Tiefe und ihrer Präzision wegenfassungslos dastehen.« (Paul Valery: Piéces sur l a̓rt, l. c. ‹S. ›, p. 9 »Autourde Corot«.)

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sehen ihren weitverstreuten Trümmern gelassen abenteuerlicheReisen unternehmen. Unter der Großaufnahme dehnt sich derRaum, unter der Zeitlupe die Bewegung. Und so wenig es beider Vergrößerung sich um eine bloße Verdeutlichung dessenhandelt, was man »ohnehin« undeutlich sieht, sondern vielmehrvöllig neue Strukturbildungen der Materie zum Vorschein kom-men, so wenig bringt die Zeitlupe nur bekannte Bewegungs-motive zum Vorschein, sondern sie entdeckt in diesen bekanntenganz unbekannte, »die gar nicht als Verlangsamungen schnellerBewegungen sondern als eigentümlich gleitende, schwebende,überirdische wirken.«25 So wird handgreiflich, daß es eineandere Natur ist, die zu der Kamera als die zum Auge spricht.Anders vor allem dadurch, daß an die Stelle eines vom Men-schen mit Bewußtsein durchwirkten Raums ein unbewußt durch-wirkter tritt. Ist es schon üblich, daß einer vom Gang der Leute,sei es auch nur im Groben, sich Rechenschaft ablegt, so weiß erbestimmt nichts von ihrer Haltung im Sekundenbruchteil desAusschreitens. Ist uns schon im Groben der Griff geläufig, denwir nach dem Feuerzeug oder dem Löffel tun, so wissen wirdoch kaum von dem, was sich zwischen Hand und Metall dabeieigentlich abspielt, geschweige wie das mit den verschiedenenVerfassungen schwankt, in denen wir uns befinden. Hier greiftdie Kamera mit ihren Hilfsmitteln, ihrem Stürzen und Steigen,ihrem Unterbrechen und Isolieren, ihrem Dehnen und Raffendes Ablaufs, ihrem Vergrößern und ihrem Verkleinern ein.Vom Optisch-Unbewußten erfahren wir erst durch sie, wie vondem Triebhaft-Unbewußten durch die Psychoanalyse.

XIV

Es ist von jeher eine der wichtigsten Aufgaben der Kunst ge-wesen, eine Nachfrage zu erzeugen, für deren volle Befriedigungdie Stunde noch nicht gekommen ist26. Die Geschichte jeder

25 Rudolf Arnheim, l. c. ‹S. 26›, p. 38.26 »Das Kunstwerk«, sagt Andre Breton, »hat Wert nur insofern als es von Reflexender Zukunft durchzittert wird.« In der Tat steht jede ausgebildete Kunstform imSchnittpunkt dreier Entwicklungslinien. Es arbeitet nämlich einmal die Technik aufeine bestimmte Kunstform hin. Ehe der Film auftrat, gab es Photobüchlein, deren

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Kunstform hat kritische Zeiten, in denen diese Form auf Effektehindrängt, die sich zwanglos erst bei einem veränderten techni-schen Standard, d. h. in einer neuen Kunstform ergeben können.Die derart, zumal in den sogenannten Verfallszeiten, sich erge-benden Extravaganzen und Kruditaten der Kunst gehen inWirklichkeit aus ihrem reichsten historischen Kräflezentrumhervor. Von solchen Barbarismen hat noch zuletzt der Dadais-mus gestrotzt. Sein Impuls wird erst jetzt erkennbar: Der Da-daismus versuchte, die Effekte, die das Publikum heute im Filmsucht, mit den Mitteln der Malerei (bzw. der Literatur) zu er-zeugen.Jede von Grund auf neue, bahnbrechende Erzeugung von Nach-fragen wird über ihr Ziel hinausschießen. Der Dadaismus tut dasin dem Grade, daß er die Marktwerte, die dem Film in so ho-hem Maße eignen, zugunsten bedeutsamerer Intentionen – dieihm selbstverständlich in der hier beschriebenen Gestalt nichtbewußt sind – opfert. Auf die merkantile Verwertbarkeit ihrerKunstwerke legten die Dadaisten viel weniger Gewicht als aufihre Unverwertbarkeit als Gegenstände kontemplativer Ver-

Bilder durch einen Daumendruck schnell am Beschauer vorüberflitzend, einen Box-kampf oder ein Tennismatch vorführten; es gab die Automaten in den Bazaren, derenBilderablauf durch eine Drehung der Kurbel hervorgerufen wurde. – Es arbeitenzweitens die überkommenen Kunstformen in gewissen Stadien ihrer Entwicklungangestrengt auf Effekte hin, welche später zwanglos von der neuen Kunstform er-zielt werden. Ehe der Film zur Geltung kam, suchten die Dadaisten durch ihreVeranstaltungen eine Bewegung ins Publikum zu bringen, die ein Chaplin dann aufnatürlichere Weise hervorrief. – Es arbeiten drittens oft unscheinbare, gesellschaftlicheVeränderungen auf eine Veränderung der Rezeption hin, die erst der neuen Kunst-form zugute kommt. Ehe der Film sein Publikum zu bilden begonnen hatte, wurdenim Kaiserpanorama Bilder (die bereits aufgehört hatten, unbeweglich zu sein) voneinem versammelten Publikum rezipiert. Dieses Publikum befand sich vor einemParavant, in dem Stereoskope angebracht waren, deren auf jeden Besucher eines kam.Vor diesen Stereoskopen erschienen automatisch einzelne Bilder, die kurz verharrtenund dann anderen Platz machten. Mit ähnlichen Mitteln mußte noch Edison arbeiten,als er den ersten Filmstreifen (ehe man eine Filmleinwand und das Verfahren derProjektion kannte) einem kleinen Publikum vorführte, das in den Apparat hinein-starrte, in welchem die Bilderfolgc abrollte. – Übrigens kommt in der Einrichtung desKaiserpanoramas besonders klar eine Dialektik der Entwicklung zum Ausdruck. Kurzehe der Film die Bildbetrachtung zu einer kollektiven macht, kommt vor denStereoskopen dieser schnell veralteten Etablissements die Bildbetrachtung durch einenEinzelnen noch einmal mit derselben Schärfe zur Geltung wie einst in der Betrachtungdes Götterbilds durch den Priester in der cella.

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senkung. Diese Unverwertbarkeit suchten sie nicht zum wenig-sten durch eine grundsätzliche Entwürdigung ihres Materials zuerreichen. Ihre Gedichte sind »Wortsalat«, sie enthalten obszöneWendungen und allen nur vorstellbaren Abfall der Sprache.Nicht anders ihre Gemälde, denen sie Knöpfe oder Fahrscheineaufmontierten. Was sie mit solchen Mitteln erreichen, ist einerücksichtslose Vernichtung der Aura ihrer Hervorbringung, de-nen sie mit den Mitteln der Produktion das Brandmal einerReproduktion aufdrücken. Es ist unmöglich, vor einem Bild vonArp oder einem Gedicht August Stramms sich wie vor einemBild Derains oder einem Gedicht von Rilke Zeit zur Sammlungund Stellungnahme zu lassen. Der Versenkung, die in der Ent-artung des Bürgertums eine Schule asozialen Verhaltens wurde,tritt die Ablenkung als eine Spielart sozialen Verhaltens gegen-über27. In der Tat gewährleisteten die dadaistischen Kundge-bungen eine recht vehemente Ablenkung, indem sie das Kunst-werk zum Mittelpunkt eines Skandals machten. Es hatte vorallem einer Forderung Genüge zu leisten: öffentliches Ärgerniszu erregen.Aus einem lockenden Augenschein oder einem überredendenKlanggebilde wurde das Kunstwerk bei den Dadaisten zu einemGeschoß. Es stieß dem Betrachter zu. Es gewann eine taktileQualität. Damit hat es die Nachfrage nach dem Film begün-stigt, dessen ablenkendes Element ebenfalls in erster Linie eintaktiles ist, nämlich auf dem Wechsel der Schauplätze und Ein-stellungen beruht, welche stoßweise auf den Beschauer eindrin-gen. Man vergleiche die Leinwand, auf der der Film abrollt,mit der Leinwand, auf der sich das Gemälde befindet. Dasletztere lädt den Betrachter zur Kontemplation ein; vor ihmkann er sich seinem Assoziationsablauf überlassen. Vor derFilmaufnahme kann er das nicht. Kaum hat er sie ins Augegefaßt, so hat sie sich schon verändert. Sie kann nicht fixiertwerden. Duhamel, der den Film haßt und von seiner Bedeutung

27 Das theologische Urbild dieser Versenkung ist das Bewußtsein, allein mit seinemGott zu sein. An diesem Bewußtsein ist in den großen Zeiten des Bürgertums dieFreiheit erstarkt, die kirchliche Bevormundung abzuschütteln. In den Zeiten seinesNiedergangs mußte das gleiche Bewußtsein der verborgenen Tendenz Rechnungtragen, diejenigen Kräfte, die der Einzelne im Umgang mit Gott ins Werk setzt, denAngelegenheiten des Gemeinwesens zu entziehen.

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nichts, aber manches von seiner Struktur begriffen hat, verzeich-net diesen Umstand mit der Notiz: »Ich kann schon nicht mehrdenken, was ich denken will. Die beweglichen Bilder haben sichan den Platz meiner Gedanken gesetzt.«28 In der Tat wird derAssoziationsablauf dessen, der diese Bilder betrachtet, sofortdurch ihre Veränderung unterbrochen. Darauf beruht die Chock-wirkung des Films, die wie jede Chockwirkung durch gesteigerteGeistesgegenwart aufgefangen sein will29. Kraft seiner techni-schen Struktur hat der Film die physische Chockwirkung, welcheder Dadaismus gleichsam in der moralischen noch verpackthielt, aus dieser Emballage befreit30.

XV

Die Masse ist eine matrix, aus der gegenwärtig alles gewohnteVerhalten Kunstwerken gegenüber neugeboren hervorgeht. DieQuantität ist in Qualität umgeschlagen: Die sehr viel größerenMassen der Anteilnehmenden haben eine veränderte Art desAnteils hervorgebracht. Es darf den Betrachter nicht irre ma-chen, daß dieser Anteil zunächst in verrufener Gestalt in Er-scheinung tritt. Doch hat es nicht an solchen gefehlt, die sich mitLeidenschaft gerade an diese oberflächliche Seite der Sache ge-halten haben. Unter diesen hat Duhamel sich am radikalsten

28 Georges Duhamel: Scènes de la vie future. 2e éd., Paris 930, p. 52.29 Der Film ist die der gesteigerten Lebensgefahr, der die Heutigen ins Auge zusehen haben, entsprechende Kunstform. Das Bedürfnis, sich Chockwirkungen auszu-setzen, ist eine Anpassung der Menschen an die sie bedrohenden Gefahren. Der Filmentspricht tiefgreifenden Veränderungen des Apperzeptionsapparates – Veränderun-gen, wie sie im Maßstab der Privatexistenz jeder Passant im Großstadtverkehr, wiesie im geschichtlichen Maßstab jeder heutige Staatsbürger erlebt.30 Wie für den Dadaismus sind dem Film auch für den Kubismus und Futurismuswichtige Aufschlüsse abzugewinnen. Beide erscheinen als mangelhafte Versuche derKunst, ihrerseits der Durchdringung der Wirklichkeit mit der Apparatur Rechnungzu tragen. Diese Schulen unternahmen ihren Versuch, zum Unterschied vom Film,nicht durch Verwertung der Apparatur für die künstlerische Darstellung der Realität,sondern durch eine Art von Legierung von dargestellter Wirklichkeit und dargestellterApparatur. Dabei spielt die vorwiegende Rolle im Kubismus die Vorahnung von derKonstruktion dieser Apparatur, die auf der Optik beruht; im Futurismus die Vor-ahnung der Effekte dieser Apparatur, die im rapiden Ablauf des Filmbands zurGeltung kommen.

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geäußert. Was er dem Film vor allem verdenkt, ist die Art desAnteils, welchen er bei den Massen erweckt. Er nennt den Film»einen Zeitvertreib für Heloten, eine Zerstreuung für ungebil-dete, elende, abgearbeitete Kreaturen, die von ihren Sorgenverzehrt werden … ein Schauspiel, das keinerlei Konzentrationverlangt, kein Denkvermögen voraussetzt …, kein Licht in denHerzen entzündet und keinerlei andere Hoffnung erweckt alsdie lächerliche, eines Tages in Los Angeles ›Star‹ zu werden.«3

Man sieht, es ist im Grunde die alte Klage, daß die MassenZerstreuung suchen, die Kunst aber vom Betrachter Sammlungverlangt. Das ist ein Gemeinplatz. Bleibt nur die Frage, ob ereinen Standort für die Untersuchung des Films abgibt. – Hierheißt es, näher zusehen. Zerstreuung und Sammlung stehen ineinem Gegensatz, der folgende Formulierung erlaubt: Der vordem Kunstwerk sich Sammelnde versenkt sich darein; er gehtin dieses Werk ein, wie die Legende es von einem chinesischenMaler beim Anblick seines vollendeten Bildes erzählt. Dage-gen versenkt die zerstreute Masse ihrerseits das Kunstwerk insich. Am sinnfälligsten die Bauten. Die Architektur bot von je-her den Prototyp eines Kunstwerks, dessen Rezeption in derZerstreuung und durch das Kollektivum erfolgt. Die Gesetzeihrer Rezeption sind die lehrreichsten.Bauten begleiten die Menschheit seit ihrer Urgeschichte. VieleKunstformen sind entstanden und sind vergangen. Die Tragö-die entsteht mit den Griechen, um mit ihnen zu verlöschen undnach Jahrhunderten nur ihren »Regeln« nach wieder aufzule-ben. Das Epos, dessen Ursprung in der Jugend der Völker liegt,erlischt in Europa mit dem Ausgang der Renaissance. Die Tafel-malerei ist eine Schöpfung des Mittelalters, und nichts gewähr-leistet ihr eine ununterbrochene Dauer. Das Bedürfnis desMenschen nach Unterkunft aber ist beständig. Die Baukunst hatniemals brach gelegen. Ihre Geschichte ist länger als die jederanderen Kunst und ihre Wirkung sich zu vergegenwärtigen vonBedeutung für jeden Versuch, vom Verhältnis der Massen zumKunstwerk sich Rechenschaft abzulegen. Bauten werden aufdoppelte Art rezipiert: durch Gebrauch und deren Wahrneh-mung. Oder besser gesagt: taktil und optisch. Es gibt von solcher

3 Duhamel. l. c. ‹S. 39›, p. 58.

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Rezeption keinen Begriff, wenn man sie sich nach Art der ge-sammelten vorstellt, wie sie z. B. Reisenden vor berühmtenBauten geläufig ist. Es besteht nämlich auf der taktilen Seitekeinerlei Gegenstück zu dem, was auf der optischen die Kontem-plation ist. Die taktile Rezeption erfolgt nicht sowohl auf demWege der Aufmerksamkeit als auf dem der Gewohnheit. DerArchitektur gegenüber bestimmt diese letztere weitgehend sogardie optische Rezeption. Auch sie findet von Hause aus viel weni-ger in einem gespannten Aufmerken als in einem beiläufigenBemerken statt. Diese an der Architektur gebildete Rezeptionhat aber unter gewissen Umständen kanonischen Wert. Denn:Die Aufgaben, welche in geschichtlichen Wendezeiten demmenschlichen Wahrnehmungsapparat gestellt werden, sind aufdem Wege der bloßen Optik, also der Kontemplation, gar nichtzu lösen. Sie werden allmählich nach Anleitung der taktilen Re-zeption, durch Gewöhnung, bewältigt.Gewöhnen kann sich auch der Zerstreute. Mehr: gewisse Auf-gaben in der Zerstreuung bewältigen zu können, erweist erst,daß sie zu lösen einem zur Gewohnheit geworden ist. Durchdie Zerstreuung, wie die Kunst sie zu bieten hat, wird unterder Hand kontrolliert, wie weit neue Aufgaben der Apperzep-tion lösbar geworden sind. Da im übrigen für den Einzelnen dieVersuchung besteht, sich solchen Aufgaben zu entziehen, sowird die Kunst deren schwerste und wichtigste da angreifen, wosie Massen mobilisieren kann. Sie tut es gegenwärtig im Film.Die Rezeption in der Zerstreuung, die sich mit wachsendemNachdruck auf allen Gebieten der Kunst bemerkbar macht unddas Symptom von tiefgreifenden Veränderungen der Apper-zeption ist, hat am Film ihr eigentliches Übungsinstrument. Inseiner Chockwirkung kommt der Film dieser Rezeptionsformentgegen. Der Film drängt den Kultwert nicht nur dadurchzurück, daß er das Publikum in eine begutachtende Haltungbringt, sondern auch dadurch, daß die begutachtende Haltungim Kino Aufmerksamkeit nicht einschließt. Das Publikum istein Examinator, doch ein zerstreuter.

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NACHWORT

Die zunehmende Proletarisierung der heutigen Menschen unddie zunehmende Formierung von Massen sind zwei Seiten einesund desselben Geschehens. Der Faschismus versucht, die neuentstandenen proletarisierten Massen zu organisieren, ohne dieEigentumsverhältnisse, auf deren Beseitigung sie hindrängen,anzutasten. Er sieht sein Heil darin, die Massen zu ihrem Aus-druck (beileibe nicht zu ihrem Recht) kommen zu lassen32. DieMassen haben ein Recht auf Veränderung der Eigentumsver-hältnisse; der Faschismus sucht ihnen einen Ausdruck in derenKonservierung zu geben. Der Faschismus läuft folgerecht aufeine Ästhetisierung des politischen Lebens hinaus. Der Verge-waltigung der Massen, die er im Kult eines Führers zu Bodenzwingt, entspricht die Vergewaltigung einer Apparatur, die erder Herstellung von Kultwerten dienstbar macht.Alle Bemühungen um die Ästhetisierung der Politik gipfeln ineinem Punkt. Dieser eine Punkt ist der Krieg. Der Krieg, undnur der Krieg, macht es möglich, Massenbewegungen größtenMaßstabs unter Wahrung der überkommenen Eigentumsver-hältnisse ein Ziel zu geben. So formuliert sich der Tatbestandvon der Politik her. Von der Technik her formuliert er sichfolgendermaßen: Nur der Krieg macht es möglich, die sämtli-chen technischen Mittel der Gegenwart unter Wahrung derEigentumsverhältnisse zu mobilisieren. Es ist selbstverständlich,daß die Apotheose des Krieges durch den Faschismus sich nicht

32 Hier ist, besonders mit Rücksicht auf die Wochenschau, deren propagandistischeBedeutung kaum überschätzt werden kann, ein technischer Umstand von Wichtigkeit.Der massenweisen Reproduktion kommt die Reproduktion von Massen besondersentgegen. In den großen Festaufzügen, den Monstreversammlungen, in den Massen-veranstaltungen sportlicher Art und im Krieg, die heute sämtlich der Aufnahme-apparatur zugeführt werden, sieht die Masse sich selbst ins Gesicht. Dieser Vorgang,dessen Tragweite keiner Betonung bedarf, hängt aufs engste mit der Entwicklung derReproduktions- bzw. Aufnahmetechnik zusammen. Massenbewegungen stellen sich imallgemeinen der Apparatur deutlicher dar als dem Blick. Kaders von Hunderttau-senden lassen sich von der Vogelperspektive aus am besten erfassen. Und wenn diesePerspektive dem menschlichen Auge ebensowohl zugänglich ist wie der Apparatur, soist doch an dem Bilde, das das Auge davonträgt, die Vergrößerung nicht möglich,welcher die Aufnahme unterzogen wird. Das heißt, daß Massenbewegungen, und soauch der Krieg, eine der Apparatur besonders entgegenkommende Form des mensch-lichen Verhaltens darstellen.

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dieser Argumente bedient. Trotzdem ist ein Blick auf sie lehr-reich. In Marinettis Manifest zum äthiopischen Kolonialkriegheißt es: »Seit siebenundzwanzig Jahren erheben wir Futuristenuns dagegen, daß der Krieg als antiästhetisch bezeichnet wird

… Demgemäß stellen wir fest: … Der Krieg ist schön, weil erdank der Gasmasken, der schreckenerregenden Megaphone, derFlammenwerfer und der kleinen Tanks die Herrschaft desMenschen über die unterjochte Maschine begründet. Der Kriegist schön, weil er die erträumte Metallisierung des menschlichenKörpers inauguriert. Der Krieg ist schön, weil er eine blühendeWiese um die feurigen Orchideen der Mitrailleusen bereichert.Der Krieg ist schön, weil er das Gewehrfeuer, die Kanonaden,die Feuerpausen, die Parfüms und Verwesungsgerüche zu einerSymphonie vereinigt. Der Krieg ist schön, weil er neue Archi-tekturen, wie die der großen Tanks, der geometrischen Flieger-geschwader, der Rauchspiralen aus brennenden Dörfern undvieles andere schafft … Dichter und Künstler des Futurismus

… erinnert Euch dieser Grundsätze einer Ästhetik des Krieges,damit Euer Ringen um eine neue Poesie und eine neue Pla-stik … von ihnen erleuchtet werde!«33

Dieses Manifest hat den Vorzug der Deutlichkeit. Seine Frage-stellung verdient von dem Dialektiker übernommen zu werden.Ihm stellt sich die Ästhetik des heutigen Krieges folgender-maßen dar: wird die natürliche Verwertung der Produktiv-kräfte durch die Eigentumsordnung hintangehalten, so drängtdie Steigerung der technischen Behelfe, der Tempi, der Kraft-quellen nach einer unnatürlichen. Sie findet sie im Kriege, dermit seinen Zerstörungen den Beweis dafür antritt, daß die Ge-sellschaft nicht reif genug war, sich die Technik zu ihrem Organzu machen, daß die Technik nicht ausgebildet genug war, diegesellschaftlichen Elementarkräfte zu bewältigen. Der imperia-listische Krieg ist in seinen grauenhaftesten Zügen bestimmtdurch die Diskrepanz zwischen den gewaltigen Produktions-mitteln und ihrer unzulänglichen Verwertung im Produktions-prozeß (mit anderen Worten, durch die Arbeitslosigkeit undden Mangel an Absatzmärkten). Der imperialistische Krieg istein Aufstand der Technik, die am »Menschenmaterial« dieAnsprüche eintreibt, denen die Gesellschaft ihr natürliches

33 cit. La Stampa Torino.

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Material entzogen hat. Anstatt Flüsse zu kanalisieren, lenkt sieden Menschenstrom in das Bett ihrer Schützengräben, anstattSaaten aus ihren Aeroplanen zu streuen, streut sie Brandbombenüber die Städte hin, und im Gaskrieg hat sie ein Mittel gefun-den, die Aura auf neue Art abzuschaffen.»Fiat ars – pereat mundus« sagt der Faschismus und erwartetdie künstlerische Befriedigung der von der Technik verändertenSinneswahrnehmung, wie Marinetti bekennt, vom Kriege. Dasist offenbar die Vollendung des l a̓rt pour l a̓rt. Die Menschheit,die einst bei Homer ein Schauobjekt für die Olympischen Göt-ter war, ist es nun für sich selbst geworden. Ihre Selbstentfrem-dung hat jenen Grad erreicht, der sie ihre eigene Vernichtungals ästhetischen Genuß ersten Ranges erleben läßt. So steht esum die Ästhetisierung der Politik, welche der Faschismus be-treibt. Der Kommunismus antwortet ihm mit der Politisierungder Kunst.

Kleine Geschichte der Photographie

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Der Nebel, der über den Anfängen der Photographie Hegt, istnicht ganz so dicht wie jener, der über den Beginn des Buch-drucks sich lagert; kenntlicher vielleicht als für diesen ist, daßdie Stunde für die Erfindung gekommen war und von mehr alseinem verspürt wurde; Männern, die unabhängig voneinanderdem gleichen Ziele zustrebten: die Bilder in der camera obscura,die spätestens seit Leonardo bekannt waren, festzuhalten. Alsdas nach ungefähr fünfjährigen Bemühungen Niepce und Da-guerre zu gleicher Zeit geglückt war, griff der Staat, begünstigtdurch patentrechtliche Schwierigkeiten, auf die die Erfinderstießen, die Sache auf und machte sie unter deren Schadloshal-tung zu einer öffentlichen. Damit waren die Bedingungen einerfortdauernd beschleunigten Entwicklung gegeben, die für langeZeit jeden Rückblick ausschloß. So kommt es, daß die histori-schen oder, wenn man will, philosophischen Fragen, die Aufstiegund Verfall der Photographie nahelegen, jahrzehntelang un-beachtet geblieben sind. Und wenn sie heute beginnen, ins Be-wußtsein zu treten, so hat das einen genauen Grund. Die jüng-ste Literatur schließt an den auffallenden Tatbestand an, daß dieBlüte der Photographie die Wirksamkeit der Hill und Cameron,der Hugo und Nadar – in ihr erstes Jahrzehnt fällt. Das istnun aber das Jahrzehnt, welches ihrer Industrialisierung vor-ausging. Nicht als ob nicht bereits in dieser Frühzeit Markt-schreier und Scharlatane der neuen Technik aus Erwerbsgründensich bemächtigt hätten; sie taten das sogar massenweise. Aberdas stand den Künsten des Jahrmarkts, auf dem die Photogra-phie ja bis heute heimisch gewesen ist, näher als der Industrie.Die eroberte sich das Feld erst mit der Visitkarten-Aufnahme,deren erster Hersteller bezeichnenderweise zum Millionär wur-de. Es wäre nicht zu verwundern, wenn die photographischenPraktiken, die heut zum erstenmal den Blick auf jene vorindu-strielle Blütezeit zurücklenken, in unterirdischem Zusammen-hang mit der Erschütterung der kapitalistischen Industrie stün-den. Darum jedoch ist es um nichts leichter, den Reiz der Bilder,die in den schönen jüngst erschienenen Publikationen alter Photo-graphie vorliegen, für wirkliche Einsichten in deren Wesen

Helmuth Th[eodor] Bossen und Heinrich Guttmann: Aus der Frühzeit der Pho-

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nutzbar zu machen. Überaus rudimentär sind die Versuche, derSache theoretisch Herr zu werden. Und so viele Debatten imvorigen Jahrhundert über sie geführt wurden, im Grunde habensie sich nicht von dem skurrilen Schema freigemacht, mit demein chauvinistisches Blättchen, der »Leipziger Anzeiger«, glaub-te, beizeiten der französischen Teufelskunst entgegentretenzu müssen. »Flüchtige Spiegelbilder festhalten zu wollen,heißt es da, dies ist nicht bloß ein Ding der Unmöglichkeit,wie es sich nach gründlicher deutscher Untersuchung herausge-stellt hat, sondern schon der Wunsch, dies zu wollen, ist eineGotteslästerung. Der Mensch ist nach dem Ebenbilde Gottesgeschaffen und Gottes Bild kann durch keine menschliche Ma-schine festgehalten werden. Höchstens der göttliche Künstlerdarf, begeistert von himmlischer Eingebung, es wagen, die gott-menschlichen Züge, im Augenblick höchster Weihe, auf denhöheren Befehl seines Genius, ohne jede Maschinenhilfe wieder-zugeben.« Hier tritt mit dem Schwergewicht seiner Plumpheitder Banausenbegriff von der »Kunst« auf, dem jede technischeErwägung fremd ist und welcher mit dem provozierenden Er-scheinen der neuen Technik sein Ende gekommen fühlt. Dem-ungeachtet ist es dieser fetischistische, von Grund auf antitech-nische Begriff von Kunst, mit dem die Theoretiker der Photo-graphie fast hundert Jahre lang die Auseinandersetzung such-ten, natürlich ohne zum geringsten Ergebnis zu kommen. Dennsie unternahmen nichts anderes, als den Photographen vor ebenjenem Richterstuhl zu beglaubigen, den er umwarf. Da wehteine ganz andere Luft aus dem Exposé, mit dem der PhysikerArago als Fürsprecher der Daguerreschen Erfindung am 3. Juli839 vor die Kammer der Deputierten trat. Es ist das Schönean dieser Rede, wie sie an alle Seiten menschlicher Tätigkeit denAnschluß findet. Das Panorama, das sie entwirft, ist groß genug,um die zweifelhafte Beglaubigung der Photographie vor derMalerei, die auch in ihm nicht fehlt, belanglos erscheinen, viel-mehr die Ahnung von der wirklichen Tragweite der Erfindungsich entfalten zu lassen. »Wenn Erfinder eines neuen Instru-mentes«, sagt Arago, »dieses zur Beobachtung der Natur anwen-

tographie. 840-70. Ein Bildbuch nach 200 Originalen. Frankfurt am Main 930. –Heinrich Schwarz: David Octavius Hill. Der Meister der Photographie. Mit 80Bildtafeln. Leipzig 93.

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den, so ist das, was sie davon gehofft haben, immer eine Kleinig-keit im Vergleich zu der Reihe nachfolgender Entdeckungen,wovon das Instrument der Ursprung war.« In großem Bogenumspannt diese Rede das Gebiet der neuen Technik von derAstrophysik bis zur Philologie: neben dem Ausblick auf dieSternphotographie steht die Idee, ein corpus der ägyptischenHieroglyphen aufzunehmen.Daguerres Lichtbilder waren jodierte und in der camera obscurabelichtete Silberplatten, die hin- und hergewendet sein wollten,bis man in richtiger Beleuchtung ein zartgraues Bild darauf er-kennen konnte. Sie waren unica; im Durchschnitt bezahlte manim Jahre 839 für eine Platte 25 Goldfrank. Nicht selten wur-den sie wie Schmuck in Etuis verwahrt. In der Hand mancherMaler aber verwandelten sie sich in technische Hilfsmittel. Wiesiebzig Jahre später Utrillo seine faszinierenden Ansichten vonden Häusern der Bannmeile -von Paris nicht nach der Natur,sondern nach Ansichtskarten verfertigte, so legte der geschätzteenglische Porträtmaler David Octavius Hill seinem Fresko derersten Generalsynode der schottischen Kirche im Jahre 843 einegroße Reihe von Porträtaufnahmen zugrunde. Diese Aufnah-men aber machte er selbst. Und sie, anspruchslose, zum internenGebrauch bestimmte Behelfe, sind es, die seinem Namen diehistorische Stelle geben, während er als Maler verschollen ist.Freilich führen tiefer noch als die Reihen dieser Porträtköpfein die neue Technik einige Studien ein: namenlose Menschen-bilder, nicht Porträts. Solche Köpfe gab es längst auf Ge-mälden. Blieben sie im Familienbesitz, fragte man hin und wie-der noch nach den Dargestellten. Nach zwei, drei Generationenaber ist dies Interesse verstummt: die Bilder, soweit sie dauern,tun es nur als Zeugnis für die Kunst dessen, der sie gemalt hat.Bei der Photographie aber begegnet man etwas Neuem undSonderbarem: in jenem Fischweib aus New Haven, das mit solässiger, verführerischer Scham zu Boden blickt, bleibt etwas,was im Zeugnis für die Kunst des Photographen Hill nichtaufgeht, etwas, was nicht zum Schweigen zu bringen ist, unge-bärdig nach dem Namen derer verlangend, die da gelebt hat, dieauch hier noch wirklich ist und niemals gänzlich in die »Kunst«wird eingehen wollen. »Und ich frage: wie hat dieser haare zier |Und dieses blickes die früheren wesen umzingelt | Wie

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dieser mund hier geküßt zu dem die begier | Sinnlos hinanals rauch ohne flamme sich ringelt!« Oder man schlägt das Bildvon Dauthendey, dem Photographen, auf, dem Vater des Dich-ters, aus der Zeit des Brautstands mit jener Frau, die er danneines Tages, kurz nach der Geburt ihres sechsten Kindes, imSchlafzimmer seines Moskauer Hauses mit durchschnittenenPulsadern liegen fand. Sie ist hier neben ihm zu sehen, er scheintsie zu halten; ihr Blick aber geht an ihm vorüber, saugend aneine unheilvolle Ferne geheftet. Hat man sich lange genug in soein Bild vertieft, erkennt man, wie sehr auch hier die Gegensätzesich berühren: die exakteste Technik kann ihren Hervorbrin-gungen einen magischen Wert geben, wie für uns ihn ein gemal-tes Bild nie mehr besitzen kann. Aller Kunstfertigkeit des Pho-tographen und aller Planmäßigkeit in der Haltung seines Mo-dells zum Trotz fühlt der Beschauer unwiderstehlich den Zwang,in solchem Bild das winzige Fünkchen Zufall, Hier und Jetzt,zu suchen, mit dem die Wirklichkeit den Bildcharakter gleich-sam durchgesengt hat, die unscheinbare Stelle zu finden, inwelcher, im Sosein jener längstvergangenen Minute das Künfti-ge noch heut und so beredt nistet, daß wir, rückblickend, es ent-decken können. Es ist ja eine andere Natur, welche zur Kameraals welche zum Auge spricht; anders vor allem so, daß an dieStelle eines vom Menschen mit Bewußtsein durchwirkten Raumsein unbewußt durchwirkter tritt. Ist es schon üblich, daß einer,beispielsweise, vom Gang der Leute, sei es auch nur im groben,sich Rechenschaft gibt, so weiß er bestimmt nichts mehr vonihrer Haltung im Sekundenbruchteil des »Ausschreitens«. DiePhotographie mit ihren Hilfsmitteln: Zeitlupen, Vergrößerun-gen erschließt sie ihm. Von diesem Optisch-Unbewußten erfährter erst durch sie, wie von dem Triebhaft-Unbewußten durch diePsychoanalyse. Strukturbeschaffenheiten, Zellgewebe, mit denenTechnik, Medizin zu rechnen pflegen – all dieses ist der Kameraursprünglich verwandter als die stimmungsvolle Landschaftoder das seelenvolle Porträt. Zugleich aber eröffnet die Photo-graphie in diesem Material die physiognomischen Aspekte,Bildwelten, welche im Kleinsten wohnen, deutbar und verbor-gen genug, um in Wachträumen Unterschlupf gefunden zu haben,nun aber, groß und formulierbar wie sie geworden sind, dieDifferenz von Technik und Magie als durch und durch histori-

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sehe Variable ersichtlich zu machen. So hat Bloßfeldt2 mit seinenerstaunlichen Pflanzenphotos in Schachtelhalmen älteste Säu-lenformen, im Straußfarn den Bischofsstab, im zehnfach ver-größerten Kastanien- und Ahornsproß Totembäume, in derWeberkarde gotisches Maßwerk zum Vorschein gebracht. Darumsind wohl auch die Modelle eines Hill nicht weit von der Wahr-heit entfernt gewesen, wenn ihnen »das Phänomen der Photo-graphie« noch »ein großes geheimnisvolles Erlebnis« war; magdas für sie auch nichts als das Bewußtsein gewesen sein, »voreinem Apparat zu stehen, der in kürzester Zeit ein Bild dersichtbaren Umwelt erzeugen konnte, das so lebendig und wahr-haft wirkte wie die Natur selbst.« Man hat von der KameraHills gesagt, daß sie diskrete Zurückhaltung wahre. Seine Mo-delle ihrerseits sind aber nicht weniger reserviert; sie behalteneine gewisse Scheu vor dem Apparat, und der Leitsatz einesspäteren Photographen aus der Blütezeit: »Sieh nie in die Ka-mera« könnte aus ihrem Verhalten abgeleitet sein. Doch wardamit nicht jenes »sehen dich an« von Tieren, Menschen oderBabys gemeint, das den Käufer auf so unsaubere Weise einmengtund dem nichts besseres entgegenzusetzen ist als die Wendung,mit welcher der alte Dauthendey von der Daguerreotypiespricht: »Man getraute sich … zuerst nicht, so berichtete er, dieersten Bilder, die er anfertigte, lange anzusehen. Man scheutesich vor der Deutlichkeit der Menschen und glaubte, daß diekleinen winzigen Gesichter der Personen, die auf dem Bildewaren, einen selbst sehen könnten, so verblüffend wirkte dieungewohnte Deutlichkeit und die ungewohnte Naturtreue derersten Daguerreotypbilder auf jeden«.Diese ersten reproduzierten Menschen traten in den Blickraumder Photographie unbescholten oder besser gesagt unbeschriftet.Noch waren Zeitungen Luxusgegenstände, die man selten käuf-lich erwarb, eher in Cafehäusern einsah, noch war das photo-graphische Verfahren nicht zu ihrem Werkzeug geworden, nochsahen die wenigsten Menschen ihren Namen gedruckt. Dasmenschliche Antlitz hatte ein Schweigen um sich, in dem derBlick ruhte. Kurz, alle Möglichkeiten dieser Porträtkunst beru-hen darauf, daß noch die Berührung zwischen Aktualität und

2 Karl Bloßfeldt: Urformen der Kunst. Photographische Pflanzenbilder. Hrsg. miteiner Einleitung von Karl Nierendorf. 20 Bildtafeln. Berlin o. J. [928].

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Photo nicht eingetreten ist. Auf dem Edinburgher Friedhof vonGreyfriars sind viele Bildnisse Hills entstanden – nichts ist fürdiese Frühzeit bezeichnender, es sei denn, wie die Modelle aufihm zu Hause waren. Und wirklich ist dieser Friedhof nacheinem Bilde, das Hill gemacht hat, selbst wie ein Interieur, einabgeschiedener, eingehegter Raum, wo, an Brandmauern ge-lehnt, aus dem Grasboden Grabmäler aufsteigen, die, ausge-höhlt wie Kamine, in ihrem Innern Schriftzüge statt der Flam-menzungen zeigen. Nie aber hätte dies Lokal zu seiner großenWirkung kommen können, wäre seine Wahl nicht technischbegründet gewesen. Geringere Lichtempfindlichkeit der frühenPlatten machte eine lange Belichtung im Freien erforderlich.Diese wiederum ließ es wünschenswert scheinen, den Aufzuneh-menden in möglichster Abgeschiedenheit an einem Orte unter-zubringen, wo ruhiger Sammlung nichts im Wege stand. »DieSynthese des Ausdruckes, die durch das lange Stillhalten des Mo-dells erzwungen wird, sagt Orlik von der frühen Photographie,ist der Hauptgrund, weshalb diese Lichtbilder neben ihrerSchlichtheit gleich guten gezeichneten oder gemalten Bildnisseneine eindringlichere und länger andauernde Wirkung auf denBeschauer ausüben als neuere Photographien.« Das Verfahrenselbst veranlaßte die Modelle, nicht aus dem Augenblick heraus,sondern in ihn hinein zu leben; während der langen Dauer die-ser Aufnahmen wuchsen sie gleichsam in das Bild hinein undtraten so in den entschiedensten Kontrast zu den Erscheinungenauf einer Momentaufnahme, die jener veränderten Umwelt ent-spricht, in der es, wie Kracauer treffend bemerkt hat, von dem-selben Bruchteil einer Sekunde, den die Belichtung dauert, ab-hängt, »ob ein Sportsmann so berühmt wird, daß ihn imAuftrag der Illustrierten die Photographen belichten«. Alles andiesen frühen Bildern war angelegt zu dauern; nicht nur dieunvergleichlichen Gruppen, zu denen die Leute zusammentra-ten – und deren Verschwinden gewiß eins der präzisestenSymptome dessen war, was in der zweiten Hälfte des Jahrhun-derts in der Gesellschaft vorging – selbst die Falten, die einGewand auf diesen Bildern wirft, halten länger. Man betrachtenur Schellings Rock; der kann recht zuversichtlich mit in dieUnsterblichkeit hinübergehen; die Formen, die er an seinemTräger annahm, sind der Falten in dessen Antlitz nicht unwert.

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Kurz, alles spricht dafür, Bernard von Brentano habe mit seinerVermutung recht, »daß ein Photograph von 850 auf der glei-chen Höhe mit seinem Instrument stand« – zum ersten- undfür lange zum letztenmal.Man muß im übrigen, um sich die gewaltige Wirkung der Da-guerreotypie im Zeitalter ihrer Entdeckung ganz gegenwärtig zumachen, bedenken, daß die Pleinairmalerei damals den vorge-schrittensten unter den Malern ganz neue Perspektiven zu ent-decken begonnen hatte. Im Bewußtsein, daß gerade in dieserSache die Photographie von der Malerei die Stafette zu über-nehmen habe, heißt es denn auch bei Arago im historischenRückblick auf die frühen Versuche Giovanni Battista Portasausdrücklich: »Was die Wirkung betrifft, welche von der unvoll-kommenen Durchsichtigkeit unserer Atmosphäre abhängt (undwelche man durch den uneigentlichen Ausdruck ›Luftperspek-tive‹ charakterisiert hat), so hoffen selbst die geübten Malernicht, daß die camera obscura« – will sagen das Kopieren derin ihr erscheinenden Bilder – »ihnen dazu behilflich sein könnte,dieselben mit Genauigkeit hervorzubringen.« Im Augenblick, daes Daguerre geglückt war, die Bilder der camera obscura zufixieren, waren die Maler an diesem Punkte vom Techniker ver-abschiedet worden. Das eigentliche Opfer der Photographie aberwurde nicht die Landschaftsmalerei, sondern die Porträtminia-tur. Die Dinge entwickelten sich so schnell, daß schon um 840die meisten unter den zahllosen Miniaturmalern Berufsphoto-graphen wurden, zunächst nur nebenher, bald aber ausschließ-lich. Dabei kamen ihnen die Erfahrungen ihrer ursprünglichenBrotarbeit zustatten, und nicht ihre künstlerische, sondern ihrehandwerkliche Vorbildung ist es, der man das hohe Niveauihrer photographischen Leistungen zu verdanken hat. Sehr all-mählich verschwand diese Generation des Übergangs; ja esscheint eine Art von biblischem Segen auf jenen ersten Photo-graphen geruht zu haben: die Nadar, Stelzner, Pierson, Bayardsind alle an die Neunzig oder Hundert herangerückt. Schließ-lich aber drangen von überallher Geschäftsleute in den Standder Berufsphotographen ein, und als dann späterhin die Negativ-retusche, mit welcher der schlechte Maler sich an der Photogra-phie rächte, allgemein üblich wurde, setzte ein jäher Verfall desGeschmacks ein. Das war die Zeit, da die Photographiealben

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sich zu füllen begannen. An den frostigsten Stellen der Wohnung,auf Konsolen oder Gueridons im Besuchszimmer, fanden sie sicham liebsten: Lederschwarten mit abstoßenden Metallbeschlägenund den fingerdicken goldumrandeten Blättern, auf denen när-risch drapierte oder verschnürte Figuren – Onkel Alex undTante Riekchen, Trudehen wie sie noch klein war, Papa im erstenSemester – verteilt waren und endlich, um die Schande voll zumachen, wir selbst: als Salontiroler, jodelnd, den Hut gegengepinselte Firnen schwingend, oder als adretter Matrose, Stand-bein und Spielbein, wie es sich gehört, gegen einen poliertenPfosten gelehnt. Noch erinnert die Staffage solcher Porträts mitihren Postamenten, Balustraden und ovalen Tischchen an dieZeit, da man der langen Expositionsdauer wegen den ModellenStützpunkte geben mußte, damit sie fixiert blieben. Hatte mananfangs mit »Kopfhalter« oder »Kniebrille« sich begnügt, sofolgte bald »weiteres Beiwerk, wie es in berühmten Gemäldenvorkam und darum ›künstlerisch‹ sein mußte. Zunächst wares die Säule und der Vorhang«. Gegen diesen Unfug mußten sichfähigere Männer schon in den sechziger Jahren wenden. So heißtes damals in einem englischen Fachblatt: »In gemalten Bildernhat die Säule einen Schein von Möglichkeit, die Art aber, wie siein der Photographie angewendet wird, ist absurd; denn sie stehtgewöhnlich auf einem Teppich. Nun wird aber jedermann über-zeugt sein, daß Marmor- oder Steinsäulen nicht mit einem Tep-pich als Fundament aufgebaut werden.« Damals sind jene Ate-liers mit ihren Draperien und Palmen, Gobelins und Staffeleienentstanden, die so zweideutig zwischen Exekution und Repräsen-tation, Folterkammer und Thronsaal schwankten und aus denenein erschütterndes Zeugnis ein frühes Bildnis von Kafka bringt.Da steht in einem engen, -gleichsam demütigenden, mit Posa-menten überladenen Kinderanzug der ungefähr sechsjährigeKnabe in einer Art von Wintergartenlandschaft. Palmenwedelstarren im Hintergrund. Und als gelte es, diese gepolstertenTropen noch stickiger und schwüler zu machen, trägt das Modellin der Linken einen unmäßig großen Hut mit breiter Krempe,wie ihn Spanier haben. Gewiß, daß es in diesem Arrangementverschwände, wenn nicht die unermeßlich traurigen Augen dieseihnen vorbestimmte Landschaft beherrschen würden.Dies Bild in seiner uferlosen Trauer ist ein Pendant der frühen

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Photographie, auf welcher die Menschen noch nicht abgesprengtund gottverloren in die Welt sahen wie hier der Knabe. Es wareine Aura um sie, ein Medium, das ihrem Blick, indem er esdurchdringt, die Fülle und die Sicherheit gibt. Und wieder liegtdas technische Äquivalent davon auf der Hand; es besteht indem absoluten Kontinuum von hellstem Licht zu dunkelstemSchatten. Auch hier bewährt sich im übrigen das Gesetz derVorverkündung neuerer Errungenschaften in älterer Technik,indem die ehemalige Porträtmalerei vor ihrem Niedergange eineeinzigartige Blüte der Schabkunst heraufgeführt hatte. Freilichhandelte es sich in diesem Schabkunstverfahren um eine Repro-duktionstechnik, wie sie sich mit der neuen photographischenerst später vereinigte. Wie auf Schabkunstblättern ringt sich beieinem Hill mühsam das Licht aus dem Dunkel: Orlik sprichtvon der durch die lange Expositionsdauer veranlaßten »zusam-menfassenden Lichtführung«, die »diesen früheren Lichtbildernihre Größe« gibt. Und unter den Zeitgenossen der Erfindungbemerkte schon Delaroche den früher »nie erreichten, köstlichen,in nichts die Ruhe der Massen störenden« allgemeinen Eindruck.Soviel vom technischen Bedingtsein der auratischen Erscheinung.Besonders manche Gruppenaufnahmen halten ein beschwingtesMiteinander noch einmal fest, wie es hier für eine kurze Spanneauf der Platte erscheint, bevor es an der »Originalaufnahme«zugrunde geht. Es ist dieser Hauchkreis, der schön und sinnvollbisweilen durch die nunmehr altmodische ovale Form des Bild-ausschnitts umschrieben wird. Darum heißt es diese Inkunabelnder Photographie mißdeuten, in ihnen die »künstlerische Voll-endung« oder den »Geschmack« zu betonen. Diese Bilder sindin Räumen entstanden, in denen jedem Kunden im Photogra-phen vorab ein Techniker nach der neuesten Schule entgegentrat,dem Photographen aber in jedem Kunden der Angehörige einerim Aufstieg befindlichen Klasse mit einer Aura, die bis in dieFalten des Bürgerrocks oder der Lavalliere sich eingenistethatte. Denn das bloße Erzeugnis einer primitiven Kamera istjene Aura ja nicht. Vielmehr entsprechen sich in jener FrühzeitObjekt und Technik genau so scharf, wie sie in der anschließen-den Verfallsperiode auseinandertreten. Bald nämlich verfügteeine fortgeschrittene Optik über Instrumente, die das Dunkelganz überwanden und die Erscheinungen spiegelhaft aufzeichne-

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ten. Die Photographen jedoch sahen in der Zeit nach 880 ihreAufgabe vielmehr darin, die Aura, die von Hause aus mit derVerdrängung des Dunkels durch lichtstärkere Objektive aus demBilde genau so verdrängt wurde wie durch die zunehmendeEntartung des imperialistischen Bürgertums aus der Wirklich-keit – sie sahen es als ihre Aufgabe an, diese Aura durch alleKünste der Retusche, insbesondere jedoch durch sogenannteGummidrucke vorzutäuschen. So wurde, zumal im Jugendstil,ein schummeriger Ton, von künstlichen Reflexen unterbrochen,Mode; dem Zwielicht zum Trotz aber zeichnete immer klarereine Pose sich ab, deren Starrheit die Ohnmacht jener Genera-tion im Angesicht des technischen Fortschritts verriet.Und doch ist, was über die Photographie entscheidet, immerwieder das Verhältnis des Photographen zu seiner Technik. Ca-mille Recht hat es in einem hübschen Bilde gekennzeichnet. »DerGeigenspieler, sagt er, muß den Ton erst bilden, muß ihnsuchen, blitzschnell finden, der Klavierspieler schlägt die Tastean: der Ton erklingt. Das Instrument steht dem Maler wie demPhotographen zur Verfügung. Zeichnung und Farbengebungdes Malers entsprechen der Tonbildung des Geigenspiels, derPhotograph hat mit dem Klavierspieler das Maschinelle voraus,das einschränkenden Gesetzen unterworfen ist, die dem Geigerlange nicht den gleichen Zwang auferlegen. Kein Paderewskiwird jemals den Ruhm ernten, den beinahe sagenhaften Zau-ber ausüben, den ein Paganini geerntet, den er ausgeübt hat.« Esgibt aber, um im Bilde zu bleiben, einen Busoni der Photogra-phie, und der ist Atget. Beide waren Virtuosen, zugleich aberVorläufer. Das beispiellose Aufgehen in der Sache, verbundenmit der höchsten Präzision, ist ihnen gemeinsam. Sogar in ihrenZügen gibt es Verwandtes. Atget war ein Schauspieler, der, an-gewidert vom Betrieb, die Maske abwischte und dann daranging, auch die Wirklichkeit abzuschminken. Arm und unbe-kannt lebte er in Paris, seine Photographien schlug er an Lieb-haber los, die kaum weniger exzentrisch sein konnten als er,und vor kurzem ist er, unter Hinterlassung eines ceuvre vonmehr als viertausend Bildern, gestorben. Berenice Abbot ausNew York hat diese Blätter gesammelt, und eine Auswahl vonihnen erscheint soeben in einem hervorragend schönen Bande3,

3 E[ugene] Atget: Lichtbilder. Eingeleitet von Camille Recht. Paris u. Leipzig 930.

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den Camille Recht herausgegeben hat. Die zeitgenössische Pu-blizistik »wußte nichts von dem Mann, der mit seinen Bildernzumeist in den Ateliers herumzog, sie für wenige Groschen ver-schleuderte, oft nur für den Preis einer dieser Ansichtskarten, wiesie um 900 herum die Städtebilder so schön zeigten, in blaueNacht getaucht, mit retuschiertem Mond. Er hat den Pol höchsterMeisterschaft erreicht; aber in der verbissenen Bescheidenheiteines großen Könners, der immer im Schatten lebt, hat er esunterlassen, seine Fahne dort aufzupflanzen. So kann mancherglauben, den Pol entdeckt zu haben, den Atget schon vor ihmbetreten hat.« In der Tat: Atgets Pariser Photos sind dieVorläufer der surrealistischen Photographie; Vortrupps der ein-zigen wirklich breiten Kolonne, die der Surrealismus hat in Be-wegung setzen können. Als erster desinfiziert er die stickigeAtmosphäre, die die konventionelle Porträtphotographie derVerfallsepoche verbreitet hat. Er reinigt diese Atmosphäre, jabereinigt sie: er leitet die Befreiung des Objekts von der Auraein, die das unbezweifelbarste Verdienst der jüngsten Photo-graphenschule ist. Wenn »Bifur« oder »Variete«, Zeitschriftender Avantgarde, unter der Beschriftung »Westminster«, »Lille«,»Antwerpen« oder »Breslau« nur Details bringen, einmal einStück von einer Balustrade, dann einen kahlen Wipfel, dessenÄste vielfältig eine Gaslaterne überschneiden, ein andermaleine Brandmauer oder einen Kandelaber mit einem Rettungs-ring, auf dem der Name der Stadt steht, so sind das nichts alsliterarische Pointierungen von Motiven, die Atget entdeckte. Ersuchte das Verschollene und Verschlagene, und so wenden auchsolche Bilder sich gegen den exotischen, prunkenden, romanti-schen Klang der Stadtnamen; sie saugen die Aura aus der Wirk-lichkeit wie Wasser aus einem sinkenden Schiff. – Was isteigentlich Aura? Ein sonderbares Gespinst von Raum und Zeit:einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. An einemSommermittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont odereinem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Betrachterwirft, bis der Augenblick oder die Stunde Teil an ihrer Er-scheinung hat – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweigesatmen. Nun ist, die Dinge sich, vielmehr den Massen »näher-zubringen«, eine genau so leidenschaftliche Neigung der Heuti-gen, wie die Überwindung des Einmaligen in jeder Lage durch

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deren Reproduzierung. Tagtäglich macht sich unabweisbarerdas Bedürfnis geltend, des Gegenstands aus nächster Nähe imBild, vielmehr im Abbild habhaft zu werden. Und unverkenn-bar unterscheidet sich das Abbild, wie illustrierte Zeitung undWochenschau es in Bereitschaft halten, vom Bilde. Einmaligkeitund Dauer sind in diesem so eng verschränkt wie Flüchtigkeitund Wiederholbarkeit in jenem. Die Entschälung des Gegen-stands aus seiner Hülle, die Zertrümmerung der Aura ist dieSignatur einer Wahrnehmung, deren Sinn für alles Gleichartigeauf der Welt so gewachsen ist, daß sie es mittels der Reproduk-tion auch dem Einmaligen abgewinnt. Atget ist »an den großenSichten und an den sogenannten Wahrzeichen« fast immer vor-übergegangen; nicht aber an einer langen Reihe von Stiefellei-sten; nicht an den Pariser Höfen, wo von abends bis morgensdie Handwagen in Reih und Glied stehen; nicht an den abge-gessenen Tischen und den unaufgeräumten Waschgeschirren, wiesie zu gleicher Zeit zu Hunderttausenden da sind; nicht am Bor-dell rue … no 5, dessen Fünf an vier verschiedenen Stellen derFassade riesengroß erscheint. Merkwürdigerweise sind aber fastalle diese Bilder leer. Leer die Porte d›Arcueil an den fortifs,leer die Prunktreppen, leer die Höfe, leer die Cafehausterrassen,leer, wie es sich gehört, die Place du Tertre. Sie sind nicht ein-sam, sondern stimmungslos; die Stadt auf diesen Bildern istausgeräumt wie eine Wohnung, die noch keinen neuen Mietergefunden hat. Diese Leistungen sind es, in denen die surrealisti-sche Photographie eine heilsame Entfremdung zwischen Umweltund Mensch vorbereitet. Sie macht dem politisch geschultenBlick das Feld frei, dem alle Intimitäten zugunsten der Erhel-lung des Details fallen.Auf der Hand liegt, daß dieser neue Blick am wenigsten daeinzuheimsen hat, wo man sich sonst am läßlichsten erging: inder entgeltlichen, repräsentativen Porträtaufnahme. Anderer-seits ist der Verzicht auf den Menschen für die Photographie derunvollziehbarste unter allen. Und wer es nicht gewußt hat, denhaben die besten Russenfilme es gelehrt, daß auch Milieu undLandschaft unter den Photographen erst dem sich erschließen, dersie in der namenlosen Erscheinung, die sie im Antlitz haben,aufzufassen weiß. Jedoch die Möglichkeit davon ist wieder inhohem Grad bedingt durch den Aufgenommenen. Die Genera-

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tion, die nicht darauf versessen war, in Aufnahmen auf dieNachwelt zu kommen, eher im Angesicht solcher Veranstal-tungen sich etwas scheu in ihren Lebensraum zurückzog – wieSchopenhauer auf dem Frankfurter Bilde um 850 in die Tiefendes Sessels –, eben darum aber diesen Lebensraum mit auf diePlatte gelangen ließ: diese Generation hat ihre Tugenden nichtvererbt. Da gab zum erstenmal seit Jahrzehnten der Spielfilmder Russen Gelegenheit, Menschen vor der Kamera erscheinenzu lassen, die für ihr Photo keine Verwendung haben. Undaugenblicklich trat das menschliche Gesicht mit neuer, unermeß-licher Bedeutung auf die Platte. Aber es war kein Porträt mehr.Was war es? Es ist das eminente Verdienst eines deutschenPhotographen, diese Frage beantwortet zu haben. August San-der4 hat eine Reihe von Köpfen zusammengestellt, die dergewaltigen physiognomischen Galerie, die ein Eisenstein oderPudowkin eröffnet haben, in gar nichts nachsteht, und er tat esunter wissenschaftlichem Gesichtspunkt. »Sein Gesamtwerk istaufgebaut in sieben Gruppen, die der bestehenden Gesellschafts-ordnung entsprechen, und soll in etwa 45 Mappen zu je 2 Licht-bildern veröffentlicht werden.« Bisher liegt davon ein Auswahl-band mit 60 Reproduktionen vor, die unerschöpflichen Stoffzur Betrachtung bieten. »Sander geht vom Bauern, dem erdge-bundenen Menschen aus, führt den Betrachter durch alle Schich-ten und Berufsarten bis zu den Repräsentanten der höchstenZivilisation und abwärts bis zum Idioten.« Der Autor ist andiese ungeheure Aufgabe nicht als Gelehrter herangetreten,nicht von Rassentheoretikern oder Sozialforschern beraten,sondern, wie der Verlag sagt, »aus der unmittelbaren Beobach-tung«. Sie ist bestimmt eine sehr vorurteilslose, ja kühne, zu-gleich aber auch zarte gewesen, nämlich im Sinn des Goethi-schen Wortes: »Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit demGegenstand innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichenTheorie wird.« Demnach ist es ganz in der Ordnung, daß einBetrachter wie Döblin gerade auf die wissenschaftlichen Mo-mente in diesem Werk gestoßen ist und bemerkt: »Wie es einevergleichende Anatomie gibt, aus der man erst zu einer Auffas-sung der Natur und der Geschichte der Organe kommt, so hat

4 August Sander: Antlitz der Zeit. Sechzig Aufnahmen deutscher Menschen des 20.Jahrhunderts. Mit einer Einleitung von Alfred Döblin. München o. J. [929].

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dieser Photograph vergleichende Photographie getrieben undhat damit einen wissenschaftlichen Standpunkt oberhalb derDetailphotographen gewonnen.« Es wäre ein Jammer, wenndie wirtschaftlichen Verhältnisse die weitere Veröffentlichungdieses außerordentlichen corpus verhinderten. Dem Verlag aberkann man neben dieser grundsätzlichen noch eine genauereAufmunterung zuteil werden lassen. Über Nacht könnte Wer-ken wie dem von Sander eine unvermutete Aktualität zuwach-sen. Machtverschiebungen, wie sie bei uns fällig geworden sind,pflegen die Ausbildung, Schärfung der physiognomischen Auf-fassung zur vitalen Notwendigkeit werden zu lassen. Man magvon rechts kommen oder von links – man wird sich darangewöhnen müssen, darauf angesehen zu werden, woher mankommt. Man wird es, seinerseits, den andern anzusehen haben.Sanders Werk ist mehr als ein Bildbuch: ein Übungsatlas.»Es gibt in unserem Zeitalter kein Kunstwerk, das so aufmerk-sam betrachtet würde, wie die Bildnisphotographie des eigenenSelbst, der nächsten Verwandten und Freunde, der Geliebten«,hat schon im Jahre 907 Lichtwark geschrieben und damit dieUntersuchung aus dem Bereich ästhetischer Distinktionen in densozialer Funktionen gerückt. Nur von hier aus kann sie weitervorstoßen. Es ist ja bezeichnend, daß die Debatte sich da ammeisten versteift hat, wo es um die Ästhetik der »Photographieals Kunst« ging, indes man beispielsweise dem soviel fragloserensozialen Tatbestand der »Kunst als Photographie« kaum einenBlick gönnte. Und doch ist die Wirkung der photographischenReproduktion von Kunstwerken für die Funktion der Kunst vonsehr viel größerer Wichtigkeit als die mehr oder minder künst-lerische Gestaltung einer Photographie, der das Erlebnis zur»Kamerabeute« wird. In der Tat ist der heimkehrende Ama-teur mit seiner Unzahl künstlerischer Originalaufnahmen nichterfreulicher als ein Jäger, der vom Anstand mit Massen vonWild zurückkommt, die nur für den Händler verwertbar sind.Und wirklich scheint der Tag vor der Tür zu stehen, da es mehrillustrierte Blätter als Wild- und Geflügelhandlungen gebenwird. Soviel vom »Knipsen«. Doch die Akzente springenvöllig um, wendet man sich von der Photographie als Kunst zurKunst als Photographie. Jeder wird die Beobachtung habenmachen können, wieviel leichter ein Bild, vor allem aber eine

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Plastik, und nun gar Architektur, im Photo sich erfassen lassenals in der Wirklichkeit. Die Versuchung liegt nahe genug, dasschlechterdings auf den Verfall des Kunstsinns, auf ein Versa-gen der Zeitgenossen zu schieben. Dem aber stellt sich die Er-kenntnis in den Weg, wie ungefähr zu gleicher Zeit mit derAusbildung reproduktiver Techniken die Auffassung von großenWerken sich gewandelt hat. Man kann sie nicht mehr als Her-vorbringungen Einzelner ansehen; sie sind kollektive Gebildegeworden, so mächtig, daß, sie zu assimilieren, geradezu an dieBedingung geknüpft ist, sie zu verkleinern. Im Endeffekt sind diemechanischen Reproduktionsmethoden eine Verkleinerungstech-nik und verhelfen dem Menschen zu jenem Grad von Herr-schaft über die Werke, ohne welchen sie gar nicht mehr zur Ver-wendung kommen.Wenn eins die heutigen Beziehungen zwischen Kunst und Photo-graphie kennzeichnet, so ist es die unausgetragene Spannung,welche durch die Photographie der Kunstwerke zwischen denbeiden eintrat. Viele von denen, die als Photographen das heu-tige Gesicht dieser Technik bestimmen, sind von der Malereiausgegangen. Sie haben ihr den Rücken gekehrt nach Versu-chen, deren Ausdrucksmittel in einen lebendigen, eindeutigenZusammenhang mit dem heutigen Leben zu rücken. Je wacherihr Sinn für die Signatur der Zeit war, desto problematischerist ihnen nach und nach ihr Ausgangspunkt geworden. Dennwieder wie vor achtzig Jahren hat die Photographie von derMalerei die Stafette sich geben lassen. »Die schöpferischenMöglichkeiten des Neuen, sagt Moholy-Nagy, werden meistlangsam durch solche alten Formen, alten Instrumente und Ge-staltungsgebiete aufgedeckt, welche durch das Erscheinen desNeuen im Grunde schon erledigt sind, aber unter dem Druckdes sich vorbereitenden Neuen sich zu einem euphorischen Auf-blühen treiben lassen. So lieferte z. B. die futuristische (statische)Malerei die später sie selbst vernichtende, festumrissene Proble-matik der Bewegungssimultaneität, die Gestaltung des Zeitmo-mentes; und zwar dies in einer Zeit, da der Film schon bekannt,aber noch lange nicht erfaßt war … Ebenso kann man – mitVorsicht – einige von den heute mit darstellerisch-gegenständ-lichen Mitteln arbeitenden Malern (Neoklassizisten und Veri-sten) als Vorbereiter einer neuen darstellerischen optischen

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Gestaltung, die sich bald nur mechanisch technischer Mittel be-dienen wird, betrachten.« Und Tristan Tzara, 922: »Als alles,was sich Kunst nannte, gichtbrüchig geworden war, entzündeteder Photograph seine tausendkerzige Lampe und stufenweiseabsorbierte das lichtempfindliche Papier die Schwärze einigerGebrauchsgegenstände. Er hatte die Tragweite eines zarten, un-berührten Aufblitzens entdeckt, das wichtiger war als alle Kon-stellationen, die uns zur Augenweide gestellt werden.« DiePhotographen, die nicht aus opportunistischen Erwägungen,nicht zufällig, nicht aus Bequemlichkeit von der bildenden Kunstzum Photo gekommen sind, bilden heute die Avantgarde unterden Fachgenossen, weil sie durch ihren Entwicklungsgang gegendie größte Gefahr der heutigen Photographie, den kunstgewerb-lichen Einschlag, einigermaßen gesichert sind. »Photographieals Kunst, sagt Sasha Stone, ist ein sehr gefährliches Gebiet.«Hat die Photographie sich aus Zusammenhängen herausbegeben,wie sie ein Sander, eine Germaine Krull, ein Bloßfeldt geben,vom physiognomischen, politischen, wissenschaftlichen Interessesich emanzipiert, so wird sie »schöpferisch«. Angelegenheit desObjektivs wird die »Zusammenschau«; der photographischeSchmock tritt auf. »Der Geist, überwindend die Mechanik, deu-tet ihre exakten Ergebnisse zu Gleichnissen des Lebens um.« Jemehr die Krise der heutigen Gesellschaftsordnung um sich greift,je starrer ihre einzelnen Momente einander in toter Gegensätz-lichkeit gegenübertreten, desto mehr ist das Schöpferische –dem tiefsten Wesen nach Variante; der Widerspruch sein Vaterund die Nachahmung seine Mutter – zum Fetisch geworden,dessen Züge ihr Leben nur dem Wechsel modischer Beleuchtungdanken. Das Schöpferische am Photographieren ist dessen Ober-antwortung an die Mode. »Die Welt ist schön« – genau das istihre Devise. In ihr entlarvt sich die Haltung einer Photographie,die jede Konservenbüchse ins All montieren, aber nicht einender menschlichen »Zusammenhänge fassen kann, in denen sie auf-tritt, und die damit noch in ihren traumverlorensten Sujetsmehr ein Vorläufer von deren Verkäuflichkeit als von derenErkenntnis ist. Weil aber das wahre Gesicht dieses photographi-schen Schöpfertums die Reklame oder die Assoziation ist, darumist ihr rechtmäßiger Gegenpart die Entlarvung oder die Kon-struktion. Denn die Lage, sagt Brecht, wird »dadurch so kom-

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pliziert, daß weniger denn je eine einfache ›Wiedergabe derRealität‹ etwas über die Realität aussagt. Eine Photographieder Kruppwerke oder der A.E.G. ergibt beinahe nichts überdiese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale ge-rutscht. Die Verdinglichung der menschlichen Beziehungen, alsoetwa die Fabrik, gibt die letzteren nicht mehr heraus. Es ist alsotatsächlich, ›etwas aufzubauen‹, etwas ›Künstliches‹, ›Gestell-tes‹.« Wegbereiter einer solchen photographischen Konstruktionherangebildet zu haben, ist das Verdienst der Surrealisten.Eine weitere Etappe in dieser Auseinandersetzung zwischenschöpferischer und konstruktiver Photographie bezeichnet derRussenfilm. Es ist nicht zuviel gesagt: die großen Leistungenseiner Regisseure waren nur möglich in einem Lande, wo diePhotographie nicht auf Reiz und Suggestion, sondern auf Ex-periment und Belehrung ausgeht. In diesem Sinne, und nur inihm, läßt sich der imposanten Begrüßung, mit der im Jahre 855der ungeschlachte Ideenmaler Antoine Wiertz der Photographieentgegenkam, auch heut noch ein Sinn abgewinnen. »Vor eini-gen Jahren ist uns, der Ruhm unseres Zeitalters, eine Maschinegeboren worden, die tagtäglich das Staunen unserer Gedankenund der Schrecken unserer Augen ist. Ehe noch ein Jahrhundertum ist, wird diese Maschine der Pinsel, die Palette, die Farben,die Geschicklichkeit, die Erfahrung, die Geduld, die Behendig-keit, die Treffsicherheit, das Kolorit, die Lasur, das Vorbild,die Vollendung, der Extrakt der Malerei sein … Glaube mannicht, daß die Daguerreotypie die Kunst töte … Wenn dieDaguerreotypie, dieses Riesenkind, herangewachsen sein wird;wenn all seine Kunst und Stärke sich wird entfaltet haben,dann wird der Genius es plötzlich mit der Hand am Genickpacken und laut rufen: Hierher! Mir gehörst du jetzt! Wir wer-den zusammen arbeiten.« Wie nüchtern, ja pessimistisch dagegendie Worte, in denen vier Jahre später im »Salon von 859«Baudelaire die neue Technik seinen Lesern ankündigt. Sie lassensich so wenig wie die eben angeführten heute ohne eine leiseAkzentverschiebung mehr lesen. Aber indem sie von jenen dasGegenstück sind, haben sie ihren guten Sinn behalten als schärf-ste Abwehr aller Usurpationen künstlerischer Photographie. »Indiesen kläglichen Tagen ist eine neue Industrie hervorgetreten,die nicht wenig dazu beitrug, die platte Dummheit in ihrem

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Glauben zu bestärken …, daß die Kunst nichts anderes ist undsein kann als die genaue Wiedergabe der Natur … Ein rächeri-scher Gott hat die Stimme dieser Menge erhört. Daguerre wardsein Messias.« Und: »Wird es der Photographie erlaubt, dieKunst in einigen ihrer Funktionen zu ergänzen, so wird diesealsbald völlig von ihr verdrängt und verderbt sein, dank dernatürlichen Bundesgenossenschaft, die aus der Menge ihr erwach-sen wird. Sie muß daher zu ihrer eigentlichen Pflicht zurück-kehren, die darin besteht, der Wissenschaften und der KünsteDienerin zu sein«.Eins aber ist damals von beiden – Wiertz und Baudelaire –nicht erfaßt worden, das sind die Weisungen, die in der Authen-tizität der Photographie liegen. Nicht immer wird es gelingen,mit einer Reportage sie zu umgehen, deren Klischees nur dieWirkung haben, sprachliche im Betrachter sich zu assoziieren.Immer kleiner wird die Kamera, immer mehr bereit, flüchtigeund geheime Bilder festzuhalten, deren Chock im Betrachterden Assoziationsmechanismus zum Stehen bringt. An dieserStelle hat die Beschriftung einzusetzen, welche die Photographieder Literarisierung aller Lebensverhältnisse einbegreift, und ohnedie alle photographische Konstruktion im Ungefähren steckenbleiben muß. Nicht umsonst hat man Aufnahmen von Atgetmit denen eines Tatorts verglichen. Aber ist nicht jeder Fleckunserer Städte ein Tatort? nicht jeder ihrer Passanten einTäter? Hat nicht der Photograph – Nachfahr der Augurn undder Haruspexe – die Schuld auf seinen Bildern aufzudeckenund den Schuldigen zu bezeichnen? »Nicht der Schrift-, sondernder Photographieunkundige wird, so hat man gesagt, der Anal-phabet der Zukunft sein.« Aber muß nicht weniger als ein Anal-phabet ein Photograph gelten, der seine eigenen Bilder nichtlesen kann? Wird die Beschriftung nicht zum wesentlichstenBestandteil der Aufnahme werden? Das sind die Fragen, inwelchen der Abstand von neunzig Jahren, der die Heutigen vonder Daguerreotypie trennt, seiner historischen Spannungen sichentlädt. Im Scheine dieser Funken ist es, daß die ersten Photo-graphien so schön und unnahbar aus dem Dunkel der Groß-vätertage heraustreten.

Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker

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I

Das Lebenswerk von Eduard Fuchs gehört der jüngsten Ver-gangenheit an. Ein Rückblick auf dieses Werk beinhaltet alleSchwierigkeiten, die der Versuch mit sich bringt, von der jüng-sten Vergangenheit Rechenschaft abzulegen. Es ist zugleich diejüngste Vergangenheit der marxistischen Kunsttheorie, die hier inRede steht. Und das erleichtert die Sache nicht. Denn im Gegen-satz zur marxistischen Ökonomik hat diese Theorie noch keineGeschichte. Die Lehrer, Marx und Engels, haben nicht mehr ge-tan, als der materialistischen Dialektik ein weites Feld in ihranzuweisen. Und die ersten, die es in Angriff genommen haben,ein Plechanow, ein Mehring, haben den Unterricht der Meisternur mittelbar oder zumindest erst spät empfangen. Die Tradi-tion, die von Marx über Wilhelm Liebknecht zu Bebel führt, istweit mehr der politischen als der wissenschaftlichen Seite desMarxismus zugute gekommen. Mehring ist durch den Nationa-lismus und sodann durch die Schule Lassalles gegangen; und alser zum ersten Male zur Partei kam, da herrschte, nach demGeständnis Kautskys, »theoretisch noch ein mehr oder wenigervulgärer Lassalleanismus. Von einem konsequenten marxisti-schen Denken war, außer bei einigen vereinzelten Persönlich-keiten, keine Rede.« Erst spät, am Lebensabend von Engels,ist Mehring mit diesem in Berührung getreten. Fuchs seinerseitsist auf Mehring schon früh gestoßen. In dem Verhältnis derbeiden zeichnet sich zum ersten Mal eine Tradition in den gei-stesgeschichtlichen Forschungen des historischen Materialismusab. Aber das Arbeitsgebiet von Mehring, die Literaturgeschichte,hatte, im Geiste der beiden Forscher, mit dem Fuchsschen nurwenig Berührungspunkte. Und noch mehr fällt die Verschieden-heit ihrer Anlagen ins Gewicht. Mehring war eine Gelehrten-natur, Fuchs ein Sammler.Es gibt viele Arten von Sammlern; zudem sind in jeglichem eineFülle von Impulsen am Werk. Fuchs ist als Sammler vor allemein Pionier: der Begründer eines einzig dastehenden Archivszur Geschichte der Karikatur, der erotischen Kunst und des Sit-tenbildes. Wichtiger ist aber ein anderer und zwar komplemen-

Karl Kautsky, Franz Mehring. In: Die Neue Zeit. XXII. Stuttgart 904, I, S. 03bis 04.

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tärer Umstand: als Pionier wurde Fuchs zum Sammler. Näm-lich als Pionier der materialistischen Kunstbetrachtung. Wasjedoch diesen Materialisten zum Sammler machte, war das mehroder minder klare Gefühl für eine geschichtliche Lage, in die ersich hineingestellt sah. Es war die Lage des historischen Materia-lismus selbst.Sie kommt in einem Briefe zum Ausdruck, den Friedrich En-gels an Mehring zur gleichen Zeit richtete, da in einem soziali-stischen Redaktionsbureau Fuchs seine ersten publizistischen Sie-ge erfocht. Der Brief stammt vom 4. Juli 893 und führt unteranderem aus: »Es ist dieser Schein einer selbständigen Geschichteder Staatsverfassungen, der Rechtssysteme, der ideologischenVorstellungen auf jedem Sondergebiete, der die meisten Leutevor allem blendet. Wenn Luther und Calvin die offizielle katho-lische Religion, wenn Hegel den Fichte und Kant, Rousseau in-direkt mit seinem Contrat Social den konstitutionellen Mon-tesquieu ›überwindet‹, so ist das ein Vorgang, der innerhalb derTheologie, der Philosophie, der Staatswissenschaft bleibt, eineEtappe in der Geschichte dieser Denkgebiete darstellt und garnicht aus dem Denkgebiete herauskommt. Und seitdem diebürgerliche Illusion von der Ewigkeit und Letztinstanzlichkeitder kapitalistischen Produktion dazugekommen ist, gilt ja sogardie Überwindung der Merkantilisten durch die Physiokratenund Adam Smith als ein bloßer Sieg des Gedankens, nicht alsder Gedankenreflex veränderter ökonomischer Tatsachen, son-dern als die endlich errungene richtige Einsicht in stets undüberall bestehende tatsächliche Bedingungen.«2

Engels wendet sich gegen zweierlei: einmal gegen die Gepflogen-heit, in der Geistesgeschichte ein neues Dogma als ›Entwick-lung‹ eines früheren, eine neue Dichterschule als ›Reaktion‹ aufeine vorangegangene, einen neuen Stil als ›Überwindung‹ einesälteren darzustellen; er wendet sich aber offenbar implizit zu-gleich gegen den Brauch, solche neuen Gebilde losgelöst vonihrer Wirkung auf die Menschen und deren sowohl geistigenwie ökonomischen Produktionsprozeß darzustellen. Damit istdie Geisteswissenschaft als Geschichte der Staatsverfassungen

2 Zitiert von Gustav Mayer, Friedrich Engels. Eine Biographie. Bd. II: FriedrichEngels und der Aufstieg der Arbeiterbewegung in Europa. Berlin, S. 450/45.

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oder der Naturwissenschaften, der Religion oder der Kunst zer-schlagen. Aber die Sprengkraft dieses Gedankens, den Engels einhalbes Jahrhundert mit sich getragen hat3, reicht tiefer. Siestellt die Geschlossenheit der Gebiete und ihrer Gebilde in Fra-ge. So, was die Kunst betrifft, deren eigene und die der Werke,welche ihr Begriff zu umfassen beansprucht. Diese Werke inte-grieren für den, der sich als historischer Dialektiker mit ihnenbefaßt, ihre Vor- wie ihre Nachgeschichte – eine Nachgeschichte,kraft deren auch ihre Vorgeschichte als in ständigem Wandelbegriffen erkennbar wird. Sie lehren ihn, wie ihre Funktionihren Schöpfer zu überdauern, seine Intentionen hinter sich zulassen vermag; wie die Aufnahme durch seine Zeitgenossen einBestandteil der Wirkung ist, die das Kunstwerk heute auf unsselber hat, und wie die letztere auf der Begegnung nicht alleinmit ihm, sondern mit der Geschichte beruht, die es bis auf unsereTage hat kommen lassen. Goethe hat dies, verschleiernd wie oft,bedeutet, als er im Gespräch über Shakespeare zu dem Kanz-ler von Müller äußerte: »Alles, was eine große Wirkung getanhat, kann eigentlich gar nicht mehr beurteilt werden«. KeinWort ist gemäßer, die Beunruhigung hervorzurufen, die denAnfang jeder Geschichtsbetrachtung macht, welche das Rechthat, dialektisch genannt zu werden. Beunruhigung über die Zu-mutung an den Forschenden, die gelassene, kontemplative Hal-tung dem Gegenstand gegenüber aufzugeben, um der kritischenKonstellation sich bewußt zu werden, in der gerade diesesFragment der Vergangenheit mit gerade dieser Gegenwart sichbefindet. »Die Wahrheit wird uns nicht davon laufen« – diesesWort, das bei Gottfried Keller steht, bezeichnet im Geschichts-bild des Historismus genau die Stelle, an welcher es vom histo-rischen Materialismus durchschlagen wird. Denn es ist ein unwie-derbringliches Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwartzu verschwinden droht, welche sich nicht als in ihm gemeinterkannte.Je besser man die Sätze von Engels bedenkt, desto klarer wird,

3 Er taucht in den ersten Feuerbachstudien auf und findet dabei durch Marx diesePrägung: »Es gibt keine Geschichte der Politik, des Rechts, der Wissenschaft …, derKunst, der Religion.« (Marx-Engels Archiv. Zeitschrift des Marx-Engels-Institutsin Moskau. Hrsg. von D. Rjazanov. Bd. I. Frankfurt a. M. 928, S. 30.)

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daß jede dialektische Darstellung der Geschichte erkauft wirddurch den Verzicht auf eine Beschaulichkeit, die für den Hi-storismus bezeichnend ist. Der historische Materialist muß dasepische Element der Geschichte preisgeben. Sie wird ihm Gegen-stand einer Konstruktion, deren Ort nicht die leere Zeit, son-dern die bestimmte Epoche, das bestimmte Leben, das bestimmteWerk bildet. Er sprengt die Epoche aus der dinghaften ›ge-schichtlichen Kontinuität‹ heraus, so auch das Leben aus derEpoche, so das Werk aus dem Lebenswerk. Doch der Ertragdieser Konstruktion ist der, daß im Werke das Lebenswerk, imLebenswerk die Epoche und in der Epoche der Geschichtsverlaufaufbewahrt ist und aufgehoben.4Der Historismus stellt das ewige Bild der Vergangenheit dar;der historische Materialismus eine jeweilige Erfahrung mit ihr,die einzig dasteht. Der Entsatz des epischen Moments durch daskonstruktive erweist sich als Bedingung dieser Erfahrung. Inihr werden die gewaltigen Kräfte frei, die im ›Es-war-einmal‹des Historismus gebunden liegen. Die Erfahrung mit der Ge-schichte ins Werk zu setzen, die für jede Gegenwart eine ur-sprüngliche ist – das ist die Aufgabe des historischen Materialis-mus. Er wendet sich an ein Bewußtsein der Gegenwart, welchesdas Kontinuum der Geschichte aufsprengt.Geschichtliches Verstehen faßt der historische Materialismus alsein Nachleben des Verstandenen auf, dessen Pulse bis in dieGegenwart spürbar sind. Dieses Verstehen hat bei Fuchs seineStelle; jedoch keine unangefochtene. Eine alte, dogmatische undnaive Vorstellung von der Rezeption steht bei ihm neben ihrerneuen und kritischen. Die erste resümiert sich in der Behauptung,maßgebend für unsere Rezeption eines Werkes müsse dieRezeption sein, welche es bei seinen Zeitgenossen gefundenhabe. Es ist die genaue Analogie zu Rankes »Wie es dennwirklich gewesen sei«, auf die es »doch einzig und allein« an-

4 Es ist die dialektische Konstruktion, die das in der geschichtlichen Erfahrungursprünglich uns Betreffende gegen die zusammengestoppelten Befunde des Tatsäch-lichen abhebt. »Im nackten offenkundigen Bestand des Faktischen gibt das Ursprüng-liche sich niemals zu erkennen, und einzig einer Doppeleinsicht steht seine Rhythmikoffen. Sie … betrifft dessen Vor- und Nachgeschichte.« (Walter Benjamin, Ursprungdes deutschen Trauerspiels. Berlin 928, S. 32.)

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komme.5 Daneben aber steht unvermittelt die dialektischeund den weitesten Horizont eröffnende Einsicht in die Bedeu-tung einer Geschichte der Rezeption. Fuchs bemängelt, daß inder Kunstgeschichte die Frage nach dem Erfolg außer achtbleibe. »Diese Unterlassung ist … ein Defizit unserer gesam-ten … Kunstbetrachtung … Und doch dünkt mich die Aufdek-kung der wirklichen Ursachen für den größeren oder geringerenErfolg eines Künstlers, für die Dauer seines Erfolges und eben-sosehr für das Gegenteil, eines der wichtigsten Probleme, diesich … an die Kunst knüpfen.«6 Nicht anders hatte Mehringdie Sache verstanden, dessen »Lessing-Legende« die Rezeptiondes Dichters, so wie sie sich bei Heine und bei Gervinus, beiStahr und bei Danzel, schließlich bei Erich Schmidt vollzogenhatte, zum Ausgangspunkt ihrer Analysen macht. Und nichtumsonst tauchte wenig später die, wenn nicht methodisch sodoch ihrem Inhalt nach, schätzbare Untersuchung »Die Genesisdes Ruhmes« von Julian Hirsch auf. Es ist die gleiche Frage,die Fuchs visiert hat. Ihre Lösung gibt ein Kriterium für denStandard des historischen Materialismus ab. Dieser Umstandaber berechtigt nicht, den anderen: daß sie noch aussteht, zuunterschlagen. Vielmehr ist rücksichtslos einzuräumen, daß esnur in vereinzelten Fällen gelungen ist, den geschichtlichenGehalt eines Kunstwerks so zu erfassen, daß es als Kunstwerkfür uns transparenter wurde. Alles Werben um ein Kunstwerkmuß eitel bleiben, wo nicht sein nüchterner geschichtlicher Gehaltvom dialektischen Erkennen betroffen wird. Das ist nur die ersteder Wahrheiten, an denen das Werk des Sammlers Eduard Fuchssich orientiert. Seine Sammlungen sind die Antwort des Prakti-kers auf die Aporien der Theorie.

II

Fuchs ist im Jahre 870 geboren. Er war von Hause aus nichtzum Gelehrten bestimmt worden. Und bei aller Gelehrsamkeit,

5 Erotische Kunst, Bd. I, S. 70. ‹Die Auflösung der in den Fußnoten benutztenAbkürzungen für die Schriften von Fuchs findet sich u. S. 73 f.›6 Gavarni, S. 3.

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zu der er im späteren Leben gekommen ist, hat er nie den Ge-lehrtentyp angenommen. Seine Wirksamkeit ist stets über dieRänder hinausgeschossen, die das Blickfeld des Forschers umgren-zen. So ist es um seine Leistung als Sammler bestellt, so um seineAktivität als Politiker. Mitte der achtziger Jahre ist Fuchs insErwerbsleben eingetreten. Es war unter der Herrschaft desSozialistengesetzes. Die Lehrstelle führte Fuchs mit politischinteressierten Proletariern zusammen, und bald war er durchsie in den heute idyllisch anmutenden Kampf der damaligenIllegalen hineinbezogen. Diese Lehrjahre endeten 887. EinigeJahre darauf forderte das bayrische Organ der Sozialdemokra-ten, die »Münchener Post«, den jungen Buchhalter Fuchs voneiner Stuttgarter Druckerei an; es glaubte, in ihm den Mann ge-funden zu haben, der die administrativen Mängel behebenkönne, die sich bei dem Blatte ergeben hatten. Fuchs ging nachMünchen, um dort neben Richard Calver zu arbeiten.Im Hause der »Münchener Post« erschien ein politisches Witz-blatt der Sozialisten, der »Süddeutsche Postillon«. Ein Zufallgab, daß Fuchs aushilfsweise den Umbruch einer Nummer des»Postillon« in die Hand nehmen, und ein weiterer, daß er Lük-ken mit einigen eigenen Beiträgen füllen mußte. Der Erfolgdieser Nummer war ungewöhnlich. Im gleichen Jahre erschiensodann, bunt bebildert – die farbig illustrierte Presse stand ebenin ihren Anfängen –, von Fuchs zusammengestellt, die Mai-nummer dieses Blattes. Sechzigtausend Exemplare wurden ver-kauft gegen zweieinhalbtausend im Jahresdurchschnitt. Damitwar Fuchs Redakteur einer Zeitschrift geworden, die der politi-schen Satire gewidmet war. Er wandte sich zugleich der Ge-schichte seines Tätigkeitsfeldes zu, und es entstanden so, nebender Tagesarbeit, die illustrierten Studien über das Jahr 848 inder Karikatur und über die Staatsaffäre der Lola Montez. Daswaren, im Gegensatz zu den von lebenden Zeichnern illustrier-ten Historienbüchern (z. B. den von Jentsch bebilderten volks-tümlichen Revolutionsbüchern von Wilhelm Bios), die erstendurch dokumentarische Bilder illustrierten Geschichtswerke. AufHardens Aufforderung zeigte Fuchs das zweite dieser Werkeselbst in der »Zukunft« an, nicht ohne zu bemerken, daß es nureinen Ausschnitt aus dem umfassenden Werk darstelle, das er derKarikatur der europäischen Völker zu widmen vorhabe. Ein

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Gefängnisaufenthalt von zehn Monaten, den eine Majestäts-beleidigung durch die Presse ihm eintrug, kam den Studien zudiesem Werk zugute. Daß die Idee glücklich sei, erschien ein-leuchtend. Ein gewisser Hans Kraemer, der sich in der Herstel-lung illustrierter Hausbücher bereits einige Erfahrung gesicherthatte, trat an Fuchs mit der Nachricht heran, er habe die Ge-schichte der Karikatur schon in Arbeit; er schlug vor, seine Stu-dien einem gemeinschaftlichen Werk zuzuführen. Seine Beiträgeließen jedoch auf sich warten. Und bald ergab sich, daß die ge-samte sehr beträchtliche Arbeitsleistung Fuchs allein zu bewälti-gen blieb. Der Name des präsumptiven Mitarbeiters, der nochauf dem Titel der ersten Auflage des Karikaturenwerks zufinden war, ist in der zweiten fortgefallen. Fuchs aber hatte vonseiner Arbeitskraft wie auch von seiner Materialbeherrschungdie erste überzeugende Probe abgelegt. Die lange Reihe derHauptwerke war eröffnet.7Die Anfänge von Fuchs fallen in die Epoche, da, wie es in der»Neuen Zeit« einmal heißt, »der Stamm der sozialdemokrati-

7 Hauptwerke (bei Albert Langen in München):Illustrierte Sittengeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Bd. I: Renaissance,[909]; Bd. II: Die galante Zeit, [90]; Bd. III: Das bürgerliche Zeitalter,[9/2]. Dazu »Ergänzungsbände« I-III [909; 9; 92]; neue Aufl. allerBde. 926 (zitiert »Sittengeschichte«).Geschichte der erotischen Kunst. Bd. I: Das zeitgeschichtliche Problem, [908], neueAufl. 922; Bd. II: Das individuelle Problem, [Erster Teil,] 923; Bd. III: Dasindividuelle Problem, Zweiter Teil, 926 (zitiert »Erotische Kunst«).Die Karikatur der europäischen Völker. Bd. I: Vom Altertum bis zum Jahre 848,[. Aufl., 90,] 4. Aufl., 92; Bd. II: Vom Jahre 848 bis zum Vorabend desWeltkrieges, [. Aufl., 903,] 4. Aufl., 92 (zitiert »Karikatur«).Honore Daumier, Holzschnitte und Lithographien, hrsg. von Eduard Fuchs. Bd. I:Holzschnitte 833-870, 98; Bd. II: Lithographien 828-8ji, 920; Bd. III:Lithographien 852-860, 92; Bd. IV: Lithographien 86-872, 922 (zitiert»Daumier«).Der Maler Daumier, hrsg. von Eduard Fuchs, 927 (zitiert ebenso).Gavarni, Lithographien, hrsg. von Eduard Fuchs, 92$ (zitiert »Gavarni«).Die großen Meister der Erotik. Ein Beitrag zum Problem des Schöpferischen in derKunst. Malerei und Plastik, 93 (zitiert ebenso).Tang-Plastik. Chinesische Grabkeramik des 7. bis 0. Jahrhunderts. (Kultur- undKunstdokumente. ), 924 (zitiert ebenso).

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sehen Partei allerorten im organischen Wachstum Ring um Ring«ansetzte.8 Damit machten sich neue Aufgaben in der Bildungs-arbeit der Partei geltend. Je größere Arbeitermassen ihr zu-strömten, desto weniger konnte sie sich mit deren bloß politischerund naturwissenschaftlicher Aufklärung, mit einer Vulgarisie-rung der Mehrwert- und Deszendenztheorie begnügen. Siemußte ihr Augenmerk darauf richten, auch den historischenBildungsstoff in ihr Vortragswesen und in das Feuilleton derParteipresse einzubeziehen. Auf diese Weise stellte sich das Pro-blem der Popularisierung der Wissenschaft in seiner ganzenBreite. Es ist nicht gelöst worden. Man konnte auch der Lösungnicht näherkommen, solange man sich das Objekt dieser Bil-dungsarbeit als ›Publikum‹ statt als Klasse dachte.9 Wäre dieKlasse visiert worden, so hätte die Bildungsarbeit der Parteiniemals die enge Fühlung mit den wissenschaftlichen Aufgabendes historischen Materialismus verlieren können. Der historischeStoff wäre, umgepflügt von der marxistischen Dialektik, einBoden geworden, in dem der Same, den die Gegenwart in ihnwarf, hätte aufgehen können. Das geschah nicht. Der Parole›Arbeit und Bildung‹, unter der die staatsfrommen Vereine vonSchultze-Delitzsch die Arbeiterbildung betrieben hatten, stelltedie Sozialdemokratie die Parole ›Wissen ist Macht‹ entgegen.Aber sie durchschaute nicht deren Doppelsinn. Sie meinte, dasgleiche Wissen, das die Herrschaft der Bourgeoisie über das Pro-letariat befestige, werde das Proletariat befähigen, von dieserHerrschaft sich zu befreien. In Wirklichkeit war ein Wissen, das

Dachreiter und verwandte chinesisdie Keramik des 5. bis 8. Jahrhunderts. (Kultur-und Kunstdokumente. 2), 924 (zitiert ebenso).Fuchs hat außerdem der Frau, den Juden und dem Weltkrieg als Sujets der Kari-katur Sonderwerke gewidmet.8 A. Max, Zur Frage der Organisation des Proletariats der Intelligenz. In: DieNeue Zeit. XIII. Stuttgart 895, I, S. 645.9 Nietzsche schrieb, und zwar schon 874: »Als letztes … Resultat ergiebt sichdas allgemein beliebte Popularisieren« … der Wissenschaft, das heißt das berüch-tigte Zuschneiden des Rockes der Wissenschaft auf den Leib des ›gemischten Publi-kums‹ um uns hier einmal für eine schneidermäßige Thätigkeit auch eines schneider-mäßigen Deutschen (sic!) zu befleißigen.« (Friedrich Nietzsche, UnzeitgemäßeBetrachtungen. Bd. I. Leipzig 893, S. 68 [»Vom Nutzen und Nachthcil der Histo-rie für das Leben«].)

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ohne Zugang zur Praxis war und das das Proletariat als Klasseüber seine Lage nichts lehren konnte, ungefährlich für dessenUnterdrücker. Das galt von dem geisteswissenschaftlichen ganzbesonders. Es lag weit von der Ökonomik ab; es blieb von derenUmwälzung unberührt. Man begnügte sich, in seiner Behand-lung ›anzuregen‹, ›Abwechslung zu bieten‹, ›zu interessieren‹ Manlockerte die Geschichte auf und erhielt die ›Kulturgeschichte‹.Hier hat das Werk von Fuchs seinen Ort: in der Reaktion aufdiese Sachlage hat es seine Größe, in der Teilhabe an ihr seineProblematik. Die Ausrichtung auf die Lesermassen hat sichFuchs von Anfang an zum Prinzip gemacht.0Nur wenige haben damals erkannt, wieviel von der materialisti-schen Bildungsarbeit in Wahrheit abhing. Es sind die Hoffnun-gen und noch mehr die Befürchtungen dieser wenigen, die ineiner Debatte zum Ausdruck kommen, deren Spuren sich in der»Neuen Zeit« finden. Die wichtigste unter ihnen ist ein Aufsatzvon Korn, betitelt »Proletariat und Klassik«. Er befaßt sich mitdem Begriff des Erbes, der auch heute wieder seine Bedeutunghat. Lassalle sah im deutschen Idealismus, sagt Korn, ein Erbe,das die Arbeiterklasse antrat. Anders als Lassalle aber faßtenMarx und Engels die Sache auf. »Nicht … als ein Erbe leitetensie den sozialen Vorrang der Arbeiterklasse her, sondern ausihrer ausschlaggebenden Stellung im Produktionsprozeß sel-ber. Wie braucht auch von Besitz, und sei es vom geistigen Be-sitz, … geredet zu werden bei einem Klassenparvenü, wie demmodernen Proletariat, das jeden Tag und jede Stunde durch …seine den gesamten Kulturapparat immer aufs neue reproduzie-rende Arbeit sein ›Recht‹ dartut … So ist für Marx und Engelsdas Prunkstück des Lassalleschen Bildungsideals, die spekulativePhilosophie, kein Tabernakel, … und immer stärker haben sichbeide … zur Naturwissenschaft hingezogen gefühlt …, die inder Tat für eine Klasse, deren Idee in ihrem Funktionieren be-steht, ebenso die Wissenschaft schlechtweg heißen darf, wie fürdie herrschende und besitzende Klasse alles Historische die ge-gebene Form ihrer Ideologie ausmacht … Tatsächlich vertrittdie Historik für das Bewußtsein ebenso die Besitzkategorie,

0 »Der Kulturgeschichtsschreiber, der es mit seiner Aufgabe ernst nimmt, mußstets für die Massen schreiben.« (Erotische Kunst, Bd. II, S. V.)

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wie im ökonomischen das Kapital die Herrschaft über ver-gangene Arbeit bedeutet.«

Diese Kritik des Historismus hat ihr Gewicht. Ihr Hinweis aufdie Naturwissenschaft jedoch – »die Wissenschaft schlechtweg«

– gibt den Blick auf die gefährliche Problematik der Bildungs-frage erst gänzlich frei. Das Prestige der Naturwissenschaftenhatte seit Bebel die Debatte beherrscht. Sein Hauptwerk, »DieFrau und der Sozialismus«, hat in den dreißig Jahren, die zwi-schen seinem Erscheinen und dem der Arbeit von Korn vergin-gen, eine Auflage von 200 000 Exemplaren erreicht. Die Ein-schätzung der Naturwissenschaften bei Bebel beruht nicht alleinauf der rechnerischen Genauigkeit ihrer Ergebnisse, sondern vorallem auf ihrer praktischen Anwendbarkeit.2 Ähnlich fungierensie später bei Engels, wenn er den Phänomenalismus von Kantdurch den Hinweis auf die Technik zu widerlegen meint, die jadoch durch ihre Erfolge zeige, daß wir die ›Dinge an sich‹ er-kennen. Die Naturwissenschaft, die bei Korn als die Wissen-schaft schlechtweg auftritt, tut dies also vor allem als Funda-ment der Technik. Die Technik aber ist offenbar kein reinnaturwissenschaftlicher Tatbestand. Sie ist zugleich ein geschicht-licher. Als solcher zwingt sie, die positivistische, undialektischeTrennung zu überprüfen, die man zwischen Natur- und Gei-steswissenschaften zu etablieren suchte. Die Fragen, die die Mensch-heit der Natur vorlegt, sind vom Stande ihrer Produktion mit-bedingt. Das ist der Punkt, an dem der Positivismus scheitert.Er konnte in der Entwicklung der Technik nur die Fortschritteder Naturwissenschaft, nicht die Rückschritte der Gesellschafterkennen. Daß diese Entwicklung durch den Kapitalismus ent-scheidend mitbedingt wurde, übersah er. Und ebenso entgingden Positivisten unter den sozialdemokratischen Theoretikern,daß diese Entwicklung den immer dringlicher sich erweisendenAkt, mit dem das Proletariat sich in den Besitz dieser Technikbringen sollte, zu einem immer prekäreren werden ließ. Die

Carl Korn, Proletariat und Klassik. In: Die Neue Zeit. XXVI. Stuttgart 908,II, S. 44/4«$-2 Vgl. August Bebel, Die Frau und der Sozialismus. (Die Frau in der Vergangen-heit, Gegenwart und Zukunft.) 0. Aufl., Stuttgart 89, S. 77-79 und S. 333-36über die Umwälzung der Hauswirtschaft durch die Technik, S. 200/20 über dieFrau als Erfinderin.

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destruktive Seite dieser Entwicklung verkannten sie, weil sie derdestruktiven Seite der Dialektik entfremdet waren.Eine Prognose war fällig, und sie blieb aus. Das besiegelte einenVerlauf, der für das vergangene Jahrhundert kennzeichnend ist:nämlich die verunglückte Rezeption der Technik. Sie besteht ineiner Folge schwungvoller, immer erneuter Anläufe, die samt undsonders den Umstand zu überspringen suchen, daß dieser Ge-sellschaft die Technik nur zur Erzeugung von Waren dient.Die Saint-Simonisten mit ihrer Industrie-Dichtung stehen amAnfang; es folgt der Realismus eines Du Camp, der in der Loko-motive die Heilige der Zukunft sieht; den Beschluß macht einLudwig Pfau: »Es ist ganz unnötig«, schrieb er, »ein Engel zuwerden, und die Eisenbahn ist mehr werth als das schönstePaar Flügel!«3 Dieser Blick auf die Technik fiel aus der »Gar-tenlaube«. Und man mag sich aus solchem Anlaß fragen, ob die›Gemütlichkeit‹, deren sich das Bürgertum des Jahrhundertsfreute, nicht aus dem dumpfen Behagen stammt, niemals erfah-ren zu müssen, wie sich die Produktivkräfte unter seinen Hän-den entwickeln mußten. Diese Erfahrung blieb denn auch wirk-lich dem Jahrhundert, das folgte, vorbehalten. Es erlebt, wiedie Schnelligkeit der Verkehrswerkzeuge, wie die Kapazität derApparaturen, mit denen man Wort und Schrift vervielfältigt,die Bedürfnisse überflügelt. Die Energien, die die Technik jen-seits dieser Schwelle entwickelt, sind zerstörende. Sie fördernin erster Linie die Technik des Kriegs und die seiner publizisti-schen Vorbereitung. Von dieser Entwicklung, die durchaus eineklassenbedingte gewesen ist, darf man sagen, daß sie sich imRücken des vorigen Jahrhunderts vollzogen hat. Ihm sind diezerstörenden Energien der Technik noch nicht bewußt gewesen.Das gilt zumal von der Sozialdemokratie der Jahrhundertwende.Wenn sie den Illusionen des Positivismus an dieser oder jenerStelle entgegentrat, so blieb sie im ganzen in ihnen befangen.Die Vergangenheit erschien ihr ein für allemal in die Scheuernder Gegenwart eingebracht; mochte die Zukunft Arbeit inAussicht stellen, so doch die Gewißheit des Erntesegens.

3 Zitiert von David Badi, John Ruskin. In: Die Neue Zeit. XVIII. Stuttgart900, I, S. 728.

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III

In dieser Epoche hat sich Eduard Fuchs gebildet, und entschei-dende Züge seines Werkes entstammen ihr. Es nimmt, um dasformelhaft auszusprechen, an der Problematik teil, die von derKulturgeschichte untrennbar ist. Diese Problematik verweistauf den zitierten Engelsschen Text zurück. Man könnte glauben,den locus classicus in ihm zu haben, der den historischen Ma-terialismus als Geschichte der Kultur definiert. Muß nicht dasder wahre Sinn dieser Stelle sein? Muß nicht das Studium dereinzelnen Disziplinen, denen der Schein ihrer Geschlossenheitnun genommen ist, in dem der Kulturgeschichte als demjenigendes Inventars zusammenfließen, das die Menschheit sich bis heutegesichert hat? In Wahrheit würde der dergestalt Fragende andie Stelle der vielen und problematischen Einheiten, die dieGeistesgeschichte (als Geschichte der Literatur und Kunst, desRechts oder der Religion) umfaßt, nur eine neue, problematisch-ste setzen. Die Abgehobenheit, in der die Kulturgeschichte ihreInhalte präsentiert, ist für den historischen Materialisten einescheinhafte und von einem falschen Bewußtsein gestiftete.4 Ersteht ihr zurückhaltend gegenüber. Berechtigen zu solcher Zu-rückhaltung würde ihn die bloße Inspektion des Gewesenenselbst: was er an Kunst und an Wissenschaft überblickt, istsamt und sonders von einer Abkunft, die er nicht ohne Grauenbetrachten kann. Es dankt sein Dasein nicht nur der Mühe dergroßen Genien, die es geschaffen haben, sondern in mehr oderminderem Grade auch der namenlosen Fron ihrer Zeitgenossen.

4 Charakteristischen Ausdruck hat dieses scheinhafte Moment in Alfred WebersBegrüßungsansprache auf dem deutschen Soziologentage von 92 gefunden. »Erst… wenn das Leben von seinen Notwendigkeiten und Nützlichkeiten zu einem überdiesen stehenden Gebilde geworden ist, erst dann gib: es Kultur.« In diesem Kul-turbegriff schlummerten Keime der Barbarei, die sich inzwischen entfaltet haben.Kultur erscheint als etwas »für die Fortexistenz des Lebens Überflüssiges, was wirdoch gerade als … dasjenige, wofür es da ist, fühlen«. Kurz, die Kultur existiertnach Art eines Kunstwerks, »das vielleicht ganze Lebensformen und Lebensgrund-sätze in Verwirrung bringt, das zersetzend und zerbrechend wirken kann, und des-sen Existenz wir doch als höher fühlen als alles Gesunde und Lebendige, was da-durch zerstört wird«. (Alfred Weber, Der soziologische Kulturbegriff. In: Verhand-lungen des Zweiten Deutschen Soziologentages. Schriften der Deutschen Gesellschaftfür Soziologie. I. Serie, II. Band. Tübingen 93, S. /2.) Fünfundzwanzig Jahre,nachdem das gesagt wurde, haben Kulturstaaten es als ihre Ehre in Anspruch genom-men, solchen Kunstwerken zu gleichen, solche zu sein.

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Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein sol-ches der Barbarei zu sein. Dem Grundsätzlichen dieses Tatbe-standes ist noch keine Kulturgeschichte gerecht geworden, undsie kann das auch schwerlich hoffen.Dennoch liegt nicht hier das Entscheidende. Ist der Begriff derKultur für den historischen Materialismus ein problematischer,so ist ihr Zerfall in Güter, die der Menschheit ein Objekt des Be-sitzes würden, ihm eine unvollziehbare Vorstellung. Das Werkder Vergangenheit ist ihm nicht abgeschlossen. Keiner Epochesieht er es dinghaft, handlich in den Schoß fallen, und an keinemTeil. Als ein Inbegriff von Gebilden, die unabhängig, wenn nichtvon dem Produktionsprozeß, in dem sie entstanden, so doch vondem, in welchem sie überdauern, betrachtet werden, trägt derBegriff der Kultur ihm einen fetischistischen Zug. Sie erscheintverdinglicht. Ihre Geschichte wäre nichts als der Bodensatz, dendie durch keinerlei echte, d. i. politische Erfahrung im Bewußt-sein der Menschen aufgestöberten Denkwürdigkeiten gebildethaben.Im übrigen kann man nicht außer acht lassen, daß noch keineGeschichtsdarstellung, die auf kulturhistorischer Grundlage un-ternommen wurde, dieser Problematik entronnen ist. Sie isthandgreiflich in der groß angelegten »Deutschen Geschichte« vonLamprecht, welche die Kritik der »Neuen Zeit« aus begreiflichenGründen mehr als einmal beschäftigt hat. »Lamprecht«, schreibtMehring, »ist bekanntlich unter den bürgerlichen Historikernderjenige, der sich am meisten dem historischen Materialismusgenähert hat.« Jedoch »Lamprecht ist auf halbem Weg stehen ge-blieben … Jeder Begriff einer historischen Methode hört… auf,wenn Lamprecht die ökonomische und kulturelle Entwicklungnach einer bestimmten Methode behandeln will, die politischeEntwicklung derselben Zeit aber aus einigen anderen Histo-rikern kompilirt.«5 Gewiß ist die Darstellung der Kulturge-schichte auf Basis der pragmatischen Historie ein Widersinn.Tiefer liegt aber der Widersinn einer dialektischen Kultur-geschichte an sich, da das Kontinuum der Geschichte, von derDialektik gesprengt, an keinem Teil eine weitere Streuung erlei-det, als an dem, welchen man Kultur nennt.

5 Franz Mehring, Akademisches. In: Die Neue Zeit. XVI. Stuttgart 898, I,S. 95/96.

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Kurz, nur scheinbar stellt die Kulturgeschichte einen Vorstoßder Einsicht dar, nicht einmal scheinbar einen der Dialektik.Denn es fehlt ihr das destruktive Moment, das das dialektischeDenken wie die Erfahrung des Dialektikers als authentischesicherstellt. Sie vermehrt wohl die Last der Schätze, die sich aufdem Rücken der Menschheit häufen. Aber sie gibt ihr die Kraftnicht, diese abzuschütteln, um sie dergestalt in die Hand zu be-kommen. Das gleiche gilt von der sozialistischen Bildungsarbeitum die Jahrhundertwende, welche die Kulturgeschichte zumLeitstern hatte.

IV

Der geschichtliche Umriß des Werkes von Fuchs profiliert sichvor diesem Hintergrund. Wo es Bestand und Dauer hat, da istes einer geistigen Konstellation abgerungen, wie sie widrigerselten erschienen ist. Und hier ist es der Sammler Fuchs, derden Theoretiker vieles erfassen lehrte, wozu seine Zeit ihm denZugang sperrte. Es war der Sammler, der auf Grenzgebiete ge-riet – das Zerrbild, die pornographische Darstellung –,an denen eine Reihe Schablonen aus der überkommenen Kunst-geschichte früher oder später zuschanden werden. Es ist zunächstzu bemerken, daß Fuchs mit der klassizistischen Kunstauffassung,deren Spur auch bei Marx noch erkennbar ist, auf der gan-zen Linie gebrochen hat. Die Begriffe, in denen das Bürgertumdiese Kunstauffassung entwickelt hatte, sind bei Fuchs nichtmehr im Spiele: nicht der schöne Schein, nicht die Harmonie,nicht die Einheit des Mannigfaltigen. Und die gleiche robusteSelbstbehauptung des Sammlers, die den Autor den klassizisti-schen Theorien entfremdet hat, macht sich bisweilen, drastischund brüsk, der Antike selbst gegenüber geltend. Im Jahre 908prophezeit er, gestützt auf das Werk der Rodin und Slevogt,eine neue Schönheit, »die in ihren schließlichen Resultaten-nochunendlich größer zu werden verspricht als die der Antike. Dennwo diese nur höchste animalische Form war, wird die neue Schön-heit ausgefüllt sein mit einem grandiosen geistig-seelischen In-halt.«6

6 Erotische Kunst, Bd. I, S. 25. – Die stete Bezugnahme auf die zeitgenössischeKunst gehört zu den wichtigsten Impulsen des Sammlers Fuchs. Auch sie kommt

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Kurz, die Wertordnung, die bei Winckelmann oder Goethe einstdie Kunstbetrachtung bestimmte, hat bei Fuchs jeden Einflußverloren. Freilich wäre es irrig, darum zu meinen, daß so dieidealistische Kunstbetrachtung selber aus den Angeln gehobensei. Das kann früher der Fall nicht sein als die disieeta membra,welche der Idealismus als ›geschichtliche Darstellung‹ einerseitsund als ›Würdigung‹ andererseits in der Hand hält, eines gewor-den und als solche überholt worden sind. Das zu leisten, bleibteiner Geschichtswissenschaft vorbehalten, deren Gegenstand nichtvon einem Knäuel purer Tatsächlichkeiten, sondern von dergezählten Gruppe von Fäden gebildet wird, die den Ein-schuß einer Vergangenheit in die Textur der Gegenwart dar-stellen. (Man würde fehlgehen, diesen Einschuß mit dem bloßenKausalnexus gleichzusetzen. Er ist vielmehr ein durchaus dia-lektischer, und jahrhundertelang können Fäden verloren gewe-sen sein, die der aktuale Geschichtsverlauf sprunghaft und un-scheinbar wieder aufgreift.) Der geschichtliche Gegenstand, derder puren Faktizität enthoben ist, bedarf keiner ›Würdigung‹.Denn er bietet nicht vage Analogien zur Aktualität, sondernkonstituiert sich in der präzisen dialektischen Aufgabe, die ihrzu lösen obliegt. Darauf ist es in der Tat abgesehen. Wenn annichts anderem, so wäre dies an dem pathetischen Zuge fühlbar,der den Text oft dem Vortrag nähert. Doch ist andererseits dar-an kenntlich, daß nicht weniges in der Absicht und im Anlaufbefangen blieb. Das grundsätzlich Neue der Intention kommtzu ungebrochenem Ausdruck vor allem da, wo ihr der stoff-liche Vorwurf entgegenkommt. Das geschieht in der Deutungdes Ikonographischen, in der Betrachtung der Massenkunst, indem Studium der Reproduktionstechnik. Diese Teile des Fuchs-schen Werkes sind bahnbrechend. Sie sind Bestandteile einer

ihm teilweise von den großen Schöpfungen der Vergangenheit. Seine unvergleich-liche Kenntnis der älteren Karikatur erschließt Fuchs früh die Arbeiten einesToulouse-Lautrec, eines Heartfield und eines George Grosz. Seine Passion fürDaumier führt ihn zu Slevogts Werk, dessen Don Quichote-Konzeption ihm alsdie einzige vor Augen schwebt, die sich neben Daumier halten kann. Seine Studienüber Keramik geben ihm alle Autorität, einen Emil Pottner zu fördern. Sein Lebenlang hat Fuchs mit bildenden Künstlern in freundschaftlichem Verkehr gestanden.Es ist daher nicht verwunderlich, daß seine Art, Kunstwerke anzusprechen, oft mehrdie des Künstlers als des Historikers ist.

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jeden künftigen materialistischen Betrachtung von Kunstwer-ken.Den drei genannten Motiven ist eines gemeinsam: sie enthalteneine Anweisung auf Erkenntnisse, die sich an der hergebrachtenKunstauffassung nicht anders erweisen können als destruktiv.Die Befassung mit der Reproduktionstechnik erschließt, wiekaum eine andere Forschungsrichtung, die entscheidende Bedeu-tung der Rezeption; sie gestattet damit, den Prozeß der Ver-dinglichung, der am Kunstwerk statthat, in gewissen Grenzenzu korrigieren. Die Betrachtung ‹der Massenkunst führt zurRevision des Geniebegriffs; sie legt nahe, über der Inspira-tion, die am Werden des Kunstwerks teilhat, die Faktur nicht zuübersehen, die allein ihr gestattet, fruchtbar zu werden. Endlicherweist sich die ikonographische Auslegung nicht allein unent-behrlich für das Studium der Rezeption und der Massenkunst;sie verwehrt vor allem die Übergriffe, zu denen jeder Formalis-mus alsbald verführt.7Fuchs hat sich mit dem Formalismus befassen müssen. WölfflinsLehre war im Aufstieg zur gleichen Zeit als Fuchs die Funda-mente seines Werks gründete. In seinem »Individuellen Pro-blem« knüpft er an einen Grundsatz aus der »Klassischen Kunst«Wölfflins an. Dieser Grundsatz lautet: »So sind Quattrocentound Cinquecento als Stilbegriffe mit einer stofflichen Charak-teristik nicht zu erledigen. Das Phänomen … weist auf eineEntwicklung des künstlerischen Sehens, die von einer besonderenGesinnung und von einem besonderen Schönheitsideal im wesent-lichen unabhängig ist.«8 Gewiß kann diese Formulierung demhistorischen Materialisten Anstoß bieten. Aber sie enthält dochauch Förderliches; denn gerade er ist nicht so sehr daran interes-siert, die Veränderung des künstlerischen Sehens auf ein ge-wandeltes Schönheitsideal als auf elementarere Prozesse zurück-zuführen – Prozesse, wie sie durch ökonomische und technischeWandlungen in der Produktion angebahnt werden. Was dengegebenen Fall betrifft, so würde der schwerlich leer ausgehen,

7 Der Meister ikonographischer Interpretation dürfte Emile Mâle sein. Seine Unter-suchungen beschränken sich auf die Plastik der französischen Kathedralen des 2.bis 5. Jahrhunderts und überschneiden sich demnach nicht mit denen von Fuchs.8 Heinrich Wölfflin, Die klassische Kunst. Eine Einführung in die italienischeRenaissance. München 899, S. 275.

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der sich mit der Frage befassen wollte, welche wirtschaftlichbedingten Veränderungen im Wohnbau die Renaissance mitsich brachte und welche Rolle die Renaissancemalerei als Prospektder neuen Architektur und als Illustration des durch sie ermög-lichten Auftretens denn gespielt habe.9 Freilich streift WölfHindiese Frage nur flüchtig. Wenn aber Fuchs gegen ihn geltendmacht: »Gerade diese formalen Momente … sind es, die sichnirgends anders her erklären lassen als aus der veränderten Stim-mung der Zeit«20, so weist das doch in erster Linie auf die er-wähnte Bedenklichkeit von kulturhistorischen Kategorien hin.Es ergibt sich an mehr als einer Stelle, daß Polemik, auch Dis-kussion, auf dem Wege des Schriftstellers Fuchs nicht liegt. Dieeristische Dialektik, die nach Hegels Definition »in die Kraftdes Gegners eingeht, um ihn von innen her zu vernichten«, ist,so streitbar Fuchs erscheint, in seinem Arsenal nicht zu finden.Bei den Forschern, die auf Marx und Engels folgten, ließ diedestruktive Kraft des Gedankens nach, der nun nicht mehr dasJahrhundert in die Schranken zu fordern wagte. Schon beiMehring hat sich ihr Tonus in der Fülle der Scharmützel herab-gestimmt. Immerhin leistete er mit der »Lessing-Legende« Erheb-liches. Er zeigte, welcher Heerbann politischer, aber auchwissenschaftlicher und theoretischer Energien in den großenWerken der Klassik aufgebracht worden war. Er bekräftigte soseine Abneigung gegen den belletristischen Schlendrian seinerZeitgenossen. Er kam zu der männlichen Erkenntnis, die Kunsthabe ihre Wiedergeburt erst von dem ökonomisch-politischenSiege des Proletariats zu erwarten. Und zu der unbestech-lichen: »In seinen Befreiungskampf vermag sie nicht tief einzu-

9 Die ältere Tafelmalerei gab dem Menschen als Quartier nicht mehr als ein Schil-derhäuschen. Die Maler der Frührenaissance haben zum ersten Mal Innenräumeins Bild gesetzt, in denen die dargestellten Figuren Spielraum haben. Das machtedie Erfindung der Perspektive durch Uccello den Zeitgenossen und ihm selber soüberrwältigend. Die Malerei, die von nun ab ihre Schöpfungen mehr als vordem denWohnenden (statt wie einstmals den Betenden) widmete, gab ihnen Vorlagen ihresWohnens, wurde nicht müde, Perspektiven der Villa vor ihnen aufzustellen. DieHochrenaissance, sehr viel sparsamer in der Darstellung des eigentlichen Interieurs,baute doch auf diesen Grund auf. »Das Cinquecento hat ein besonders starkesGefühl für die Relation zwischen Mensch und Bauwerk, für die Resonanz einesschönen Raumes. Es kann sich fast keine Existenz denken ohne architektonischeFassung und Fundamentierung.« (Wölfflin, a. a. O., S. 227.)20 Erotische Kunst, Bd. II, S. 20.

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greifen.«2 Die Entwicklung der Kunst hat ihm Recht gegeben.Seine Erkenntnisse verwiesen Mehring mit verdoppeltem Nach-druck auf das Studium der Wissenschaft. Er erwarb in ihm dieSolidität und Strenge, die ihn gegen den Revisionismus gefeitmachten. So formten sich in seinem Charakterbild Züge, die imbesten Sinn bürgerliche zu nennen, doch weit entfernt sind, denDialektiker zu gewährleisten. Sie begegnen bei Fuchs nicht min-der. Und vielleicht stechen sie bei ihm mehr hervor, weil sie einerexpansiveren und sensualistischer gearteten Veranlagung einver-leibt sind. Wie dem auch sei – man könnte sich sein Portraitwohl in eine Galerie bürgerlicher Gelehrtenköpfe versetzt den-ken. Als Nachbarn mag man ihm Georg Brandes geben, mitdem er den rationalistischen Furor, die Leidenschaft teilt, überweite geschichtliche Räume mit der Fackel des Ideals (des Fort-schritts, der Wissenschaft, der Vernunft) Licht zu verbreiten.Auf der anderen Seite mag man sich Adolf Bastian, den Ethno-logen denken. An ihn erinnert Fuchs vor allem in seinem uner-sättlichen Materialhunger. Und wie Bastian zu legendärem Rufdurch seine Bereitschaft gekommen war, jederzeit, wenn es eineFrage zu klären galt, mit dem Handköfferchen aufzubrechenund eine Expedition anzutreten, die ihn monatelang von derHeimat fernhielt, so war auch Fuchs jederzeit den Impulsenhörig, die ihn auf die Suche nach neuen Belegen trieben. BeiderWerke werden unerschöpfliche Fundgruben für die Forschungbleiben.

V

Es muß für den Psychologen eine bedeutsame Frage sein, wieein Enthusiast, eine dem Positiven zugekehrte Natur, zur Pas-sion für die Karikatur gelangen kann. Er beantworte sie nachGefallen – der Tatbestand läßt, was Fuchs angeht, keinen Zwei-fel zu. Von vornherein unterscheidet sein Kunstinteresse sichvon dem, was man wohl ›Freude am Schönem‹ nennt. Vonvornherein ist die Wahrheit ins Spiel gemischt. Fuchs wird nichtmüde, den Quellenwert, die Autorität der Karikatur zu be-

2 Franz Mehring, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, Zweiter Teil: VonLassalles Offenem Antwortschreiben bis zum Erfurter Programm. (Geschichte desSozialismus in Einzeldarstellungen. III, 2.) Stuttgart 898, S. 546.

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tonen. »Die Wahrheit liegt im Extrem«, formuliert er gelegent-lich. Er geht weiter: die Karikatur ist ihm »gewissermaßen dieForm …, von der alle objektive Kunst ausgeht. Ein einzigerBlick in die ethnographischen Museen belegt diesen Satz.«22

Wenn Fuchs die prähistorischen Völker, die Kinderzeichnungheranzieht, so tritt vielleicht der Begriff der Karikatur in einenproblematischen Zusammenhang – desto ursprünglicher bekun-det sich das vehemente Interesse, das er den drastischen Gehal-ten des Kunstwerks, mögen sie inhaltlicher23 oder formaler Artsein, entgegenbringt. Dieses Interesse durchzieht sein Werk inder ganzen Breite. Noch in der späten »Tang-Plastik« lesenwir: »Das Groteske ist die höchste Steigerung des Sinnlich-Vor-stellbaren … In diesem Sinne sind die grotesken Gebilde zu-gleich der Ausdruck der strotzenden Gesundheit einer Zeit …Gewiß darf nicht bestritten werden, daß es hinsichtlich derTriebkräfte des Grotesken auch einen krassen Gegenpol gibt.Auch dekadente Zeiten und kranke Gehirne neigen zu groteskenGestaltungen. In solchen Fällen ist das Groteske das erschüttern-de Widerspiel der Tatsache, daß den betreffenden Zeiten undIndividuen die Welt- und Daseinsprobleme unlösbar erschei-nen … Welche von diesen beiden Tendenzen hinter einer grotes-ken Phantasie als schöpferische Antriebskraft steht, ist auf denersten Blick erkenntlich.«24

Die Stelle ist instruktiv. Es kommt in ihr besonders deutlichzum Vorschein, worauf die Wirkung ins Breite, die besonderePopularität der Werke von Fuchs beruht. Das ist die Gabe, dieGrundbegriffe, in denen seine Darstellung sich bewegt, alsbaldmit Wertungen zu legieren. Das geschieht oft auf massive Art.25

Zudem sind diese Wertungen stets extrem. Sie treten polar auf

22 Karikatur, Bd. I, S. 4.23 Vgl. die schöne Bemerkung zu den Daumierschen Figuren von Proletarierinnen:»Wer solche Stoffe als bloße Bewegungsmotive ansieht, beweist, daß ihm die letztenTriebkräfte, die wirksam werden müssen, um erschütternde Kunst zu gestalten, einversiegeltes Buch sind … Gerade deshalb, … weil es sich in diesen Bildern umetwas ganz anderes als um … ›Bewegungsmotive‹ handelt, werden diese Werkeewig leben als … erschütternde Denkmäler der Knechtung des mütterlichen Weibesim neunzehnten Jahrhundert.« (Der Maler Daumier, S. 28.)24 Tang-Plastik, S. 44.25 Vgl. die These über die erotische Wirkung des Kunstwerks: »Je intensiver dieseWirkung ist, um so größer ist die künstlerische Qualität.« (Erotische Kunst, Bd. I,S. 68.)

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und polarisieren derart den Begriff, mit dem sie verschmolzensind. So in der Darstellung des Grotesken, so in der der eroti-schen Karikatur. In den Zeiten des Niederganges ist sie »Schmutz«und »kitzelnde Pikanterie«, in den Zeiten des Aufstiegs »Aus-druck überschäumender Lust und strotzender Kraft«26. Baldsind es die Wertbegriffe der Blütezeit und des Niederganges,bald die des Gesunden und Kranken, die Fuchs heranzieht.Grenzfällen, an denen sich ihre Problematik erweisen könnte,geht er aus dem Wege. Mit Vorliebe hält er sich an das »ganzGroße«, das das Vorrecht hat, »dem Hinreißenden im Ein-fachsten« Raum zu geben.27 Gebrochene Kunstepochen, wiedas Barock, würdigt er wenig. Die große Zeit ist auch ihm nochdie Renaissance. Hier behält sein Kultus des Schöpfertums überseine Abneigung gegen die Klassik die Oberhand.Der Begriff des Schöpferischen hat bei Fuchs einen starken Ein-schlag ins Biologische. Und während das Genie mit Attributenauftritt, die bisweilen das Priapische streifen, erscheinen Künst-ler, von denen der Autor sich distanziert, gern geschmälert inihrer Männlichkeit. Es trägt den Stempel solcher biologistischenAnschauungsweise, wenn Fuchs sein Urteil über die Greco,Murillo, Ribera in der Konstatierung zusammenfaßt: »Alledrei wurden speziell deshalb die klassischen Vertreter des Ba-rockgeistes, weil jeder in seiner Art zugleich ein ›verkorkster‹Erotiker ist.«28 Man darf nicht aus dem Auge verlieren, daßFuchs seine Grundbegriffe in einer Epoche entwickelte, der die›Pathographie‹ den letzten Standard der Kunstpsychologie, Lom-broso und Möbius Autoritäten vorstellten. Und der Geniebe-griff, der durch die einflußreiche »Kultur der Renaissance« vonBurckhardt zur gleichen Zeit mit reichem Anschauungsmaterialerfüllt wurde, nährte aus anderen Quellen die gleiche weitver-breitete Überzeugung, Schöpfertum sei vor allem anderen eineManifestation überschäumender Kraft. Verwandte Tendenzenwaren es, die Fuchs später zu Konzeptionen führten, die derPsychoanalyse verwandt sind; er hat sie als erster für die Kunst-wissenschaft fruchtbar gemacht.Das Eruptive, Unmittelbare, das dem künstlerischen Schaffen

26 Karikatur, Bd. I, S. 23.27 Dachreiter, S. 39.28 Die großen Meister der Erotik, S. 5.

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nach dieser Anschauung das Gepräge gibt, beherrscht für Fuchsnicht minder das Auffassen von Werken der Kunst. So ist es oftnicht mehr als ein Sprung, der bei ihm zwischen Apperzeptionund Urteil liegt. In der Tat ist der ›Eindruck‹ ihm nicht nur derselbstverständliche Anstoß, den der Betrachter vom Werk er-lührt, sondern Kategorie der Betrachtung selbst. Wenn Fuchsbeispielsweise seine kritische Reserve gegen den artistischenI›ormalismus der Ming-Epoche zu erkennen gibt, so faßt er dasdahin zusammen, daß deren Werke »schließlich und endlich …nicht mehr, sondern sehr oft nicht einmal dasselbe an Eindruck

… erreichen, was z. B. die Tang-Periode mit … ihrer großenLinie erreicht hat«29. Derart kommt der Schriftsteller Fuchs zudem besonderen und apodiktischen, um nicht zu sagen demrustikalen Stil, dessen Prägung er meisterhaft formuliert, wenner in der »Geschichte der Erotischen Kunst« erklärt: »Vomrichtigen Erfühlen bis zum richtigen und restlosen Entziffernder in einem Kunstwerk wirkenden Kräfte ist immer nur eineinziger Schritt.«30 Nicht jedem ist dieser Stil erreichbar; Fuchshat seinen Preis für ihn zahlen müssen. Um den Preis mit einemWort anzudeuten: die Gabe, Staunen zu erregen, ist demSchriftsteller versagt geblieben. Kein Zweifel, daß dieser Aus-fall ihm fühlbar gewesen ist. Er sucht ihn aufs mannigfachste zukompensieren und spricht von nichts lieber als von Geheimnis-sen, denen er in der Psychologie des Schaffens nachgeht, als vonRätseln des Geschichtsverlaufes, die ihre Lösung im Materialis-mus finden. Aber der Drang nach unmittelbarster Bewältigungder Tatbestände, der schon seine Konzeption des Schaffens be-stimmt und die der Rezeption ebenso, setzt sich schließlich auchin der Analyse durch. ›Notwendig‹ erscheint der Verlauf derKunstgeschichte, ›organisch‹ erscheinen die Stilcharaktere, ›lo-gisch‹ erscheinen noch die befremdlichsten Kunstgebilde. Sie wer-den es seltener im Laufe der Analyse als sie es, dem Eindruck nach,schon zuvor waren, wie jene Fabelwesen der Tang-Epoche, diemit ihren Flammenflügeln und Hörnern »absolut logisch«, »or-ganisch« wirken. »Logisch wirken selbst die riesigen Elefanten-ohren; logisch ist auch stets die Haltung … Es handelt sich nie

29 Dachreiter, S. 40.0 Erotische Kunst, Bd. II, S. 86.

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bloß um konstruierte Begriffe, sondern stets um die zur leben-atmenden Form gewordene Idee.«3

3 Tang-Plastik, S. 30/3. – Problematisch wird diese intuitive, unmittelbare An-schauungsweise dann, wenn sie den Tatbestand einer materialistischen Analyseerfüllen will. Es ist bekannt, daß Marx sich nirgends eingehender darüber ausgelas-sen hat, wie man sich das Verhältnis des Überbaus zum Unterbau im einzelnen zudenken habe. Feststeht nur, daß er eine Folge von Vermittlungen, gleichsam Trans-missionen, im Auge hatte, die sich zwischen die materiellen Produktionsverhältnisseund die entfernteren Domänen des Überbaus, zu denen die Kunst zählt, einschalten.So auch Plechanow: »Wenn die Kunst, die von den höheren Klassen geschaffen wird,in keiner direkten Beziehung zu dem Produktionsprozeß steht, so ist dies in letzterLinie … aus ökonomischen Ursachen zu erklären. Die materialistische Geschichts-erklärung ist … auch für diesen Fall anwendbar; es ist jedoch selbstverständlich, daßder unzweifelhafte kausale Zusammenhang zwischen Sein und Bewußtsein, zwischensozialen Verhältnissen, welche die ›Arbeit‹ als Grundlage haben, einerseits und derKunst andererseits in diesem Falle nicht so leicht zutage tritt. Hier entstehen …einige Zwischenstationen.« (Georgi Plechanow, Das französische Drama und die fran-zösische Malerei im achtzehnten Jahrhundert vom Standpunkt der materialistischenGeschichtsauffassung. In: Die Neue Zeit. XXIX. Stuttgart 9, I, S. 543/544.) So-viel ist deutlich, daß die klassische Geschichtsdialektik von Marx hier kausaleAbhängigkeiten für gegeben erachtet. In der späteren Praxis ist man laxer vorge-gangen und hat sich oft mit Analogien begnügt. Möglich, daß das mit dem Anspruchzusammenhing, die bürgerlichen Literatur- und Kunstgeschichten durch nicht mindergroßangelegte materialistische zu ersetzen. Dieser Anspruch gehört zur Signaturder Epoche; er ist von wilhelminischem Geist getragen. Er hat auch von Fuchs seinenTribut gefordert. Ein Lieblingsgedanke des Autors, der in vielen Varianten zumAusdruck kommt, statuiert realistische Kunstepochen für Handelsstaaten. So fürdas Holland des siebzehnten wie für das China des achten und neunten Jahrhun-derts. Ausgehend von der Analyse der chinesischen Gartenwirtschaft, an der vieleZüge des Kaiserreiches erläutert werden, wendet sich Fuchs der neuen Plastik zu,die unter der Herrschaft der Tang entsteht. Die monumentale Erstarrung des Han-Stiles lockert sich; das Interesse der anonymen Meister, die die Töpferarbeiten bil-deten, gilt von nun an der Bewegung bei Mensch und Tier. »Die Zeit«, führt Fuchsaus, »ist in jenen Jahrhunderten in China aus ihrer großen Ruhe erwacht …, dennHandel bedeutet stets gesteigertes Leben und Bewegung. Also mußte in erster LinieLeben und Bewegung in die Kunst der Tang-Zeit kommen … Und dieses Merkmalist auch das erste, das einem in die Augen springt. Während zum Beispiel die Tiereder Han-Periode immer noch schwer und wuchtig in ihrem ganzen Habitus sind …,ist bei denen der Tang-Zeit … alles Lebendigkeit, jedes Glied in Bewegung.« (Tang-Plastik, S. 4/42.) Diese Betrachtungsweise beruht auf bloßer Analogie – Bewegungim Handel wie in der Plastik – und man könnte sie geradezu nominalistisch nennen.In der Analogie bleibt ebenfalls der Versuch, die Aufnahme der Antike in der Re-naissance durchsichtig zu machen, befangen. »Die wirtschaftliche Basis war in beidenEpochen dieselbe, nur daß sie sich in der Renaissance auf einer höheren Stufenleiterder Entwicklung befand. Beide basierten auf dem Warenhandel.« (Erotische Kunst,Bd. I, S. 42.) Am Ende erscheint der Handel selbst als Subjekt der Kunstübung, und esheißt: »Der Handel muß mit den gegebenen Größen rechnen, und er kann nur kon-

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Hier kommen Vorstellungsreihen zur Geltung, die mit den so-zialdemokratischen Lehren der Epoche aufs engste zusammen-hangen. Es ist bekannt, wie tief die Wirkung des Darwinismusauf die Entwicklung der sozialistischen Geschichtsauffassunggewesen ist. In der Zeit der Verfolgung durch Bismarck kamdiese Wirkung der ungebrochenen Zuversicht der Partei und derEntschiedenheit ihres Kampfes zugute. Später, im Revisionis-mus, bürdete die evolutionistische Geschichtsbetrachtung um somehr der ›Entwicklung‹ auf, je weniger die Partei das Errun-gene im Einsatz gegen den Kapitalismus aufs Spiel setzen wollte.Die Geschichte nahm deterministische Züge an; der Sieg derPartei ›konnte nicht ausbleiben‹ Fuchs hat dem Revisionismusstets ferngestanden; sein politischer Instinkt, sein martialischesNaturell führten ihn auf den linken Flügel. Als Theoretikeraber hat er sich jenen Einflüssen nicht entziehen können. Manspürt sie überall am Werk. Damals führte ein Mann wie Ferrinicht nur die Prinzipien, sondern auch die Taktik der Sozial-demokratie auf Naturgesetze zurück. Für die anarchistischenAbweichungen machte er mangelnde Kenntnisse in der Geologieund Biologie haftbar. Gewiß haben Führer wie Kautsky sichmit solchen Abweichungen auseinandergesetzt.32 Dennoch fan-den viele ihr Genüge an Thesen, die die geschichtlichen Vorgängenach ›physiologischen‹ und ›pathologischen‹ sonderten oder aberden naturwissenschaftlichen Materialismus in den Händen desProletariats ›selbsttätig‹ zum historischen erhoben zu sehen

krete, nachprüfbare Größen in Rechnung stellen. So muß er der Welt und den Din-gen gegenübertreten, wenn er sie wirtschaftlich bewältigen will. Also ist auch seinekünstlerische Anschauung von den Dingen eine in jeder Hinsicht reale.« (Tang-Plastik, S. 42.) Man mag davon absehen, daß in der Kunst eine ›in jeder Hinsichtreale« Darstellung nicht zu finden ist. Grundsätzlich wäre zu sagen, daß ein Zu-sammenhang, der in genau gleicher Weise für die Kunst von Altchina und von Alt-holland Geltung beansprucht, problematisch erscheint. Er besteht in der Tat so nicht;es genügt ein Blick auf die Republik Venedig. Sie blühte durch ihren Handel; dieKunst Palma Vecchios, Tizians oder Veroneses war dennoch schwerlich eine ›in jederHinsicht‹ realistische. Der Aspekt des Lebens, der uns in ihr entgegentritt, ist alleinder repräsentative und festliche. Auf der andern Seite erfordert das Erwerbslebenauf allen seinen Entwicklungsstufen einen beträchtlichen Sinn für die Realität. DerMaterialist kann daraus auf die Stilgebarung keinerlei Schlüsse ziehen.32 Karl Kautsky, Darwinismus und Marxismus. In: Die Neue Zeit. XIII. Stutt-gart 895, I, S. 709/70.

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meinten.33 Ähnlich stellt sich für Fuchs der Fortschritt dermenschlichen Gesellschaft als ein Prozeß dar, der sich »ebenso-wenig eindämmen läßt, wie man einen Gletscher in seinem stetenVorwärtsdrängen aufhalten kann«34. Die deterministischeAuffassung paart sich demnach mit einem handfesten Optimis-mus. Nun wird auf die Dauer ohne Zuversicht keine Klasse mitErfolg politisch eingreifen können. Aber es macht einen Unter-schied, ob der Optimismus der Aktionskraft der Klasse gilt oderden Verhältnissen, unter denen sie operiert. Die Sozialdemo-kratie neigte dem zweiten, fragwürdigen Optimismus zu. DiePerspektive auf die beginnende Barbarei, die einem Engels inder »Lage der arbeitenden Klasse in England«, einem Marx inder Prognose der kapitalistischen Entwicklung aufgeblitzt warund heute selbst dem mittelmäßigen Staatsmann geläufig ist,war den Epigonen der Jahrhundertwende verbaut. Als Con-dorcet die Lehre vom Fortschritt verbreitet hatte, da hatte dasBürgertum vor dem Machtantritt gestanden; anders stand einJahrhundert später das Proletariat. Ihm konnte sie Illusionenerwecken. Diese bilden in der Tat noch den Hintergrund, in dendie Geschichte der Kunst bei Fuchs hin und wieder den Ausblickfreigibt: »Die Kunst von heute«, so meint er, »hat uns hundertErfüllungen gebracht, die in den verschiedensten Richtungenweit über das hinausführen, was die Renaissancekunst erreichthat, und die Kunst der Zukunft muß wiederum unbedingt dasHöhere bedeuten.«35

VI

Das Pathos, das die Geschichtsauffassung von Fuchs durchzieht,ist das demokratische Pathos von 830. Dessen Echo ist derRedner Victor Hugo gewesen. Das Echo des Echos sind jeneBücher, in denen Hugo als Redner zur Nachwelt spricht. DieGeschichtsauffassung von Fuchs ist die von Hugo im »WilliamShakespeare« gefeierte: »Der Fortschritt ist der Schritt Gottes

33 H. Laufenberg, Dogma und Klassenkampf. In: Die Neue Zeit. XXVII. Stutt-gart 909, I, S. 574. – Der Begriff der Selbsttätigkeit ist hier traurig herabgekom-men. Seine große Zeit liegt im achtzehnten Jahrhundert, als der Ausgleich der Märk-te begann. Damals feierte er seinen Triumph ebensowohl bei Kant, in Gestalt derSpontaneität, wie in der Technik, in Gestalt der Automaten.34 Karikatur, Bd. I, S. 32.35 Erotische Kunst, Bd. I, S. 3.

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selbst.« Und das allgemeine Stimmrecht erscheint als die Welten-uhr, nach der das Tempo dieser Schritte bemessen wird. »Quivote regne«, hat Victor Hugo geschrieben, und er hat damitdie Tafeln des demokratischen Optimismus aufgerichtet. DieserOptimismus hat noch spät sonderbare Träumereien gezeitigt.Eine von ihnen gaukelte vor, daß »alle geistigen Arbeiter,somit auch materiell wie sozial sehr hoch gestellte Personen alsProletarier« zu betrachten seien. Denn es sei »eine nicht zu leug-nende Thatsache, daß von dem in goldstrotzender Uniform sichblähenden Hofrath bis herab zum abgehetzten Lohnarbeiter,alle, die für Geld ihre Dienste anbieten, … wehrlose Opferdes Kapitalismus sind«36. Die Tafeln, die Victor Hugo aufge-richtet hatte, stehen noch über dem Werk von Fuchs. Übrigensbleibt Fuchs in der demokratischen Tradition, wenn er mitbesonderer Liebe an Frankreich hängt: an dem Boden dreiergroßer Revolutionen, an der Heimat der Exilierten, an dem Ur-sprung des utopischen Sozialismus, an dem Vaterland der Ty-rannenhasser Quinet und Michelet, an der Erde, in der die Kom-munarden liegen. So lebte das Bild von Frankreich in Marxund Engels, so ist es auf Mehring gekommen, und so, als »dieAvantgarde der Kultur und der Freiheit«37, ist das Land auchnoch Fuchs erschienen. Er vergleicht den geflügelten Spott derFranzosen mit dem schwerfälligen der Deutschen; er vergleichtHeine mit den daheim Verbliebenen; er vergleicht den deutschenNaturalismus mit den satirischen Romanen von France. Und erist auf diese Weise, wie Mehring, zu stichhaltigen Prognosengeleitet worden, ganz besonders im Falle von Gerhart Haupt-mann.38

Frankreich ist eine Heimat auch für den Sammler Fuchs. DerFigur des Sammlers, die dem Betrachtenden je länger desto

36 A. Max, Zur Frage der Organisation des Proletariats der Intelligenz, a. a. O.,S. 652.37 Karikatur, Bd. II, S. 238.38 Mehring hat den Prozeß, den »Die Weber« zur Folge hatten, in der »NeuenZeit« kommentiert. Teile des Plädoyers des Verteidigers haben die Aktualität zurück-gewonnen, die sie 893 besessen haben. »Er müsse«, so führte der Anwalt aus,»geltend machen, daß den angezogenen, scheinbar revolutionären Stellen andere vonabwiegelndem, besänftigendem Charakter entgegenständen. Der Dichter stehe auchgar nicht auf Seiten des Aufruhrs, er lasse vielmehr die Ordnung durch das Ein-greifen einer handvoll Soldaten siegen.« (Franz Mehring, Entweder-Oder. In:Die Neue Zeit. XI. Stuttgart 893, I, S. 780.)

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anziehender erscheint, ist bisher das ihre nicht oft geworden.Man sollte meinen, den romantischen Geschichtenerzählern hätteniemand verlockender sich bieten können als sie. Aber man suchtdiesen von gefährlichen, wenn auch domestizierten Passionenbewegten Typ umsonst unter den Figurinen eines Hoffmann,Quincey oder Nerval. Romantisch sind die Figuren des Reisen-den, des Flaneurs, des Spielers, des Virtuosen. Die des Sammlersfindet sich nicht. Und man sucht sie vergeblich in den »Phy-siologien«, die sonst vom Camelot zum Salonlöwen keine Figurdes Pariser Panoptikums unter Louis Philippe sich haben ent-gehen lassen. Desto bedeutsamer ist die Stelle, die der Sammlerbei Balzac einnimmt. Balzac hat ihm ein Denkmal gesetzt, dasganz und gar nicht im romantischen Sinne behandelt ist. Er istder Romantik von jeher fremd gewesen. Auch gibt es wenigeStücke in seinem Werk, in denen die antiromantische Positionsich so überraschend ihr Recht verschafft wie in der Skizze des»Cousin Pons«. Dies ist vor allem kennzeichnend: so genau wirmit den Beständen der Sammlung, für die Pons lebt, bekanntwerden, so wenig erfahren wir von der Geschichte ihres Er-werbs. Es gibt keine Stelle im »Cousin Pons«, die man mit denSeiten vergleichen könnte, auf denen die Goncourts in ihrenTagebüchern die Bergung eines seltenen Fundes mit atemrauben-der Spannung schildern. Balzac stellt nicht den Jäger in denJagdgründen des Inventars dar, als den man jeden Sammlerbetrachten kann. Das Hochgefühl, von dem alle Fibern seinesPons, seines Elie Magus zittern, ist der Stolz – Stolz auf dieunvergleichlichen Schätze, die sie mit nimmermüder Besorgnishüten. Balzac legt allen Akzent auf die Darstellung des ›Be-sitzenden‹, und das Wort ›Millionär‹ läuft ihm als Synonymfür das Wort ›Sammler‹ unter. Er spricht von Paris. »Man kannda oft«, heißt es, »einem Pons, einem Elie Magus begegnen, diesehr dürftig gekleidet sind … Sie sehen aus, als wenn sie aufnichts hielten und sich um nichts kümmerten; sie achten wederauf die Frauen noch auf die Auslagen. Sie gehen wie im Traumvor sich hin, ihre Taschen sind leer, ihr Blick ist gedankenlos,und man fragt sich, zu welcher Sorte von Parisern sie eigentlichgehören. – Diese Leute sind Millionäre. Sammler sind es; dieleidenschaftlichsten Menschen, die es auf der Welt gibt.«39

39 Honoré de Balzac, Le Cousin Pons. Paris 925, S. 62

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Der Gestalt von Fuchs, ihrer Aktivität und Fülle, kommt dasBild, das Balzac vom Sammler entworfen hat, näher als das,welches man von einem Romantiker zu gewärtigen gehabt hätte.Ja man darf, auf den Lebensnerv des Mannes verweisend, sa-gen: Fuchs als Sammler ist echt balzacisch; er ist eine Balzac-sche Figur, die über die Konzeption des Dichters hinausgewach-sen ist. Was läge mehr in der Linie dieser Konzeption als einSammler, dessen Stolz, dessen Expansivität ihn dahin führt, daßer, um nur vor aller Augen mit seinen Sammlungen zu erschei-nen, diese in Reproduktionswerken auf den Markt bringt und

– eine nicht minder Balzacische Wendung – auf diese Weise einreicher Mann wird. Es ist nicht nur die Gewissenhaftigkeit einesMannes, der sich einen Konservator von Schätzen weiß, es istauch der Exhibitionismus des großen Sammlers, der Fuchs ver-anlaßt hat, in jedem seiner Werke ausschließlich unveröffentlich-tes Bildmaterial, fast ausschließlich seinem eigenen Besitz ent-stammendes zu veröffentlichen. Allein für den ersten Band der»Karikatur der europäischen Völker« hat er nicht weniger als68 000 Blätter kollationiert, um rund fünfhundert davon auszu-wählen. Kein Blatt hat er jemals öfter als an einer einzigen Stellereproduzieren lassen. Die Fülle seiner Dokumentation und dieBreite seiner Wirkung gehören zusammen. Beide beglaubigenseine Abkunft von dem bürgerlichen Riesengeschlecht um 830,wie Drumont es kennzeichnet. »Beinahe alle Führer der Schulevon 830«, schreibt Drumont, »hatten die gleiche außergewöhn-liche Konstitution, die gleiche Fruchtbarkeit und den gleichenHang zum Grandiosen. Delacroix wirft Epen auf die Leinwand,Balzac schildert eine ganze Gesellschaft ab, Dumas umfaßt inseinen Romanen eine viertausendjährige Geschichte des Men-schengeschlechts. Sie verfügen allesamt über einen Rücken, demkeine Last zu schwer ist.«40 Als 848 die Revolution kam, daveröffentlichte Dumas einen Appell an die Arbeiter von Paris,in dem er sich ihnen als ihresgleichen vorstellt. In zwanzig Jah-ren habe er vierhundert Romane und fünfunddreißig Dramengemacht; 8 60 Leute habe er in Brot gesetzt: Korrektoren undSetzer, Maschinisten und Garderobieren; er vergißt auch dieClaque nicht. Das Gefühl, mit dem der UniversalhistorikerFuchs den ökonomischen Unterbau seiner großartigen Samm-

40 Edouard Drumont, Les héros et les pitres. Paris, S. 07/08.

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lungen sich geschaffen hat, ist dem Dumasschen Selbstgefühlvielleicht nicht ganz unähnlich. Später erlaubt ihm dieser Un-terbau, auf dem Pariser Markt fast ebenso souverän wie inseinen eigenen Beständen zu schalten. Der Senior der Kunsthänd-ler von Paris pflegte um die Jahrhundertwende von ihm zusagen: »C e̓st le Monsieur qui mange tout Paris.« Fuchs gehörtdem Typus des ramasseur an; er hat eine Rabelaisische Freudean Quantitäten, die sich bis in die üppigen Wiederholungen sei-ner Texte bemerkbar macht.

VII

Die französische Ahnentafel von Fuchs ist die des Sammlers,die deutsche die des Historikers. Die Sittenstrenge, die für denGeschichtsschreiber Fuchs bezeichnend ist, gibt ihm die deutschePrägung. Sie gab sie bereits Gervinus, dessen »Geschichte derpoetischen Nationalliteratur« man einen der ersten Versuche zurdeutschen Geistesgeschichte nennen könnte. Es ist für Gervinuswie später für Fuchs kennzeichnend, daß die großen Schöpferin sozusagen martialischer Gestalt auftreten und das Aktive,Männliche, Spontane ihrer Natur auf Kosten des Kontemplati-ven, Weiblichen, Rezeptiven sich geltend macht. Freilich gehtdas Gervinus leichter vonstatten. Als er sein Buch verfaßte,befand die Bourgeoisie sich im Aufstieg; ihre Kunst war vonpolitischen Energien erfüllt. Fuchs schreibt im Zeitalter des Im-perialismus; er stellt die politischen Energien der Kunst pole-misch einer Epoche dar, in deren Schaffen sie sich von Tag zuTag minderten. Aber die Maßstäbe von Gervinus sind noch dieseinen. Ja, man kann sie weiter, bis ins achtzehnte Jahrhundertzurückverfolgen. Und zwar an Hand von Gervinus selbst, dessenGedenkrede auf F. C. Schlosser dem bewehrten Moralismus ausder revolutionären Zeit des Bürgertums großartigen Ausdruckgegeben hat. Man hat Schlosser »grämliche Sittenstrenge« vor-geworfen. »Was Schlosser«, so wendet Gervinus ein, »gegen jeneVorwürfe sagen könnte und sagen würde, wäre dieß: daß manin dem Leben im Großen, in der Geschichte, anders als in Romanund Novelle, eine oberflächliche Freude am Leben bei allerHeiterkeit der Sinne und des Geistes nicht lerne; daß man ausihrer Betrachtung zwar nicht menschenfeindliche Verachtung,

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wohl aber eine strenge Ansicht von der Welt und ernste Grund-sätze über das Leben einsauge; daß wenigstens auf die größtenaller Beurtheiler von Welt und Menschen, die an einem eigeneninneren Leben das äußere zu messen verstanden, auf einenShakespear, Dante, Machiavelli das Weltwesen stets einen solchenzu Ernst und Strenge bildenden Eindruck gemacht habe.«4 Dasist der Ursprung des Moralismus von Fuchs: ein deutsches Jako-binertum, dessen Denkstein die Weltgeschichte von Schlosser ist,mit der Fuchs in seiner Jugend bekannt wurde.42

Dieser bürgerliche Moralismus enthält, wie das nicht überraschenkann, Bestandteile, die mit den materialistischen bei Fuchs kol-lidieren. Wäre sich Fuchs darüber klar, so könnte es ihm viel-leicht gelingen, diesen Zusammenstoß abzudämpfen. Er istjedoch davon überzeugt, daß seine moralistische Geschichtsbe-trachtung und der historische Materialismus miteinander voll-kommen harmonieren. Hier waltet eine Illusion. Ihr Substrat istdie weitverbreitete, sehr revisionsbedürftige Anschauung, diebürgerlichen Revolutionen stellten, so wie sie vom Bürgertumselbst gefeiert werden, den Stammbaum einer proletarischendar.43 Demgegenüber ist es entscheidend, den Blick auf denSpiritualismus zu lenken, der in diese Revolutionen eingewirktist. Seine Goldfäden hat die Moral gesponnen. Die Moral des

4 Georg Gottfried Gervinus, Friedrich Christoph Schlosser. Ein Nekrolog. Leipzig86, S. 30/3.42 Diese Ausrichtung seines Œuvres hat sich für Fuchs nützlich erwiesen, als dieAnklagen wegen Verbreitung unzüchtiger Schriften« durch die kaiserlichen Staats-anwälte einsetzten. Wir finden den Moralismus von Fuchs naturgemäß besondersnachdrücklich in einem Sachverständigenvotum dargestellt, das im Zuge eines dersämtlich mit Freispruch endenden Strafverfahren erstattet wurde. Es stammt vonFedor von Zobeltitz und lautet an seiner wichtigsten Stelle: »Fuchs fühlt sich ernst-haft als Moralprediger, als Erzieher, und diese tiefernste Lebensauffassung, diesinnige Begreifen, daß seine Arbeit im Dienst der Menschheitsgeschichte von höchsterSittlichkeit getragen sein muß, schützt allein ihn schon vor dem Verdacht geschäfts-eifriger Spekulation, über den jeder lächeln müßte, der den Menschen kennt undseinen leuchtenden Idealismus.«43 Diese Revision ist von Max Horkheimer in dem Essay »Egoismus und Frei-heitsbewegung« (Zeitschrift für Sozialforschung, Jahrgang V [936], S. 6 ff.)inauguriert worden. Zu den von Horkheimer versammelten Zeugnissen stimmeneine Reihe von interessanten Belegen, mit denen der Ultra Abel Bonnard seineAnklage gegen jene bürgerlichen Historiker der Revolution belegt, die vonChateaubriand als »l᾽ècole admirative de la terreur« zusammengefaßt werden. (Vgl.Abel Bonnard, Les Modérés. Paris, S. 79 ff.)

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Bürgertums – davon trägt die ersten Anzeichen schon dieSchreckensherrschaft – steht im Zeichen der Innerlichkeit. IhrAngelpunkt ist das Gewissen – sei es das des Robespierreschencitoyens, sei es das des Kantischen Weltbürgers. Das Verhaltender Bourgeoisie, das ihren eigenen Interessen zuträglich, aberangewiesen auf ein ihm komplementäres des Proletariats war,das den eigenen Interessen des letzteren nicht entsprach, pro-klamierte als moralische Instanz das Gewissen. Das Gewissensteht im Zeichen des Altruismus. Es rät dem Eigentümer, so zuhandeln, wie es Begriffen entspricht, deren Geltung mittelbarseinen Mit-Eigentümern zugute kommt, und es rät den Nicht-Eigentümern leicht das gleiche an. Wenn die letzteren sich die-sem Rat anbequemen, ist der Nutzen ihres Verhaltens für dieEigentümer um so unmittelbarer ersichtlich, je fragwürdiger erfür die so sich Verhaltenden und ihre Klasse ist. Darum stehtauf diesem Verhalten der Preis der Tugend. – So setzt dieKlassenmoral sich durch. Aber sie tut es unbewußt. Nicht sosehr hatte das Bürgertum Bewußtsein nötig, um diese Klassen-moral aufzurichten, als das Proletariat Bewußtsein braucht, umsie zu stürzen. Diesem Tatbestand wird Fuchs nicht gerecht,weil er glaubt, seine Angriffe gegen das Gewissen der Bourgeoisierichten zu müssen. Ihre Ideologie erscheint ihm als Ränke-spiel. »Das salbadernde Geschwätz«, sagt er, »das auch ange-sichts der schamlosesten Klassenurteile von der subjektivenEhrlichkeit der betreffenden Richter faselt, beweist nur dieeigene Charakterlosigkeit derer, die so reden oder schreiben, imbesten Fall deren Borniertheit.«44 Auf den Gedanken, demBegriff der bona fides (des guten Gewissens) selbst den Prozeßzu machen, kommt Fudis nicht. Und doch wird das dem histori-schen Materialisten naheliegen. Nicht nur, weil er in diesem Be-griff einen Träger der bürgerlichen Klassenmoral erkennt, son-dern auch weil ihm nicht entgehen wird, daß dieser Begriff dieSolidarität der moralischen Unordnung mit der ökonomischenPlanlosigkeit befördert. Jüngere Marxisten haben den Sach-verhalt wenigstens andeutungsweise berührt. So bemerkte manzur Politik Lamartines, der einen exzessiven Gebrauch von derbona fides machte: »Die bürgerliche … Demokratie … brauchtdiesen Wert. Der Demokrat … ist gewerbemäßig aufrichtig.

44 Der Maler Daumier, S. 30.

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Damit fühlt er sich der Notwendigkeit überhoben, dem wirkli-chen Tatbestand nachzugehen.«45

Die Betrachtung, die ihr Augenmerk mehr auf die bewußtenInteressen der Individuen lenkt als auf die Verhaltungsweise,zu der ihre Klasse oft unbewußt und durch ihre Stellung im Pro-duktionsprozeß veranlaßt wird, führt zu einer Überschätzungdes bewußten Moments in der Ideologiebildung. Sie ist beiFuchs handgreiflich, wenn er erklärt: »Kunst ist in allen ihrenwesentlichen Teilen die idealisierte Verkleidung des jeweiligengesellschaftlichen Zustandes. Denn es ist ein ewiges Gesetz …,daß jeder herrschende politische oder gesellschaftliche Zustanddazu drängt, sich zu idealisieren, um auf diese Weise seine Exi-stenz sittlich zu rechtfertigen.«46 Wir nähern uns hier demKern des Mißverständnisses. Es besteht in der Auffassung,die Ausbeutung bedinge ein falsches Bewußtsein, zumindest aufder Seite der Ausbeutenden, vor allem deswegen, weil einrichtiges ihnen moralisch lästig sei. Dieser Satz mag für dieGegenwart, in der der Klassenkampf das gesamte bürgerlicheLeben in stärkste Mitleidenschaft gezogen hat, eine einge-schränkte Geltung besitzen. Keinesfalls ist das schlechte Ge-wissem der Bevorrechteten für die früheren Formen der Aus-beutung selbstverständlich. Durch die Verdinglichung werdenja nicht nur die Beziehungen zwischen den Menschen unsichtig;es werden darüber hinaus die wirklichen Subjekte der Relatio-nen selbst in Nebel gehüllt. Zwischen die Machthaber desWirtschaftslebens und die Ausgebeuteten schiebt sich eine Ap-paratur von Rechts- und Verwaltungsbürokratien, deren Mit-glieder nicht mehr als voll verantwortliche moralische Subjektefungieren; ihr ›Verantwortungsbewußtsein‹ ist gar nichts ande-res als der unbewußte Ausdruck dieser Verkrüppelung.

VIII

Den Moralismus, von dem Fuchs̓ historischer Materialismusdie Spuren trägt, hat auch die Psychoanalyse nicht erschüttert.»Berechtigt«, so urteilt er von der Sexualität, »sind alle For-men des sinnlichen Gebarens, in denen das Schöpferische dieses

45 Norbert Guterman et H. Lefebvre, La conscience mystifée. Paris 936, S. 5.46 Erotische Kunst, Bd. II, Erster Teil, S. .

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Lebensgesetzes sich offenbart … Verwerflich sind dagegen jeneFormen, die diesen obersten Trieb zum bloßen Mittel raffinier-ter Genußsucht herabwürdigen.«47 Ersichtlich ist die Signaturdieses Moralismus die bürgerliche. Das rechte Mißtrauen ge-gen die bürgerliche Ächtung der rein sexuellen Lust und dermehr oder minder phantastischen Wege ihrer Erzeugung istFuchs fremd geblieben. Grundsätzlich erklärt er freilich, daßman »stets nur relativ von Sittlichkeit und Unsittlichkeit« redenkönne. Aber er statuiert sogleich an derselben Stelle eine Aus-nahme für die »absolute Unsittlichkeit«, bei der »es sich umVerstöße gegen die sozialen Triebe der Gesellschaft, also umVerstöße handelt, die sozusagen wider die Natur sind«. Kenn-zeichnend für diese Anschauung ist der nach Fuchs historischgesetzmäßige Sieg der »immer entwicklungsfähigen Masse überdie entartete Individualität«48. Kurz, von Fuchs gilt, daß er»nicht etwa die Berechtigung eines Verdammungsurteils gegendie angeblich korrupten Triebe, sondern die Ansicht über ihreGeschichte und ihr Ausmaß angreift«49.Dadurch wird die Klärung des sexualpsychologischen Problemsbeeinträchtigt. Es ist seit der Herrschaft der Bourgeoisie beson-ders wichtig geworden. Die Tabuierung mehr oder minder wei-ter Bezirke der sexuellen Lust hat hier ihren Ort. Die durch siein den Massen erzeugten Verdrängungen fördern masochisti-sche und sadistische Komplexe zutage, denen von den Macht-habern diejenigen Objekte geliefert werden, die sich ihrerPolitik als die gelegensten darstellen. Ein Altersgenosse vonFuchs, Wedekind, hat in diese Zusammenhänge hineingeblickt.Ihre gesellschaftliche Kritik hat Fuchs versäumt. Desto bedeu-tender ist die Stelle, an welcher er sie auf einem Umwege überdie Naturgeschichte nachholt. Es handelt sich um sein glänzen-des Plädoyer der Orgie. Nach Fuchs »gehört die … Lust amOrgiastischen zu den wertvollsten Tendenzen der Kultur …Man muß sich darüber klar sein, daß die Orgie zu dem … ge-

47 Erotische Kunst, Bd. I, S. 43. – Die sittengeschichtliche Darstellung des Direkto-riums trägt geradezu die Züge der Moritat. »Das entsetzliche Buch des Marquis deSade mit seinen ebenso schlechten wie infamen Kupfern lag aufgeschlagen in allenSchaufenstern.« Und »die verwüstete Phantasie des schamentwöhnten Wüstlings«spricht aus Barras. (Karikatur, Bd. I, S. 202 u. 20.)48 Karikatur, Bd. I, S. 88.49 Max Horkheimer, Egoismus und Freiheitsbewegung, a. a. O., S. 66.

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hört, was uns vom Tier unterscheidet. Das Tier kennt im Ge-gensätze zum Menschen die Orgie nicht … Das Tier wendetsich vom saftigsten Futter und von der klarsten Quelle ab, wennsein Hunger und Durst gestillt sind, und sein Geschlechtsdrangist meist auf ganz bestimmte kurze Perioden des Jahres be-schränkt. Ganz anders der Mensch, vor allem der schöpferischeMensch. Dieser kennt den Begriff des Genug überhaupt nicht.«50

In den Gedankengängen, in denen Fuchs sich kritisch mit denüberkommenen Normen befaßt, liegt die Stärke seiner sexual-psychologischen Feststellungen. Sie sind es, die ihn befähigen,gewisse kleinbürgerliche Illusionen zu zerstreuen. So die derNacktkultur, in der er »eine Revolution der Beschränktheit«mit Recht erkennt. »Der Mensch ist erfreulicherweise keinWaldtier mehr, und wir … wollen, daß die Phantasie, auchdie erotische, eine Rolle in der Kleidung spielt … Was wir da-gegen nicht wollen, das ist einzig jene soziale Organisation derMenschheit, die alles dies zum gemeinen Schachergeschäft de-gradiert.«5

Die psychologische und historische Anschauungsweise von Fuchsist vielfach für die Geschichte der Kleidung fruchtbar gewor-den. In der Tat gibt es kaum einen Gegenstand, der dem drei-fachen Interesse des Autors – dem geschichtlichen, dem gesell-schaftlichen und dem erotischen – mehr entgegenkäme als dieMode. Das erweist sich bereits an ihrer Definition, die eine an

50 Erotische Kunst, Bd. II, S. 283. – Fuchs ist hier auf der Spur eines bedeutsamenTatbestandes. Sollte es übereilt sein, die tiermenschliche Schwelle, die Fuchs in derOrgie sieht, in unmittelbaren Zusammenhang mit jener anderen Schwelle zu setzen,die der aufrechte Gang darstellt? Mit ihm tritt in die Naturgeschichte die vordemunerhörte Erscheinung ein, daß die Partner im Orgasmus einander ins Auge sehenkönnen. Damit erst wird die Orgie möglich. Und nicht sowohl durch den Zuwachsan Reizen, auf die der Blick trifft. Entscheidend ist vielmehr, daß der Ausdruck derObersättigung, ja des Unvermögens nun selbst zu einem erotischen Stimulans werdenkann.5 Sittengeschichte, Bd. III, S. 234. – Wenige Seiten später findet sich dieses sichereUrteil nicht mehr – ein Beweis, mit welcher Kraft es der Konvention abgerungensein wollte. Dort heißt es vielmehr: »Die Tatsache, daß Tausende von Menschensich am Anblick einer weiblichen oder männlichen Aktphotographie geschlechtlich er-regen …, beweist, daß das Auge nicht mehr das harmonische Ganze, sondern nur daspikante Detail zu sehen vermag.« (a. a. O., S. 269) Wenn hier etwas geschlechtlicherregend wirkt, so ist es viel mehr die Vorstellung von der Ausstellung des nacktenKörpers vor der Kamera als der Anblick der Nacktheit selbst. Auf diese Vorstellungdürfte es denn auch wohl mit den meisten dieser Photographien abgesehen sein.

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Karl Kraus gemahnende sprachliche Prägung hat. Die Mode, soheißt es in der Sittengeschichte, gibt an, »wie man das Geschäftder öffentlichen Sittlichkeit … zu betreiben gedenkt«52. Fuchsist im übrigen dem landläufigen Fehler der Darsteller (mandenke an einen Max von Boehn) nicht verfallen, die Mode le-diglich nach ästhetischen und erotischen Gesichtspunkten zudurchforschen. Seinem Auge ist ihre Rolle als Herrschaftsin-strument nicht entgangen. Wie sie die feineren Unterschiede derStände zum Ausdruck bringt, so wacht sie vor allem über diegroben der Klassen. Im dritten Band seiner Sittengeschichte hatFuchs ihr einen großen Essay gewidmet, dessen Gedankengangder Ergänzungsband mit der Aufstellung der für die Mode ent-scheidenden Elemente zusammenfaßt. Das erste wird von den»Interessen der Klassenscheidung« gebildet; das zweite stelltdie »privatkapitalistische Produktionsweise«, die ihre Absatz-möglichkeiten durch vielfachen Wechsel der Mode zu steigernsucht; an dritter Stelle sind »die erotisch stimulierenden Zweckeder Mode« nicht zu vergessen.53

Der Kultus des Schöpferischen, der das Gesamtwerk von Fuchsdurchzieht, hat aus seinen psychoanalytischen Studien neueNahrung gezogen. Sie haben seine ursprünglich biologisch be-stimmte Konzeption bereichert, freilich nicht darum auch schonberichtigt. Die Lehre von dem erotischen Ursprung der schöpfe-rischen Impulse nahm Fuchs begeistert auf. Seine Vorstellungder Erotik aber haftete weiter eng an der drastischen, biologischdeterminierten der Sinnlichkeit. Der Theorie der Verdrängungund der Komplexe, welche seine moralistische Auffassung dergesellschaftlichen und sexuellen Verhältnisse vielleicht modi-fiziert hätte, ist er, soweit angängig, ausgewichen. Wie derhistorische Materialismus bei Fuchs eine Herleitung der Dingemehr aus dem bewußten ökonomischen Interesse des einzelnenals aus dem in dem letzteren unbewußt wirkenden Interesse derKlasse gibt, so ist auch der schöpferische Impuls mehr der be-wußten sinnlichen Intention als dem bildschaffenden Unbe-wußten von ihm genähert worden.54 Die erotische Bilderwelt

52 Sittengeschichte, Bd. III, S. 89.53 Sittengeschichte, Ergänzungsband III, S. 53/5454 Kunst ist für Fuchs unmittelbare Sinnlichkeit wie die Ideologie unmittelbaresErzeugnis von Interessen. »Das Wesen der Kunst ist: die Sinnlichkeit. Kunst ist Sinn-

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als eine symbolische, wie Freuds »Traumdeutung« sie erschlos-sen hat, kommt bei Fuchs da, und nur da, zur Geltung, woseine innere Beteiligung die höchste ist. In diesem Fall erfülltsie seine Darstellung sogar dann, wenn jeder Hinweis auf sievermieden ist. So in der meisterhaften Charakteristik von derGraphik des Revolutionszeitalters: »Alles ist starr, straff, mili-tärisch. Die Menschen liegen nicht, denn der Exerzierplatzduldet kein ›Rührt Euch‹. Selbst wenn sie sitzen, ist es, alsob sie aufspringen wollten. Ihr ganzer Körper ist in Spannungwie der Pfeil auf der Bogensehne … Wie die Linie, so die Far-be. Wohl wirken die Bilder kalt, blechern … gegenüber denendes Rokoko … Die Farbe … mußte hart sein …, metallisch,sollte sie zum Inhalt der Bilder passen.«55 Expliziter ist eineaufschlußreiche Bemerkung zum Fetischismus. Sie geht seinenhistorischen Äquivalenten nach. Es ergibt sich, daß die »Zu-nahme des Schuh- und Beinfetischismus auf die Ablösung desPriapkultus durch den Vulvakultus« hinzuweisen scheint, dieZunahme des Busenfetischismus dagegen auf eine rückläufigeTendenz. »Der Kultus des bekleideten Fußes und Beines spiegeltdie Herrschaft des Weibes über den Mann; der Busenkultusspiegelt die Stellung des Weibes als Objekt der Lust des Man-nes.«56 Die tiefsten Blicke in den Symbolbereich tat Fuchs anDaumiers Hand. Was er über die Bäume bei Daumier sagt, isteiner der glücklichsten Funde des ganzen Werks. Er erkennt inihnen »eine ganz eigenartige symbolische Form …, in der dassoziale Verantwortlichkeitsgefühl Daumiers zum Ausdruckkommt und seine Überzeugung, daß es Pflicht der Gesellschaftsei, den Einzelnen zu schützen … Die für ihn typische Gestal-tung der Bäume … stellt sie stets mit weitausgreifenden Ästendar, und zwar vor allem dann, wenn jemand darunter stehtoder sich lagert. Die Äste recken sich besonders bei solchenBäumen wie die Arme eines Riesen, sie scheinen förmlich insUnendliche greifen zu wollen, sie formen sich zum undurch-dringlichen Dach, das jede Gefahr von allen denen fernhält, die

lichkeit. Und zwar Sinnlichkeit in potenziertester Form. Kunst ist Form gewordene,sichtbar gewordene Sinnlichkeit, und sie ist zugleich die höchste und edelste Form derSinnlichkeit.« (Erotische Kunst, Bd. I, S. 6.)55 Karikatur, Bd. I, S. 223.56 Erotische Kunst, Bd. II, S. 390.

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sich in ihren Schutz begeben haben.«57 Diese schöne Betrach-tung geleitet Fuchs auf die mütterliche Dominante in DaumiersSchaffen.

IX

Keine Gestalt wurde für Fuchs lebendiger als Daumier. Sie hatihn durch sein Arbeitsleben begleitet. Fast könnte man sagen,an ihr sei Fuchs zum Dialektiker geworden. Zumindest hat ersie in ihrer Fülle und in ihrem lebendigen Widerspruch konzi-piert. Wenn er das Mütterliche in seiner Kunst erfaßt und ineindrucksvoller Weise umschrieben hat, so ist ihm nicht minderder andere Pol, das Männliche, Streitbare der Gestalt vertrautgewesen. Mit Recht hat er darauf hingewiesen, daß in DaumiersWerk der idyllische Einschlag fehlt; nicht allein die Landschaft,das Tierstück und das Stilleben sondern auch das erotische Mo-tiv und das Selbstportrait. Was Fuchs bei Daumier eigentlichmitriß, das ist das agonale Moment gewesen. Oder wäre es zugewagt, der großen Karikatur von Daumier ihren Ursprung ineiner Frage zu suchen? Wie nähmen, so scheint Daumier zufragen, die bürgerlichen Menschen meiner Zeit sich aus, wollteman sich ihren Kampf ums Dasein gleichsam in einer Palästradenken? Daumier hat das private und öffentliche Leben derPariser in die Sprache des Agon übersetzt. Seine höchste Begei-sterung gilt der athletischen Spannung des ganzen Körpers,seinen muskulären Erregungen. Dem widerspricht es in keinerWeise, daß vielleicht niemand packender als Daumier die tiefsteErschlaffung des Körpers gezeichnet hat. Daumiers Konzeptionhat, wie Fuchs bemerkt, tiefe Verwandtschaft mit einer plasti-schen. Und so entführt er die Typen, die seine Zeit ihm bietet,um sie, verzerrte Olympioniken, auf einem Sockel zur Schauzu stellen. Es sind vor allem die Richter- und Advokatenstu-dien, welche sich so betrachten lassen. Unmittelbarer deutet derelegische Humor, mit dem Daumier das griechische Pantheonzu umspielen liebt, auf diese Inspiration hin. Vielleicht stelltsie die Lösung des Rätsels dar, das schon Baudelaire in dem

57 Der Maler Daumier, S. 30.

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Meister entgegentrat: wie seine Karikatur bei all ihrer Wuchtund Durchschlagskraft von Ranküne so frei sein könne.Spricht er von Daumier, so beleben sich bei Fuchs alle Kräfte.Es gibt keinen anderen Gegenstand, der seiner Kennerschaftderart divinatorische Blitze entlockt hätte. Der kleinste Anstoßwird hier bedeutsam. Ein Blatt, so flüchtig, daß es unvollendet/u nennen ein Euphemismus wäre, reicht Fuchs hin, einen tiefenEinblick in Daumiers produktive Manie zu geben. Es stellt nurdie obere Hälfte von einem Kopfe dar, an dem allein sprechendNase und Auge sind. Daß die Skizze sich auf diese Partie be-schränkt, einzig den Schauenden zum Objekt hat, das wird fürFuchs zum Fingerzeig, daß hier das zentrale Interesse des Malersim Spiele ist. Denn bei der Ausführung seiner Bilder setze jederMaler an eben der Stelle an, an der er triebhaft am meistenbeteiligt sei.58 »Unzählige von Daumiers Gestalten«, so heißtes im Werke über den Maler, »sind mit dem konzentriertestenSchauen beschäftigt, sei es ein Schauen in die Weite, sei es einBetrachten bestimmter Dinge, sei es ein ebenso konzentrierterBlick in das eigene Innere. Die Daumierschen Menschen schauen

… förmlich mit der Nasenspitze.«59

58 Hierzu ist folgende Reflexion zu vergleichen: »Nach meinen … Beobachtungendünkt es mich, daß die jeweiligen Dominanten der Palette eines Künstlers in sei-nen pointiert erotischen Bildern immer besonders klar auftreten und daß sie indiesen … ihre … höchste Leuchtkraft erleben.« (Die großen Meister der Erotik,S. 4.)59 Der Maler Daumier, S. 8. – Zu den in Rede stehenden Gestalten zählt auchder berühmte »Kunstkenner« – ein Aquarell, das in mehreren Versionen vorkommt,Eine bisher nicht bekannte Fassung des Blattes wurde Fuchs eines Tages vorgelegt:ob eine echte, war zu ermitteln. Fuchs nahm die Hauptdarstellung dieses Motivsin einer guten Reproduktion zur Hand, und nun ging es an den überaus instruk-tiven Vergleich. Keine Abweichung, nicht die kleinste, blieb unbeachtet, und vonjeder galt es, Rechenschaft abzulegen, ob sie unter einer Meisterhand entsprungenoder ein Erzeugnis der Ohnmacht sei. Immer wieder ging Fuchs auf das Originalzurück. Aber die Art und Weise, wie er das tat, schien zu zeigen, daß er wohldavon hätte absehen können; sein Blick erwies sich in ihm so heimisch, wie dasnur bei einem Blatte der Fall sein kann, das man jahrelang im Geist vor sich hatte.Unzweifelhaft war das für Fuchs so gewesen. Und nur darum war er imstande, dieverborgensten Unsicherheiten des Konturs, die unscheinbarsten Fehlfarben in denSchatten, die kleinsten Entgleisungen in der Strichführung aufzudecken, die dasFragliche Blatt an seinen Platz stellten – übrigens nicht den einer Fälschung, sonderneiner guten alten Kopie, die von einem Amateur stammen mochte.

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X

Daumier ist der glücklichste Gegenstand für den Forscher ge-wesen. Nicht minder war er der glücklichste Griff des Sammlers.Mit berechtigtem Stolz bemerkt Fuchs, daß nicht staatlicheInitiative, sondern seine eigene die ersten Mappen von Daumier(und Gavarni) in Deutschland angelegt habe. Er steht mitseiner Abneigung gegen Museen nicht allein unter den großenSammlern. Die Goncourts sind ihm darin vorangegangen; sieüberbieten ihn darin an Heftigkeit. Wenn öffentliche Sammlun-gen sozial minder problematisch, wissenschaftlich nützlicher seinkönnten als private, so entgeht ihnen doch deren größte Chance.Der Sammler hat in seiner Leidenschaft eine Wünschelrute, dieihn zum Finder von neuen Quellen macht. Das gilt von Fuchs,und darum mußte er sich im Gegensatz zu dem Geiste fühlen,der unter Wilhelm II. in den Museen herrschte. Sie hatten esauf die sogenannten Glanzstücke abgesehen. »Gewiß«, sagtFuchs, »ist diese Art des Sammeins für das heutige Museumschon durch räumliche Gründe bedingt. Aber diese … Bedingt-heit vermag an der Tatsache nichts zu ändern, daß wir dadurchganz unvollständige … Vorstellungen von der Kultur derVergangenheit bekommen. Wir sehen diese … im prunkvollenFesttagsgewand und nur sehr selten in ihrem meist dürftigenWerkeltagskleid.«60

Die großen Sammler sind meist durch die Originalität ihrerObjektwahl ausgezeichnet. Es gibt Ausnahmen: die Goncourtsgingen weniger von den Objekten aus als von dem Ensemble,das diese zu bergen hatte; sie unternahmen die Verklärung desInterieurs, als es gerade eben verschieden war. In der Regelsind aber die Sammler vom Objekt selber geleitet worden. Eingroßes Beispiel sind an der Schwelle der Neuzeit die Humani-sten, deren griechische Erwerbungen und Reisen von der Ziel-strebigkeit Zeugnis geben, mit der sie sammelten. Mit Marolles,dem Vorbild des Damocede, ist der Sammler, von La Bruyèregeleitet, in die Literatur eingeführt worden (und zwar sogleichauf unvorteilhafte Art). Marolles hat als erster die Bedeutungder Graphik erkannt; seine Sammlung von 25 000 Blätternbildet den Grundstock des Cabinet des Estampes. Der sieben-

60 Dachreiter, S. 5/6.

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bändige Katalog, den im folgenden Jahrhundert der Graf Cay-lus von seinen Sammlungen herausgebracht hat, ist die erstegroße Leistung der Archäologie. Die Gemmensammlung vonStosch ist im Auftrage des Sammlers von Winckelmann kata-logisiert worden. Selbst dort, wo der wissenschaftlichen Kon-zeption, die in solchen Sammlungen sich verkörpern wollte,keine Dauer beschieden war, war sie es doch bisweilen derSammlung selbst. So der von Wallraf und Boisserée, derenBegründer, von der romantisch-nazarenischen Theorie ausge-hend, die Kölnische Kunst sei die Erbin der alten römischen,mit ihren deutschen Gemälden des Mittelalters den Fond desKölner Museums geschaffen haben. In die Reihe dieser großenund planvollen, unablenkbar der einen Sache zugewandtenSammler ist Fuchs zu stellen. Sein Gedanke ist, dem Kunstwerkdas Dasein in der Gesellschaft zurückzugeben, von der es sosehr abgeschnürt worden war, daß der Ort, an dem er es auf-fand, der Kunstmarkt war, auf dem es, gleich weit von seinenVerfertigern wie von denen, die es verstehen konnten, entfernt,zur Ware eingeschrumpft, überdauerte. Der Fetisch des Kunst-marktes ist der Meistername. Geschichtlich wird es vielleicht alsdas größte Verdienst von Fuchs erscheinen, die Befreiung derKunsthistorie von dem Fetisch des Meisternamens in die Wegegeleitet zu haben. »Deshalb ist«, heißt es bei Fuchs von derPlastik der Tang-Periode, »die vollständige Namenlosigkeitdieser Grab-Beigaben, die Tatsache, daß man auch nicht ineinem einzigen Falle den individuellen Schöpfer eines solchenWerkes kennt, ein so wichtiger Beweis dafür, daß es sich in demallen niemals um einzelne künstlerische Ergebnisse handelte,sondern um die Art und Weise, wie die Welt und die Dingedamals von der Gesamtheit angeschaut wurden.«6 Als einerder ersten entwickelte Fuchs den besonderen Charakter derMassenkunst und damit Impulse, die er vom historischen Mate-rialismus erhalten hatte.Das Studium der Massenkunst führt notwendig auf die Frageder technischen Reproduktion des Kunstwerks. »Jeder Zeiteinsprechen ganz bestimmte Reproduktionstechniken. Sie reprä-senticren die jeweilige technische Entwicklungsmöglichkeit undsind … Resultat des betreffenden Zeitbedürfnisses. Aus diesem

6 Tang-Plastik, S. 44.

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Grunde ist es eine gar nicht verwunderliche Erscheinung, daßjede größere historische Umwälzung, die andere Klassen als dieseither herrschenden … zur Herrschaft … bringt, regelmäßigauch eine Veränderung der bildlichen Vervielfältigungstechnikbedingt. Auf diese Tatsache muß mit ganz besonderer Deut-lichkeit hingewiesen werden.«62 Mit solchen Einsichten istFuchs bahnbrechend gewesen. In ihnen hat er Gegenstände ge-wiesen, an deren Studium der historische Materialismus sichschulen kann. Der technische Standard der Künste ist einervon deren wichtigsten. Ihm nachzugehen macht manche Schä-digung wieder gut, die der vage Kulturbegriff in der landläufi-gen Geistesgeschichte (und bisweilen auch bei Fuchs selbst)anrichtet. Daß »Tausende der simpelsten Töpfer imstande ge-wesen sind, … technisch und künstlerisch gleich kühne …Gebilde förmlich aus dem Handgelenk zu formen«63, das er-scheint Fuchs mit Recht als eine konkrete Bewährung der alt-chinesischen Kunst. Technische Erwägungen führen ihn hin undwieder zu lichtvollen, seiner Epoche vorauseilenden Apercus.Nicht anders ist die Erklärung des Umstandes einzuschätzen,daß das Altertum keine Karikaturen kennt. Welche idealisti-sche Geschichtsdarstellung sähe darin nicht eine Stütze desklassizistischen Griechen-Bildes: seiner edlen Einfalt und stillenGröße? Und wie erklärt Fuchs sich die Sache? Die Karikatur,meint er, ist eine Massenkunst. Keine Karikatur ohne massen-weise Verbreitung ihrer Erzeugnisse. Massenweise Verbreitungheißt billige. Nun aber hatte »das Altertum … außer der Münzekeine billige Reproduktionsform«64. Die Münzfläche ist zuklein, um einer Karikatur Raum zu geben. Daher kannte dasAltertum keine.Die Karikatur war Massenkunst, auch das Sittenbild. Dieser

62 Honore Daumier, Bd. I, S. 3. – Man vergleiche mit diesen Gedanken dieallegorische Auslegung der Hochzeit von Kana durch Victor Hugo: »Das Wunderder Brote bedeutet die Vermehrung der Leser um ein Vielfaches. An dem Tage, dader Christ auf dieses Symbol geraten war, hatte er die Erfindung der Buchdrucker-kunst geahnt.« (Victor Hugo, William Shakespeare. Zitiert von Georges Batault,Le pontife de la demagogie: Victor Hugo. Paris 934, S. 42.)63 Dachreiter, S. 46.64 Karikatur, Bd. I, S. 9. – Die Ausnahme bestätigt die Regel. Ein mechanischesReproduktionsverfahren diente bei Herstellung der Terrakotta-Figuren. Unter ihnenfinden sich viele Karikaturen.

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Charakter trat, diffamierend, für die übliche Kunstgeschichtezu ihrem sonst schon bedenklichen. Anders für Fuchs; der Blickauf die verachteten, apokryphen Dinge macht seine eigentlicheStarke aus. Und den Weg zu ihnen, von welchem ihm derMarxismus kaum mehr als den Anfang gezeigt hatte, bahnteer sich als Sammler auf eigene Faust. Dazu bedurfte es eineran das Maniakalische grenzenden Leidenschaft. Sie hat die Zügevon Fuchs geprägt, und in welchem Sinne erfährt am besten, werin Daumiers Lithographien die lange Reihe von Kunstfreundenund von Händlern, von Bewunderern der Malerei und vonKennern der Plastik durchgeht. Sie gleichen Fuchs bis in denKörperbau. Es sind hochaufgeschossene, hagere Figuren, unddie Blicke schießen aus ihnen wie Flammenzungen. Nicht mitUnrecht hat man gesagt, in ihnen habe Daumier die Nach-kömmlinge jener Goldsucher, Nekromanten und Geizhälse kon-zipiert, die auf den Bildern der alten Meister zu finden sind.65

Ihrem Geschlecht gehört Fuchs als Sammler an. Und wie derAlchimist mit seinem ›niederen‹ Wunsch, Gold zu machen, dieDurchforschung der Chemikalien verbindet, in denen die Plane-ten und Elemente zu Bildern des spiritualen Menschen zusam-mentreten, so unternahm dieser Sammler, indem er den ›nie-deren‹ Wunsch des Besitzes befriedigte, die Durchforschungeiner Kunst, in deren Schöpfungen die Produktivkräfte unddie Massen zu Bildern des geschichtlichen Menschen zusammen-treten. Bis in die späten Bücher ist der leidenschaftliche Anteilspürbar, mit dem Fuchs diesen Bildern sich zugewandt hat.»Nicht der letzte Ruhm«, schreibt er, »der chinesischen Dach-reiter ist es, daß es sich in ihnen um eine … namenlose Volks-kunst handelt. Es gibt kein Heldenbuch, das von ihren Schöp-fern zeugt.«66 Ob aber solche den Namenlosen und dem, wasdie Spur ihrer Hände bewahrte, zugewandte Betrachtung nichtmehr zur Humanisierung der Menschheit beiträgt als der Füh-rerkult, den man von neuem über sie verhängen zu wollenscheint, das muß wie so manches, worüber die Vergangenheitvergeblich belehrte, immer wieder die Zukunft lehren.

65 Vgl. Erich Klossowski, Honoré Daumier. München 908, S. 3.66 Dachreiter, S. 45.

Bibliographische Notiz

Der Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Repro-duzierbarkeit wurde zuerst in einer französischen Übersetzung inder Zeitschrifl für Sozialforschung (Jg. 5, 936) veröffentlicht; diedeutsche Fassung erschien zum ersten Mal in Benjamins Schriften,Frankfurt a. M. 955. Der Aufsatz Kleine Geschichte der Photo-graphie erschien zum ersten Mal in der Literarischen Welt (8. 9,,25. 9. und 2. 0. 93), der Aufsatz Eduard Fuchs, der Sammlerund der Historiker in der Zeitschrift für Sozialforschung (Jg. 6,937). Die vorliegende Ausgabe enthält die für Benjamins Gesam-melte Schriften (Frankfurt a. M. 972 ff.) revidierten Texte.

»Man kann, was hier ausfällt, im Begriff derAura zusammenfassen und sagen: was im Zeit-alter der technischen Reproduzierbarkeit desKunstwerks verkümmert, das ist seine Aura.Der Vorgang ist symptomatisch; seine Bedeu-tung weist über den Bereich der Kunst hin-aus.«

ISBN 3 – 518 – 12424 – 2