zur kenntnis der appetitstörungen im kindesalter

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(Aus der Universit~ts-Kinderklinik in Wien [Vorstand: Prof. Dr. Clemens Pirquet].) Zur Kenntnis der AppetitstSrungen im Kindesalter. Von Egon Helmreich und Edmund Nobel, Assistenten der Klinik. Mit 9 Abbildungen ira Text. (Einffeffangen am 18. Juni 1923.) Es ist vielfach angenommen worden, dab die Ausniitzung der zuge- ftihrten Nahrung yon der Art der Nahrungsaufnahme beeinfluBt wird. Insbesondere haben die Mten Arzte darauf Wert gelegt zu betonen, dab es bei der Erni~hrung des Menschen nieht nur darauf ankommt, dab bestimmte N~hrwertmengen eingenommen werden, sondern auch darauf, dab die zugeffihrte Nahrung mit Appetit genossen wird. So finden wir in alten Btichern hi~ufig Ratschli~ge, dab die Mahlzeit mit Ruhe einge- nommen werden m6ge, dab whhrend der Mahlzeit. jede Bewegung vermie- den werde, wobei leichte, geistige Ablenkung und Ruhe naeh dem Essen die Verwertung der eingenommenen Nahrungsstoffe wesentlich begiinsti- gen solle. Aus den letzten Jahren verdanken wit Sternber!l eine ausge- zeichnete Arbeit fiber Appetit und Hunger, in der er viele interessante Beobachtungen in dieser Riehtung anftihrtl). Wenn selden unter 19hy- aiologi,che• Bedingungen dem Appetit, d.i. dem nattirliehen Trieb zur Einnahme yon Nahrungsstoffen zwecks Stillung des Hungergeffihles, eine solche ]3edeutung beigemessen wird, so spielt er bei den versehiedenen Krankheitszustiinden der Kinder und Erwachsenen eine noeh viel bedeu- tendere Rolle. Wenn wir die einzelnen Krankheitsbilder in Hinblick auf die Art der Nahrungsaufnahme des Patienten dnrehgehen, so finden wit wiederholt Angaben, welche bei einzelrmn Erkrankungen die regel- m~Big mit ihnen einhergehende Appetitlosigkeit als charakte15stisches Merkmal hervorheben. Es wird betont, daft bei gewissen Erkrankungen ein Widerwille gegen ganz besondere Speisen vorherrscht, weleher in extremen Graden dazu ftihren karm, dab die angebotene Nahrung tiber- haupt verweigei~ wird. Wiewohl wir derartige Angabert an den ver- schiedensten Stellen niedergelegt finden, so mtissen diese doch mit groBer Reserve verwertet werden, da der Appetit der Patienten bisher vielfach nicht nach einheitliehen PrSnzipien beurteilt wurde. Das Studium des 1) W. Sternberg, Das Nahrungsbediirfnis. Leipzig 1913.

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Page 1: Zur Kenntnis der Appetitstörungen im Kindesalter

(Aus der Universit~ts-Kinderklinik in Wien [Vorstand: Prof. Dr. Clemens Pirquet].)

Zur Kenntnis der AppetitstSrungen im Kindesalter. Von

Egon Helmreich und Edmund Nobel, Assistenten der Klinik.

Mit 9 Abbi ldungen ira Text .

(Einffeffangen am 18. Juni 1923.)

Es ist vielfach angenommen worden, dab die Ausniitzung der zuge- ftihrten Nahrung yon der Art der Nahrungsaufnahme beeinfluBt wird. Insbesondere haben die Mten Arzte darauf Wert gelegt zu betonen, dab es bei der Erni~hrung des Menschen nieht nur darauf ankommt, dab bestimmte N~hrwertmengen eingenommen werden, sondern auch darauf, dab die zugeffihrte Nahrung mit Appetit genossen wird. So finden wir in alten Btichern hi~ufig Ratschli~ge, dab die Mahlzeit mit Ruhe einge- nommen werden m6ge, dab whhrend der Mahlzeit. jede Bewegung vermie- den werde, wobei leichte, geistige Ablenkung und Ruhe naeh dem Essen die Verwertung der eingenommenen Nahrungsstoffe wesentlich begiinsti- gen solle. Aus den letzten Jahren verdanken wit Sternber!l eine ausge- zeichnete Arbeit fiber Appetit und Hunger, in der er viele interessante Beobachtungen in dieser Riehtung anftihrtl). Wenn selden unter 19hy- aiologi,che• Bedingungen dem Appetit, d.i . dem nattirliehen Trieb zur Einnahme yon Nahrungsstoffen zwecks Stillung des Hungergeffihles, eine solche ]3edeutung beigemessen wird, so spielt er bei den versehiedenen Krankheitszustiinden der Kinder und Erwachsenen eine noeh viel bedeu- tendere Rolle. Wenn wir die einzelnen Krankheitsbilder in Hinblick auf die Art der Nahrungsaufnahme des Patienten dnrehgehen, so finden wit wiederholt Angaben, welche bei einzelrmn Erkrankungen die regel- m~Big mit ihnen einhergehende Appetitlosigkeit als charakte15stisches Merkmal hervorheben. Es wird betont, daft bei gewissen Erkrankungen ein Widerwille gegen ganz besondere Speisen vorherrscht, weleher in extremen Graden dazu ftihren karm, dab die angebotene Nahrung tiber- haupt verweigei~ wird. Wiewohl wir derartige Angabert an den ver- schiedensten Stellen niedergelegt finden, so mtissen diese doch mit groBer Reserve verwertet werden, da der Appetit der Patienten bisher vielfach nicht nach einheitliehen PrSnzipien beurteilt wurde. Das Studium des

1) W. Sternberg, Das Nahrungsbediirfnis. Leipzig 1913.

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E. Hehnreich u. E. 5Tobel: Zur Kenntnis der Appetitstsrungen im Kindesalter. 165

Appetits bzw. der AppetitstSrungen muI~ im Kindesalter eine ganz be- sondere Rolle spielen, da w i r e s bei den verschiedenen Erkrankungen der Kinder, wie in keiner anderen Disziplin der Medizin, mit ganz diffe- renten Krankheitsbildern zu tun haben, wobei das so versehiedene Alter der kindliehen Kranken die Beurteilung der Appetitst6rungen besonders erschweren mu~.

Das Studium des Appetits und der Appetitst6rungen wurde besonders dadurch gef6rdert, daI] es uns gegenw~rtig nach der Methode you P. Panzer 1) m6glich ist, die Ei~lust tibersiehtlieh darzustellen, und wir so imstande sind, mit einem Blick zu beurteilen, wie die angebotene Nahrung yon dem kranken Kinde wi~hrend einzelner Mahlzeiten, w~th- rend des ganzen Tages und w~hrend langer Zeitperioden eingenommen wurde. Ftir je4e eingenommene Mahlzeit bezeichnet die Schwester auf der Temperaturkurve den Appetit des Kindes, indem allc Abweichungen vom normalen Appetit (a) oberhalb einer i ~ horizontalen Linie verzeiehnet werden, falls der Appetit a e ~ gut (e) bzw. sehr gut war (i), und unterhalb der Linie des a ~ normalen Appetits, wenn die Nahrungsaufnahme schleeht (o) ' oder sehr schleeht gewesen ist (u). Wir sind auf diese Abb. 1. Weise auch leicht imstande, die Art der Nahrungsaufnahme mit der Qualit~t der angebotenen Nahrung zu vergleichen und den etwaigen Effekt einer qualitativen Nahrungsi~nderung zu beurteilen.

Wir gingen nun bei unseren Studien in der Weise vor, dab wir ver- sehiedene wohlbekannte Krankheitsbilder der Kinder zusammenfafiten und die Art de r Nahrungsaufnahme bei den betreffenden Krankheiten beobachteten, wobei naturgem~l~ die Qualitat der Nahnmg, das Alter des Kindes, die Temperaturverh~iltnisse, die Art der Entleerung und bestehendes Erbreehen, weiterhin das subjektive Befinden des Patienten und das Sensorium desselben eingehend beriicksichtigt wurden. Auch die Quantit~t der angebotenen Nahrung mui3 dabei in Betracht gezogen werden, da es ja begreiflich erseheint, dab bei einer geringen Nahrungs- menge diese gierig aufgenommen wird, wi~hrend bei Erh5hung derselben der gute Appetit in Appetitlosigkeit umschli~gt. Unsere Beobachtungen erstrecken sich auf mehrere hundert Kinder, wobei wir in "der folgenden Zusammenfassung eine Auswahl in dem Sinn getroffen haben, dal~ wit bei immer gleichbleibenden Typen blo~ einzelne charakteristische F:,ille gleichsam als Musterbeispiele ftir die betreffende Krankheitsgruppe aus- gewi~hlt haben. In diesem Sinne umfal~t unser Material 105 Kinder, wobei die Aufteilung auf einzelne Krankheitsgruppen sich folgender- mal]en gestaltet : 15 Friihgeburten, 11 F~lle yon Morbus Barlow, 7 FSlle yon Erythrodermia desquamativa, 6 F~lle von Furunculose und Sepsis,

1) p . Panzer, Die graphische Darstellung des Appetits und der Bewegungen der S~uglinge auf den ~bersichtskurvcn. Zeitschr. f. Kinderheilk. 29, 90.

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166 E. Helmreich und E. Nobel:

6 Falle von Lues hereditaria, 5 Tetanuserkrankungen, 7 Keuchhusten, l l Dysenterien, 5 FiiIle yon Typhus und Paratyphus, 13 Diphtherien, 7 FMle yon Scharlach, 8 Fi~lle yon Masern und endlich 4 Fi~lle yon Me~)ingitis cerebrospinalis und Eneephalitis~).

Was die Beurteilung des Appetits bei Sauglingen anlangt, so stoBen wir hier auI besondere Schwierigkeiten. Vor allem miissen wit bedenken, dab sich bei Si~uglingen der Appetit, also das Verlangen nach Nahrung, und der Durst nicht ohne weiteres trennen lassen, so dab der Wunseh naeh Fliissigkeitsaufnahme zur StiUung des Durstgeftihles Ieieht mit dem Hungergefiihl verweehselt werden kann. Auch miissen wir be- denken, dab der Schluckakt an sich erst eingefibt werden muff, und wir miissen uns hiiten, eine anfi~ngliche Ungeschickliehkeit beim Trinken

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Abb. 2, Frtihgeburt. Anfangs Sondenfiitterung we- gen SchwKche, beim Xlterwerden des Kindes bei

spontaner Nahrungsaufnahme Appetib gut.

mit Appetitlosigkeit zu verwech- seln.

Eine ersehwerte Nahrungs- aufnahme bei einer angeborenen Miflbildung (z. B. Hasenseharte) wird gewiB niemand als Appetit- losigkeit auffassen wollen. Noch manehe andere Mornente k61men beim Saugling die Nahrmlgs- aufnahme erschweren, ohne dab eigentliche Appetitlosigkeit be- steht. Auf diese werden wir gleich zu sprechen kommen.

Was zuniichst die Nahrungs- aufnahme bei normal entwickelten neugeborenen Kindern mflangt, so

ist es bekannt, dab diese entweder veto Anfang an einen guten Appetit aufweiscn oder aber die erste Ungesohicklichkeit beim Trinken raseh iiberwinden. Anders verhdlten sieh untergewichtig geborene, insbesondere ]riihgeborene Kinder in bezug auf die Art des Trinkens.

Wenn wir die soheinbare Anorexie be/friihgeborenen und schwachen neugeborenen S&uglingen richtig beurteilen wollen, werden wir annehmen mtissen, dab bei nicht vollentwickelten S~tuglingen die Nahrungsver- weigerung zum groBen Tell damit zusammenh&ngt, dab die Geschmaclcs- emp/indung dieser Kinder noch nich~ gut ausgebildet ist. Die Nahrungs- aufnahme kann bei solchen Kindern so schlecht sein, dab der Arzt g e - zwungen ist, zur kiinstlichen Fiit terung bzw. zur Sondenfii~terung zu greifen und doch ist diese schlechte Nahrungsaufnahme durehaus nicht

1) Von der Wiedergabe des groBen Tabellenmaterials der einzelnen Krank- heitsgruppen wurde, um Raum und Kosten zu sparen, Abstand genommen. Wir bringen nur 2 TabeIlen als BeispMe.

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Zur Kenntnis der AppetitstSrungen im Kindesalter.

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168 E. Hehnreieh und E. Nobel:

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gleichzusteUen mit einer wirk- -~ lichen Appetitlosigkeit. Wir se-

hen, dab nach li~nger dauernder Sondenfiitterung sich sogleich

~- normaler und gieriger Appetit .- einstellt (s. Abb. 2), so daI~ wir

Recht haben anzunehmen, die ~ urspriingliche Verweigerung der

~ . Nahrung mit einer mangelhaften ~ Ausbildung des Zentralnerven- -~ ~ systems in kausalen Zusammen-

~ hang zu bringen. In gleicher Weise mtissen wir

eine Nahrungsverweigerung be! S~tuglingen nnd ~lteren Kindern bei mehreren Infektionskrank- heiten auffassen, z. B. beim Teta-

nus und Keuchhusten, bei welehen Erkrankungen die h~ufig beob- aehtete mangelnde Nahrungsauf- nahme durchaus nieht im Sinne

-~ einer Appetitlosigkeit gedeutet werden dad .

Auf Grund unserer Beobaeh- tungen haben wir den klinischen Eindruck, dab der Appet i t beim

�9 ~ Tetanus im allgemeinen nicht ge- stSrt ist. Bekanutlich ist auch das Sensorium in der l~egel selbst bei schweren Krampfzust~nden frei, und so mull wohl die man- gelnde Nahrungsaufnahme beim Tetanus auf rein ~u~ere Momente zurtiekgeftihrt werden, n~mlieh dan_n, wenn wegen bestehenden Trismus die Nahrung aus me- ehanisehen Grtinden nieht beige- bracht werden kann. Gerade beim S~uglingstetanus pflegt der Tris- runs frtihzeitig und sehr intensiv ausgesproehen zu sein, so dal3 es in vielen Fallen tatsachlieh un- mSglieh wird, solchen Ssuglin-

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Zur Kenntnis der Appetitstorungen im Kindesalter. 169

gen auf normMem Wege Nahrung beizubringen. Wie wit aber aus folgender Kurve ersehen, gelingt es durch konsecluente und regel- mgBige Sondenfiitterung, welche in extremen Fgllen durch die Nase vorgenommen werden muB, aueh wi~hrend der akuten Krankheits- symptome befriedigendeu Gewichtsansatz oder wenigstens ein Gleieh- bleiben des K6rpersgewiehtes zu erzielen (s. Abb. 3). Dg die Toleranz-

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Abb. 8. Tetam~s~ durch 5 Wochen Sondenfi i t terung d~tch die Nase, dabei K6rpergleichgewtcht, hierauf spontane /~ahrungsaufnahme mit gutem Appeti t und bei gutem K6rpergewichtsanst ieg.

breite nieht geschm~iler~ ist, k6nnen entsprechende Nahrwertmengen zugefiihrt werden, u n d e s ist wohl aufier Zweifel, dab wit dutch die op~imale Ernghrung bzw. durch den erzlelten Gewichtsansatz die aus- sichtsreichste Vorbedingung schaffen, um die Abwehrkrgfte des Kindes gegenfiber der Giftwlrkung der Tetanusbacillen entsprechend zu erh6hen. Das Heilserum Mlein ohne Beriicksichtigung der za~ nz~z entsprechenden Erni~hrung wiirde bei solchcn .~ 75~o z ~. e q. ~ s. ~ ~, I I I I I I I I

Fgllen zweifellos nicht geniigen. W~hrend das : ~ bisher angefiihrte ffir den unkomplizierten Te- ~ woo tanus Geltung hat, sehen wir, dM~ die Kom-N, hru,2s-

. . . . . . . ~u~h~e ~hkatwn m~t Pneumon~e den Appet~t szchthch ~oo verschlechtert. ~ ~gfi

Beim unkomplizierten Keuchhusten finden ~ ~: wir ghnliche Appdtitverh~ltnisse wie beim Te- aso tarms. Bei S~uglingea und Mteren Kindern konnten wir die Feststellung machen, dab der Appetlt wiihrend des unkomplizierten Keuch- hustens im allgemeinen gut ist (s. Abb. 4). Dieser Befund, der eindeutig aus uaseren Beob- achtungen hervorgeht, hat uns iiberraseht, und wir haben wohl Grund zu behaupten, dab der Eindruck einer Appetitlosigkeit w~hrend des

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Abb.4. Unkomplizierter Keuchhus ten mi t vor- wiegend gutem Appetit.

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170 E. Hehnreich und E. Nobel:

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Keuchhustens dutch da8 Er- brechen vorget~iuscht wird, fiir das wohl rein mecha- nisehe Momente (Husten- st6Be) maBgebend sein dtirf- ten. In der Tat wird ja mit l~echt darauf hinge- wiesen, dab die Nahrung keuchhustenkrankcn Kin- dern nach einem Husten- anfall angeboten werden m6ge, well die Nahrungs- verweigerung weniger auf eine wirkliche AppetitstS- rung zurtickgefiihrt werden d~rf, als viehnehr auf die Angst der Kinder, nueh der Nahrungs~ufnahme wieder erbrechen zu mtissen. Hier wird die qualitative Di~ito- therapie in ihre Reehte kommen, da wir vielfach sehen, da$ Hustenunf~lle nur durch bestimmte Spei- sen ausgel6st, werden (Brot, Obst, Weintrauben), w~h- rend anders zus~mmenge- setzte Mahlzeiten gut ein- genommen und vertragen werdem

Wahrend also beim un- komplizierten Keuchhusten die Nahrungsaufnahme im allgemeinen ~ls gut bezeich- net werden kann, sehen wir, dab eine komplizierende Pneumonie den Appetit in der Regel sichtlich und ein- deutig versehlechtert (siehe Abb, 5). Dal~ diese Appetit- verschlechterung wirklich mlt der Pneumonie zusam- menh~ngt und nieht mit der

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Zur Kenntnis der Appetitst0rungen im Kindesalter. 171

bloBen Kombination des Keuohhustens mit einer zwdten Iiffektions- krankheit, dafiir sprechen unsere Beobaehtungen an keuehhustenkran- ken Kindern, welche wgkrend des Keuchhustens Varicellen, Rubeo- len usw. durehgemacht haben (s. Abb. 6). Fe~,.w~. ##rz

.~ qO00, Das Studium derAppetitverhgltnisse ist ~g bei der Si iug l ingspneumonie auBerordentlich ~ wichtig, muB doch dasselbe bei dieser Erkran- ~ ~5oe knng vielfach einenErsatz bieten/fir klinieche ~a/~z~e]~-

�9 . ctu/hah~ne Symptome , dm bez Erwachsenen oder glte- ~o ren Kindern konstant mit ihr einhergehen, qoo

~39 o Einer von uns ~) hat bereits im Jahre 1920 ~ a~~

I~. 37 ~ darauf hingewiesen, dab die indirekten Sym- a~o

35 ~ . . . . . ptome bei der Pneumonie der frfihgeborenen und lebensschwaehen Kinder, der sogenann- ten ~sthenischen Pneumonie, darunter an er- ster Stelle die Appet&losigkeit, eine wiehtige Handhabe bieten zur frtihzeitigen Erken- nung dieser Krankheit . Bei schwachen S~ug- lingen fehlen h~iufig die sonst fiir Pneumonie eharakteristischen kli~isehen Mcrkmale; die physikulisehe Untersuchung, die Perkussion und Auskultation sowie auch die R6ntgenuntersuchung k6nnen dabei v611ig im Stiche lassen, und der Arzt wird vielfach nur durch die einse~zende Appetitlosigkeit,

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Abb. 5. Keuchhusten und Pncumonie mit deutlich ver-

schlechtertem Appetit.

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Abb. 6. Keuchhusten m~d VariceIIen mit gut erhaltenem Appetit.

wdche nebst anderen Symptomen (graue Verfgrbung der Haut , galliges, blutiges Erbrechen, meningeale Erscheinungen, Cyanose, Dyspn6e)

1) E. Nobel und _h r. Dabowslcy, Beitrag zur Diagnose der asthenischen Pncu- monie der friihgeborenen und lebensschwachen Si~uglingc. Zcitschr. f. Kinder- heilk. 31, 188.

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172

sehon fz4ihzeitig auftritt, darauf aufmerksam gemacht, dab es sich um eine beginnende Lungenaffektion handeln kSnnte. In der Tat /inden wit bei Pneumonie die Appetitlosigkeit in der Regel alo ganz charakteristi- sches und [ri~hzeitiges Symptom, welches die gr6flte Beachtung verdient. Wir verzichten darauf, hier ein grSBeres, statistisches Material dieser Krankheitsgrulape zu besprechen und m6chten gleichfalls als Muster- beispiel auf folgende Abbildung verweisen (7), welche die typisehe Ver- schlechterung des friiher guten Appetits deutlich erkennen l~B$. Nur

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Abb. 7. S~uglingspneumonie (ast~henische l~mumonie) mit deutliche~ Verschlechterung des v o r -

h e r guten Appetits.

vereinzelt sehen wit Falle, bei denen die begirmeade oder bestehende Lungenerkrankung sich in der Appetitkurve nieht ausdriickt.

Sehr interess~nt ist d~s Verhalten der Art der lq~hrungsuufn~hme bei den verschiedenartigen Brechzustiinden im S~uglingsalter. Bekannt- lieh kommen Brechzust~nde aus den versehiedensten Ursachen vor und k6~men entweder mit Obstipation einhergehen oder mit gleiehzeitig vermehrten Stiihlen, welehe die versehieden~rtigste Beschaffenheit aufweise~ k6nnen. Bei bloBem Erbreeher~ ohne gleichzeit, ige Versehlech- terung der Stuhlqualit~t (wobei in der Regel Stuhlverhaltung zu bestehen pflegt) ist eine rein nervSse StSrunff der Magenfunktion anzunehmen, wobei allerdings gleieh hier hervorgehoben werden muB,. d~B auch

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Zur Kenntnis der Appetitstorungen im Kindesalter. 173

sogenaImte I-Iungerdiarrh6en bei rein nerv6sen Brechzustiinden sich einstellen k6rmen. Es soil hier nieht auf die versehiedenartige Klassi- fikation der rein nerv6sen Brechzustande im S~uglingsalter eingegangen, sondern die einsehli~gigen Krankheitsbilder ~,9~,~z~. mtr vom Standpunkte des Appetites ins Auge gefaBt werden. Die Toleranzbreite er- seheint bei stark untergewichtigen Kindern wesentlich herabgesetzt. Die individuelle Ver- sehiedenheit spielt dabei eine auBerordent. liehe Rolle und es ist in keinem Falle vor- auszusehen, wieweit die Herabsetzung der

/am. s Nahrungsbreite ~zsa~ sa /., ~ , ~ . /. vorgeschrit ten

g i ~ ist. Bei diesen "~ 2oa~ ~ - - FMlen li~gt die

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Abb. 8. Toleranzsch~tdigung bei einem mehrten Sttih- 2V, Non. al ten SStugling mit bloB 2300 g, Appeti t noch erhalten, als bereits KiJr- leI1 v o r h a n d e n pergewiehtsabnahme und reichlich l~r- i s t , der hppet i t

breehen vorhanden. noeh durchaus

gut verzeiehnet erseheint. Wenn wir hingegen wi~hrend der Periode des einsetzenden Er- brechens die Gewichtskurve betrachten, so sehen wir, dab das zuni~chst gleichmiLBig an- steigende K6rpergewieht stehenbleibt und ein

Abb. 9. Hitzese'h~digung, Appet i t pl6tzlicher Gewiehtssturz um beiliLufig 250 g t rotz hochgradiger I terabsetzung an einem Wage einsetzt, zu welcher Zeit aller- der Toleranzbreite noch vcrhtilt-

nismallig gut . (6 Monate al ter dings der Appetit bedeutend versehlechtert Saugnng.) erscheint, bei weiterer Vermehrung und Ver- sehlechterung der Stiihle und Zunahme des Erbrechens (s. Abb. 8).

Bedeutungsvoll wird die Beachtung dieser Tatsachen bei jenem Symptomenkomplex, den wir als Hitzeschiidigung 1) der Si~uglinge auf-

1) E. Nobel, Beitrag zur Klinik der Hitzeschi~digungen der Sauglinge. Zeit- schrift f, Kinderheilk. 33, 96.

Zeitsehrift fiir Kinderheill~unde. XXXVI. 12

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174 E. Helmreich und E. ~/obcl:

fassen. Hier kann die Nahrungsaufnahme trotz bereits bestchender odor immincnter Herabsetzungder Toleranzhrei tenochgut sein (s.Abb.9). Die gute Nahrungsaufa~hmc bei soIchen Kindern mul3 wohl vielfach auf den erhShten Durst der S~uglinge zuriickgeftihrt werden. Gerade bei solchen S~uglingen besteht die Gefahr, dab mail den tats~chlich vorhandenen oder vermeintlichen Durst durch Mehrzufuhr von Milch zu stillen such~, wodurch eine zum Tocle fiihrende Verschlechterung hervorgerufen werden kann.

Dem gut erhaltenel~ Appetit bei den rein nerv6sen Brechzusliin~ten im S~uglingsalter kann (mit Ausnahme der friiher erw~hnten stark untergewichtigen Kinder) ohne Bedcnken Reehnung getr~gen werden, da es sich bei diesen nicht um eine Toleranzschi~digung hundelt. Nerv6se Brecher vertragen in der Regel grofie N~hrwertmengen gut, eine reich- liche Ern~hrung eventuell mit q ualitativer Andcrung der Nahrung wirkt meistens gtinstig auf das Erbreehen.

Unsere barlowkranken S~uglinge zeigen w~hrend des akuten fieber- haften Stadiums meistens Anorexie, welche bei Besserung des Krank- heitsbildes normaler El~lust weicht. Doch kann auch, wie bei dem Kinde N. E., 71/u Monate alt, t rotz hohen Fiebers der Appetit gut sein. Auf pl6tzliehe unmotivier t einsetzende Gewichtsstfirzc hat bereits einer yon uns 1) hingewiesen und der Meinung Ausdruck gegeben, daft diese Ge- wichtsstiirze auf klinisch nicht nachweisbare 0deme bzw. deren Aus- schwemmung zurtickgeftihrt werden dtirften. Die Kcmltnis dieser Tat- sache erscheint wiehtig, weil Unter Umstiinden solche Gewichtssttirze als Ausdruck ciner einsetzenden schweren StSrung angesehcn werdcn k6nnten. Weiter sehen wir, da]] t rotz einer [nappetenz w~hrend des akuten Stadiums vine ansteigende Gewichtskurve erzielt wcrdcn kann, und zwar eine ziemlich gleichm~l]ige Gewichtszunahme, welche nieht die Annahme aufdr~ngt, da~ sie mit einer pathologischen Wasseran- sammlung indentifizier~ werden muir.

Die Erythrodermia desquamativa stellt eine Erkrankung dar, deren J~tiologie noch vollkommen unbekannt ist. Ob es sieh um eine Konsti- tutionss~nomalie, um eine Ern~ihrungsschi~digung o d e r um cine ange- borene MiBbildung oder, wie zuletzt Wittmann 2) vermute t hat, m6g- licherweise mn Folgezusti~nde yon Infekt ionen handelt, k6nnen wit nicht aussagen. Jedenfalls steht eine Tatsache fest, dab die Erythrodermie in durchaus verschiedenen Formen verlaufen kann und dal~ alle jene Krankheitsbilder dieser Gruppe als schwere bezeichnet werden mtisscn, bei denen die Magendarmst6rungen im Vordergrunde stehen. Wir ersehen aus unserem Material, dal~ bei leichten Fi~llen von Erythrodermie, bei

1) E. Nobel, Zur Barlow-Frage. Zeitschr. f. Kinderheilk. 28, 348. 2) Johann Wittmann, Beitrag zur Klinik der Erythrodermia desquamativa

(Lcincr). Zeitschr. f. Kinderheilk. 35. 1923.

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Zur Kenntnis der Appetitsti~rungen im Kindesalter. 175

denen nur wenig Erbrechen vorhanden ist, der Appetit erhalten sein kann. Falls der Zustand sich bei solehen Kindern nicht bessert und das Erbrcchen zunimmt, h(irt der gute Appetit auf und die Kinder verweigern die •ahrung. Das gleiche Verhalten k61men wit bei schweren Fallen dieser Krankheitsgruppe beobachten, die sehon friihzei~ig mit Erbreehen und Durchfi~llen einhergehen und bei jenen, wo z. B. eine komplizie- rende Pneumonie hinzutritt .

Wenn wir unsere Shuglinge, die wegen Furunkulose und allgemeiner Sepsis in Behandlung gewesen sind, auf ihre Appetitverh~tltnisse genauer betrachten, so sehen wir, dab trotz schweren Allgemeinbefindens in einigen Fi~llen der Appetit nieht gest6rt war. Ob es sich hier um erh6hten Durst gehandelt haben mag, wollen wir dahingestellt sein lassen. Wir k6nnen aber die Feststellung machen, dab besonders bei den an Sepsis erkrankten S~uglingen dieser erhaltene Appetit gefahrdrohend sein kann, da er zur Uberschreitung der Toleranz zu ftihren imstande ist. Zwei an Sepsis erkrankte Si~uglinge zeigten bei vorher gutem Appetit im fieber- haften Zustand grSBere Gewichtssttirze, welehe mit Erbreehen und DurehfaIl verbunden waren und die wohl auI ~bersehreitung der Toleranz zuriickgeffihrt werden k61men. Beide Kinder erhielteniNi~hrwertmengen, welche bei sonst gleichaltrigen Kindern innerhalb ihrer Toleranzbreite lagen. Es muB demnach auf die Einschrdnlcung der Toleranzbreite bei Furunl~ulose und Sepsis von vornherein geaehtet werden.

Interessant ist das Verhalten der Nahrungsaufnahme bei der Dysen- retie, deren Bilder bekanntlich trotz der verschiedenartigen Atiologie mit ~hnliehen klinisehen Symptomen abzulanfen pflegt. Wenn wit unser Material fiberblieken, so k6nnen wir feststellen, daft die unkomplizierte Dysenterie, auch werm sie mit Fieber und mit sehr reiehlichen und blutigen Stfihlen einhergeht, in der Regel den Appetit nicht herabsetzt. Obwohl sich in einigen F~llen die Temperatur bis fiber 40 o erhoben hat te und reichliche Sttihle da waren, sahen wir, dab der Appetit solange unge- st6rt war, als keine Komplikationen zu verzeichnen gewesen sind. In dem Momente; wo bei der Dysenterie Komplikationen z. B. in Form eines Serumexanthems, oder Komplikationen von Seiten des Rachens, der Nase und der Drii~en auftraten, wurde der Appetit gleieh schlecht. Diese Ver- schleehterung des Appetits dutch die Komplikation der Krankhei t mit Serumexanthem ist aber nicht konstant, da auch bei deutlich ausge- bildetem Serumexanthem der Appetit ungest6rt bleiben kann. Aueh wahrend der alcuten /ieberha/ten Periode, die mit blutig schleimigen Sttihlen einherging, zeigten die Kranken meist einen durehaus guten Gewichtsanstieg.

In einem Falle sahen wir, dab der Appetit anfangs durchwegs gut gewesen ist, auch die K6rpergewichtszunahme befriedigend war, aber komplizierende Masern und ebenso Varicellen bei diesem Kinde den

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Appetit versehlechterten, wobei diese Masern auch ungtinstig auf die Dysenterie einwirkten in dem Sinne, daI~ die Sttihle wieder schlecht wurden, wiihrend die Varieellen kein Rezidiv der Dysenterie bewirkten. Da demnaeh bei der Dysenterie weder der Appetit noch die Toleranz- breite gesehmiilert erseheinen, miissen wir auf die Beobaehtungen von v. Groer besonders hinweisen, wonach bei der Dysenteric eine quantitativ reiehliehe Erni~hrung indiziert erscheint, um dureh diese Gewichts- anstieg und damit reiehliehe AntikSrperbildung zu erzielen.

Bei den Erkrankungen der Typhusgruppe kSnnen wit i~hnliehe Beobachtungen machen, wie dies uns bei der Dysenterie m5glich war. Unser Material umfaBt Kinder der versehiedcnsten Altersstufen vom S~uglingsalter bis zum Ende des Kindesalters. Die Patienten befanden sich in versehiedenen Stadien der typhSsen Erkrankung; wir sahen, da~ der Appetit bis auf den Fall, der ein 5'/2]~hriges M~d~hen betriff4, durehaus gut war, aueh zu einer Zeit, wo noch hohes Fieber bestand und wo reiehlieh Erbrechen und DurehI~lle vorhanden waren. Der gut erhaltene Appetit beim Typhus des Kindes hiingt wolff zum grol3en Tell damit zusammen, dab es sieh hier um eine wesentlich leiehtere Er- krankung handelt, als beim Erwaehsenen und die Benommenheit nieht in dem BIaBe das Krankheitsbild beimrrscht als im spi~teren Alter.

Unser Dit)htherie-Krankenmaterial erstreckt sich auf 13 Kinder, welehe in verschiedenem Alter standen, und zwar yon 11/~ Jahren bis 10 Jahren. Wir sehen die verschiedensten Formen der Diphtherie ver- treten, Nasen-, Rachen-, Augendiphtherie, den leiehten und sehweren Krupp. Die Temperatur der Kinder sehwankt, mitunter waren die Patienten fieberfrei, mitunter betrug die Temperatnr 39 ~ Der allge- meine Eindruek bei der Ubersicht unserer Fi~lle ergibt, dab der Appetit bel der unkomplizierten Diphtheric im ganzen gut ist. Bei einem 31/~jahr. Kinde ist derselbe auch wi~hrend des Fiebers nur bei einzelnen Mahlzeiten sehleeht. Nur bei einem Fall yon sehr schwerem Krupp sehen wir, daI~ w~hrend der Fieberperiode, welche etwa 5 Tage andauert, die lgahrungs- aufnahme sehr schlecht war; bei diesem Kinde bestand um jene Zeit sehwere Cyanose lind Lufthunger. Mit Besserung des Allgemeinbe- lindens kormte eine damit parallel einhergehende Hebung des Appetits festgestellt werden, eine Erseheinung, auf die Helmreich und Schiclc 1) bereits hingewiesen haben. Diese Autoren haben darauf aufmerksam gemacht, dab w~hrend des Diphtheriekrupps die Nahrungsverweigerung mit Lufthunger zusammenh~ngen diiffte, mit weleher Anschauung gut iibereinstimmt, da]~ die zuni~ehst Stenoserseheinungen darbietenden Kin- der nach durchgeftihrter Intubation gierig die Nahrung aufnehmen. Es diirfte sieh bei der Diphtherie und besonders beim Krupp also nicht

1) E. Helmrelch und B. Schick, l~ber konzentrierte E~hhrung. und deren Indikation. Zeitschr. f. Kinderheilk. 30, 121.

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um eine primKre Beeinflussung des Appetits handeh!, sondern nur um mechanische Momente, welche den Lufthunger verursaehen; es ist hier noehmals darauf zu verweisen, dab bei einer anderen Krankheit, bei der der Lufthunger im Vordergrunde der Erscheinung steht, die Appetit- losigkeit als eharakteristisehes Krankheitssymptom beobachtet wird. Sie igt bei der Pneumonie yon langer Dauer, da wir den Lufthunger hier nicht so leicht beeinflussen kOrmen wie beim Krupp. Dafiir, dab die Toleranz bei der Diphtherie sieherlieh nicht wesentlieh herab gesetzt ist, sprieht die Tatsache, dab unsere Patienten aueh w~hrend des fieberhaften Stadiums Ni~hrwertmengen yon 5--8 dnsq. zugefiihrt bekamen und behielten, also Nhhrwertmengen, die in anbetracht der v611igen Bettruhe zweifellos als reichlich bezeiehnet werden k6nnen. Anders liegen die Appetitverh~ltnisse bei schwerer septischer Diphtherie; hier bildet die einsetzende Appetitlosigkeit ein Signum mali ominis.

Nieht so gleiehmi~Big wie bei der Diphtheric erscheinen die Appetit- verhi~ltnisse beim Scharlach. Unsere 7 Scharlaehfi~lle befinden sieh in den verschiedenen Stadien: bereits abklingend, solehe auf der H6he, unkom- plizierte Fi~lle und andere mit versehiedenartigen Komplikationen (Lymphadenitis postsearlatinosa, Varicellen). W~hrend wir bei der Diphtherie gesehen haben, dab der Appetit mit Ausnahme des einen Falles yon sehr schwerem Krupp als gut bezeiehnet werden konnte, sehen wir beim Scharlach kein so gleichm~ifliges Verhalten. Bei einem Fall von abklingendem Scharlach war der Appetit anhaltend gut; aueh bei einem Fall yon leiehtem Scharlach war w~hrend der Lymphadenitis postscarlatinosa keine Versehleehterung des Appetits naehweisbar. Im iibrigen sahen wir, dab w~hrend des akuten Fieberzustandes der Appetit weehselte, einzelne schlecht eingenommene Mahlzeiten folgten solehen, die mit gutem Appetit genossen wurden. Starke Halssehmerzen beeintrachtigten den Appetit im Beginne der Erkrankung sichtlich in ungiinstigem Sinne. In der Rekonvaleszenz ist der Appetit andauernd gut. Bei einem Falle handelte es sich um einen frischen Seharlaeh mit spiiterer Driisensehwellung und hi~morrhagiseher Nephritis. Wir Sahen bei diesem aueh wi~hrend der Nierenkomplikation keine Verschlechterung des Appetits. Auf ein Moment muB hierbei besonders geaehteV werden; die hi~morrhagisehe Nephritis bildet bekanntlich eine hi~ufige und gefiirchtete Komplikation des Scharlachs; um diese zu vermeiden, werden die Kin- der oft bei einseitiger Milehkost gelassen. Seitdem wir nun insbesondere auf Grund der ausgedehnten Beobachtung Posl~ischils wissen, dab eln- seitige Milehdii~t nieht imstande ist die komplizierende Nephritis zu ver-

hiiten, wird es sich ertibrigen k6mmn, den Appetit der Kinder mit ein- seitiger Kost ungiinstig zu beeinflussen. E rkranken doeh vielfaeh i~ltere Kinder an ScharIach, welehe bei einseitiger Mflchkost arg leiden und die Nahrung nur sehlecht aufnehmen, w~hrend sie eine gemischte Kost mit

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Appetit genie13en. Die N~hrwertmengen, die wir unseren Kindern zu- geft~hrt haben, schwanken zwischen 5 w 9 dnsq. Da wir Sch~digungen, welehe diesen Nahrwertmengen zugesehrieben werden kSnnten nieht gesehen haben, miissen wit zu dem Schluf$ kommen, dab auch beim Scharlach keine wesentliche Herabsetzung der Toleranz besteht.

Bei den Masern herrseht die allgemeine Ansicht vor, dal~ die Toler~nz- breite deutlieh herabgesetzt sei. Auf Grund unserer F~lle kSnnen wir diese Annahme nicht besthtigen. Wiewohl unsere Kinder eine Tempe- ratur yon 39 ~ bzw. 40 ~ aufwiesen, sehen wir, dal3 sie bei N~hrwert- mengen yon 5 - -6 dnsq sogar vielfach guten Appetit gezeigt haben. Die Lehre v o n d e r Herabsetzung der Toleranz bei den Masern seheint also in ~hnlicher Weise auf einer vorgefal3ten Meinung zu beruhen, wie die allgemeine Annahme, dal3 frische Luft, Luftzug usw. auf den Masern- proze13 ungiinstig eirLwirkt.

Die Tuberlculose kann ganz abgesehen von den versehiedenen klizH- sehen und anatomischen Formen, die sie aufweist, als eine Erndihrungs- kranlcheit aufgefaBt werden in dem Sinne, dal3 der tuberkulSse Proze[3 bei schlechtem Ern~hrungszustand zweifellos zur Progredienz neigt. Bei den sehweren Formen der Tuberkulose bietet die Appetitlosigkeit die grsl3te Schwierigkeit in der Behandlung undes sind alle medikamen- tSsen Mittel, welche zur Behebung der Appetitlosigkeit empfohlen werden nur yon problematisehem Wert. Wir haben den Einflu[~ verschiedener appetitanregender Mittel auf die Nahrungsaufnahme untersueht, indem wir auf unserer Tuberkulosestation allen Kindern, deren E~lust schlecht war, die einzelnen Mittel in 10 t~gigen Perioden verabreiehten. Wir unter- suchten in dieser Weise den Einflul~ der Tct. amara und der Tet. chinae, des Eisens, des Arsens und des Orexins in den tiblic]aen Dosen, sowie des Lebertr~ns als Vitamintr~ger. Wit haben dabei keinerlei einwandfreie Besserung der Appetitverh~ltnisse feststellen kSnnen.

Und doch miissen wit bei der Tuberkulose der Hebung des Appeti ts viel mehr Augenmerk zuwenden, als bei den anderen Erkrankungen im Kindesalter, speziell bei den akuten Infektionskrankheiten; handelt es sieh doeh bei der Tuberkulose um eine exquisit ehronisehe Erkrankung, die auch in ihren leichten Formen viele Monate ja J~hre zur I-Ieflung braueht. Sind wit imstande bei der Tuberkulose den herabgesetzten Algpetit der Kinder zu heben, so haben wir die besten Vorbedingungen ge- schaffen, welche erforderlieh sind, um dieser geftirehteten Krankheit Herr zu werden. Seit Jahren wird an der Wiener Kinderklinik die Freilu]t- behandlung der Tuberkulose in systematiseher Weise durehgefiihrt, und es ist nur zu bedauem, dab diese rationelle, einfache und relativ bill ige Behandlungsart noeh nieht Gemeingut aller ~rzte geworden ist. Durch den Aufenthalt in der frisehen Luft sehen wir bei vorher blassen und appetitlosen Kindern eine erfreuliche Besserung des Appetits und pwrallel

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mit ihr und mit der K6rpergewichtszunahme eine Besserung des tuberku- 16sen Prozesses eintretcn. Auf wclche Faktoren es bei dem Aufenthalt in der frischen Luft ankommt, kSnnen wir heute noch nicht sagen, a u f den Ozongehalt gewiB nicht ; liegt doch z. B. die Freiluftstation der Kin- derklinik in der Mitre der Stadt, wo die klimatischen Verh~,ltn~sse sicher nicht schr gfinstige sind, wo die Sonncnscheindauer in Anbetracht der ]angen Iterbst- und Wintermonate nicht ausschlaggebend sein kann. Wir mfissen also auf Grund unserer heutigen Kenntnisse dem ,,Auf- enthalt in der freien Luf t" im allgemeinen jenen Einflul~ zuschreiben, welcher zur Hebung .des Appetits fiihrt und psychisch in giinstigem Sinn auf das Kind einwirkt.

Bei der heredit~iren Lues der S~uglinge kSnnen ~hnliche Gewichts- schwankungen beobachtet werden, wie bei der Barlowschen Krankheit und bei den Ekzemkindern, namlich unmotivierte Gewichtsabnahmen, welche ohne Erbrechen und ohne nachweisliche Stuhlverschlechterung einhergehen, also als Ausschwemmung yon 0demen angesehen werden k6nnen. Bei dieser Krankheitsgruppe mu[3 aber auf eine Tatsache hin- gewiesen werden, die in mehreren Fallen unverkennbar zutage trit t , n~mlich die Beein]lussung der Nahrungsau/nahme durch die Theralgie in ungi~nstigem Sinne, wenn dabei nicht in allervorsichtigster Weise ganz tastend vorgegangen wird. Wit sahen in einem Falle, dab nach der ersten Salvarsaninjektion der Appetit voriibergehend so schlecht wurde, dab sogar bis zur Sondenfiitterung geschritten werden muBte; :sp~ter aber, vielleicht infolge einer GewShnung bei weiterer Salvarsanbehand- lung keine merkliche Verschlechterung des Appetits mehr zu verzeichnen war. Auch nach Sublimatbehandlung sahen wir bei einem Kinde eine ungtinstige Beeinflussung sowohl des Appetits als auch des Allgemein- befindens. �9

:Beim Myx6dem sahen wit die bekannte Tatsache, dab auf~ eine spezifische Thyreoidinmedikation sich der Appetit hob, wi~hrend bei unbehandelten F~llen deutlich schlechte Nahrungsaufnahme nachweis- bar war.

Bei den cerebralen ErlcranIcungen fanden wir als hervortretendes Symptom eine ausgesprochene Ap~etitlosigkeit, deren Vorhandenscin uns nicht iiberraschen wird, da ja die Kinder vielfach benommen oder vollkommen bewu~tlos sind. So ist es bekannt, dal~ bei der Meningitis tuberculosa im Beginne der Appetit noch erhalten sein kann, mit Fort- schreiten der Erkrankung abet Inappetenz eintritt, Bei unseren F~illen von Cerebrospinalmeningitis war die ~qahrungsaufnahme s o schlecht, dab zur Sondenftitterung gegrlffen werden muBte .

Wir glauben dargetau zu haben, daft das ,Studium der AplaetitverMilt- nisse im Kindesalter.von groflem lclinischen Werte ist. Es ist nicht unsere A bsicht gewesen, bei der Besprechung der schwebenden Frage au/alle beim

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Kinde vorkommenden ErIcrankungen einzugehen; es sollte gleichsam nur an einigeu Paradigmen er6rtert werden, in welcher Weise die exakte Beob- achtung des Appetits die aUgemeine klinlsche Beobachtung der ]cranken Kinder ergdnzen und /6rdern kann.

Schlufls~itze :

1. Es wird an der Hand yon 105 ausgew~hlten F~llen der Versuch unteraommen die nach der Methode yon Panzer iibersichtlich darge- stellte Art der Nahrungsaufnahme bei verschiedenen Krankheitszustgn- den zu studieren und den EinfluB dcr Krankheiten auf den Appetit zu efforsehen.

2. l~ebst der Verzeiehnung des Gewichtsverlaufes, der Stuhlent- ]eerung und des Erbreehens erseheh~t die Aufzeichaung der Art der Nahrungsaufnahme insbesondere bei S~uglingen von grSBtem Wert.

3. Bei ]ri~hgeborenen und neugeborenen Kindera bedeutet eiae sehleeht eingenommene Nahrung noeh keine Appetitverschleehterung, sie diirfte mit einer mangelhaften Ausbildung der Geschmaeksempfindtmg zusam- menh~ngen; bei jungen Si~uglingen kann iiberdies Durst und Appetit noeh nicht getrermt werden.

4. Schleehte Nahrungsaufnahme kann als Symptom einzelner Er- krankungen gedeutet werden, bzw. mit meehanischen Momenten zu- sammenh~ngen, so z. B. beim Tetanus m~d Keuchhusten.

5. Bei Si~uglingen weist eiae gute Nahrungsuufnahme, bei gleieh- zeitig guten Stiihlen oder 0bstipation wenn zugleieh Erbreehen vor- handen ist, auf eine quantitative Unterernghrung oder irgendeine Form des nervSsen Erbrechens him

6. Bei der Pneumonie der frtihgeborenen und lebensschwaehen asthenisehen Si~uglinge bietet die Versehleehterung der Nahrungsauf- nahme, ein wiehtiges klinisches Symptom fiir die Diagnose dieser E r- krankung.

7. Bei uatererni~hrten Si~uglingen daft die Appetitkurve nur im Verehl mit der Gewiehtskurve verwertet werden, da ein Stillstand des K6rpergewiehtes bei entspreehenden N~hrwertmengen auf eine Schi~di- gung der Toleranz hinweist.

8. Bei der Barlowsehen Krankheit besteht im Beginn meist Appetit- Iosigkeit.

9. Bei lokalisierten und m~Big progredienten Formen der Diphtherie ist der Appetit im allgemeinen gut; der schleehte Appetit beim diph- therischen Krup p seheiat dureh Lufthunger verursaeht zu sein.

Beim S~harlavh ist der Appetit weeliselnd, in der Rekonwlesz enz gut.

Bei den Masern seheint die Toleranzbreite nieht herabgesetzt zu sein.

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Bei der Dysenterie ist die Toleranzbreit.e und der Appetit meist er- halten, ebenso beim kindlichen Typhus.

10. ]~ei Furunkulosr und Sepsis muB trotz des guten Appetits die Einsehr~nkung der Toleranzbreite berticksichtigt werden.

11. Bei der heredit~ren Lur wird der Appetit dutch die Therapie vielfach ungfinstig beeinflul~t.

12. Die Beachtung der Appetitverh~tltnisse bei der Tuberkulose erseheint ~u~ers~ wich~ig. Die Bek~mpfung der Appetitlosigkeit bildet hier die Haupt~ufgabe der Behandlung.

Wien IX, Lazarettgasse 14, Kinderklinik.