worin besteht ihre faszination oder ihre kritische … zum 500... · martin luther war ein kind...

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W 500 www.ekbo.de | www.die-kirche.de Reformation 1517 – 2017 „Wie die Jungfrau zum Kinde“ ist er zu sei- nem Job als Reformationsbotschafter im Lutherjahr gekommen, verrät Dr. Eckart von Hirschhausen. Hauptberuflich ist der studierte Mediziner als Autor, Kabarettist und Fernsehmoderator unterwegs. Er en- gagiert sich in zahlreichen Stiftungen und gilt als „Deutschlands lustigster Arzt“. Herr Hirschhausen, was fasziniert Sie ausge- rechnet an Luther? Ich fühle mich ihm innerlich verbunden in der Grundüberzeugung, dass die Zeit des Herr- schaftswissens vorbei ist. Auch in der Medizin hat ja lange Zeit mentales Mittelalter ge- herrscht. Wie damals die Kirche sich hinter Li- turgie und Latein verschanzt hat, hat das die Medizin auch über Jahrhunderte gemacht: dass sie die Gläubigen – sprich die Patienten – wirklich dumm gehalten hat. Luther hat die Bibel ins Deutsche über- setzt. Ihr erstes Buch hat sich einem ähn- lichen Projekt gewidmet: Sie haben den Pschyrembel, das Klinische Wörterbuch, für Nichtmediziner übersetzt. Mein erstes Buch hieß „Arzt – Deutsch / Deutsch – Arzt“, ein Langenscheidt-Wörter- buch. Da bin ich genau mit diesem reforma- torischen Ehrgeiz rangegangen: Guck mal, wie aufgepustet diese Arztsprache oft ist! Das steckt dahinter, wenn die Ärzte sagen: essen- tielle, funktionelle, vegetative, idiopathische Dystonie. Das heißt eigentlich nichts anderes als: Ich weiß auch nicht, was Sie haben! Sie sagen: Viele Themen, die früher mal der Kirche vorbehalten waren, sind mitt- lerweile bei der Medizin gelandet. Was genau meinen Sie damit? Jeder, der eine Krebsdiagnose hat, fragt sich doch heute: Mensch, bin ich schuld? Aber diese Frage beantwortet weder die Biologie noch die Zellteilung. Ich habe also versucht, den Kerngedanken bei der Begründung von Krankenhäusern wieder in die Medizin zurück zu spiegeln: Ein Hospital heißt Hospital, weil es ein Ort für Gäste sein sollte. Ein Patient ist ein Leidender und kein Kunde, und das größte Klinikum heißt Charité nicht wegen Shareholdervalue, sondern wegen Caritas: Nächstenliebe! Sie sehen Reformbedarf im Gesundheits- wesen. Luther wollte die Kirche reformie- ren. Hat sie heute noch Reformbedarf? Ich glaube, dass wir da in diesen 500 Jahren das Kind mit dem Bade ausgeschüttet haben und wir eine Gegenreformation brauchen, die uns wieder hinführt zu mehr Sinnlichkeit und Körperlichkeit, zu mehr Ekstase und Freude. Wenn man sich klar macht, wie viele Menschen einsam sind in dieser Gesellschaft: Die haben keinen einzigen Menschen, der sie mal liebe- voll berührt! Für die kann ein Handschlag, die- ses „Friede sei mit dir!“ an einem Sonntag im Gottesdienst der Moment sein, auf den sie sich die Woche über freuen. Kirche hat diese Kraft, unabhängig von Geld, Alter und sozia- lem Status, Menschen zu integrieren. Und es gibt wenig Integration. Wenn Kirche weg ist, gibt es keine andere Stelle, die das auffängt. Am 31. Oktober ist Feiertag – diesmal flächendeckend in ganz Deutschland. Welche Botschaft hat ein Reformations- botschafter an diesem Tag? Wofür stehst du? Was ist der Luther-Moment in dir? Wo würdest du sagen: Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Ich will auch nicht an- ders! Wir leben heute in einer so offenen und freien Gesellschaft: Jeder darf sagen, was er denkt, auch wenn er nicht lange nachgedacht hat. Ja, das ist anstrengend und das ist nervig! Der größte Feind einer offenen Gesellschaft ist, sie für selbstverständlich zu halten. Da ist immer etwas, was wir uns erkämpfen und er- ringen müssen. Diese Verantwortung des Ein- zelnen hat Luther vorgemacht – diese Power: Trau dich, dich hinzustellen! Barbara Manterfeld-Wormit ist Rundfunk- beauftragte der Evangelischen Kirche Berlin- Brandenburg-schlesische Oberlausitz und Leiterin des Evangelischen Rundfunkdienstes. 31. Oktober, 8.40 bis 8.55 Uhr, Antenne Brandenburg „Kabarettist trifft Reformator“ – Eckart von Hirschhausen im Gespräch mit Martin Luther DAS GESPRÄCH FÜHRTE BARBARA MANTERFELD-WORMIT Und wofür stehst du? Ein Gespräch mit dem Reformationsbotschafter Eckart von Hirschhausen „dieKirche“ Sonderbeilage zum Jubiläum „500 Jahre Reformation“ Martin Luther, Lucas Cranach d.Ä., 1527, Nationalmuseum Stockholm, Foto: Erik Cornelius, CC Foto: Paul Ripke 31. Oktober 2017

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www.ekbo.de | www.die-kirche.de

Reformation

IMPRESSUM Herausgeber: Evangelisches Medienhaus der EKBO, Redaktion „die Kirche“, Georgenkirchstraße 69–70, 10249 Berlin, Telefon: (030) 28 87 48 14, E-Mail: [email protected] | Redaktion der Beilage zum Jubiläum „500 Jahre Reformation“: Constance Bürger (V.i.S.d.P.), Barbara Manterfeld-Wormit, Tanja Pilger-Janßen, Sibylle Sterzik | Gestaltung: Uwe Baumann, www.ortszeitmediale.de | Herstellung: Wichern-Verlag GmbH, BerlinDruck: Berliner Zeitungsdruck GmbH | Mit finanzieller Unterstützung der Arbeitsgruppe Reformationsdekade der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz.

1517 – 2017

OSMAN ÖRS

Martin Luther war ein Kind seiner Zeit. Ausdieser Perspektive lese ich seine kritischenÄußerungen gegenüber Andersgläubigen.Was ihn und die Reformation aus den Massenseiner Zeit jedoch besonders hervorhebt, istsein Drang und Wunsch nach der Befreiungdes Menschen aus den gegebenen Strukturender Kirche seiner Zeit. Für ihn stand das Indi-viduum und dessen Emanzipation an vor-derster Stelle. Als Muslim lese ich dieses Bestreben als dieBefreiung des Menschen von jeglichen Hin-dernissen, die zwischen ihm und seinemSchöpfer liegen. Der Mensch ist erst wirklichfrei, wenn er sich von den weltlichen und see-lischen Fesseln befreien kann, die ihn daranhindern, seinen Schöpfer zu erkennen und einbewusstes sowie verantwortungsvolles Lebenzu führen. Dieses Streben nach Befreiung undder Kampf mit seiner Seele hat in der islami-schen Mystik einen besonderen Stellenwert. Da die strikte Nachahmung der Tradition fürdie Zeit Luthers ein Problem darstellte, er-kannte er hierin den Bedarf einer Verände-rung. Dennoch brauchen religiöse Menscheneinen Halt, der erst durch Rituale aus der Tra-dition lebendig bleiben kann. Geht diesesGleichgewicht verloren, kann es zur Reli-gionsferne in der Gemeinde führen. In dieserHerausforderung sehe ich heute unter ande-rem auch die evangelische Kirche.

Osman Örs ist Wissenschaftlicher Mitarbeiterdes Forum Dialog Berlin, einer von deutschenMuslimen gegründeten Initiative zum kultu-rellen und religiösen Austausch. Er ist Imamund Social Media Referent des House of OneBerlin.Foto: privat

MICHA BRUMLIK

Kein Zweifel: Martin Luther war eine Gestaltvon unvergleichlicher historischer Wucht, eineGestalt, wie man sie im Raum der uns bekann-ten okzidentalen Geschichte kein zweites Malfinden wird. Von wem lässt sich schon sagen,dass er – er allein – den Lauf der Weltge-schichte geändert hat? Luther – auch daran istein Zweifel nicht möglich – war ein religiösesGenie, ein Mann, der Aspekte der christlichenReligion stark gemacht hat, die über Jahrhun-derte – seit dem Apostel Paulus – so gut wievergessen waren.Nicht zuletzt war Luther aber auch ein politi-scher Denker von Gnaden – freilich nicht der,als den man ihn uns heute nahezubringenversucht: Wenn Martin Luther eines nicht war,dann ein Liberaler, als den ihn im 19. Jahrhun-dert viele jüdische Denker betrachteten. Nein, Luthers bewundernswerter Mut zum ei-genen Gewissen führte ihn gerade nicht dazu,Gewissensfreiheit für alle zu fordern. Sein Auf-begehren gegen die päpstliche Herrschaftführte ihn keineswegs zur Forderung nachmehr politischer Freiheit, sondern zu seinerden autoritären Obrigkeitsstaat begründen-den Zwei-Reiche-Lehre. Und: Obwohl ein ge-nialer Übersetzer der Hebräischen Bibel, warer doch ein früher Vertreter des politischenAntisemitismus, keineswegs „nur“ ein theolo-gischer Antijudaist – weshalb sich die Natio-nalsozialisten zu Recht auf ihn berufenkonnten. Es war Thomas Mann, der Luther als„stiernackigen Gottesbarbaren“ bezeichnethat.

Dr. Micha Brumlik ist jüdischer Publizist, Erziehungswissenschaftler und Religions-philosoph und Senior Advisor am Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg.Foto: dpa

DAVID DRIESE

Für mich ist Martin Luther eine ambivalentePerson. Als kulturhistorische Figur ist er einWegbereiter einer sich später öffnenden Gesellschaft. Mit der Etablierung des ThemasGewissensfreiheit kann sein Wirken als orien-tierend für die Entwicklungen zur Meinungs-und Glaubensfreiheit gesehen werden. Obunsere offene Gesellschaft jedoch in seinemSinne wäre, bleibt fraglich. Denn er steht auch für die dunkle Seite derGeschichte. Sein Hass gegenüber Juden undAndersgläubigen bildet die Grundlage des eu-ropäischen (und lange Zeit klerikalen) Anti-semitismus. In seinen Hetzschriften forderteer das Niederbrennen von Synagogen, er be-grüßte Hexenverbrennungen und stellte dasPrimat des Glaubens über die Vernunft. Als in der Tradition der europäischen Aufklä-rung verwurzelter Humanist ist Luther daherfür mich eine sehr kritische Figur. Er gehörtzweifellos zur unserer Geschichte, repräsen-tiert sie sogar fabelhaft in ihrer Ambivalenz.Daher wünsche ich mir eine differenziertereBetrachtung Luthers.

David Driese ist Leiter der Abteilung „Bildung“ im Landesverband Berlin-Branden-burg des Humanistischen Verbandes.Foto: Hoffotografen

HALADHARA THALER

Reformationen in Religionen finden immerstatt. Sie sind organischer Bestandteil bei demVersuch, sich dem Mysterium Gott anzu-nähern. Die Gründungen der Sikhs oder derBahai-Religion belegen das.Es ist letztlich die Verantwortung des Einzel-nen, im Studium der Heiligen Schrift durch innere Selbstbefragung nach Wahrheit zuforschen.Martin Luther war einer, der das tat. Mit Mut.Er erkannte, dass Menschen nicht mit einemGott leben können, der ihnen Angst macht,droht und ein unerbittliches Gericht installiert. Für diese grundbiblische Wahrheit war Lutherstarken Angriffen ausgesetzt. Wie hat er alldas erlebt und mit wem konnte er seinentiefsten Schmerz besprechen? Sein komplexes Lebenswerk enthält aberauch Tragisches. Er legte biblische Wahrheitfrei und stellte sie als das Licht des Evangeli-ums vor den Hintergrund der bloßen Gesetze,die er mit dem Judentum identifizierte. DiesePolarisierung erzeugte antijüdische Gefühle,die leicht politisch vereinnahmt werden konn-ten.Meiner Ansicht nach fühlte Luther vor allemdie Einheit, die Jesus lehrte. Einheit zwischenHimmel und Erde, zwischen Mensch und Gott.Ich finde, dass jeder Mensch in seinem spiri-tuellen Leben mehrmals vor genau dieselbeGewissensentscheidung gestellt wird: demunreflektierten Befolgen vorgegebener Ge-bote und der Sinnsuche oder: zwischen Leis-tung und Liebe.

Haladhara Thaler ist Vorsitzender der Hindu-Gemeinde e.V. mit Sitz in Berlin.Foto: privat

„Wie die Jungfrau zum Kinde“ ist er zu sei-nem Job als Reformationsbotschafter imLutherjahr gekommen, verrät Dr. Eckartvon Hirschhausen. Hauptberuflich ist derstudierte Mediziner als Autor, Kabarettistund Fernsehmoderator unterwegs. Er en-gagiert sich in zahlreichen Stiftungen undgilt als „Deutschlands lustigster Arzt“. HerrHirschhausen, was fasziniert Sie ausge-rechnet an Luther?Ich fühle mich ihm innerlich verbunden in derGrundüberzeugung, dass die Zeit des Herr-schaftswissens vorbei ist. Auch in der Medizinhat ja lange Zeit mentales Mittelalter ge-herrscht. Wie damals die Kirche sich hinter Li-turgie und Latein verschanzt hat, hat das dieMedizin auch über Jahrhunderte gemacht:dass sie die Gläubigen – sprich die Patienten– wirklich dumm gehalten hat.

Luther hat die Bibel ins Deutsche über-setzt. Ihr erstes Buch hat sich einem ähn-lichen Projekt gewidmet: Sie haben denPschyrembel, das Klinische Wörterbuch,für Nichtmediziner übersetzt.Mein erstes Buch hieß „Arzt – Deutsch /Deutsch – Arzt“, ein Langenscheidt-Wörter-buch. Da bin ich genau mit diesem reforma-torischen Ehrgeiz rangegangen: Guck mal, wie

aufgepustet diese Arztsprache oft ist! Dassteckt dahinter, wenn die Ärzte sagen: essen-tielle, funktionelle, vegetative, idiopathischeDystonie. Das heißt eigentlich nichts anderesals: Ich weiß auch nicht, was Sie haben!

Sie sagen: Viele Themen, die früher malder Kirche vorbehalten waren, sind mitt-lerweile bei der Medizin gelandet. Wasgenau meinen Sie damit?Jeder, der eine Krebsdiagnose hat, fragt sichdoch heute: Mensch, bin ich schuld? Aberdiese Frage beantwortet weder die Biologie

noch die Zellteilung. Ich habe also versucht,den Kerngedanken bei der Begründung vonKrankenhäusern wieder in die Medizin zurückzu spiegeln: Ein Hospital heißt Hospital, weiles ein Ort für Gäste sein sollte. Ein Patient istein Leidender und kein Kunde, und dasgrößte Klinikum heißt Charité nicht wegenShareholdervalue, sondern wegen Caritas:Nächstenliebe!

Sie sehen Reformbedarf im Gesundheits-wesen. Luther wollte die Kirche reformie-ren. Hat sie heute noch Reformbedarf?Ich glaube, dass wir da in diesen 500 Jahrendas Kind mit dem Bade ausgeschüttet habenund wir eine Gegenreformation brauchen, dieuns wieder hinführt zu mehr Sinnlichkeit undKörperlichkeit, zu mehr Ekstase und Freude.Wenn man sich klar macht, wie viele Menscheneinsam sind in dieser Gesellschaft: Die habenkeinen einzigen Menschen, der sie mal liebe-voll berührt! Für die kann ein Handschlag, die-ses „Friede sei mit dir!“ an einem Sonntag imGottesdienst der Moment sein, auf den siesich die Woche über freuen. Kirche hat dieseKraft, unabhängig von Geld, Alter und sozia-lem Status, Menschen zu integrieren. Und esgibt wenig Integration. Wenn Kirche weg ist,gibt es keine andere Stelle, die das auffängt.

Am 31. Oktober ist Feiertag – diesmal flächendeckend in ganz Deutschland. Welche Botschaft hat ein Reformations-botschafter an diesem Tag?Wofür stehst du? Was ist der Luther-Momentin dir? Wo würdest du sagen: Hier stehe ich.Ich kann nicht anders. Ich will auch nicht an-ders! Wir leben heute in einer so offenen undfreien Gesellschaft: Jeder darf sagen, was erdenkt, auch wenn er nicht lange nachgedachthat. Ja, das ist anstrengend und das ist nervig!Der größte Feind einer offenen Gesellschaftist, sie für selbstverständlich zu halten. Da istimmer etwas, was wir uns erkämpfen und er-ringen müssen. Diese Verantwortung des Ein-zelnen hat Luther vorgemacht – diese Power:Trau dich, dich hinzustellen! ◼

Barbara Manterfeld-Wormit ist Rundfunk-beauftragte der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und Leiterin des Evangelischen Rundfunkdienstes.

31. Oktober, 8.40 bis 8.55 Uhr, Antenne Brandenburg „Kabarettist trifft Reformator“ – Eckart von Hirschhausen im Gespräch mit Martin Luther

DAS GESPRÄCH FÜHRTE BARBARA MANTERFELD-WORMIT

Und wofür stehst du?Ein Gespräch mit dem Reformationsbotschafter Eckart von Hirschhausen

„dieKirche“ Sonderbeilage zum Jubiläum „500 Jahre Reformation“

Martin Luther, Lucas Cranach d.Ä., 1527, Nationalmuseum Stockholm, Foto: Erik Cornelius, CC

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Das Gemälde „Religionsgespräch zu Marburg“ (1867) zeigt den Disput zwischen Martin Luther und dem Schweizer Reformator Huldrych Zwingli im Jahr 1529 in Marburg

zum Verständnis des Abendmahls. Eingeladen hatte Landgraf Philipp der Großmütige, derauf dem Schloss in Marburg residierte und die Reformation in Hessen eingeführt hatte.

Er sitzt links am Tischrand, neben ihm Herzog Ulrich von Württemberg.

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(1502–1557)

Worin besteht Ihre Faszination oder Ihre kritische Auseinandersetzung mit Martin Luther und seinen Themen?

Tanja Pilger-Janßen befragte Vertreter verschiedener Religionen und Weltanschauungen

31.Oktober

2017

EEditorial

„ “Martin Luther –Pfarrer oder Professor?

VON THOMAS KAUFMANN

Auch wenn Luther und seine „Käthe“ zu Leit-ikonendes evangelischen Pfarrhauses wurden– Pfarrer im strikten Sinne ist „Doctor Marti-nus“ nie gewesen. Manche Aufgaben einesPfarrers wahrzunehmen hat dies freilich nichtgehindert. Bald nach seinen Anfängen als Or-densprofessor berief der Wittenberger Stadt-rat den Augustinerpater zur regelmäßigenPredigt in der Stadtkirche – eine Tätigkeit, diedem Bettelmönch bescheidene persönlicheEinkünfte bescherte. Das Wichtigste aber war,dass ihn der regelmäßige engere Kontakt zuPredigthörern, denen er sein Verständnis bib-lischer Texte nahezubringen hatte, nötigteund darin beförderte, anschaulich, nachvoll-ziehbar und in sprachlich packender Form zusprechen. Dem Publizisten Luther kam späterzugute, was der Prediger gelernt hatte. DassLuther als Priester auch Wittenberger „Pfarr-

kindern“ die Beichte abnahm, als Predigertaufte und das Abendmahl zelebrierte, istwahrscheinlich. Als Briefschreiber war er viel-fach Tröster, Seelsorger. Der späteren Überlieferung, Luther habegegen den Ablass zu kämpfen begonnen, weiler mit leichtgläubigen Beichtkindern konfron-tiert worden sei, die ernsthafte Buße verwei-gerten, ist allerdings mit Skepsis zu begegnen.Die wichtigsten Aufgaben eines evangelischenPfarrers – Predigt, Sakramentsspende, Seel-sorge – nahm der Reformator aber regel-mäßig wahr.Luthers frühe akademische Schriftauslegun-gen folgten den wissenschaftlichen Standardsseiner Zeit, einschließlich der Bemühungenum humanistische Philologie. Sie diskutiertenund kritisierten Deutungen anderer Exegeten,nahmen die einschlägige ältere und neuere Li-teratur zur Kenntnis und rangen um nachvoll-ziehbare Lösungen. Gleichwohl war ihneneine auf die Glaubensaneignung seiner Hörerausgerichtete Tendenz eigen; letzteres ver-band sie mit der Predigt. Bei manchen Ausle-gungen, die er später im Hörsaal vortrug –

etwa seiner letzten, etwa ein Jahrzehnt wäh-renden Vorlesung über die Genesis –, war derUnterschied zur Predigt geschwunden, hatteder Prediger definitiv über den Professor gesiegt. Doch auch als Professor blieb sich Luther im Ganzen treu: In seinem Insistierenauf der theologischen Lehre, die keinerleiZweideutigkeit zulässt. In seiner Förderungdes Nachwuchses, auch daheim im „schwar-zen Kloster“; in seinem Hochmut gegenüberBauern und vermeintlich aufrührerischenTäufern; in seinem couragierten Auftreten ge-genüber den Mächtigen dieser Welt – allent-halben wirkte sein professoraler Habitusnach. Luther – ein angefochtener, sensibler,sprachbegabter und reizbarer Mann auseinem Guss, der in allem, was uns abstößtoder beeindruckt, Pastor und Professor, Lehrer und Prediger Christi sein wollte. ◼

Thomas Kaufmann ist Professor für Kirchen-geschichte an der Universität Göttingen mitForschungsschwerpunkten in Kirchen-, Theo-logie- und Christentumsgeschichte in Reformation und Früher Neuzeit.

Martin Luther –Frauenfeind oderFamilienfreund?

VON DOROTHEA SATTLER

Nein, ein Frauenfeind war Martin Luther nicht.Von einer solchen Grundeinstellung hat ihndie Lektüre der biblischen Schriften abgehal-ten. Mit einer tiefen Achtung begegnet Lutherder in der göttlichen Schöpfungsordnung vor-gesehenen Eigenart von Mann und Frau unterdem Vorzeichen ihrer Gleichstellung vor Gott.Jeder Mensch findet sich ohne eigenes Zutunals Frau oder Mann vor. Luther fordert, „dassder Mann das Weibsbild nicht verachte nochverspotte, und umgekehrt auch das Weib denMann nicht“ (Martin Luther, „Vom ehelichenLeben“, 1522). Nach Luther findet der Mann seine Frau aufGottes Wegen. Lebenslange Treue zu der ein-mal getroffenen Wahl einer Partnerschaft istfür ihn ein hohes Gut. Keine Frau darf leicht-fertig aus der Ehe entlassen werden.

Zwei Frauen haben Luther in besondererWeise geprägt: seine strenge und zugleich umAusgleich bemühte Mutter Margarethe sowieseine Ehefrau Katharina von Bora. Luthersspäte und sehr innige Liebe zu Katharina hatseinen Blick für die Qualitäten von Frauen ge-weitet. Katharina war unermüdlich im Haus-halt tätig; sie verwaltete die Güter und sorgtefür das Auskommen der Familie; sie nahm ander Pest erkrankte Menschen in das Haus auf;sie gebar sechs Kinder; sie schenkte ihremMann Aufmerksamkeit in den Wirren umseine Lehren. Luther war ein sensiblerMensch, der im Blick auf seine Kinder großeFreude und hohe Not erfahren hat. Der früheTod seiner beiden Töchter Elisabeth und Mag-dalena haben ihn in tiefe Trauer gestürzt. EinFamilienfreund war Luther ohne jeden Zwei-fel. Er hat seiner Familie auch viel zugemutet:Nierenleiden und Gewissensnöte plagten ihn;oft war er auf Reisen; Maß halten konnte er injeder Hinsicht schlecht.Das Leben von Frauen hat sich mit dem Refor-mationszeitalter verändert: Die sozialen Tätig-keiten von Frauen fanden von da an höhereAchtung; der Zugang zu Orten der Bildung

wurde für größere Kreise geöffnet; die Teil-habe am allgemeinen Priestertum aller Ge-tauften verlieh den Frauen Wertschätzung. Eines wollte Martin Luther nicht: Die Frausollte nicht öffentlich in der Versammlung derGemeinde Gottes Wort verkündigen. Lutherfolgte in dieser Hinsicht den Paulus zuge-schriebenen biblischen Vorgaben (vgl. 1. Ko-rinther 14, 34). Von dem Ideal der demPfarrherrn dienstbar zugeordneten Pfarrfraulösten sich die evangelischen Geschwister im20. Jahrhundert nur mühsam. Dieser Prozessist weltweit noch nicht abgeschlossen. DieÜberzeugung von Luther, die primäre Auf-gabe des kirchlichen Amtes sei es, das Evan-gelium Jesu Christi zu verkündigen, lässt heuteviele Traditionen mit Luther über Luther hinaus gehen: Wie Maria von Magdala ist jedeFrau dazu berufen, Zeugnis für das Leben desauferstandenen Christus zu geben. ◼

Dorothea Sattler ist Professorin für Systematische und Ökumenische Theologie und Dogmatik sowie Direktorin des Ökume-nischen Instituts der Katholisch-TheologischenFakultät der Universität Münster.

Martin Luther –Revolutionär oderTraditionalist?

VON DOROTHEA WENDEBOURG

Kein „oder“, sondern ein „und“. Denn MartinLuther war beides. Er war Revolutionär, dashieß: Er trat kirchlicher Hierarchie und welt-licher Obrigkeit entgegen, stellte Ansprüchedes Papstes, Lehren von Konzilien, Traditio-nen der Kirche in Frage. Er bestritt die allge-meine Überzeugung, dass die ewige Seligkeitvon der Erbringung guter Taten, sei es auchmit Hilfe der Gnade erbrachter Taten, ab-hängig sei, und schrieb sie allein dem Glaubenzu. Damit lehnte er auch das Mönchtum alshervorragenden Weg zur Erreichung der Se-ligkeit ab. Er verabschiedete die Abstufungzwischen Geweihten und Laien in der Kirche

und sprach allen Christen und Christinnendenselben geistlichen Stand zu, innerhalbdessen das ordinationsgebundene Amt nurals Wahrnehmung spezifischer Aufgaben zuverstehen sei. Er verwarf die Indienstnahmepolitischer Gewalt zugunsten des wahrenGlaubens und forderte, mit Vertretern religiö-sen Irrtums, zu denen er auch die Juden zähl-te, ohne Einschränkung zusammenzuleben,ob sie sich nun vom Irrtum abkehrten odernicht. Das alles tat er im Namen der Freiheit,der Freiheit des Gewissens: Nur das Mittel,durch das das Gewissen zu überzeugen sei,und nur die Überzeugung, die das Gewissengewonnen habe, könnten in der Kirche Gel-tung beanspruchen: das Wort und derGlaube. Aber Luther war auch Traditionalist, und dasin mehrerer Hinsicht. Zum einen, das ammeisten Betonte und zugleich das am wenigs-ten Interessante: Er wurde an etlichen Punk-ten seinen eigenen revolutionären Einsichten

untreu und fiel in alte Muster zurück, so hin-sichtlich der Indienstnahme politischer Gewaltfür religiöse Zwecke. Zum anderen in der kon-kreten Gestaltung der evangelisch erneuertenKirche, für die er, wo immer möglich, Kontinui-tät mit bisherigen Bräuchen und Formen vor-sah, so in liturgischen und kirchenrechtlichenFragen. Vor allem aber, der entscheidendePunkt: Er band das freie Gewissen an einerunüberholbar vorgegebenen Größe fest, derHeiligen Schrift. Was zur Revolution berech-tigte und nötigte, konnte allein die an derSchrift gewonnene Glaubensüberzeugungund das aus der Schrift geschöpfte Wort derKirche sein. ◼

Dorothea Wendebourg ist emeritierteProfessorin für Kirchengeschichte mit dem Schwerpunkt Mittlere und Neuere Kirchengeschichte/Reformations-geschichte an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin.

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Reformator, Pfarrer, Glaubenslehrer

Wer war Luther?

【Umfrage】Reformationsjubiläumade – mit welchen Fragen soll sich Kirche künftig beschäftigen?

Der wandelt recht im Worte Gottes, der nicht aufhört zu staunen.

„Wir sind alle schuldig, einander zu verzeihen, sofern wir wollen, dass Gott uns verzeiht.“ Huldrych Zwingli

Es ist soweit. Der 31. Oktober 2017 istda, der 500. Jahrestag des Thesenan-schlags Martin Luthers in Wittenberg.Lange haben wir vorausgeschaut. Undnoch lange werden wir zurückdenken:an den Deutschen Evangelischen Kir-chentag, an Ausstellungen über Refor-matorinnen und Reformatoren wieMartin Luther, Johannes Calvin und Argula von Grumbach, an Predigt-reihen über Errungenschaften undWidersprüche des Umbruchs. Dabei immer im Blick: Was heißt es füruns heute, Christ in unserer Gesell-schaft zu sein? Wofür übernehmen wirVerantwortung? „Ein Christ ist ein sol-cher Mensch, der gar keinen Hass nochFeindschaft wider jemand weiß, keinenZorn noch Rache in seinem Herzen hat,sondern eitel Liebe, Sanftmut und Wohl-tat“, sagte Luther einst. In unserer Beilage haben wir Stimmenvon Wissenschaftlerinnen, Vertreternverschiedener Religionen und Weltan-schauungen und von Christinnen undChristen aus unseren Kirchengemein-den gesammelt. Sie zeigen deutlich: DieReformation geht weiter.

Wir danken Dr. Bernd Krebs und den Mitgliedern der Arbeitsgruppe Reformationsdekade der EvangelischenKirche Berlin-Brandenburg-schlesischeOberlausitz für die finanzielle Unter-stützung der Beilage.

Ihre Constance Bürger

GlaubwürdigLuther ist ja nicht abgehakt, nur weil sein Ju-biläum bald passé ist. Ich hoffe, er würdeseine Kraft heute in die Ökumene stecken,damit wieder zusammenwächst, was zusam-mengehört. Wie lange allerdings hat es gedau-ert, bis in der Evangelischen Kirche auch diedunklen Seiten des Reformators nicht mehrweggeschwiegen wurden? Und wird es derKirche gelingen, endlich den Unterschied zwi-schen Unterdrückern und Unterdrückten zusehen – oder wartet beim nächsten Kirchen-tag auch für Kreml-Chef Putin ein Platz aufdem Roten Sofa?Glaubwürdigkeit scheint eine der schwierig-sten Übungen zu sein. Immerhin gibt es die inmeiner Berliner Kirchgemeinde und sichernoch vielerorts an der Basis. Kirche ist dort fürmich am stärksten, wo Christen sich den Be-nachteiligten unserer Gesellschaft zuwenden,auch dann, wenn sie nicht hier geboren sind.

Freya Klier ist Schriftstellerin und Dokumentarfilmerin. Sie lebt in Berlin.

Politisches WächteramtGlauben ist für mich immer in dieser Welt.Nicht außerhalb. Deshalb hat jeder Christ undjede Christin die Verantwortung, in der Weltzu wirken und sich mit einzubringen in die Ge-sellschaft. Denn Glauben ist keine reine Privat-sache.Zwei Fragestellungen sehe ich deshalb grund-legend für unsere Gemeinden und unsere Kir-che: Zum einen ist es die Auseinandersetzungund Rückbesinnung auf die Grundlagen unse-res Glaubens. Diese auch erfahrbar zu ma-chen ist mir wichtig. Wo sind unsere Wurzeln?Zum anderen sehe ich die Kirche stärker ge-fordert, das politische Wächteramt wahrzu-nehmen und zu gestalten. Dabei geht es mirnicht um Aktionismus, sondern um die per-manente Frage: Wo müssen wir unsere Stim-men erheben? Beides kann nur zusammengedacht und gemeinsam gestaltet werden.Und aus dem Reformationsjahr können wirruhig mitnehmen: Das Feiern zwischendurchnicht vergessen!

Jadwiga Mahling ist Pfarrerin der Evangelischen Kirchengemeinde Schleife.

Bleibende AufgabeDas Jubiläum geht zu Ende, aber nicht die Re-formation. Sie ist eine bleibende Aufgabe fürdie Kirche: Gottes Wort für jedermann – ver-ständlich, fröhlich, tröstend und befreiend.Das ist Luthers Vermächtnis. Uns bleibt auchein eher reformiertes Erbe: die Friedensbot-schaft in die Welt hineinzutragen. Das bedeu-tet, dass wir Verantwortung in der Gesell-schaft, in der Welt wahrnehmen. Die Landes-synode wird daher als Nächstes diese Auf-gabe diskutieren: wie wir gerechten Friedensuchen, immer wieder respektvolles Miteinan-der finden – und in Frieden mit der Schöpfungleben. Noch eine große Aufgabe haben wir: Verant-wortung für die EKBO selbst, ihre Arbeits-weise, Strukturen und Finanzpläne, um ihrenHandlungsspielraum auch in Zukunft zu erhal-ten. Damit wird sich die Synode in nächsterZeit ebenfalls auseinandersetzen, damit dieKirche in Stadt und Land stark bleibt. Die Reformation geht weiter.

Sigrun Neuwerth ist Präses der Landessynodeder EKBO. Sie lebt in Berlin.

Inspirierend für JungeIch wünsche mir, dass die Kirche sich einwenig mehr Mühe mit den Jüngeren gibt. DerÜbergang vom Kindergottesdienst zur Predigtist ziemlich hart und mit dem zu dem Zeit-punkt beginnenden Konfirmationsunterrichtwurde der Gottesdienst für mich eine ArtPflicht, weil wir eine bestimmte Anzahl Gottes-dienste besuchen mussten, um konfirmiert zuwerden. Eine Kirche, in die ich gern jemanden mit-nehme? Das wäre eine, in der ich selbst etwasentscheiden kann und eigene Ideen gefragtsind – nicht nur Epistel lesen oder Fürbittevorbereiten. Vielleicht steht Gott gar nicht soauf Orgelmusik und lange Reden? Ich besuche einen Jugendhauskreis aus meh-reren Kirchengemeinden, da bestimmen wirJugendlichen selbst, was wir besprechen wol-len. Das gefällt mir. TenSing auch. Die Kirchesoll offen, einladend und nicht so steif sein.Ein bisschen mehr Kommunikation kann vieleProbleme zwischen den Generationen lösen.

Charlotte Schletter ist Schülerin der 10. Klasse. Sie lebt in Görlitz.

Herzenswarme GemeinschaftEs ist das Verbindende, gemeinsame Hoffenund Ertragen von Niederlagen und die Begeis-terungsfähigkeit, die man Kirche heute etwasmehr wünschte. Sich auf das Einfache besin-nen, das begeistert viele bei unserem Weih-nachtssingen im Stadion An der AltenFörsterei. Es ist wohl die Faszination eines her-zenswarmen Gemeinschaftserlebnisses, dieJung und Alt in das Stadion des 1. FC UnionBerlin lockt: Kerzenschein, ein Schulchor, einekleine familiäre Bläsergruppe und die Weih-nachtsgeschichte aus dem Munde des fast le-gendären Pfarrers Peter Müller – es ist wieWeihnachten in Familie, zwar größer, aberebenso nah. Wo immer Menschen etwas Der-artiges finden, werden sie sich aufgehobenfühlen.

Christian Arbeit ist Leiter Kommunikation beim Fußball-Bundesliga Zweitligisten 1. FC Union Berlin.

Traditionen und Sorgfalt in der MusikIm Verlauf der Reformationsdekade hat dieKirche viele Gedanken entwickelt, die in Sym-posien, Kolloquien und diversen Großveran-staltungen präsentiert und bedacht wurden.Es gilt nun, diese in die Tat umzusetzen. Fürdie Kirchenmusik liegt am dringendsten an,dass die in 500 Jahren evangelischer Kirchegewachsenen Traditionen bewahrt und ge-pflegt werden. Eine vielerorts zu beobach-tende Verwässerung darf nicht noch mehr umsich greifen. Angesichts der immer wenigerwerdenden hauptamtlich besetzten Kirchen-musikerstellen muss viel Sorgfalt darauf ver-wendet werden, dass uns (nicht nur in denkirchenmusikalischen Zentren) das reicheErbe evangelischer Kirchenmusik nicht verlo-ren geht.

Reinhard Seeliger ist Kirchenmusikdirektor in Görlitz und Dirigent des Görlitzer Bach-Chores.

DIE GESPRÄCHE FÜHRTE BETTINA BERTRAM

Johannes Calvin

EEditorial

„ “Martin Luther –Pfarrer oder Professor?

VON THOMAS KAUFMANN

Auch wenn Luther und seine „Käthe“ zu Leit-ikonendes evangelischen Pfarrhauses wurden– Pfarrer im strikten Sinne ist „Doctor Marti-nus“ nie gewesen. Manche Aufgaben einesPfarrers wahrzunehmen hat dies freilich nichtgehindert. Bald nach seinen Anfängen als Or-densprofessor berief der Wittenberger Stadt-rat den Augustinerpater zur regelmäßigenPredigt in der Stadtkirche – eine Tätigkeit, diedem Bettelmönch bescheidene persönlicheEinkünfte bescherte. Das Wichtigste aber war,dass ihn der regelmäßige engere Kontakt zuPredigthörern, denen er sein Verständnis bib-lischer Texte nahezubringen hatte, nötigteund darin beförderte, anschaulich, nachvoll-ziehbar und in sprachlich packender Form zusprechen. Dem Publizisten Luther kam späterzugute, was der Prediger gelernt hatte. DassLuther als Priester auch Wittenberger „Pfarr-

kindern“ die Beichte abnahm, als Predigertaufte und das Abendmahl zelebrierte, istwahrscheinlich. Als Briefschreiber war er viel-fach Tröster, Seelsorger. Der späteren Überlieferung, Luther habegegen den Ablass zu kämpfen begonnen, weiler mit leichtgläubigen Beichtkindern konfron-tiert worden sei, die ernsthafte Buße verwei-gerten, ist allerdings mit Skepsis zu begegnen.Die wichtigsten Aufgaben eines evangelischenPfarrers – Predigt, Sakramentsspende, Seel-sorge – nahm der Reformator aber regel-mäßig wahr.Luthers frühe akademische Schriftauslegun-gen folgten den wissenschaftlichen Standardsseiner Zeit, einschließlich der Bemühungenum humanistische Philologie. Sie diskutiertenund kritisierten Deutungen anderer Exegeten,nahmen die einschlägige ältere und neuere Li-teratur zur Kenntnis und rangen um nachvoll-ziehbare Lösungen. Gleichwohl war ihneneine auf die Glaubensaneignung seiner Hörerausgerichtete Tendenz eigen; letzteres ver-band sie mit der Predigt. Bei manchen Ausle-gungen, die er später im Hörsaal vortrug –

etwa seiner letzten, etwa ein Jahrzehnt wäh-renden Vorlesung über die Genesis –, war derUnterschied zur Predigt geschwunden, hatteder Prediger definitiv über den Professor gesiegt. Doch auch als Professor blieb sich Luther im Ganzen treu: In seinem Insistierenauf der theologischen Lehre, die keinerleiZweideutigkeit zulässt. In seiner Förderungdes Nachwuchses, auch daheim im „schwar-zen Kloster“; in seinem Hochmut gegenüberBauern und vermeintlich aufrührerischenTäufern; in seinem couragierten Auftreten ge-genüber den Mächtigen dieser Welt – allent-halben wirkte sein professoraler Habitusnach. Luther – ein angefochtener, sensibler,sprachbegabter und reizbarer Mann auseinem Guss, der in allem, was uns abstößtoder beeindruckt, Pastor und Professor, Lehrer und Prediger Christi sein wollte. ◼

Thomas Kaufmann ist Professor für Kirchen-geschichte an der Universität Göttingen mitForschungsschwerpunkten in Kirchen-, Theo-logie- und Christentumsgeschichte in Reformation und Früher Neuzeit.

Martin Luther –Frauenfeind oderFamilienfreund?

VON DOROTHEA SATTLER

Nein, ein Frauenfeind war Martin Luther nicht.Von einer solchen Grundeinstellung hat ihndie Lektüre der biblischen Schriften abgehal-ten. Mit einer tiefen Achtung begegnet Lutherder in der göttlichen Schöpfungsordnung vor-gesehenen Eigenart von Mann und Frau unterdem Vorzeichen ihrer Gleichstellung vor Gott.Jeder Mensch findet sich ohne eigenes Zutunals Frau oder Mann vor. Luther fordert, „dassder Mann das Weibsbild nicht verachte nochverspotte, und umgekehrt auch das Weib denMann nicht“ (Martin Luther, „Vom ehelichenLeben“, 1522). Nach Luther findet der Mann seine Frau aufGottes Wegen. Lebenslange Treue zu der ein-mal getroffenen Wahl einer Partnerschaft istfür ihn ein hohes Gut. Keine Frau darf leicht-fertig aus der Ehe entlassen werden.

Zwei Frauen haben Luther in besondererWeise geprägt: seine strenge und zugleich umAusgleich bemühte Mutter Margarethe sowieseine Ehefrau Katharina von Bora. Luthersspäte und sehr innige Liebe zu Katharina hatseinen Blick für die Qualitäten von Frauen ge-weitet. Katharina war unermüdlich im Haus-halt tätig; sie verwaltete die Güter und sorgtefür das Auskommen der Familie; sie nahm ander Pest erkrankte Menschen in das Haus auf;sie gebar sechs Kinder; sie schenkte ihremMann Aufmerksamkeit in den Wirren umseine Lehren. Luther war ein sensiblerMensch, der im Blick auf seine Kinder großeFreude und hohe Not erfahren hat. Der früheTod seiner beiden Töchter Elisabeth und Mag-dalena haben ihn in tiefe Trauer gestürzt. EinFamilienfreund war Luther ohne jeden Zwei-fel. Er hat seiner Familie auch viel zugemutet:Nierenleiden und Gewissensnöte plagten ihn;oft war er auf Reisen; Maß halten konnte er injeder Hinsicht schlecht.Das Leben von Frauen hat sich mit dem Refor-mationszeitalter verändert: Die sozialen Tätig-keiten von Frauen fanden von da an höhereAchtung; der Zugang zu Orten der Bildung

wurde für größere Kreise geöffnet; die Teil-habe am allgemeinen Priestertum aller Ge-tauften verlieh den Frauen Wertschätzung. Eines wollte Martin Luther nicht: Die Frausollte nicht öffentlich in der Versammlung derGemeinde Gottes Wort verkündigen. Lutherfolgte in dieser Hinsicht den Paulus zuge-schriebenen biblischen Vorgaben (vgl. 1. Ko-rinther 14, 34). Von dem Ideal der demPfarrherrn dienstbar zugeordneten Pfarrfraulösten sich die evangelischen Geschwister im20. Jahrhundert nur mühsam. Dieser Prozessist weltweit noch nicht abgeschlossen. DieÜberzeugung von Luther, die primäre Auf-gabe des kirchlichen Amtes sei es, das Evan-gelium Jesu Christi zu verkündigen, lässt heuteviele Traditionen mit Luther über Luther hinaus gehen: Wie Maria von Magdala ist jedeFrau dazu berufen, Zeugnis für das Leben desauferstandenen Christus zu geben. ◼

Dorothea Sattler ist Professorin für Systematische und Ökumenische Theologie und Dogmatik sowie Direktorin des Ökume-nischen Instituts der Katholisch-TheologischenFakultät der Universität Münster.

Martin Luther –Revolutionär oderTraditionalist?

VON DOROTHEA WENDEBOURG

Kein „oder“, sondern ein „und“. Denn MartinLuther war beides. Er war Revolutionär, dashieß: Er trat kirchlicher Hierarchie und welt-licher Obrigkeit entgegen, stellte Ansprüchedes Papstes, Lehren von Konzilien, Traditio-nen der Kirche in Frage. Er bestritt die allge-meine Überzeugung, dass die ewige Seligkeitvon der Erbringung guter Taten, sei es auchmit Hilfe der Gnade erbrachter Taten, ab-hängig sei, und schrieb sie allein dem Glaubenzu. Damit lehnte er auch das Mönchtum alshervorragenden Weg zur Erreichung der Se-ligkeit ab. Er verabschiedete die Abstufungzwischen Geweihten und Laien in der Kirche

und sprach allen Christen und Christinnendenselben geistlichen Stand zu, innerhalbdessen das ordinationsgebundene Amt nurals Wahrnehmung spezifischer Aufgaben zuverstehen sei. Er verwarf die Indienstnahmepolitischer Gewalt zugunsten des wahrenGlaubens und forderte, mit Vertretern religiö-sen Irrtums, zu denen er auch die Juden zähl-te, ohne Einschränkung zusammenzuleben,ob sie sich nun vom Irrtum abkehrten odernicht. Das alles tat er im Namen der Freiheit,der Freiheit des Gewissens: Nur das Mittel,durch das das Gewissen zu überzeugen sei,und nur die Überzeugung, die das Gewissengewonnen habe, könnten in der Kirche Gel-tung beanspruchen: das Wort und derGlaube. Aber Luther war auch Traditionalist, und dasin mehrerer Hinsicht. Zum einen, das ammeisten Betonte und zugleich das am wenigs-ten Interessante: Er wurde an etlichen Punk-ten seinen eigenen revolutionären Einsichten

untreu und fiel in alte Muster zurück, so hin-sichtlich der Indienstnahme politischer Gewaltfür religiöse Zwecke. Zum anderen in der kon-kreten Gestaltung der evangelisch erneuertenKirche, für die er, wo immer möglich, Kontinui-tät mit bisherigen Bräuchen und Formen vor-sah, so in liturgischen und kirchenrechtlichenFragen. Vor allem aber, der entscheidendePunkt: Er band das freie Gewissen an einerunüberholbar vorgegebenen Größe fest, derHeiligen Schrift. Was zur Revolution berech-tigte und nötigte, konnte allein die an derSchrift gewonnene Glaubensüberzeugungund das aus der Schrift geschöpfte Wort derKirche sein. ◼

Dorothea Wendebourg ist emeritierteProfessorin für Kirchengeschichte mit dem Schwerpunkt Mittlere und Neuere Kirchengeschichte/Reformations-geschichte an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin.

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Reformator, Pfarrer, Glaubenslehrer

Wer war Luther?

【Umfrage】Reformationsjubiläumade – mit welchen Fragen soll sich Kirche künftig beschäftigen?

Der wandelt recht im Worte Gottes, der nicht aufhört zu staunen.

„Wir sind alle schuldig, einander zu verzeihen, sofern wir wollen, dass Gott uns verzeiht.“ Huldrych Zwingli

Es ist soweit. Der 31. Oktober 2017 istda, der 500. Jahrestag des Thesenan-schlags Martin Luthers in Wittenberg.Lange haben wir vorausgeschaut. Undnoch lange werden wir zurückdenken:an den Deutschen Evangelischen Kir-chentag, an Ausstellungen über Refor-matorinnen und Reformatoren wieMartin Luther, Johannes Calvin und Argula von Grumbach, an Predigt-reihen über Errungenschaften undWidersprüche des Umbruchs. Dabei immer im Blick: Was heißt es füruns heute, Christ in unserer Gesell-schaft zu sein? Wofür übernehmen wirVerantwortung? „Ein Christ ist ein sol-cher Mensch, der gar keinen Hass nochFeindschaft wider jemand weiß, keinenZorn noch Rache in seinem Herzen hat,sondern eitel Liebe, Sanftmut und Wohl-tat“, sagte Luther einst. In unserer Beilage haben wir Stimmenvon Wissenschaftlerinnen, Vertreternverschiedener Religionen und Weltan-schauungen und von Christinnen undChristen aus unseren Kirchengemein-den gesammelt. Sie zeigen deutlich: DieReformation geht weiter.

Wir danken Dr. Bernd Krebs und den Mitgliedern der Arbeitsgruppe Reformationsdekade der EvangelischenKirche Berlin-Brandenburg-schlesischeOberlausitz für die finanzielle Unter-stützung der Beilage.

Ihre Constance Bürger

GlaubwürdigLuther ist ja nicht abgehakt, nur weil sein Ju-biläum bald passé ist. Ich hoffe, er würdeseine Kraft heute in die Ökumene stecken,damit wieder zusammenwächst, was zusam-mengehört. Wie lange allerdings hat es gedau-ert, bis in der Evangelischen Kirche auch diedunklen Seiten des Reformators nicht mehrweggeschwiegen wurden? Und wird es derKirche gelingen, endlich den Unterschied zwi-schen Unterdrückern und Unterdrückten zusehen – oder wartet beim nächsten Kirchen-tag auch für Kreml-Chef Putin ein Platz aufdem Roten Sofa?Glaubwürdigkeit scheint eine der schwierig-sten Übungen zu sein. Immerhin gibt es die inmeiner Berliner Kirchgemeinde und sichernoch vielerorts an der Basis. Kirche ist dort fürmich am stärksten, wo Christen sich den Be-nachteiligten unserer Gesellschaft zuwenden,auch dann, wenn sie nicht hier geboren sind.

Freya Klier ist Schriftstellerin und Dokumentarfilmerin. Sie lebt in Berlin.

Politisches WächteramtGlauben ist für mich immer in dieser Welt.Nicht außerhalb. Deshalb hat jeder Christ undjede Christin die Verantwortung, in der Weltzu wirken und sich mit einzubringen in die Ge-sellschaft. Denn Glauben ist keine reine Privat-sache.Zwei Fragestellungen sehe ich deshalb grund-legend für unsere Gemeinden und unsere Kir-che: Zum einen ist es die Auseinandersetzungund Rückbesinnung auf die Grundlagen unse-res Glaubens. Diese auch erfahrbar zu ma-chen ist mir wichtig. Wo sind unsere Wurzeln?Zum anderen sehe ich die Kirche stärker ge-fordert, das politische Wächteramt wahrzu-nehmen und zu gestalten. Dabei geht es mirnicht um Aktionismus, sondern um die per-manente Frage: Wo müssen wir unsere Stim-men erheben? Beides kann nur zusammengedacht und gemeinsam gestaltet werden.Und aus dem Reformationsjahr können wirruhig mitnehmen: Das Feiern zwischendurchnicht vergessen!

Jadwiga Mahling ist Pfarrerin der Evangelischen Kirchengemeinde Schleife.

Bleibende AufgabeDas Jubiläum geht zu Ende, aber nicht die Re-formation. Sie ist eine bleibende Aufgabe fürdie Kirche: Gottes Wort für jedermann – ver-ständlich, fröhlich, tröstend und befreiend.Das ist Luthers Vermächtnis. Uns bleibt auchein eher reformiertes Erbe: die Friedensbot-schaft in die Welt hineinzutragen. Das bedeu-tet, dass wir Verantwortung in der Gesell-schaft, in der Welt wahrnehmen. Die Landes-synode wird daher als Nächstes diese Auf-gabe diskutieren: wie wir gerechten Friedensuchen, immer wieder respektvolles Miteinan-der finden – und in Frieden mit der Schöpfungleben. Noch eine große Aufgabe haben wir: Verant-wortung für die EKBO selbst, ihre Arbeits-weise, Strukturen und Finanzpläne, um ihrenHandlungsspielraum auch in Zukunft zu erhal-ten. Damit wird sich die Synode in nächsterZeit ebenfalls auseinandersetzen, damit dieKirche in Stadt und Land stark bleibt. Die Reformation geht weiter.

Sigrun Neuwerth ist Präses der Landessynodeder EKBO. Sie lebt in Berlin.

Inspirierend für JungeIch wünsche mir, dass die Kirche sich einwenig mehr Mühe mit den Jüngeren gibt. DerÜbergang vom Kindergottesdienst zur Predigtist ziemlich hart und mit dem zu dem Zeit-punkt beginnenden Konfirmationsunterrichtwurde der Gottesdienst für mich eine ArtPflicht, weil wir eine bestimmte Anzahl Gottes-dienste besuchen mussten, um konfirmiert zuwerden. Eine Kirche, in die ich gern jemanden mit-nehme? Das wäre eine, in der ich selbst etwasentscheiden kann und eigene Ideen gefragtsind – nicht nur Epistel lesen oder Fürbittevorbereiten. Vielleicht steht Gott gar nicht soauf Orgelmusik und lange Reden? Ich besuche einen Jugendhauskreis aus meh-reren Kirchengemeinden, da bestimmen wirJugendlichen selbst, was wir besprechen wol-len. Das gefällt mir. TenSing auch. Die Kirchesoll offen, einladend und nicht so steif sein.Ein bisschen mehr Kommunikation kann vieleProbleme zwischen den Generationen lösen.

Charlotte Schletter ist Schülerin der 10. Klasse. Sie lebt in Görlitz.

Herzenswarme GemeinschaftEs ist das Verbindende, gemeinsame Hoffenund Ertragen von Niederlagen und die Begeis-terungsfähigkeit, die man Kirche heute etwasmehr wünschte. Sich auf das Einfache besin-nen, das begeistert viele bei unserem Weih-nachtssingen im Stadion An der AltenFörsterei. Es ist wohl die Faszination eines her-zenswarmen Gemeinschaftserlebnisses, dieJung und Alt in das Stadion des 1. FC UnionBerlin lockt: Kerzenschein, ein Schulchor, einekleine familiäre Bläsergruppe und die Weih-nachtsgeschichte aus dem Munde des fast le-gendären Pfarrers Peter Müller – es ist wieWeihnachten in Familie, zwar größer, aberebenso nah. Wo immer Menschen etwas Der-artiges finden, werden sie sich aufgehobenfühlen.

Christian Arbeit ist Leiter Kommunikation beim Fußball-Bundesliga Zweitligisten 1. FC Union Berlin.

Traditionen und Sorgfalt in der MusikIm Verlauf der Reformationsdekade hat dieKirche viele Gedanken entwickelt, die in Sym-posien, Kolloquien und diversen Großveran-staltungen präsentiert und bedacht wurden.Es gilt nun, diese in die Tat umzusetzen. Fürdie Kirchenmusik liegt am dringendsten an,dass die in 500 Jahren evangelischer Kirchegewachsenen Traditionen bewahrt und ge-pflegt werden. Eine vielerorts zu beobach-tende Verwässerung darf nicht noch mehr umsich greifen. Angesichts der immer wenigerwerdenden hauptamtlich besetzten Kirchen-musikerstellen muss viel Sorgfalt darauf ver-wendet werden, dass uns (nicht nur in denkirchenmusikalischen Zentren) das reicheErbe evangelischer Kirchenmusik nicht verlo-ren geht.

Reinhard Seeliger ist Kirchenmusikdirektor in Görlitz und Dirigent des Görlitzer Bach-Chores.

DIE GESPRÄCHE FÜHRTE BETTINA BERTRAM

Johannes Calvin

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Reformation

IMPRESSUM Herausgeber: Evangelisches Medienhaus der EKBO, Redaktion „die Kirche“, Georgenkirchstraße 69–70, 10249 Berlin, Telefon: (030) 28 87 48 14, E-Mail: [email protected] | Redaktion der Beilage zum Jubiläum „500 Jahre Reformation“: Constance Bürger (V.i.S.d.P.), Barbara Manterfeld-Wormit, Tanja Pilger-Janßen, Sibylle Sterzik | Gestaltung: Uwe Baumann, www.ortszeitmediale.de | Herstellung: Wichern-Verlag GmbH, BerlinDruck: Berliner Zeitungsdruck GmbH | Mit finanzieller Unterstützung der Arbeitsgruppe Reformationsdekade der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz.

1517 – 2017

OSMAN ÖRS

Martin Luther war ein Kind seiner Zeit. Ausdieser Perspektive lese ich seine kritischenÄußerungen gegenüber Andersgläubigen.Was ihn und die Reformation aus den Massenseiner Zeit jedoch besonders hervorhebt, istsein Drang und Wunsch nach der Befreiungdes Menschen aus den gegebenen Strukturender Kirche seiner Zeit. Für ihn stand das Indi-viduum und dessen Emanzipation an vor-derster Stelle. Als Muslim lese ich dieses Bestreben als dieBefreiung des Menschen von jeglichen Hin-dernissen, die zwischen ihm und seinemSchöpfer liegen. Der Mensch ist erst wirklichfrei, wenn er sich von den weltlichen und see-lischen Fesseln befreien kann, die ihn daranhindern, seinen Schöpfer zu erkennen und einbewusstes sowie verantwortungsvolles Lebenzu führen. Dieses Streben nach Befreiung undder Kampf mit seiner Seele hat in der islami-schen Mystik einen besonderen Stellenwert. Da die strikte Nachahmung der Tradition fürdie Zeit Luthers ein Problem darstellte, er-kannte er hierin den Bedarf einer Verände-rung. Dennoch brauchen religiöse Menscheneinen Halt, der erst durch Rituale aus der Tra-dition lebendig bleiben kann. Geht diesesGleichgewicht verloren, kann es zur Reli-gionsferne in der Gemeinde führen. In dieserHerausforderung sehe ich heute unter ande-rem auch die evangelische Kirche.

Osman Örs ist Wissenschaftlicher Mitarbeiterdes Forum Dialog Berlin, einer von deutschenMuslimen gegründeten Initiative zum kultu-rellen und religiösen Austausch. Er ist Imamund Social Media Referent des House of OneBerlin.Foto: privat

MICHA BRUMLIK

Kein Zweifel: Martin Luther war eine Gestaltvon unvergleichlicher historischer Wucht, eineGestalt, wie man sie im Raum der uns bekann-ten okzidentalen Geschichte kein zweites Malfinden wird. Von wem lässt sich schon sagen,dass er – er allein – den Lauf der Weltge-schichte geändert hat? Luther – auch daran istein Zweifel nicht möglich – war ein religiösesGenie, ein Mann, der Aspekte der christlichenReligion stark gemacht hat, die über Jahrhun-derte – seit dem Apostel Paulus – so gut wievergessen waren.Nicht zuletzt war Luther aber auch ein politi-scher Denker von Gnaden – freilich nicht der,als den man ihn uns heute nahezubringenversucht: Wenn Martin Luther eines nicht war,dann ein Liberaler, als den ihn im 19. Jahrhun-dert viele jüdische Denker betrachteten. Nein, Luthers bewundernswerter Mut zum ei-genen Gewissen führte ihn gerade nicht dazu,Gewissensfreiheit für alle zu fordern. Sein Auf-begehren gegen die päpstliche Herrschaftführte ihn keineswegs zur Forderung nachmehr politischer Freiheit, sondern zu seinerden autoritären Obrigkeitsstaat begründen-den Zwei-Reiche-Lehre. Und: Obwohl ein ge-nialer Übersetzer der Hebräischen Bibel, warer doch ein früher Vertreter des politischenAntisemitismus, keineswegs „nur“ ein theolo-gischer Antijudaist – weshalb sich die Natio-nalsozialisten zu Recht auf ihn berufenkonnten. Es war Thomas Mann, der Luther als„stiernackigen Gottesbarbaren“ bezeichnethat.

Dr. Micha Brumlik ist jüdischer Publizist, Erziehungswissenschaftler und Religions-philosoph und Senior Advisor am Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg.Foto: dpa

DAVID DRIESE

Für mich ist Martin Luther eine ambivalentePerson. Als kulturhistorische Figur ist er einWegbereiter einer sich später öffnenden Gesellschaft. Mit der Etablierung des ThemasGewissensfreiheit kann sein Wirken als orien-tierend für die Entwicklungen zur Meinungs-und Glaubensfreiheit gesehen werden. Obunsere offene Gesellschaft jedoch in seinemSinne wäre, bleibt fraglich. Denn er steht auch für die dunkle Seite derGeschichte. Sein Hass gegenüber Juden undAndersgläubigen bildet die Grundlage des eu-ropäischen (und lange Zeit klerikalen) Anti-semitismus. In seinen Hetzschriften forderteer das Niederbrennen von Synagogen, er be-grüßte Hexenverbrennungen und stellte dasPrimat des Glaubens über die Vernunft. Als in der Tradition der europäischen Aufklä-rung verwurzelter Humanist ist Luther daherfür mich eine sehr kritische Figur. Er gehörtzweifellos zur unserer Geschichte, repräsen-tiert sie sogar fabelhaft in ihrer Ambivalenz.Daher wünsche ich mir eine differenziertereBetrachtung Luthers.

David Driese ist Leiter der Abteilung „Bildung“ im Landesverband Berlin-Branden-burg des Humanistischen Verbandes.Foto: Hoffotografen

HALADHARA THALER

Reformationen in Religionen finden immerstatt. Sie sind organischer Bestandteil bei demVersuch, sich dem Mysterium Gott anzu-nähern. Die Gründungen der Sikhs oder derBahai-Religion belegen das.Es ist letztlich die Verantwortung des Einzel-nen, im Studium der Heiligen Schrift durch innere Selbstbefragung nach Wahrheit zuforschen.Martin Luther war einer, der das tat. Mit Mut.Er erkannte, dass Menschen nicht mit einemGott leben können, der ihnen Angst macht,droht und ein unerbittliches Gericht installiert. Für diese grundbiblische Wahrheit war Lutherstarken Angriffen ausgesetzt. Wie hat er alldas erlebt und mit wem konnte er seinentiefsten Schmerz besprechen? Sein komplexes Lebenswerk enthält aberauch Tragisches. Er legte biblische Wahrheitfrei und stellte sie als das Licht des Evangeli-ums vor den Hintergrund der bloßen Gesetze,die er mit dem Judentum identifizierte. DiesePolarisierung erzeugte antijüdische Gefühle,die leicht politisch vereinnahmt werden konn-ten.Meiner Ansicht nach fühlte Luther vor allemdie Einheit, die Jesus lehrte. Einheit zwischenHimmel und Erde, zwischen Mensch und Gott.Ich finde, dass jeder Mensch in seinem spiri-tuellen Leben mehrmals vor genau dieselbeGewissensentscheidung gestellt wird: demunreflektierten Befolgen vorgegebener Ge-bote und der Sinnsuche oder: zwischen Leis-tung und Liebe.

Haladhara Thaler ist Vorsitzender der Hindu-Gemeinde e.V. mit Sitz in Berlin.Foto: privat

„Wie die Jungfrau zum Kinde“ ist er zu sei-nem Job als Reformationsbotschafter imLutherjahr gekommen, verrät Dr. Eckartvon Hirschhausen. Hauptberuflich ist derstudierte Mediziner als Autor, Kabarettistund Fernsehmoderator unterwegs. Er en-gagiert sich in zahlreichen Stiftungen undgilt als „Deutschlands lustigster Arzt“. HerrHirschhausen, was fasziniert Sie ausge-rechnet an Luther?Ich fühle mich ihm innerlich verbunden in derGrundüberzeugung, dass die Zeit des Herr-schaftswissens vorbei ist. Auch in der Medizinhat ja lange Zeit mentales Mittelalter ge-herrscht. Wie damals die Kirche sich hinter Li-turgie und Latein verschanzt hat, hat das dieMedizin auch über Jahrhunderte gemacht:dass sie die Gläubigen – sprich die Patienten– wirklich dumm gehalten hat.

Luther hat die Bibel ins Deutsche über-setzt. Ihr erstes Buch hat sich einem ähn-lichen Projekt gewidmet: Sie haben denPschyrembel, das Klinische Wörterbuch,für Nichtmediziner übersetzt.Mein erstes Buch hieß „Arzt – Deutsch /Deutsch – Arzt“, ein Langenscheidt-Wörter-buch. Da bin ich genau mit diesem reforma-torischen Ehrgeiz rangegangen: Guck mal, wie

aufgepustet diese Arztsprache oft ist! Dassteckt dahinter, wenn die Ärzte sagen: essen-tielle, funktionelle, vegetative, idiopathischeDystonie. Das heißt eigentlich nichts anderesals: Ich weiß auch nicht, was Sie haben!

Sie sagen: Viele Themen, die früher malder Kirche vorbehalten waren, sind mitt-lerweile bei der Medizin gelandet. Wasgenau meinen Sie damit?Jeder, der eine Krebsdiagnose hat, fragt sichdoch heute: Mensch, bin ich schuld? Aberdiese Frage beantwortet weder die Biologie

noch die Zellteilung. Ich habe also versucht,den Kerngedanken bei der Begründung vonKrankenhäusern wieder in die Medizin zurückzu spiegeln: Ein Hospital heißt Hospital, weiles ein Ort für Gäste sein sollte. Ein Patient istein Leidender und kein Kunde, und dasgrößte Klinikum heißt Charité nicht wegenShareholdervalue, sondern wegen Caritas:Nächstenliebe!

Sie sehen Reformbedarf im Gesundheits-wesen. Luther wollte die Kirche reformie-ren. Hat sie heute noch Reformbedarf?Ich glaube, dass wir da in diesen 500 Jahrendas Kind mit dem Bade ausgeschüttet habenund wir eine Gegenreformation brauchen, dieuns wieder hinführt zu mehr Sinnlichkeit undKörperlichkeit, zu mehr Ekstase und Freude.Wenn man sich klar macht, wie viele Menscheneinsam sind in dieser Gesellschaft: Die habenkeinen einzigen Menschen, der sie mal liebe-voll berührt! Für die kann ein Handschlag, die-ses „Friede sei mit dir!“ an einem Sonntag imGottesdienst der Moment sein, auf den siesich die Woche über freuen. Kirche hat dieseKraft, unabhängig von Geld, Alter und sozia-lem Status, Menschen zu integrieren. Und esgibt wenig Integration. Wenn Kirche weg ist,gibt es keine andere Stelle, die das auffängt.

Am 31. Oktober ist Feiertag – diesmal flächendeckend in ganz Deutschland. Welche Botschaft hat ein Reformations-botschafter an diesem Tag?Wofür stehst du? Was ist der Luther-Momentin dir? Wo würdest du sagen: Hier stehe ich.Ich kann nicht anders. Ich will auch nicht an-ders! Wir leben heute in einer so offenen undfreien Gesellschaft: Jeder darf sagen, was erdenkt, auch wenn er nicht lange nachgedachthat. Ja, das ist anstrengend und das ist nervig!Der größte Feind einer offenen Gesellschaftist, sie für selbstverständlich zu halten. Da istimmer etwas, was wir uns erkämpfen und er-ringen müssen. Diese Verantwortung des Ein-zelnen hat Luther vorgemacht – diese Power:Trau dich, dich hinzustellen! ◼

Barbara Manterfeld-Wormit ist Rundfunk-beauftragte der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und Leiterin des Evangelischen Rundfunkdienstes.

31. Oktober, 8.40 bis 8.55 Uhr, Antenne Brandenburg „Kabarettist trifft Reformator“ – Eckart von Hirschhausen im Gespräch mit Martin Luther

DAS GESPRÄCH FÜHRTE BARBARA MANTERFELD-WORMIT

Und wofür stehst du?Ein Gespräch mit dem Reformationsbotschafter Eckart von Hirschhausen

„dieKirche“ Sonderbeilage zum Jubiläum „500 Jahre Reformation“

Martin Luther, Lucas Cranach d.Ä., 1527, Nationalmuseum Stockholm, Foto: Erik Cornelius, CC

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Das Gemälde „Religionsgespräch zu Marburg“ (1867) zeigt den Disput zwischen Martin Luther und dem Schweizer Reformator Huldrych Zwingli im Jahr 1529 in Marburg

zum Verständnis des Abendmahls. Eingeladen hatte Landgraf Philipp der Großmütige, derauf dem Schloss in Marburg residierte und die Reformation in Hessen eingeführt hatte.

Er sitzt links am Tischrand, neben ihm Herzog Ulrich von Württemberg.

„Denn mir ist m

ein

Gewissen so

, dass ich

nicht selig we

rden kann,

wenn ich de

n Menschen

mehr fürchte a

ls Gott.“

Elisabeth vo

n Rochlitz

(1502–1557)

Worin besteht Ihre Faszination oder Ihre kritische Auseinandersetzung mit Martin Luther und seinen Themen?

Tanja Pilger-Janßen befragte Vertreter verschiedener Religionen und Weltanschauungen

31.Oktober

2017