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Deutscher Bundestag Eliten Deutschlands und deren Verhältnis zur Bundeswehr – Eine Untersuchung von Intellektu- ellen, Gewerkschaften und Kirchen Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste © 2009 Deutscher Bundestag WD 1 – 3000 – 158/09

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Page 1: Wissenschaftliche Dienste Deutscher Bundestag Ausarbeitung ... · schrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 16. Jg (1964), S. 76-79. Zur Fragmentierung der Öffentlichkeit aufgrund

Deutscher Bundestag

Eliten Deutschlands und deren Verhältnis zur Bundeswehr – Eine Untersuchung von Intellektu-ellen, Gewerkschaften und Kirchen

Ausarbeitung

Wissenschaftliche Dienste

© 2009 Deutscher Bundestag WD 1 – 3000 – 158/09

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Seite 2

Eliten Deutschlands und deren Verhältnis zur Bundeswehr – Eine Untersuchung von Intellektuellen, Gewerkschaften und Kirchen Verfasser: (WD 2);

(WD 1) Ausarbeitung: WD 2 – 3000 – 098/09, WD 1 – 3000 – 158/09 Abschluss der Arbeit: 17. November 2009 Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und

Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Telefon: Fachbereich: WD 1: Geschichte, Zeitgeschichte und Politik Telefon:

Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentli-chung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin.

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Inhaltsverzeichnis Seite

1. Einleitung 4

2. Intellektuelle und Bundeswehr 4

2.1. Begriff und Typen des Intellektuellen

2.2. Historisch-soziologische Ursachen für Vorbe-halte von Intellektuellen gegenüber dem Militär

2.3. Historisch-soziologische Anknüpfungspunkte

für ein neues Verhältnis zwischen Intellektuel-len und Bundeswehr

2.4. Detailanalysen zur Auseinandersetzung der Intellektuellen mit dem Kosovo-Krieg und dem ISAF-Einsatz

2.5. Grenzen im Verhältnis von Intellektuellen und Soldaten

2.6. Zusammenfassung

4

7

10

14

23

26

3. Gewerkschaften und Bundeswehr 29

3.1. Einleitung 3.2. Das Ende der Feindschaft in den 60er Jahren 3.3. Neue sicherheitspolitische Fronten 3.4. Zusammenfassung

29 29 35 38

4. Kirchen und Bundeswehr 42

4.1. Einleitung 4.2 Das politische Christentum 1955-1990 4.3 Das politische Christentum 1991-2009 4.4 Die Militärseelsorge als Bindeglied

4.5 Zusammenfassung

42 42 46 50 52

5. Schlussbemerkungen

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1. Einleitung

Der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Reinhold Robbe, weist seit einigen Monaten

öffentlich darauf hin, dass die Soldaten der Bundeswehr mehr Anerkennung und Zuwendung

benötigten. Er wandte sich mit seinem Appell an die gesellschaftlichen Eliten wie beispielsweise

die „intellektuelle Welt“. Bis heute, so Robbe, gäbe es keinen vernünftigen Dialog zwischen Au-

toren, Literaten und Filmemachern und den Angehörigen der Streitkräfte.1 Später richtete er die-

sen Appell auch an die Kirchen und Gewerkschaften.

Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, wie sich Intellektuelle, Gewerkschaften und

Kirchen in die sicherheitspolitische Debatte einbringen, wie sie mit Soldaten kommunizieren

und welche Anerkennung und Zuwendung sie diesen entgegenbringen.

2. Intellektuelle und Bundeswehr 2.1. Begriff und Typen des Intellektuellen

Wer sind diese Intellektuellen, die der Wehrbeauftragte anspricht? Intellektuelle sind, so Wolf-

gang Fritz Haug, Menschen, die Stellung zu allgemeinen Fragen von politischer oder allgemein

1 Der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Reinhold Robbe, im Interview mit dem Parlamentsfern-

sehen am 8. Mai 2009. Siehe auch das Sonntags-Interview in der Berliner Zeitung, Militär-Experte fordert: Mehr Männer zum Bund, 5. April 2009: „Was die Soldatinnen und Soldaten aber auch beklagen, ist der Mangel an moralischer Unterstützung aus der Bevölkerung. (…) Die intellektuelle Elite Deutschlands bei-spielsweise meidet die Bundeswehr. (…) Schriftsteller, Schauspieler, Musiker und andere Künstler sollten die Bundeswehr entdecken, den Weg zur Kaserne und besonders zu den Soldaten im Einsatz finden“. Der Wehrbeauftragte hat diesen Appell im Rahmen des Feierlichen Gelöbnisses am 20. Juli 2009 wiederholt. Auch Bundespräsident Köhler, der im Jahre 2005 auf das „freundliche Desinteresse“ der Deutschen gegen-über der Bundeswehr und ihren Soldaten hinwies, sagte während der Einweihung des „Ehrenmals der Bundeswehr“ am 8. September 2009 folgende Worte: „Ich wünsche mir darüber (die Einsätze der Bundes-wehr; ) eine öffentliche Debatte, die aber zugleich geprägt ist von Anteilnahme und Respekt, von Sorge und Anerkennung für die Bundeswehr und ihren Dienst. Dieser Verantwortung dürfen wir uns nicht ent-ziehen.“ (http://www.bundesregierung.de/nn_1514/Content/DE/Bulletin/2009/09/94-1-bpr-ehrenmal.html) (Stand: 02.11.2009)

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menschlicher Tragweite nehmen. Sie müssen nicht notwendigerweise Akademiker sein, auch

wenn viele eine universitäre Bildung besitzen.2 Sie sind allerdings keinesfalls mit Experten

gleichzusetzen, wie Haug betont: Intellektuelle „… sind keine Experten, die zahlenden Auftrag-

gebern fachspezifische Einschätzungen in der Art von Gutachten liefern. Im Gegenteil, sie stören

die Expertokratie.“3 In unserer modernen Wissensgesellschaft und Mediendemokratie haben Ex-

perten viel Aufmerksamkeit gewonnen. Das mag einer der Gründe dafür sein, weshalb nach ver-

breiteter Ansicht die Intellektuellen im gesellschaftlichen Diskurs mehr und mehr ins Hintertref-

fen geraten. Andererseits liegt hierin einer der Gründe für die gestiegene gesellschaftliche Rele-

vanz von Intellektuellen. Carrier und Roggenhofer erklären dies so: „Intellektuelle bilden das

erforderliche Gegengewicht zum Experten und verdeutlichen durch ihre begründete Kritik und

ihr Eintreten für die Belange menschlicher Lebensführung, dass Fachurteile bei solchen Fragen

nicht das letzte Wort sind. Statt auf Expertise stützen sich Intellektuelle auf praktische Klugheit

und Urteilskraft; sie verstehen es, einen gewissen Abstand zum täglichen Betrieb zu bewahren

und urteilen, kritisieren und entlarven aus der Distanz.“4

Nach einer Definition von Martin Carrier können Intellektuelle mit fünf Merkmalen charakteri-

siert werden: „(1) Intellektuelle melden sich in einer Angelegenheit von öffentlicher Bedeutung

zu Wort. (2) Die Beiträge von Intellektuellen richten sich an die breite Öffentlichkeit – auch wenn

sie faktisch unter Umständen nur von einer Bildungselite rezipiert werden. Ihre Äußerungen er-

scheinen nicht in der Fachpresse, sondern in den Massenmedien. (3) Intellektuelle ergreifen Par-

tei, sie stehen für eine Sache ein. (4) Dabei engagieren sie sich im Namen eines überpersönlichen

Anliegens oder treten für ein Vorhaben mit universellem Anspruch ein, etwa eine bestimmte

Weltsicht, eine Werthaltung oder das Wohl einer großen Zahl von Menschen. Die Verfolgung von

Einzelinteressen ohne Bezug auf übergreifende Werte oder verallgemeinerungsfähige Ziele ist

nicht Gegenstand intellektuellen Engagements. (5) Beiträge von Intellektuellen besitzen intellek-

tuelle Qualitäten. Es handelt sich um Überlegungen von grundsätzlicher Tragweite, die sich

durch ein hohes Niveau der Argumentation und Begründung oder durch rhetorische Brillanz

auszeichnen.“5

2 Haug, Wolfgang Fritz, Zur Frage nach der Gestalt des engagierten Intellektuellen. In: Das Argument 280,

51. Jg. (2009), H. 1/2, S. 47.

3 Haug, a.a.O., S. 48.

4 Carrier, Martin, Roggenhofer, Johannes, Vorbemerkung. In: Carrier, Martin, Roggenhofer, Johannes

(Hrsg.), Wandel oder Niedergang? Die Rolle der Intellektuellen in der Wissensgesellschaft, Bielefeld 2007, S. 8.

5 Carrier, S. 23f.

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In modernen Gesellschaften existieren durchaus unterschiedliche Intellektuellentypen. Der

„klassische Intellektuelle“ könnte gewissermaßen als der Urtypus bezeichnet werden. Beispiele

dafür sind Voltaire, Zola und Sartre. Dieser Typ mischt sich in Tagesgeschäfte ein, kritisiert die

bestehenden Mächte und Machtverhältnisse und wendet sich an die Öffentlichkeit6, um die Um-

setzung anerkannter ethischer Werte und Verpflichtungen anzumahnen. Der Rekurs auf das eige-

ne Gewissen verbindet hier Intellektualität mit hoher Authentizität. Nicht selten bedient er sich

der rhetorischen Mittel von Häme und Spott („cum ira et studio“). Diese Form der „Großdenker“

sei heute, so urteilen Soziologen, im Schwinden begriffen.7

Den „kritischen Intellektuellen“ geht es um die „… Verbesserung der Lebensbedingungen“ und

„… ein würdiges Leben für alle…“.8 Sie ergreifen engagiert Partei für eine bestimmte Sache. Ihre

Intervention ist wissenschaftlich fundiert und stellt Werte in den Vordergrund. Ein Beispiel da-

für ist der Philosoph Jürgen Habermas, der sich selbst strikt von den Experten abgrenzt, wie Car-

rier erläutert: „Experten haben mit Tatsachen zu tun, Intellektuelle mit Werten. Experten klären

darüber auf, welche Szenarien realistisch sind, Intellektuelle erörtern deren Folgen für die

menschliche Kultur. Experten klären die Interventionsspielräume, Intellektuelle untersuchen die

ethischen Grenzen. Intellektuelle nehmen also ihren Ausgang von den Szenarien der Experten

und klopfen diese auf ihren Wertgehalt ab. Intellektuelle steuern keine Informationen zum Sach-

stand bei, sondern erörtern Weltsichten, Zukunftsentwürfe und Zielvorstellungen.“9

Daneben existiert der Intellektuellentypus des „engagierten Beobachters“. Ralf Dahrendorf be-

zeichnet sie als „Leuchttürme der Vernunft und der Freiheit in einer von Unvernunft und Illibe-

ralität versuchbaren Welt“.10 Deren Beiträge zum gesellschaftlichen Diskurs enthalten immer

auch eine Begründung ihres eigenen Standpunkts, um so die Rationalität zu erhöhen und die

eigenen geistigen Voraussetzungen aufzuklären. Darüber hinaus wahren sie eine Distanz zu ih-

rem Gegenstand. Sie verbinden das „… bewusste Engagement in den brennenden Fragen von

Zeiten der Prüfung mit der Fähigkeit …, zu diesen doch immer die Distanz des nachdenklichen

6 Siehe dazu auch Lepsius, M. Rainer, Kritik als Beruf. Zur Soziologie der Intellektuellen. In: Kölner Zeit-

schrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 16. Jg (1964), S. 76-79. Zur Fragmentierung der Öffentlichkeit aufgrund der Breite des Medienangebots und den reduzierten Möglichkeiten von Intellektuellen, auf die breite Öffentlichkeit zu wirken, siehe Carrier, S. 28, Habermas 2006.

7 Carrier, S. 28.

8 Stephen Gill, befragt von Ingar Solty, Kritische Intellektuelle im 21. Jahrhundert. In: Das Argument

280/2009, S. 135.

9 Carrier, a.a.O., S. 27

10 Dahrendorf, Ralf, Engagierte Beobachter. Die Intellektuellen und die Versuchungen der Zeit, S. 28.

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Beobachters aufrechtzuerhalten“.11 Sie dürfen also niemals so engagiert sein, dass sie aufhören,

Beobachter zu sein. Da sie nicht parteilich gebunden sind, können sie das Unsagbare sagen und

Debatten beleben. Erasmus von Rotterdam gilt als der Idealtypus, der im angelsächsischen Be-

reich besonders durch Karl Raimund Popper und Issiah Berlin repräsentiert gewesen sei.

Trotz der Abgrenzung der Intellektuellen von den Experten gibt es auch den Mischtypus des

„Expertenintellektuellen“. Dieser ist der wissenschaftsgestützte Intellektuelle, bei dem der wis-

senschaftliche Sachverstand die Grundlage seines Engagements bildet.12 Er zeichnet sich weniger

durch Radikalität, Distanzierung und Skepsis als vielmehr durch Hinwendung zu konstruktiven

Gegenentwürfen aus pragmatischem Geiste aus.13 Expertenintellektuellen sind wohl vor allem in

wissenschaftlichen Stiftungen bzw. think tanks zu finden.

2.2. Historisch-soziologische Ursachen für Vorbehalte von Intellektuellen gegenüber dem Mili-tär

Es gibt einige Gründe, die es Intellektuellen nahelegen könnten, Vorsicht bei der Thematisierung

sicherheitspolitischer Fragen walten zu lassen und von Bestrebungen, die Leistungen von Solda-

ten im Einsatz anzuerkennen, Abstand zu nehmen. Dazu gehört zum einen die Vergangenheit des

eigenen Stands. So hat die geschichtswissenschaftliche Forschung den aktiven Beitrag von Intel-

lektuellen zur Kriegsbegeisterung und –verherrlichung im I. Weltkrieg („Flottenpropaganda“14;

„Aufruf der 93“ 15) sowie deren Verstrickung in die im deutschen Namen begangenen Verbrechen

des II. Weltkriegs gründlich rekonstruiert. Dabei kamen auch vielfältige Beispiele für den Miss-

brauch geistig-künstlerischer Produkte durch Politik und Militär für Zwecke der Kriegsvorberei-

11 Dahrendorf, a.a.O., S. 12.

12 Carrier, a.a.O., S. 24.

13 Carrier, a.a.O., S. 30.

14 Siehe dazu im einzelnen Bruch, Rüdiger vom, Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung. Gelehr-

tenpolitik im Wilhelminischen Deutschland (1890-1914), Husum 1980, S. 66-91. Zur Rolle der Philoso-phen als „geistige Führer der Nation“ siehe Flasch, Kurt, Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intel-lektuellen und der Erste Weltkrieg, Berlin 2000, S. 7.

15 Der Aufruf der 93 deutschen Schriftsteller, Gelehrten und Künstler erschien am 4. Oktober 1914 und rief

im Namen der deutschen Kultur zum Kampf auf. Siehe dazu (http://www.europa.clio-online.de/site/lang__de/ItemID__154/mid__12208/40208772/Default.aspx) (Stand 23.06.2009).

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tung und –führung ans Tageslicht.16 Intellektuelle könnten für sich daraus schlussfolgern, zu al-

lem Militärischen zumindest eine kritische Distanz zu wahren.

Zum anderen verstanden sich Intellektuelle und Militärs über weite Phasen der deutschen Ge-

schichte des 19. und 20. Jahrhunderts als „Gegenkulturen“.17 Zuletzt kam dies in den 70er und

80er Jahren des 20. Jahrhunderts zum Vorschein, als Intellektuelle massive Kritik an der sicher-

heitspolitischen und militärstrategischen Ausrichtung der Bundeswehr übten und dabei auch das

kulturelle Innenleben der Streitkräfte, wie z.B. ihr Traditions- und Erziehungsverständnis, als

reaktionäres Gegenstück zur demokratischen Gesellschaft hinstellten. Einige Soldaten fühlten

sich dadurch persönlich angegriffen18 und sahen bisweilen sogar den parlamentarischen und ge-

sellschaftlichen Rückhalt der Bundeswehr in Frage gestellt. Ein weiterer Nebeneffekt der Haltung

der Intellektuellen war die zunehmende Politisierung von Soldaten, was aus Sicht der militäri-

schen Führung den Zusammenhalt schwächen sowie Loyalitätskonflikte herbeiführen konnte.19

Zu den Spannungen zwischen Intellektuellen und Militärs trugen nicht zuletzt solche militärkri-

tischen Intellektuellen bei, die im Dienst der Bundeswehr standen, wie z.B. Wissenschaftler und

Dozenten des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr sowie der Führungsakademie

der Bundeswehr.20 Die politische Leitung und militärische Führung der Bundeswehr verhängte

in einigen Fällen Veröffentlichungsverbote, was den Vorwurf, das Militär sei eine Gegenkultur,

eher untermauerte.

Anstelle dieser mentalitätsgeschichtlich verfestigten Unterschiede zwischen der intellektuellen

und militärischen Welt könnte der ausbleibende Dialog durchaus auch weniger dramatische Ur-

sachen haben. Dass in den letzten zwanzig Jahren sicherheitspolitische und militärische Themen

kaum Interesse in der breiten Öffentlichkeit fanden, ist für den Historiker Michael Wolffsohn

16 Siehe dazu die Mommsen, Wolfgang J. (Hrsg.), Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler

und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, München 1996.

17 Kutz, Martin, Deutsche Soldaten, Wiesbaden 2006.

18 Bredow, Wilfried von, Demokratie und Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland. In: Gewerk-

schaftliche Monatshefte 2002, H. 2-3, S. 88.

19 Siehe dazu Bald, Detlef, 50 Jahre Bundeswehr, München 2005.

20 Dazu zählen etwa Rudolf Hamann, Martin Kutz, Wolfgang R. Vogt. Exemplarisch für die Vielzahl der

Veröffentlichungen aus den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts seien hier aufgeführt: Hamann, Rudolf, Armee im Abseits, Hamburg 1972; Kutz, Martin, Reform und Restauration der Offizierausbil-dung der Bundeswehr. Strukturen und Konzeptionen der Offizierausbildung im Widerstreit militäri-scher und politischer Interessen, Baden-Baden 1982; Vogt, Wolfgang R., Das Theorem der Inkompati-bilität. Zur Unvereinbarkeit von atomarer Militärgewalt und fortgeschrittener Gesellschaft. In: Sicher-heitspolitik und Streitkräfte in der Legitimationskrise, Baden-Baden 1983, S. 21-57.

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wenig erstaunlich, da Deutschland im Unterschied zu den USA, Großbritannien, Frankreich und

vor allem zu Israel über 60 Jahre Frieden genossen habe.21 Und wenn das Interesse an sicher-

heitspolitischen Themen in der Öffentlichkeit nicht gegeben ist, dann, so könnte man aus der o.a.

Definiton des Intellektuellen von Haug schlussfolgern, macht es auch für den Intellektuellen we-

nig Sinn, solche Themen aufzugreifen. Zudem führe die Fragmentierung der Medien dazu, dass

es die Kontroverse, die alle (zumindest in den gebildeten Kreisen) in ihren Bann zieht,22 wie bei-

spielsweise der „Historikerstreit“ in den 80er Jahren, so heute nicht mehr gibt.

Schließlich könnte der ausbleibende Dialog auch durch Veränderungen innerhalb der Gruppen

der Intellektuellen und Soldaten begründet sein. Bei den gesellschaftlichen Erwartungen an In-

tellektuelle zeichnet sich ein Trend ab, den Carrier und Roggenhofer folgendermaßen zusammen-

fassen: „Vom personifizierten Gewissen der Gesellschaft wandelt sich die Rolle des Intellektuel-

len zum wissenschaftsbasierten Ratgeber und Kritiker.“23 Während der Intellektuelle sich früher

dadurch auszeichnete, dass ihm die „… direkte Verantwortlichkeit für praktische Dinge…“24 fehl-

te, würde ihm heute mehr die Rolle des Beraters zugesprochen, der aus der Sicht des Verantwort-

lichen berät. Die Wahrnehmung dieser Rolle erfolge weniger in den großen Tageszeitungen als

vielmehr in Studien und Expertisen, deren Leser eher Fachkreisen entstammen. Zeitgleich

zeichnet sich bei den Bundeswehrsoldaten ein Trend zur Professionalisierung ab. Die Belastun-

gen durch die Auslandseinsätze sowie die Fokussierung auf eine möglichst effiziente Auftrager-

füllung, die nicht zuletzt aufgrund der Unterfinanzierung der Bundeswehr erforderlich wurde,

könnte vor allem bei der militärischen Elite zu einer deutlichen Reduzierung ihres gesellschaftli-

chen Engagements geführt haben. Neben dem Historiker Klaus Naumann, der darauf hinweist,

dass die Militärelite sich seit 1991 mit öffentlichen Äußerungen zurückhält, hat neuerdings der

katholische Militärbischof Walter Mixa gefordert, dass die Soldaten sich stärker an der gesell-

schaftlichen Debatte über sicherheitspolitische Fragen beteiligen sollten.25

21 Wolffsohn, Michael, Dichter, Denker und Soldaten. In: Die Welt vom 3. April 2009.

22 Fragmentierung könnte aber auch positive Begleiterscheinungen haben. Die Wahrscheinlichkeit, The-

men zu platzieren, ist dadurch gestiegen – mit dem Nachteil, dann nicht mehr die gesamte Öffentlichkeit zu erreichen.

23 Carrier, Martin, Roggenhofer, Johannes, a.a.O., S. 10f.

24 Lepsius, M. Rainer, Kritik als Beruf. Zur Soziologie der Intellektuellen. In: Kölner Zeitschrift für Sozio-

logie und Sozialpsychologie, 16. Jg. (1964), S. 81.

25 Naumann, Klaus, Einsatz ohne Ziel? Die Politikbedürftigkeit des Militärischen, Hamburg 2008, S. 48-89;

Mixa, Walther, Gesellschaft und Bundeswehr – Parallele Welten? Vortrag anlässlich des Truppenbesuchs am Zentrum Innere Führung in Koblenz am 11. Februar 2009

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2.3 Historisch-soziologische Anknüpfungspunkte für ein neues Verhältnis zwischen Intellek-

tuellen und Bundeswehr

Neben den möglicherweise tief im geschichtlichen Bewusstsein verwurzelten Hemmnissen für

eine unbefangene Beschäftigung der Intellektuellen mit dem Thema Militär und Soldat gibt es

auch ermutigende historische Anknüpfungspunkte für die von Reinhold Robbe geforderte Aus-

einandersetzung, die in der breiten Öffentlichkeit nur wenig bekannt sind. So steht die Auffas-

sung, Intellektuelle und Soldaten bildeten „kulturelle Gegenwelten“, in einem augenfälligen Wi-

derspruch zur Führungsphilosophie der Inneren Führung und dem daraus abgeleiteten Traditi-

onsverständnis der Bundeswehr. Danach gehört der Dialog mit Intellektuellen zum Selbstver-

ständnis des „Staatsbürgers in Uniform“ und bildet ein ganz wesentliches Element der gesell-

schaftlichen Verankerung des Soldaten. Nicht zuletzt aus diesem Grunde wurden die preußi-

schen Staats- und Heeresreform sowie die Aufbauphase der Bundeswehr, die beispielhaft sind

für den kritisch-konstruktiven Dialog zwischen Intellektuellen und Soldaten, als zentrale Säulen

des Traditionsverständnisses der Bundeswehr ausgewählt.

Für die preußische Staats- und Heeresreform sei die von Gerhard von Scharnhorst als Forum für

den zivil-militärischen Dialog gegründete „Militärische Gesellschaft“26 angeführt. Carl von Clau-

sewitz’ Buch „Vom Kriege“ verdeutlicht, wie intensiv sich ein preußischer General mit den intel-

lektuellen Strömungen seiner Zeit auseinandersetzte und wie stark er dabei auf die Gedanken

von Kant, Schleiermacher und Humboldt zurückgreifen konnte.27 Die gegenseitige Inspirierung

von philosophisch-literarischem Geist und militärischer Macht hat der Pädagoge Erich Weniger

in seinem erstmalig 1942 und dann 1959 erneut aufgelegten Buch „Goethe und die Generale“

beschrieben.28 Darin versuchte Weniger nachzuweisen, dass Goethe eine erstaunlich hohe An-

teilnahme an militärstrategischen Herausforderungen zeigte29 und gegenüber den Freiheitskrie-

(http://www.militaerseelsorge.bundeswehr.de/portal/a/kmba/kcxml/04_Sj9SPykssy0xPLMnMz0vM0Y_QjzKLN3KPNzQJ9gZJQjnmfvqRCPGglFR9X4_83FR9b_0A_YLciHJHR0VFAC_ss7w!/delta/base64xml/L2dJQSEvUUt3QS80SVVFLzZfMkdfMTRTSw!!?yw_contentURL=%2F01DB090300000001%2FW27P8GV2164INFODE%2Fcontent.jsp) (Stand: 30.10.2009). 26 Siehe dazu White, Charles Edward: The enlightened soldier - Scharnhorst and the Militärische Gesell-

schaft in Berlin, 1801–1805, New York 1989; Denkwürdigkeiten der Militärischen Gesellschaft in Berlin (5 Bde.), Berlin 1802–1805; Neuausgabe mit einer Einleitung von Joachim Niemeyer, Biblio-Verlag, Osnab-rück 1985. 27 Siehe dazu im Einzelnen: Hartmann, Uwe, Carl von Clausewitz, Landsberg a.L. 1998. 28 Weniger, Erich, Goethe und die Generale der Freiheitskriege, Stuttgart 1959. 29 Weniger, a.a.O., S. 79.

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gen positiv (wenn auch bzgl. der Wahrscheinlichkeit eines positiven Ausgangs eher skeptisch)

eingestellt war. Gleichzeitig sollte dieses Buch den Idealtypus des gebildeten Offiziers darstellen,

der die Nähe zu Intellektuellen sucht und sich von diesen inspirieren lässt.

Eine solche Synthese von Geist und Macht gab es auch in der Anfangsphase der Neuaufstellung

deutscher Streitkräfte zu Beginn der 50er Jahre. Die Bundeswehr sollte sich „radikal“ von

Reichswehr und Wehrmacht unterscheiden, wie es in ihrem Gründungsdokument, der „Him-

meroder Denkschrift“, bezeichnet wurde. Trotz der politisch gewollten Westbindung Deutsch-

lands wurden die zivil-militärischen Beziehungen allerdings nicht nach dem Beispiel der USA

oder Großbritanniens gestaltet, sondern nach dem Vorbild der preußischen Heeresreformen. Das

implizierte vor allem: Vermeidung einer sozialen Sonderstellung des Soldaten und seine Veran-

kerung in der Mitte der Gesellschaft; Förderung des öffentlichen Interesses an den Streitkräften;

und eine umfassende politisch-historische Bildung der Soldaten. Damit blieb der Aufbau der

Bundeswehr der Tradition der „Deutschen Bewegung“ verhaftet, die sich kulturell durchaus im

Unterschied zur angelsächsischen Welt verstand.30 Die Gründer der Bundeswehr haben damals

vielfältige Foren für die „geistige Integration“ geschaffen: Diskussionsforen, wie z.B. die Siegbur-

ger Gespräche31, und Veröffentlichungsforen, wie z.B. die sechsbändige Buchreihe „Schicksals-

fragen deutscher Gegenwart“32, an der sich zahlreiche namhafte Autoren beteiligten.

Neben diesen historischen Ermutigungen gibt es gegenwärtig erste Anzeichen für eine Wieder-

aufnahme des intellektuellen Diskurses zu sicherheitspolitischen und militärischen Themen. Am

4. Februar 2009 strahlte die ARD den Film „Willkommen zuhause“ zur besten Sendezeit um

20.15 Uhr aus, mit dem der Drehbuchautor Christian Pfannenschmidt auf das Phänomen der

Traumatisierung33 von Soldaten im Einsatz aufmerksam machte. Der Film zeigte, wie es zu psy-

chischen Störungen und Traumata kommt, und welche quälenden Auswirkungen diese auf den

Betroffenen und seine Mitmenschen haben. Der Krieg, auch wenn er weit entfernt stattfand, kehrt

30 Siehe dazu Nohl, Herman, Die Deutsche Bewegung, Göttingen 1970.

31 Zu den Siegburger Gesprächen, die von 1952-1953 stattfanden und die der Ausarbeitung des Konzepts

der Inneren Führung dienten, siehe Hartmann, Uwe, Erziehung von Erwachsenen als Problem pädagogi-scher Theorie und Praxis, Frankfurt/M. 1994, S. 240-242.

32 Bundesministerium für Verteidigung (Hrsg.), Schicksalsfragen der Gegenwart, Tübingen 1957 ff.

33 Zur sog. Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) siehe Ungerer, Dietrich, Der militärische Einsatz,

Potsdam 2003. Weitere Filme, die sich mit diesem Phänomen auseinandersetzen, sind „Nacht vor Augen“ von Johanna Stuttmann (siehe Ströbele, Carolin, Rocky Kabul. In: ZEIT Online vom 14.02.2008 (Stand: 06.07.2009). Oder die NDR-Dokumentation „Sie finden keinen Frieden – Deutsche Soldaten nach dem Auslandseinsatz“ vom 21. Mai 2007 (http://daserste.ndr.de/reportageunddokumentation/doku310.html) (Stand: 06.07.2009).

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als unsichtbare Verwundung in die Mitte der Gesellschaft zurück; der zurückkehrende Soldat hat

sie unbeabsichtigt und zunächst auch unbemerkt mit nach Hause gebracht.34 Dieser Film führte

zu lebhaften Debatten innerhalb der Bundeswehr, im politischen Raum und auch unter Intellek-

tuellen.35 Einigkeit bestand darüber, dass dieses Thema zu wenig behandelt worden war. „Post-

traumatic Stress Disorder“ (PTSD) sei mehr als nur ein individuelles Problem des Betroffenen

und seiner Familie, um das sich die Bundeswehr kümmern müsse, sondern fordere die Solidari-

tät aller Bürger. Zuvor hatte der bereits im Januar 2005 von der ARD ausgestrahlte Film „Das

Kommando“ Themen wie Loyalität, Gewissen und Kameradschaft am Beispiel eines präventiven

Einsatzes von Spezialkräften der Bundeswehr gegen Terroristen im Kaukasus in einem spannen-

den Drama verarbeitet.36

Neben der intellektuell-künstlerischen Verarbeitung von militärischen Erfahrungen und Erleb-

nissen suchen Künstler auch den direkten Kontakt zu Soldaten, wie beispielsweise im Rahmen

der Truppenbetreuung in den Einsatzgebieten. Im Vordergrund steht dabei die Unterhaltung

durch Popkultur; dass damit bewusstseinsverändernde Bildungsprozesse auch bei Künstlern ini-

tiiert werden, zeigt ein Interview des in Afghanistan vor deutschen Soldaten aufgetretenen Sän-

gers Peter Maffay: „Wir wissen zwar, wie lange sich unsere Soldaten dort aufhalten, aber nur we-

nig über deren Schwierigkeiten. Ich hatte Gelegenheit, bei meinem Auftritt mit einigen Soldaten

zu sprechen, und ich hatte den Eindruck, dass sie jede Bindung nach Deutschland gut brauchen

können“.37

34 Ähnlich hat schon der Film „Das Wunder von Bern“ dieses Phänomen von introvertiertem Leiden und

allgemeiner Sprachlosigkeit zum Ausdruck gebracht, indem es einen ehemaligen Wehrmachtsoldaten und Kriegsgefangenen als Heimkehrer darstellt und die Sprachlosigkeit auf beiden Seiten – bei dem Heimkeh-rer als auch bei seinem näheren familiären und gesellschaftlichen Umfeld, das sich ganz auf den Wieder-aufbau konzentriert - herausarbeitet.

35 Siehe etwa Buß, Christian, Krieg im Kopf. In: Spiegel Online, 2. Februar 2009

(http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,druck-604948,00.html) (Stand: 06.07.2009).

36 Zu diesem Film siehe die Kritiken von Schiller, Maike, Heikler Dienst an der Waffe. In: Hamburger

Abendblatt vom 19. Januar 2005 (http://www.abendblatt.de/kultur-live/article301716/Heikler-Dienst-an-der-Waffe.html) (Stand: 29.07.2009).

37 Tagesspiegel vom 5. Dezember 2008. Auch bei dem Hauptdarsteller in dem Film „Das Kommando“, Ro-

bert Atzorn, haben sich durch den Film und vor allem durch die Gespräche mit Soldaten der Bundeswehr, die bei den Filmarbeiten unterstützten, die Einstellungen zur Bundeswehr geändert. Er sagte: „Die meisten (der Bundeswehrsoldaten; ) sind nicht aus Abenteuerlust und Männlichkeitswahn zum Bund gegan-gen, sondern weil sie ihrem Land dienen wollen. Für mich ist das eine neue Erkenntnis.“ (Schiller, Maike, Heikler Dienst an der Waffe. In: Hamburger Abendblatt vom 19. Januar 2005) (http://www.abendblatt.de/kultur-live/article301716/Heikler-Dienst-an-der-Waffe.html) (Stand: 29.07.2009) In dem eindrucksvollen Bericht „Afghanische Reise“ von Roger Willemsen (Frankfurt/M.

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Seit einigen Jahren steigt auch die Zahl der Veröffentlichungen von Intellektuellen, die sich mit

dem Verhältnis von Politik, Gesellschaft und Militär beschäftigen, wie z.B. des Historikers Klaus

Naumann, der sich in seinem Buch „Einsatz ohne Ziel“ mit den Anforderungen an die politi-

schen und militärischen Sicherheitseliten beschäftigt38; oder des Philosophen Peter Sloterdijk,

der in seinem bei Suhrkamp veröffentlichten Vortrag39 über die deutsch-französischen Beziehun-

gen seit 1945 auf die deutsche Empfindung hinweist, „… in einer entwirklichten Wirklichkeit zu

leben, in der es keine ernstzunehmenden Ereignisse mehr gibt“40; oder des Historikers Manfred

Hettling, der sich in mehreren Veröffentlichungen mit der Erinnerungskultur in Deutschland

auseinandersetzte und Vorschläge für den Umgang mit dem „Ehrenmal für die Soldaten der

Bundeswehr“ erarbeitete.41

Auch bei den Soldaten gibt es Indizien für ein neues, positiveres Verhältnis zu Intellektuellen,

wozu nicht zuletzt die Anforderungen in den Einsätzen beitragen. „Kleine Kriege sind Kriege der

Denker“, so resümierte der US-amerikanische General Petraeus seine Erfahrungen aus dem Irak-

krieg. Moderne Einsätze sind damit auch eine „intellektuelle Aufgabe“. Dafür benötigt der Soldat

die Hilfe des Intellektuellen genauso wie die des Experten.42 In der sicherheitspolitischen Praxis

zeigt sich daher eine enge Zusammenarbeit von Ministerien, Universitäten, Stiftungen, Industrie-

vertretungen und „think tanks“. Sicherheitspolitische blogs wie z.B. „Augengeradeaus“ des

FOCUS-Redakteurs Thomas Wiegold43 ermöglichen eine Diskussion auch über Expertenkreise

hinaus. Mit den Einsätzen der Bundeswehr mehren sich auch die Anzeichen dafür, dass Soldaten

2006) schildert der Autor seine vielfältigen Begegnungen mit Land und Leuten. Soldaten der ISAF oder der Bundeswehr gehörten allerdings nicht dazu.

38 Naumann, Klaus, Einsatz ohne Ziel? Die Politikbedürftigkeit des Militärischen, Hamburg 2008

39 Sloterdijk, Peter, Theorie der Nachkriegszeiten. Bemerkungen zu den deutsch-französischen Beziehun-

gen seit 1945, Frankfurt/M. 2008.

40 Sloterdijk, a.a.O., S. 9.

41 Hettling, Manfred, Wofür? Der Bundesrepublik fehlt ein politischer Totenkult. In: Frankfurter Allgemei-

ne Zeitung vom 4. März 2006; ders., Militärisches Totengedenken in der Berliner Republik. Opfersemantik und politischer Auftrag. In: Hettling, Manfred, Echternkamp, Jörg (Hrsg.), Bedingt erinnerungsbereit. Sol-datengedenken in der Bundesrepublik, Göttingen 2008, S. 11-21; ders., Militärisches Ehrenmal oder politi-sches Denkmal? Repräsentationen des toten Soldaten in der Bundesrepublik. In: Münkler, Herfried, Hacke, Jens (Hg.), Wege in die neue Bundesrepublik. Politische Mythen und kollektive Selbstbilder nach 1989, Frankfurt/M. 2009, S. 131-152.

42 Zur Bedeutung der sozialwissenschaftliche Forschung siehe Davis, Paul K., Cragin, Kim (ed.), Social

Science for Counterterrorism. Putting the Pieces together, RAND Corporation 2009. Siehe auch http://www.rand.org/pubs/monographs/MG849 (Stand: 06.08.2009).

43 http://wiegold.focus.de

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bzw. ehemaligen Soldaten ihre Einsatzerfahrungen veröffentlichen und zur Diskussion stellen

möchten.44

Es gibt also schon eine beachtliche Bandbreite intellektueller Auseinandersetzung mit sicher-

heitspolitischen Fragen, vor allem mit den Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Wie Intellektuel-

le sich damit politisch-ethisch auseinandersetzten, soll im folgenden Kapitel detailliert am Bei-

spiel der Debatten um den Kosovo-Krieg sowie den Afghanistan-Einsatz dargestellt werden.

2.4 Detailanalysen zur Auseinandersetzung der Intellektuellen mit dem Kosovo-Krieg und

dem ISAF-Einsatz

Als Bundespräsident Horst Köhler am 10. Oktober 2005 auf der Kommandeurtagung der Bun-

deswehr sprach, fand er für die Haltung der Deutschen zu ihrer Armee die Worte: „freundliches

Desinteresse“. „Die Bundeswehr“, so führte der Bundespräsident aus, „wird von einer Selbstver-

teidigungsarmee umgebaut zu - was eigentlich? einer Armee im Einsatz? einer Interventionsar-

mee?; der Deutsche Bundestag stimmt mehr als vierzig Mal dem Einsatz bewaffneter Streitkräfte

im Ausland zu; aber die Deutschen wirken von all dem kaum berührt oder gar beeindruckt. Ge-

wiss, die Bundeswehr ist gesellschaftlich anerkannt; aber was heißt das eigentlich genau? Die

Deutschen vertrauen der Bundeswehr, mit Recht, aber ein wirkliches Interesse an ihr oder gar

Stolz auf sie sind eher selten“45.

Was der Bundespräsident im Rahmen seiner Rede mit Blick auf die deutsche Öffentlichkeit kon-

statierte, gilt – zumindest was den substantivischen Teil des Begriffpaars „freundliches Desinte-

resse“ betrifft – auch für die deutschen Intellektuellen. In den letzten beiden Jahrzehnten haben

sie zumeist situationsbezogene und nur selten grundsätzliche Beiträge zu der Frage publiziert, in

welchem Zusammenhang „Staatskunst und Kriegshandwerk“46 in der Bundesrepublik Deutsch-

land stehen oder stehen sollten. Die Auseinandersetzung der Intellektuellen mit dem deutschen

44 Dazu zählen u.a. Wohlgethan, Achim, Endstation Kabul, Berlin 2008; ders., Operation Kundus: Mein

zweiter Einsatz in Afghanistan, Berlin 2009; Kuhlen, Kay, Um des lieben Friedens willen, Eschede 2009; Groos, Heike, Ein schöner Tag zum Sterben: Als Bundeswehrärztin in Afghanistan, Frankfurt 2009.

45 Zit. „Einsatz für Freiheit und Sicherheit“ - Rede von Bundespräsident Horst Köhler bei der Kom-

mandeurtagung der Bundeswehr in Bonn. http://www.bundespraesident.de/Reden-und-Interviews-,11057.626864/Einsatz-fuer-Freiheit-und-Sich.htm?global.back=/-%2c11057%2c0/Reden-und-Inter-views.htm%3flink%3dbpr_liste%26link.sDateV%3d01.10-2005%26link.sDateB%3d12.10.2005.

46 Vgl. Ritter, Gerhard, Staatskunst und Kriegshandwerk. Das Problem des "Militarismus" in Deutsch-

land, 4 Bde, München 1954-1968.

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Militär überblickend, sprach der Münchner Historiker Michael Wolffsohn gar davon, dass sich in

der Bundesrepublik zwei „weitgehend voneinander abgeschottete Gesellschaften: eine große zivi-

le und eine kleine militärische“ herausgebildet hätten, und zu einer ähnlich gelagerten Erkennt-

nis gelangte auch der Berliner Historiker Paul Nolte47. In einem unter dem Titel „Fremde Solda-

ten“ publizierten Essay erkannte er in der deutschen Entwicklung der letzten beiden Jahrzehnte

die Geschichte einer präzedenzlosen Demilitarisierung der Alltagsgegenwart, die das Militär zu

einem „Marginalphänomen“ gemacht und die Bundeswehr in die „innere Exterritorialität von

Wald-und-Wiesen-Standorten“ geführt habe48.

Mit diesem Befund schlossen sich beide Historiker einem Urteil an, das die Schriftstellerin Juli

Zeh schon am 18. August 2008 in einem Beitrag für den Spiegel gefällt hatte. In ihrem Essay

„Krieg und auch nicht“ beklagte sie, dass es „keine differenzierte Auseinandersetzung mit der

Bundeswehr“ gebe. Von einem „freundlichen Desinteresse“ mochte sie in diesem Zusammen-

hang allerdings nicht sprechen – zumindest nicht mit Blick auf die deutschen Intellektuellen. In

ihrem Kreis sei die Bundeswehr „Tabu“ und erlaube allenfalls ein „diffuses Dagegensein“49. Oh-

ne die Ausführungen Juli Zehs in allen Einzelheiten zu teilen, konstatierte auch die Publizistin

Cora Stephan in ihrer unter dem Datum des 4. September 2008 in der DIE WELT publizierten

Replik: „Bis heute fehlt es in der allgemeinen Öffentlichkeit […] an einer vernunft- und interes-

segeleiteten Diskussion über das, was die Bundeswehr ist und sein soll“50.

Mit diesem Befund korrespondiert, dass die wissenschaftliche Forschung bislang den Beiträgen,

in denen sich deutsche Intellektuelle seit der Wende von 1989/1990 mit der Bundeswehr ausei-

nandergesetzt haben, keine Aufmerksamkeit gewidmet hat. Zwar gibt es eine Reihe von Arbeiten,

die die parlamentarischen Debatten über die Einsätze der Bundeswehr untersuchen51. Auch zum

Bild, das sich die deutsche Öffentlichkeit von ihren Streitkräften macht, liegen zahlreiche demo-

skopische Erhebungen vor52. Doch die Beiträge, mit denen die deutschen Intellektuellen eine

47 Zit. „Dichter, Denker und Soldaten“, in: Die Welt vom 3. April 2009.

48 Zit. „Fremde Soldaten“, in: Der Spiegel vom 24. November 2008.

49 Zit. „Krieg und auch nicht“, in: Der Spiegel vom 18. August 2008.

50 Zit. „Tarnen, täuschen und verpissen“, in: Die Welt vom 4. September 2008

51 Vgl. u.a. Florack, Martin, Kriegsbegründungen. Sicherheitspolitische Kultur in Deutschland nach

dem Kalten Krieg, Marburg 2005 und Dalgaard-Nielsen, Anja, Germany, Pacifism and Peace Enforcement, Manchester, New York 2006.

52 Vgl. insbesondere die repräsentativen Meinungsumfragen, die das Sozialwissenschaftliche Institut

der Bundeswehr seit 1996 jährlich zu einer großen Zahl von sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen durchführt. Vgl. http://www.sowi.bundeswehr.de/portal/a/swinstbw.

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Entwicklung begleitet haben, die dazu führte, dass das deutsche Militär nicht mehr „nur“ bei

humanitären Hilfsaktionen und Naturkatastrophen zum Einsatz gelangt, sondern auch bei militä-

rischen Aktionen im Zusammenhang mit Krisen und Konflikten beteiligt ist, harren bislang noch

der wissenschaftlichen Analyse53.

Welche Ursachen machen die oben Genannten für das Desinteresse der Deutschen und ihrer kul-

turellen Eliten am Militär aus? Paul Nolte hat in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam ge-

macht, dass im Gegensatz zu den angelsächsischen Staaten „Krieg“ in der kollektiven Erinnerung

der Deutschen mit unendlichem Leid für die Zivilbevölkerung, Schuld und Niederlage verbun-

den sei. „Das Berliner Geschichtsgespenst“, so hat Jan Roß, Redakteur der DIE ZEIT, diesen

Sachverhalt einmal pointiert formuliert, „ist der Verbrecher Hitler, das Londoner der Versager

Chamberlain“54. Doch, so führt Paul Nolte aus, haben die Deutschen nicht nur einen Weltkrieg zu

verantworten, der von ihnen als rassischer Vernichtungskrieg geführt wurde, sondern darüber

hinaus fehle es ihnen ganz grundsätzlich an der Erfahrung des Zusammenhangs von Militär und

nationaler Befreiung, „von Kampf und liberaler Emanzipation. Die antinapoleonischen ‚Befrei-

ungskriege’ geben das schon lange nicht mehr her“55. Vielleicht erklärt diese Beobachtung Paul

Noltes auch die Ergebnisse einer Umfrage, die im Jahr 2006 im Auftrag des Sozialwissenschaftli-

chen Instituts der Bundeswehr durchgeführt wurde und die zu dem Ergebnis gelangte, dass die

Deutschen die Bundeswehr schätzen, aber nicht stolz auf sie sind. So stimmten zwar 55 Prozent

der Deutschen der Aussage zu: „Alles in allem vertrete ich eine positive Haltung zu den [nationa-

len] Streitkräften“. Doch nur 42 Prozent gaben an, dass man in Anbetracht ihrer Leistungen im

In- und Ausland auf die Streitkräfte „stolz“ sein könne; für die USA lagen die entsprechenden

beiden Werte bei je 81 Prozent, für Großbritannien bei 71 respektive 66 Prozent56.

Während Paul Nolte das Desinteresse der Deutschen an ihrem Militär in der kollektiven Erinne-

rung verankert, erkennt Michael Wolffsohn die Ursachen der mangelnden Aufmerksamkeit in

dem Umstand, dass die Bundesrepublik im Gegensatz zu den USA, Großbritannien oder auch

53 Einen Eindruck der Diskussion, die anlässlich des Kosovo-Krieges unter deutschen Intellektuellen

über den Einsatz militärischer Machtmittel geführt wurde, vermittelt eine von dem Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frank Schirrmacher, zusammengestellte Dokumentation. Vgl. Schirrma-cher, Frank. Der westliche Kreuzzug. 41 Positionen zum Kosovo-Krieg, Stuttgart 1999.

54 Zit. „Dann gibt es nur eins: Nie wieder!“, in: Die Zeit vom 23. Dezember 2002.

55 Zit. „Fremde Soldaten“, in: Der Spiegel vom 24. November 2008.

56 Vgl. Bulmahn, Thomas; Fiebig, Rüdiger; Sender, Wolfgang, Sicherheits- und verteidigungspoliti-

sches Meinungsklima in der Bundesrepublik Deutschland. Ergebnisse der Bevölkerungsbefragung 2006 des Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr, Strausberg 2008, S. 84.

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Frankreich seit sechs Jahrzehnten keinen Krieg geführt habe. Erst „seit dem Kosovo-Krieg und

dem Afghanistaneinsatz 2001 ist die Bundeswehr […] eine Kampfarmee, zuvor war sie nur so

etwas wie Deutschlands beste Katastrophenhilfe“. Die Banalität des – wenn auch militärischen –

Alltags vermöge aber weder Film noch Literatur zu fesseln; – und dies sei auch keinesfalls „ty-

pisch deutsch“. Über den „grauen Soldatenalltag ohne Kampf und Krieg gibt es seit geraumer

Zeit auch in den USA, Großbritannien und Frankreich kaum Filme oder Bücher“57. Darüber hin-

aus erkennt Wolffsohn aber einen wesentlichen Grund für das Fehlen einer intellektuellen Debat-

te über die Ausrichtung der Bundeswehr in einem ausbleibenden Impuls. Da die Politik zu dieser

Frage schweige, könne sie auch keine Auseinandersetzung unter den Intellektuellen erwarten.

„Wer Dichter und Denker zum Dichten, Denken oder Filmen auffordert, muss zunächst selbst

über manches nachdenken“58.

Gegen die Interpretation Wolffsohns kann nun eingewandt werden, dass es in den letzten beiden

Jahrzehnten durchaus nicht an „Impulsen“ für eine intellektuelle Auseinandersetzung mit dem

Thema „Bundeswehr“ gefehlt hat; und in der Tat sind ihre großen militärischen Einsätze unter

den deutschen Intellektuellen sehr kontrovers diskutiert worden. Als nach dem definitiven

Scheitern der Friedensverhandlungen in Rambouillet am 24. März 1999 die Luftangriffe der

NATO gegen Jugoslawien im Rahmen der „Operation Allied Force“ begannen, ohne dass diese

durch ein Mandat der Vereinten Nationen gedeckt waren, ging ein Riss durch das Lager der Intel-

lektuellen. Die Mitglieder des PEN-Zentrums Deutschland vermochten sich auf keine gemeinsa-

me Stellungnahme zu einigen. Dasselbe galt, als die Bundesrepublik sich im Gefolge des 11. Sep-

tember 2001 mit dem Parlamentsbeschluss vom 16. November 2001 auf der Grundlage von VN-

Mandaten an der „Operation Enduring Freedom“ beteiligte, bewaffnete Streitkräfte zur Unter-

stützung der gemeinsamen Reaktionen auf die terroristischen Angriffe zur Verfügung stellte und

die Bundeswehr schließlich durch einen weiteren Parlamentsbeschluss am 22. Dezember 2001

Teil der NATO-geführten „International Security Assistance Force“ (ISAF) wurde.

Überblickt man die Debatten, die zu diesen beiden Einsätzen der Bundeswehr geführt wurden

oder werden, so lassen sich unter den deutschen Intellektuellen bei allen Unterschieden im Ein-

zelnen doch mehrere Grundmuster der Argumentation ausmachen, die auch die Haltung zur

Bundeswehr prägen.

57 Zit. „Dichter, Denker und Soldaten“, in: Die Welt vom 3. April 2009.

58 Zit. „Dichter, Denker und Soldaten“, in: Die Welt vom 3. April 2009.

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So rubriziert eine Reihe von deutschen Intellektuellen den militärischen Einsatz der Bundeswehr

auf dem Balkan und in Afghanistan unter dem bereits in den achtziger Jahren aufgekommenen

Begriff der Weltinnenpolitik, in dem das Ende der alten Formen zwischenstaatlicher Außenpoli-

tik und der damit einhergehenden Kriege zum Ausdruck kommen soll. Für eine Reihe von deut-

schen Intellektuellen bezeichnet er den vorläufigen Endzustand einer wünschenswerten politi-

schen Ordnung, in der die Menschen- sowie Bürgerrechte prinzipiell gesichert sind und in der

massive Verstöße gegen diese Rechte mit quasi polizeilichen Maßnahmen geahndet werden. Un-

ter dem Eindruck des NATO-Einsatzes im Kosovo hat insbesondere Jürgen Habermas die huma-

nitäre militärische Intervention als „bloßen Vorgriff auf einen zukünftigen kosmopolitischen Zu-

stand, den sie zugleich befördern will“, gerechtfertigt59.

Vor dem Hintergrund der Überzeugung, dass die Wahrung der Menschenrechte letztlich auch

den Einsatz militärischer Machtmittel rechtfertige, forderten im April 1999 auch mehrere Schrift-

steller in einem im „Tagesspiegel“ publizierten Aufruf die Fortsetzung der Luftangriffe auf serbi-

sche Militäreinrichtungen. Die Unterzeichner – Hans Christoph Buch, Richard Wagner, Rüdiger

Safranksi, Jürg Altwegg, Steffen Noack, Richard Herzinger und der französische Philosoph André

Glucksmann – konstatierten, dass das Kosovo sich in ein „Schlachthaus“ verwandelt habe und in

der Region „blanker Terror“ herrsche: „Die Zeit drängt. Um einen Völkermord an den Kosovoal-

banern zu verhindern, müssen die Luftangriffe der Nato auf serbische Militäreinrichtungen wei-

tergeführt werden, wobei der Einsatz von Bodentruppen nicht prinzipiell auszuschließen ist“60.

Nur wenige deutsche Intellektuelle gingen allerdings so weit, im Jahr 1999 die Überzeugung zu

vertreten, dass notfalls auch die zivile Bevölkerung eines Landes erfahren müsse, was sie ange-

richtet habe, und zum Blick in den moralischen Spiegel durch Krieg und Niederlage zu zwingen

sei. Zu ihnen zählte insbesondere der Lyriker Durs Grünbein, der in der Ausgabe des DER SPIE-

GEL vom 12. April 1999 formulierte: „Man muss kein Idealist sein, um einzusehen, dass die

Bombe ein Erziehungsmittel sein kann, wie wir aus Deutschland wissen. Dort wurde einer sa-

genhaft starrsinnigen Bevölkerung vor einem halben Jahrhundert der Nationalismus wie ein fau-

59 Zit. „Bestialität und Humanität. Ein Krieg an der Grenze zwischen Recht und Moral“, in: Die Zeit

vom 6. Mai 1999. Aus denselben Gründen gehörte auch Günther Grass schon zu einem frühen Zeitpunkt zu den Befürwortern des NATO-Einsatzes in Jugoslawien. Die Bundeswehr sah er im Jahr 1999 im Einsatz gegen „Mörderbanden, die im Kosovo gehaust und gewütet haben. Zit. „Hut ab“, in: Frankfurter Allgemei-ne Zeitung vom 7. Juni 1999.

60 Zit. „Den Völkermord militärisch beenden“, in: Der Tagesspiegel vom 10. April 1999.

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ler Zahn gezogen. […]. Ein Stamm, der nicht mehr erkennen mag, auf wie viel Vernichtung und

Unterdrückung sein Auskommen beruht, gehört wohl vom Ausland gezüchtigt“61.

Zu den entschlossenen Befürwortern eines militärischen Einsatzes im Kosovo zählte damals der

Schriftsteller Peter Schneider. Gemeinsam mit einer Reihe von Schriftstellern, unter ihnen Hans

Christoph Buch, Richard Herzinger, Günter Kunert, Herta Müller, Hans Joachim Schädlich, Wolf

Biermann, Henryk M. Broder, Rafael Seligmann und Katharina Rutschky, trat er auch im Novem-

ber 2001 mit einem Aufruf an die Öffentlichkeit, der den militärischen Einsatz in Afghanistan

unterstützte. Peter Schneider sah in der amerikanischen Intervention eine „Befreiung der Afgha-

nen von einem Terrorregime“ und warf seinen Kollegen vor, in den letzten beiden Jahrzehnten

immer nur als „Warner“ aufgetreten zu sein. „Wenige haben vorausgedacht und gesagt, welche

großartigen politischen Chancen diese Entwicklungen bieten“62.

Während für eine Reihe deutscher Intellektueller – wie Habermas oder Peter Schneider – außer

Frage steht, dass es staatliche wie suprastaatliche Akteure gibt, die fähig und willens sind, für

das kollektive Gut eines weltweiten Schutzes der Menschenrechte notfalls auch militärische Ge-

walt bereitzustellen, ohne davon selbst in besonderer Weise zu profitieren, wurde sowohl 1999

als auch 2001 von den Kritikern einer jeden Politik der militärischen Intervention geltend ge-

macht, dass der Verweis auf die Menschenrechte nichts anderes als ein den USA ausgestellter

Blankoscheck sei, mit dem sie nach Belieben überall eingreifen könnten, um ihre politischen und

ökonomischen Ziele durchzusetzen. Die prinzipiellen Gegner dieser Einsätze glauben, dass es

den USA nicht um die Opfer von Bürgerkrieg und Menschenrechtsverletzungen, sondern die

Durchsetzung ihrer geostrategischen Interessen geht. Auch Prominente äußerten sich hierzu. An

der Seite der USA sah Franz Xaver Kroetz die Bundesrepublik im Jahr 2001 auf dem Weg ins

„Kriegsverbrechergeschäft“; Schauspielerin Heike Makatsch erblickte im Einsatz der Bundeswehr

eine Beteiligung an einem „imperialistischen Krieg“, Liedermacher Konstantin Wecker führte

aus: „Wer jetzt aus einer fast schon pathologischen Solidarität heraus keinen Stopp fordert, gerät

in den Verdacht, sich wieder mal nur der wertvollen Ressourcen und Wiederaufbauprofite als

Global Player bemächtigen zu wollen“. Karlheinz Böhm vermochte im militärischen Einsatz in

Afghanistan ausschließlich ein „Vergeltungswerk“ der Amerikaner zu erkennen, das „unschuldi-

ge Menschen“ vernichte; Schauspieler Ottfried Fischer sah in Afghanistan ein „ganzes Volk zer-

61 Zit. „Ein Territorium des Hasses“, in: Der Spiegel vom 12. April 1999.

62 Zit. „Falsche Gewissheiten“, in: Die Welt vom 21. November 2001.

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stört“ und der Liedermacher Franz Josef Degenhardt witterte mit der „Sicherung von Rohstoffen

und Militärbasen“ eine imperiale Zielsetzung63.

Einen Beweis für eine Politik, die nur scheinbar Wert auf die Durchsetzung von Menschenrech-

ten lege, erkannten zahlreiche deutsche Intellektuelle in einem Doppelstandard der US-

amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik. So warfen in einem am 16. April 1999 in der Ta-

geszeitung publizierten Aufruf eine Reihe von Intellektuellen und Schriftstellern, unter ihnen

Peter Handke, Helmut Sakowski und Heinrich Schirmbeck, Hans Wollschläger und Gerhard

Zwerenz, die Frage auf, warum die NATO nicht auch gegen das Elend der Kurden in der Türkei

vorgehe, und stellten darüber hinaus den deutschen Einsatz im Kosovo in eine Reihe mit dem

Ersten und Zweiten Weltkrieg64.

In die Phalanx der deutschen Intellektuellen, die im militärischen Einsatz der NATO in Afgha-

nistan nur eine neue Form des Kolonialismus’ oder einen humanitär bemäntelten Imperialismus

erblicken, hat sich vor kurzem auch der Schriftsteller Richard David Precht eingereiht. In einem

im August 2009 im DER SPIEGEL publizierten Essay vermutete er hinter dem Engagement der

NATO in Afghanistan machtpolitische Ziele. Es gehe nicht um eine Freiheitsbotschaft oder Men-

schenrechte, sondern letztlich darum, durch ein Gleichgewicht unter verfeindeten Rivalen „Ru-

he“ herzustellen. Diese Ruhe solle eine militärische Dauerpräsenz im „geostrategisch so wichti-

gen Afghanistan“ und den Bau einer „ längst geplante[n] Öl- und Gaspipeline“ sicherstellen65. In

der Argumentation Prechts spielt darüber hinaus aber auch eine Überzeugung eine bedeutsame

Rolle, mit der sich mehrere deutsche Intellektuelle in der Debatte um die Kampfeinsätze der

Bundeswehr zwischen den beiden Positionen der „Weltinnenpolitik“ und des „humanitär be-

mäntelten Imperialismus“ angesiedelt haben.

So gab es sowohl 1999 als auch seit 2001 eine Reihe von Intellektuellen, die zwar nicht grund-

sätzlich bezweifelten wollten, dass die Bundeswehr für moralische Prinzipien ins Feld zog,

gleichwohl aber skeptisch waren, ob diese Prinzipien wirklich universal, oder eben nicht doch

westlicher Provenienz seien – kein Menschheitsgesetz, sondern nur eine euroatlantische Sicht

der Dinge, deren missionarische Ausbreitung über den Globus nicht mit militärischen Mitteln

erzwungen werden dürfe und bei den übrigen Beteiligten zwangsläufig den Eindruck von Kultur-

imperialismus entstehen lassen müsse. So führte Cora Stephan in einem Beitrag für DIE WELT

63 Zit. „Stoppt diesen Krieg“, in: Stern vom 15. November 2001.

64 Zit. „Wir schämen uns“, in: die Tageszeitung vom 16. April 1999. 65 Zit. „Feigheit vor dem Volk. Wider den verlogenen Menschenrechts-Bellizismus“, in: Der Spiegel vom 3. August 2009.

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vom 4. Dezember 2001 die Kritik deutscher Intellektueller am militärischen Einsatz in Afghanis-

tan auf einen aus unterschiedlichen Quellen gespeisten „Kulturrelativismus“ zurück, der „in

westdeutschen Salons“ herrsche66. Einen grundlegenden Zweifel am Wert der westlichen Gesell-

schaftsordnung attestierte auch Peter Schneider seinen Kollegen67. In der Argumentation Prechts

nimmt dieser Zweifel einen zentralen Platz ein. In seinem im Spiegel gehaltenen Plädoyer gegen

den Einsatz militärischer Machtmittel in Afghanistan erkannte er im „American Way of Life“ die

„erfolgreichste Massenvernichtungswaffe des 20. Jahrhunderts“68 und führte in einem Interview

mit dem Portal der WAZ-Mediengruppe im September 2009 aus: „Man kann Menschenrechte

nicht universal begründen. Wir haben uns in der abendländischen Tradition seit der Aufklärung

sehr viel Mühe gegeben, immer wieder zu beweisen, dass das, was wir unter Menschenrechten

verstehen, quasi naturgesetzlich vorhanden sein muss. Leider ist das nicht so. Wir können uns

verpflichtet fühlen, andere von Menschenrechten zu überzeugen - aber man kann sie nicht be-

weisen. Und man kann sie nicht zur Grundlage von Kriegsführung machen. Menschenrechte

müssen aus sich selbst heraus überzeugen. Es ist widersinnig, sie nicht mit humanen, sondern

mit militärischen Mitteln implantieren zu wollen69“.

Den Gedanken, dass es widersinnig sei, Menschenrechte mit militärischen Machtmitteln duch-

setzen zu wollen, teilen auch 25 Prominente, die Anfang September 2009 in der Wochenzeitung

„der Freitag“ den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan forderten. In diesem Aufruf argumen-

tierten unter anderen Elfriede Jelinek, Martin Walser, Roger Willemsen, Friedrich Schorlemmer,

Thomas Ostmeier, Friedrich Küppersbusch sowie Charlotte Roche und Sarah Kuttner: „Der Geg-

ner ist keine Armee, sondern eine Kultur“. Dem entsprechend könne der Westen diese Ausei-

nandersetzung nicht militärisch, sondern allein durch ein langfristiges entwicklungspolitisches

Engagement gewinnen70. Nimmt man die Prämisse, dass in Afghanistan „Krieg gegen eine Kul-

66 Zit. „Abschied von den Lebenslegenden“, in: Die Welt vom 4. Dezember 2001.

67 Vgl. „Falsche Gewissheiten“, in: Die Welt vom 21. November 2001.

68 Zit. „Feigheit vor dem Volk. Wider den verlogenen Menschenrechts-Bellizismus“, in: Der Spiegel

vom 3. August 2009.

69 Zit. „Sie können Freiheit nicht herbeibomben“, in: Der Westen vom 9. September 2009.

Http://www.derwesten.de/nachrichten/kultur/2009/9/9/news-132404655/detail.html. 70 Zit. „Für einen Abzug“, in: Der Freitag vom 8. September 2009. Http://www.freitag.de/wochenthema/0937-aufruf-abzug-afghanistan-freitag. Martin Walser gehört zu den deutschen Schriftstellern, die sich schon früh gegen einen deutschen Einsatz in Afghanistan aussprachen. Im Oktober 2001 unterzeichnete er gemeinsam mit Walter Jens und Christa Wolf den „Berliner Aufruf“, in dem noch stärker auf die möglichen Ursachen des Terrorismus abgestellt wurde: „Absoluten Vorrang müs-sen politische und wirtschaftliche Maßnahmen zur Unterstützung der Zivilbevölkerung und Bündnis-partner in der Region haben. Diese Maßnahmen müssen einen Ausweg aus der Hoffnungslosigkeit von Armut, mangelnder Bildung und gewaltsamen Konflikten weisen und dafür sorgen, dass dem Terrorismus

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tur“ geführt wird, Ernst und geht es den Taliban folglich um die Verteidigung ihrer kulturellen

Identität, die sie durch die Lebensweise der westlichen Welt bedroht sehen, so stellt sich freilich

die Frage, warum ihre Ausbreitung durch wirtschaftliche oder zivilgesellschaftliche Akteure auf

Akzeptanz stoßen sollte. Vielmehr dürfte zu erwarten sein, dass der bewaffnete Kampf auch ge-

gen zivile Organisationen fortgesetzt wird, um dem, was in den Augen der Taliban nichts anderes

als ein Verfall der Sitten darstellt, Einhalt zu gebieten.

Unter den deutschen Intellektuellen, die zwar nicht grundsätzlich bezweifeln wollen, dass der

Westen im Kosovo oder in Afghanistan zur Verteidigung moralischer Werte auf militärische

Machtmittel rekurriert, und die ihrem Einsatz gleichwohl skeptisch gegenüberstehen, lässt sich

neben den Vertretern, die den Geltungsbereich der Menschenrechte relativieren, eine zweite

Gruppe ausmachen: Sie wirft die Frage auf, ob nicht gerade die moralische Begründung eines

Krieges zu einer gefährlichen Entgrenzung des militärischen Handelns führt. So erinnerte der

Philosoph Robert Spaemann in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. Mai

1999 daran, dass bei der Verteidigung von Werten „die Menschen auf der Strecke bleiben“ kön-

nen. „Den Versuchen, ihnen zu angemessener Anerkennung zu verhelfen, ist prinzipiell keine

Grenze gesetzt. Der Interventionen wäre kein Ende, das Kriegsziel wäre nicht operationalisier-

bar“71. Ganz ähnlich argumentierte in diesem Zusammenhang auch Cora Stephan. Zwar ist ihr

der „Kulturrelativismus“, den sie bei ihren Kollegen diagnostizierte, fremd. Doch auch sie sieht

die Gefahr, dass der „Moralkrieg“ den mühsam errungenen Zivilisationsgewinn „gehegter“ und

kalkulierbarer Gewalt rückgängig machen könne, dass er – unter dem Schein des Fortschritts zu

einer Weltinnenpolitik – in Wahrheit einen Rückfall ins Zeitalter der Glaubenskriege bedeuten

könne, die nicht zuletzt deshalb so grausam gewesen seien, weil sie mit gutem Gewissen geführt

wurden72.

In der Fluchtlinie der Argumentation von Cora Stephan läge es, die Frage aufzuwerfen, ob eine

militärische Intervention der Bundeswehr nicht auch mit einem rein interessenpolitischen Kal-

der Nährboden entzogen wird, nämlich sein Rekrutierungs- und Mobilisierungspotential.“ In der militäri-schen Intervention erblickte man ein ungeeignetes, ja kontraproduktives Mittel, da sie den Eskalationspro-zess vorantreibe, der Leben Unschuldiger koste und zu weltweitem Terror führe. Zit. „Berliner Aufruf“, in: die Tageszeitung vom 26. Oktober 2001. Seinen Aufruf von 2001 hat Martin Walser dann in einem offenen Brief an die Bundeskanzlerin vom 9. Juli 2009 erneuert. Vgl. „Unser Irrtum. Deutschland sollte seine Truppen sobald wie möglich aus Afghanistan abziehen“, in: Die Zeit vom 12. Juli 2009.

71 Zit. „Werte gegen Menschen. Wie der Krieg die Begriffe verwirrt“, in: Frankfurter Allgemeine Zei-

tung vom 4. Mai 1999.

72 Vgl. „Abschied von den Lebenslegenden“, in: Die Welt vom 4. Dezember 2001 und „Tarnen, täu-

schen und verpissen“, in: Die Welt vom 4. September 2008.

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kül gerechtfertigt werden kann. Die Logik dieser Einsätze würde dann im Wesentlichen nicht den

Imperativen einer Menschenrechtspolitik oder des Weltbürgerrechts, sondern der eines politisch-

ökonomischen Kalküls folgen, bei dem abgeschätzt wird, ob die Kosten, die die Fortdauer eines

innergesellschaftlichen Krieges für die übrigen Staaten verursacht, die Kosten einer militärischen

Intervention deutlich übersteigen. Das trifft insbesondere dann zu, wenn – wie im Kosovo – sich

eine Macht in einer politisch instabilen Region erhebliche Vorteile gegenüber ihren Nachbarn

verschafft, indem sie ganze Bevölkerungsgruppen vertreibt, Spannungen und Konflikte exportiert

und den eigenen Staat auf ethnisch homogener Grundlage reorganisiert, oder aber – wie in Af-

ghanistan – ein Staat durch den Kollaps seiner öffentlichen Ordnung zu einem Vorbereitungs-

und Rückzugsraum für den Terrorismus wird. Unter deutschen Intellektuellen ist diese Frage

jedoch weder 1999 noch seit 2001 diskutiert worden. Wenn sie am Ende des 20. und zu Beginn

des 21. Jahrhunderts hinter den Interventionen der NATO ein interessenpolitisches Kalkül er-

kannten, dann war dieses stets offensiver und nicht defensiver Natur.

2.5. Grenzen im Verhältnis von Intellektuellen und Soldaten

Die Detailanalyse hat gezeigt, dass Intellektuelle sich an der sicherheitspolitischen Debatte mit

substanziellen Argumenten für oder gegen Auslandseinsätze beteiligt haben, weiterhin beteiligen

und durchaus selbstkritisch darauf hinweisen, dass ihre Beteiligung noch intensiver sein sollte;

dass sie auf Wahrnehmungs- und Interessendefizite der Gesellschaft hinweisen und dafür nach

Ursachen suchen; und dass sie die Politik in einer Führungsrolle sehen, was die Initiierung der

sicherheitspolitischen Debatte betrifft. Deutlich wurde aber auch, dass eine Beschäftigung von

Intellektuellen mit der soldatischen Existenz (seinem Selbstverständnis, seiner Befindlichkeit)

und ihrer Stellung in der Gesellschaft weitgehend ausgeblieben ist.

Es gibt also einige grundsätzliche Schwierigkeiten für die weitere Intensivierung des Dialogs. Der

Theologe Christian Walther hat darauf hingewiesen, dass eine Zivilgesellschaft, die sich als „Ge-

gengewicht zur Staatsmacht“ versteht, den Soldaten als „Fremdkörper“ sehen muss und dabei

übersieht, dass Aufbau und Entwicklung von zivilgesellschaftlichen Strukturen auf dem Schutz-

versprechen des Staates und damit der Existenz des Soldaten beruhen.73 Die Zivilgesellschaft

stellt aber die Basis für viele Intellektuelle dar und ist in gewisser Weise auch deren geistiges

73 Siehe dazu Walther, Christian, Militär, Zivilgesellschaft, Staat. Zur Bedeutung von Streitkräften. In.

Hartmann, Uwe, Rosen, Claus von, Walther, Christian (Hrsg.), Jahrbuch Innere Führung 2009. Die Rück-kehr des Soldatischen, Eschede 2009, S. 64-74.

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Ziehkind. Kann man erwarten, dass Intellektuelle sich gegen die Zivilgesellschaft wenden und

gewissermaßen erzieherisch Einfluss ausüben?74

Ähnliche Herausforderungen sieht auch Herfried Münkler, der die deutsche Gesellschaft als

„post-heroisch“ bezeichnet, was allerdings nicht mit einer „pazifistischen Gesellschaft“ ver-

wechselt werden dürfe. „Vielmehr handelt es sich um eine Gesellschaft, die aus einem Selbstver-

ständnis des Fortgeschritten-Seins und Gelernt-Habens auf ihre heroische Phase zurück-

blickt…“.75 Deutschlands Beteiligung an Auslandseinsätzen sowie die Errichtung eines Ehren-

mals der Bundeswehr, welches das Sterben deutscher Soldaten in diesen Einsätzen auch für die

Zukunft vorwegnimmt, stellen das bisherige, vor allem von Intellektuellen geförderte Selbstver-

ständnis in Frage, „,… dass wir gegenüber den Generationen des Ersten und Zweiten Weltkriegs

auf einer ethisch und intellektuell höheren Stufe stehen.“76

Eine weitere Grenze für die Beschäftigung von Intellektuellen mit Fragen von Krieg und Frieden

besteht in der hochgradigen Vernetzung. Die komplexen Beziehungsstrukturen einer „Vernetzten

Sicherheitspolitik“ sind selbst für Mitarbeiter von Ministerien schwer zu durchschauen. Wer als

Außenstehender sich dazu äußert, läuft schnell Gefahr, als „Hobby-Stratege“77 abgekanzelt oder

als weltfremder Bewohner eines Elfenbeinturms bezeichnet zu werden, der über keine Erfahrun-

gen und Insiderkenntnisse verfüge. Als Martin Walser sich jüngst zum Afghanistan-Einsatz der

Bundeswehr äußerte und damit zu einem Bereich Stellung bezog, für den er nicht mehr Verant-

wortung trägt als jeder andere Staatsbürger auch, über den er keine besonderen Kenntnisse und

Erfahrungen verfügt und für den er schon gar nicht zuständig ist, wurde er dafür heftig kriti-

siert.78 Dies zeigt nicht zuletzt, dass Kritiker intellektueller Kritik nicht immer verstanden haben,

74 Sloterdijk, a.a.O.

75 Münkler, Herfried, Militärisches Totengedenken in der postheroischen Gesellschaft. In: Hettling, Manf-

red, Echternkamp, Jörg (Hrsg.), Bedingt erinnerungsbereit. Soldatengedenken in der Bundesrepublik, Göt-tingen 2008, S. 25.

76 Münkler, a.a.O., S. 25.

77 Diesen Begriff nutzte der Stellvertretende Sprecher des BMVg, Kapitän z.S. Christian Dienst, in einer

Pressekonferenz am 29.06.2009, angesichts der zunehmenden Zahl von Vorschlägen, welche Waffensyste-me in Afghanistan künftig benötigt würden. (http://wiegold.focus.de) (Stand: 29.06.2009)

78 Walser, Martin, Unser Irrtum. Deutschland sollte seine Truppen so bald wie möglich aus Afghanistan

abziehen. Ein offener Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel. In: Die Zeit, Nr. 29 vom 9. Juli 2009) (http://www.zeit.de/2009/29/Walser-Brief) (Stand: 06.08.2009); zur Kritik an Walser siehe http://kommentare.zeit.de/article/2009/07/12/unser-irrtum#comment-394869 (Stand: 06.08.2009).

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dass Störung zu den gesellschaftlichen Funktionen des Intellektuellen gehört79. Vor dem Hinter-

grund der Unterscheidung in kompetente, quasi-kompetente und inkompetente Kritik, d.h. „…

einer Kritik an Institutionen, deren Mitglied man nicht ist“, schrieb Lepsius schon in den 60er

Jahren: „Legitim ist jede Kritik, die sich auf Werte bezieht, über deren Gültigkeit als Leitbilder

sozialen Verhaltens Konsensus besteht.“80 Da dieser Konsens nicht immer besteht oder gefährdet

sei, komme es darauf an, „… immer aufs neue einen materiellen Konsensus in der Gesellschaft

über die Gültigkeit bestimmter Wertstandards herbeizuführen und die Deutungsmöglichkeiten

offenzuhalten.“81

Wenn Intellektuelle sich mit dem Militär beschäftigen, benötigen sie Gesprächspartner – auch

innerhalb des Militärs. Die Akademisierung des Offizierberufs dürfte für das Zustandekommen

des Dialogs förderlich sein. Allerdings findet der Dialog dort seine Grenzen, wo der Austausch

von Informationen durch ministerielle Regelungen eingeschränkt ist, Besuche im Einsatzgebiet

untersagt und die Bereitschaft zum Gespräch bei Soldaten nur gering ausgeprägt ist.82 Vor allem

die Historiker Klaus Naumann und Manfred Hettling, die sich mit konstruktiven Vorschlägen zu

den zivil-militärischen Beziehungen und zum soldatischen Totengedenken geäußert haben, be-

mängeln die fehlende Bereitschaft der Bundeswehr, vor allem der Generalität/Admiralität und

des Verteidigungsministerium, aber auch des Parlaments, öffentliche Diskussionen zu führen

und so die aufgrund der neuen Gefährdungslage für Soldaten veränderte Wahrnehmung in der

Gesellschaft zu nutzen.83

79 Lepsius, M. Rainer, Kritik als Beruf. Zur Soziologie der Intellektuellen. In: Kölner Zeitschrift für Sozio-

logie und Sozialpsychologie, 16. Jg (1964), S. 82.

80 Lepsius, a.a.O., S. 87. Dies könnte aber auch als Hinweis darauf gelten, dass über die Gültigkeit von

Leitbildern gerade für den Bereich der Sicherheitspolitik heute nicht mehr Konsens besteht.

81 Lepsius, a.a.O., S. 90.

82 Zur diesbzgl. Kritik an der militärischen Führung siehe Naumann, Klaus, a.a.O. Naumann führt auch das

Beispiel des Weißbuches 2006 an, das nur in kleinsten Expertenkreisen diskutiert wurde.

83 Siehe Hettling, Manfred, Militärisches Ehrenmal oder politisches Denkmal? Repräsentationen des toten

Soldaten in der Bundesrepublik. In: Münkler, Herfried, Hacke, Jens (Hg.), Wege in die neue Bundesrepub-lik. Politische Mythen und kollektive Selbstbilder nach 1989, Frankfurt/M. 2009, S. 148: „Seit Gründung der Bundeswehr 1955 haben bisher etwa 2600 Soldaten ihr Leben im Dienst verloren. Diese veränderte Gefährdungslage, die in der Geschichte der Bundesrepublik erstmals dazu geführt hat, dass Soldaten nicht nur durch Unfälle, sondern auch durch gezielte Gewaltanwendung und auf fremden Territorium ums Le-ben kommen, verändert die öffentliche Wahrnehmung. Dennoch sind die Pläne für das beabsichtigte Denkmal (Ehrenmal der Bundeswehr; ) exklusiv vom Verteidigungsministerium betrieben worden, die Öffentlichkeit wurde bisher außen vor gelassen.“

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Grenzen werden aber auch durch die nur gering ausgeprägte Diskussionsbereitschaft der Bevöl-

kerung gezogen. Fragen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik stehen nicht im Mittelpunkt

des Interesses bei den Bürgerinnen und Bürgern, was man u.a. daran ersehen kann, dass sie bei

den Bundestagswahlen (mit Ausnahme der durch den heraufziehenden Irakkrieg 2003 beein-

flussten Bundestagswahl 2002) keine Rolle spielen. Dafür dürfte nicht zuletzt ein Gewöhnungsef-

fekt nach 14 Jahren Einsatz auf dem Balkan, 8 Jahren in Afghanistan und einer unüberschaubaren

Zahl von Einsatzbeteiligungen ursächlich sein. Zudem tritt das Militär im gesellschaftlichen Er-

scheinungsbild immer mehr in den Hintergrund. Und da Grundwehrdienstleistende nicht an den

Einsätzen teilnehmen, sondern nur Zeit- und Berufssoldaten, fällt es leicht, dies als private beruf-

liche Entscheidung abzutun. Nicht zuletzt mangelt es an gesellschaftlichen (und nicht nur militä-

rischen) Symbolisierungen des Soldaten und seines Opfers für eine Sache (nicht nur der Opfer

von etwas). Die Gesellschaft ist auf die Diskussion solcher Fragen kaum vorbereitet, wie bei-

spielsweise Klaus Naumann am Beispiel des Ehrenmals des Bundeswehr deutlich macht: „Wäh-

rend … einerseits Erinnerungsgebote und Aufforderungen des Eingedenkens sich mit einer ge-

wissen Zudringlichkeit häufen und obendrein mit dem Versprechen angereichert werden, Erin-

nern mache frei und weise oder stifte Versöhnung, versagt der Imperativ des Gedenkens gerade

dort, wo es nicht um die Vorvergangenheit der Republik, sondern um ihre politische Gegenwart

und um ihre >>eigenen<< Militärtoten geht.“84

2.6. Zusammenfassung

Der Frage, welche Ausrichtung der Bundeswehr nach der welthistorischen Zäsur der Jahre

1989/1990 zu geben sei, haben sich deutsche Intellektuelle in den vergangenen beiden Jahrzehn-

ten nur selten grundsätzlich genähert. Auch eine Beschäftigung mit der soldatischen Existenz,

dem Selbstverständnis, der Befindlichkeit und Stellung des Soldaten in der Gesellschaft ist weit-

gehend ausgeblieben. Diskussionen über die Bedeutung und Funktion des Militärs lassen sich

unter Deutschlands Intellektuellen allenfalls in Zusammenhang mit den großen Einsätzen der

Bundeswehr – den Luftangriffen der NATO gegen Jugoslawien im Rahmen der „Operation Allied

Force“ 1999 und der Beteiligung der Bundeswehr an der NATO-geführten „International Security

Assistance Force“ (ISAF) – beobachten. Ein näherer Blick auf diese Debatten macht deutlich,

dass der Einsatz der Bundeswehr unter den deutschen Intellektuellen sehr kontrovers diskutiert

84 Naumann, Klas, Abwehr, Abschreckung, Distanzierung. Militär, Öffentlichkeit und Tod in der Bundes-

republik. In: Hettling, Manfred, Echternkamp, Jörg (Hrsg.), Bedingt Erinnerungsbereit. Soldatengedenken in der Bundesrepublik, Göttingen 2008, S. 162.

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wird und ihm eine Mehrheit skeptisch gegenüber steht. Zwar gibt es durchaus eine Reihe von

Intellektuellen, die die Auffassung vertreten, dass zum Schutz fundamentaler Menschenrechte

letztlich auch der Einsatz militärischer Machtmittel erforderlich sein kann, und die die humani-

täre militärische Intervention als polizeiliche Maßnahme einer „Weltinnenpolitik“ rechtfertigen.

Ihnen steht jedoch eine vergleichsweise große Gruppe von Intellektuellen und Prominenten ge-

genüber, die diese Einsätze prinzipiell ablehnen und glauben, dass es insbesondere den USA

nicht um die Opfer von Bürgerkriegen und Menschenrechtsverletzungen, sondern um die Durch-

setzung ihrer geostrategischen Interessen geht. Wenn deutsche Intellektuelle in den vergangenen

beiden Jahrzehnten hinter den militärischen Interventionen der NATO ein politisch-

ökonomisches Kalkül ausmachten, dann war dieses Kalkül stets offensiver und nicht defensiver

Natur.

In der Debatte um die Kampfeinsätze der Bundeswehr hat sich zwischen den Lagern, die die mi-

litärischen Einsätze der Bundeswehr als Ausdruck einer neuen „Weltinnenpolitik“ oder eines

„humanitär bemäntelten Imperialismus“ deuten, eine dritte Gruppe angesiedelt. Sie bestreitet

zwar nicht grundsätzlich, dass die militärische Intervention der Behauptung moralischer Prinzi-

pien dient, vertritt aber zugleich die Überzeugung, dass diese Prinzipien nicht wirklich univer-

sal, sondern westlicher Provenienz seien – kein Menschheitsgesetz, sondern nur eine euroatlanti-

sche Sicht der Dinge, deren missionarische Ausbreitung über den Globus nicht mit militärischen

Mitteln erzwungen werden darf.

Trotz vielfältiger Belastungen in den letzten 20 Jahren war der Dialog von Intellektuellen und

Soldaten nie vollständig zum Erliegen gekommen. Neuerdings mehren sich die Anzeichen für

eine Intensivierung der Gespräche. Allerdings findet der Dialog vor allem auf der Ebene der Ex-

pertenintellektuellen und den höheren Offizieren statt. Intellektuelle haben sich bisher kaum in

überregionalen Zeitungen mit dem Thema Militär und Soldat auseinandergesetzt. Ein größeres

Engagement wäre hilfreich, um zum einen eine sicherheitspolitische Debatte in Gang zu bringen,

das Interesse an den Soldaten und ihren Aufgaben zu fördern und so ein Beispiel für „zwi-

schenmenschliche Zuwendung“ zu geben. Soldaten müssen dazu besser die Rolle des Intellektu-

ellen und deren kritische Distanz bzw. ihr „Störpotential“ verstehen, um dies als Form des Inte-

resses und der Zuwendung zu begreifen.

Es gibt eine Vielzahl von Themen, über die sich eine intellektuelle Debatte lohnen könnte. Vor

allem die Diskussionen über das Ehrenmal der Bundeswehr haben Wahrnehmungsdefizite in

Politik und Gesellschaft sowie Verdrängungen und Paradoxien deutlich gemacht. Im Anschluss

an Klaus Naumann drängt sich beispielsweise die Frage nach dem Selbstverständnis einer Ge-

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sellschaft auf, die lang und kontrovers über die Gestaltung der Neuen Wache in Berlin diskutiert,

aber die Erinnerung an die eigenen und künftigen Toten der Bundeswehr einfach dem BMVg „im

ressortpolitischen Alleingang“ (Klaus Naumann) überlässt. Dieses Beispiel unterstreicht auch die

innere Verwobenheit der Fragen. Denn ein Ehrenmal, das nicht nur für die Soldaten, sondern

auch für die Bürger ein Ort der Erinnerung und Trauer sein soll, muss Antworten auf die Frage

geben, wofür der Soldat stirbt. Wie kann diese Antwort symbolisiert werden, wenn es darüber

keine politische und gesellschaftliche Debatte, geschweige denn einen Konsens gibt? Und wie

stehen die Intellektuellen zu den Werten, die die Legitimationsgrundlage für den Einsatz der

Soldaten darstellt?

Es käme also darauf an, die vielfach ineinander verwobenen Fragen als „Angelegenheit von öf-

fentlicher Bedeutung“ zu erkennen. Dafür müsste aber ein Resonanzboden auch auf Seiten der

Bürger und auch der Soldaten vorhanden sein. Vielfach wird der Verdacht geäußert, dass es der

politischen Leitung und militärischen Führung der Bundeswehr eher daran gelegen sei, einen

öffentlichen Diskurs über bestimmte Entscheidungen und Projekte zu vermeiden, weil dies zu-

mindest zu Verzögerungen in der Umsetzung führen könnte (z.B. Weißbuch, Ehrenmal der Bun-

deswehr) oder weil eine kontroverse sicherheitspolitische Debatte die relativ breite parlamentari-

sche Unterstützung für die Auslandseinsätze der Bundeswehr und deren noch ausreichende Un-

terstützung durch die Bürger gefährden könnte. Aber auch Offiziere dürfen den Primat der Politik

nicht als Begründung für das Schweigen in politisch kontroversen Fragen verstehen. Sie sollten,

wie schon Sten Nadolny in seinem 1964 in der Wochenzeitung „Die Zeit“ erschienenen Beitrag

„Schadet Denken dem Soldaten? formuliert hat, „… sie selbst bleiben, auch wenn sie manches

dazulernen“85.

85 In: Die Zeit vom 7. August 1964 (http://www.zeit.de/1964/32/Schadet-Denken-dem-Soldaten)

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3. Gewerkschaften und Bundeswehr

3.1. Einleitung

In Deutschland waren Militär und Gewerkschaften über weite Phasen des 19. und 20. Jahrhun-

derts „Gegenkulturen“. Historiker sprechen sogar von einem „feindseligen Verhältnis“.86 Vor al-

lem die militärische Seite tradierte stark ideologisierte Feindbilder über die gewerkschaftlich

organisierte Arbeiterschaft. Die Ursachen für diese konfliktreiche Beziehung sind vor allem poli-

tischer und soziologischer Natur. Das Militär als dem König bzw. Kaiser verpflichtetes Instru-

ment und wichtigste Stütze des Machtapparates sollte auch für innenpolitische Zwecke, d.h. ggf.

gegen die Arbeiterschaft, eingesetzt werden; und die Offiziere stammten vorwiegend aus dem

Adel, während Gewerkschaftler dem Intellektuellen- und Arbeitermilieu nahestanden87. Unter

diesem über Jahrzehnte verfestigten konfrontativen Verhältnis litt auch die erste Demokratie auf

deutschem Boden, die Weimarer Republik.88

3.2. Das Ende der Feindschaft in den 60er Jahren

In der jungen Bundesrepublik Deutschland behielten die Gewerkschaften ihre militärkritischen

Auffassungen zunächst bei. Sie beurteilten den Aufbau neuer deutscher Streitkräfte als Gefahr

für die demokratische Entwicklung sowie als Hemmschuh für die Wiedervereinigung Deutsch-

lands. Im Jahre 1952 fasste der dritte Kongress des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) daher

den Entschluss, die deutsche Wiederbewaffnung abzulehnen.89 Als im April 1957 18 deutsche

Atomwissenschaftler das „Göttinger Manifest“ veröffentlichten, in dem sie jede Mitwirkung an

der Herstellung, dem Einsatz und der Erprobung von Atomwaffen verweigerten, schloss sich der

86 Trottenberg, Wilhelm, Bundeswehr und Gewerkschaften (1945-1966). Ende einer hundertjährigen Feind-

schaft, Münster 1995, S. 384.

87 Berndt, Helmut, Gewerkschaften und Bundeswehr. In: Wehrkunde, XXIII. Jg. (1974), S. 20: „Eine Identi-

fikation beider ist unmöglich, weil Zielsetzungen und Vorstellungswelt unterschiedlich sind und der Ge-werkschaftler im allgemeinen aus einem anderen gesellschaftlichen Milieu stammt als der Berufsoffizier.“

88 Wette, Wolfram, Gewerkschaften und Bundeswehr – ein schwieriges Verhältnis. Abrufbar unter:

(http://library.fes.de/gmh/main/pdf-files/gmh/2002/2002-02-a-090.pdf) (Stand: 05.10.2009).

89 Im Einzelnen siehe Götz, Christian, Gewerkschaften und Bundeswehr. In: Gewerkschaftliche Monatshef-

te, 10/1965, S. 592-599.

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DGB-Bundesvorstand dieser Initiative an. In der Kampagne „Kampf dem Atomtod“ übernahmen

die Gewerkschaften sogar eine tragende Rolle.90

In den 60er Jahren wurde das Verhältnis von Gewerkschaften und Bundeswehr auf eine neue

Grundlage gestellt. In seiner Dissertation aus dem Jahre 1995 markiert Wilhelm Trottenberg das

Ende des traditionell feindseligen Verhältnisses von Gewerkschaften und Militär auf das 196691.

Dies ist das Jahr, in dem der damalige Bundesminister der Verteidigung, Kai-Uwe von Hassel,

den „Gewerkschaftserlass“ unterzeichnete, der es der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Trans-

port und Verkehr (ÖTV) ermöglichte, auch innerhalb von militärischen Einrichtungen tätig zu

werden.92

Wie war dieser radikale Wandel von Konfrontation und Feindschaft zu Annäherung und Zu-

sammenarbeit möglich? Zwei Faktoren könnten dafür ausschlaggebend gewesen sein: Trotz der

Ablehnung der Wiederbewaffnung Deutschlands akzeptierten die Gewerkschaften die politische

Entscheidung für den Aufbau neuer deutscher Streitkräfte. Trottenberg schreibt dazu: „Für die

Gewerkschaften stand zweifelsfrei fest, dass die neuen Streitkräfte im Interesse von Staat und

Gesellschaft nicht ins Abseits gedrängt werden durften.“93 Dementsprechend engagierten sich die

Gewerkschaften bei der Ausgestaltung der Wehrgesetzgebung94 sowie im 1956 gegründeten Beirat

für Fragen der Inneren Führung, einem Beratungsgremium für den Bundesminister der Verteidi-

gung.95 Darüber hinaus forderten die vom DGB-Bundesvorstand am 15. April 1958 beschlossenen

„Richtlinien betr. Bundeswehr und Mitgliedschaft in den Gewerkschaften“ eine Intensivierung

der Kontakte zum Verteidigungsministerium.96 Zum zweiten diente das Reformkonzept der In-

neren Führung, das den Soldaten grundsätzlich die gleichen Rechte wie jedem anderen Staats-

bürger zusicherte, als Brücke zur Annäherung zwischen Streitkräften und Gewerkschaften. So

90 Schulte, Dieter, Friedenspolitik aus gewerkschaftlicher Sicht. In: Wissenschaft & Frieden, 2/1995

(http://www.uni-ms.de/PeaCon/wuf/wf-95/9522001m.htm) (Stand: 05.10.2009); Wette, a.a.O., S. 94.

91 Trottenberg, a.a.O.

92 Siehe Wette, a.a.O., S. 95.

93 Trottenberg, a.a.O., S. 385. Siehe auch Schaaf, Peter, Demokratie, Streitkräfte, Gewerkschaften. Ein An-

stoß. In: Gewerkschaftliche Monatshefte 2002, H. 2-3, S. 65.

94 Wette, a.a.O., S. 93.

95 Zum Beirat Innere Führung siehe Pommerin, Reiner, Bischof, Gerd Jürgen (Hrsg.), Einsatz für den Solda-

ten. Die Arbeit des 10. Beirats für Fragen der Inneren Führung, Baden-Baden 2003.

96 Götz, a.a.O., S. 599.

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ermöglichte die Innere Führung die Gründung des Deutschen Bundesverbandes (DBwV)97, der –

obwohl bewusst als Berufsverband und nicht als Gewerkschaft gegründet – den Aufbau von Ko-

operationsbeziehungen ermöglichte. Damit waren früh erste institutionalisierte Formen der Zu-

sammenarbeit zwischen Bundeswehr und Gewerkschaften geschaffen. Zudem war es dem Solda-

ten grundsätzlich freigestellt, Mitglied in Gewerkschaften zu werden. Es dauerte allerdings noch

bis 1964, dass Soldaten mit Gewerkschaftsvertretern der ÖTV die Fachgruppe Soldaten gründe-

ten.98 Im Erlass „Koalitionsrecht“ vom 9. Mai 1967 wurde – trotz bundeswehrinterner Kontrover-

sen, die zum Rücktritt von Generalen99 führte – den Soldaten die Mitgliedschaft in Gewerkschaf-

ten ausdrücklich erlaubt. Die Weitergabe von Informationen und die Durchführung gewerkschaft-

licher Versammlungen innerhalb von Kasernen wurden allerdings erst 1971 durch Entscheidung

des damaligen Bundesministers der Verteidigung, Helmut Schmidt, offiziell ermöglicht.

Auch das durch die Innere Führung auf eine neue Grundlage gestellte Traditionsverständnis der

Bundeswehr bot sich als ein Feld für die Entwicklung gemeinsamer Zielsetzungen an. Dies

kommt beispielsweise in der Rede von Waldemar Reuter, Bundesvorstandsmitglied des DGB, am

20. Juli 1965 deutlich zum Ausdruck: „Es gibt im heutigen Staat zwei potenziell gleich starke

Kräfte, die Bundeswehr und die Gewerkschaftsbewegung. Sorgen wir dafür, dass sie nicht in Ge-

gensatz zueinander gebracht werden, wie er für die Weimarer Zeit typisch war. Sorgen wir im

Sinne des Vermächtnisses der Toten des 20. Juli 1944 dafür, dass Bundeswehr und Gewerkschaf-

ten im demokratischen Staat ihre gemeinsamen Aufgaben erkennen und erfüllen. Beide haben sie

unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung zu festigen und zu verteidigen, die einen nach

innen, die anderen nach außen.“100

In der Rückschau aus dem Jahre 2001 kam auch der damalige DGB-Vorsitzende Dieter Schulte zu

dem Schluss: „Erst in den sechziger Jahren fanden Gewerkschaften und Bundeswehr zu wechsel-

seitiger Akzeptanz und einem geregelten Miteinander. Der Deutsche Gewerkschaftsbund akzep-

97 Der DBwV wurde bereits im Jahre 1955 gegründet. Siehe dazu: Deutscher Bundeswehrverband (Hrsg.),

50 Jahre Deutscher Bundeswehrverband, Berlin 2005.

98 Bernd, a.a.O., S. 20; siehe auch Wette, a.a.O., S. 94f. Im Jahr 1970 war rund jeder zweite Berufs- und

Zeitsoldat Mitglied im DBwV (rund 130.000), allerdings nur 2.000 in der ÖTV.

99 Wette, a.a.O., S. 95.

100 Reuter, Waldemar, Bundeswehr und Gewerkschaften – Stützen des demokratischen Staates. In: Ge-

denkstätte Deutscher Widerstand (http://www.20-juli-44.de/pdf/1965_reuterw.pdf.) (Stand: 05.10.2009), S. 5f.

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tierte die Rolle der Bundeswehr in der militärischen Landesverteidigung und bezeugte den Sol-

daten Respekt für ihren Dienst.“101

Dieser Pfad hin zu Annäherung, Kooperation und Anerkennung wurde unter der sozialdemokra-

tisch-liberalen Regierung ab 1969 weiter ausgebaut. Der damalige Bundesminister der Verteidi-

gung, Helmut Schmidt, hatte bereits früh gefordert, die Gewerkschafter sollten sich um die Solda-

ten kümmern, die Aufgabe der Bundeswehr als eine notwendige gesellschaftliche Funktion aner-

kennen und die Soldaten der Bundeswehr nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch auf-

nehmen.102 Die politische Zielsetzung, so schreibt Helmut Bernd in der Rückschau, war offen-

sichtlich: „Der Graben zwischen Arbeiterschaft und Streitmacht, der lange Zeit in der deutschen

Geschichte bestanden hatte, sollte zugeschüttet werden. Es ging um eine möglichst breite Basis

der Bundeswehr, um ihre Einbettung in die Gesellschaft.“103

Die durch die Innere Führung gebildete Brücke wurde sowohl von Politik und Militär als auch

von den Gewerkschaften symbolkräftig beschritten. Es war ein wichtiges politisches Signal, dass

im Jahr 1972 mit Georg Leber ein langjähriger Gewerkschaftsvorsitzender104 zu Helmut Schmidts

Nachfolger als Bundesminister der Verteidigung ausgewählt wurde. Der DGB-Vorsitzende Heinz

O. Vetter war schließlich der erste Gewerkschaftsführer, der einen Truppenteil der Bundeswehr

besuchte. Am 30.06.1976 hielt er eine Rede an der Führungsakademie der Bundeswehr in Ham-

burg, in der er sagte. „Wenn hier und da noch Missverständnisse auftauchen, so beruhen sie auf

mangelnder gegenseitiger Information und nicht auf prinzipieller Gegnerschaft.“ Er unterstrich,

dass die Arbeitnehmer einen Anspruch darauf hätten zu erfahren, wie die Gewerkschaft es mit

der Bundeswehr hält. Er schloss seine Rede mit den Worten: „Ich wäre froh, wenn diese Begeg-

nungen in der Zukunft zum Normalfall und wir so miteinander sprechen würden, wie wir dies

mit Parteien, Kirchen und Verbänden bereits tun.“105

101 Schulte, a.a.O., S. 4.

102 Schmidt, Helmut, Beiträge, Stuttgart 1967, S. 405-411 (gekürzt abgedruckt in Militärpolitik Dokumenta-

tion, Heft 23/24: Gewerkschaften und Bundeswehr, S. 34-36).

103 Bernd, a.a.O., S. 22.

104 Georg Leber war von 1957 bis 1966 Vorsitzender der Gewerkschaft IG Bau-Steine-Erden. Von 1972 bis

1978 war er Bundesminister der Verteidigung.

(http://www.bmvg.de/portal/a/bmvg/kcxml/04_Sj9SPykssy0xPLMnMz0vM0Y_QjzKLd4k3cQ8BSYGZbub6kTAxX4_83FT9oJRUfW_9AP2C3IhyR0dFRQCJejWO/delta/base64xml/L3dJdyEvd0ZNQUFzQUMvNElVRS82X0RfNElT) (Stand: 07.10.2009).

105 „Organisierte Arbeitnehmerschaft und bewaffnete Macht.“ Referat des Vorsitzenden des Deutschen

Gewerkschaftsbundes Heinz O. Vetter vor der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg am 30.06.1976. In: Militärpolitik Dokumentation, Heft 23/24: Gewerkschaften und Bundeswehr, S. 25. Wenig

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Auch aktive Generale der Bundeswehr bewegten sich auf die Gewerkschaften zu. Der Militärre-

former Generalleutnant Wolf von Baudissin wurde 1967 Mitglied in der ÖTV.106 In Anlehnung an

eine Aussage, die der Gewerkschaftler Hans Böckler auf dem Gründungskongress des DGB 1949

machte („Wenn dieser Staat wieder in Gefahr kommt, werden wir für ihn auf die Barrikaden ge-

hen“), sprach 1977 der damalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Admiral Zimmermann, zu

Eugen Loderer, dem Vorsitzenden der Industriegewerkschaft Metall: „Wenn Sie jemals auf die

Barrikaden gehen müssten, dann würden Sie dort nicht alleine stehen, sondern ich würde neben

Ihnen stehen“.107

Wie sehr eine Annäherung von Gewerkschaften und Bundeswehr von der Politik gewünscht war,

brachte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt bei seinem Abschied von der Bundeswehr

am 1. Oktober 1982 zum Ausdruck: „Ich möchte in diesem Zusammenhang meine tiefe Befriedi-

gung darüber ausdrücken, dass Bundeswehr und Gewerkschaften Verständnis füreinander ge-

funden haben. (…) Zum ersten Mal seit mehr als ein hundert Jahren sind deutsche Streitkräfte

völlig frei davon, ein Faktor im innenpolitischen Kräftespiel sein zu wollen. Jeder Deutsche, der

geschichtlich denken kann, muss dies als einen unschätzbaren demokratischen Fortschritt be-

werten.“108

Das Verhältnis von Militär und Gewerkschaften wurde auch Gegenstand sozialwissenschaftli-

cher Forschung.109 Dabei wurden die Grenzen einer tieferen Zusammenarbeit herausgearbeitet.

Diese bestünden darin, dass die Gewerkschaften systembedingt Interessen der Soldaten nicht so

wirksam vertreten könnten wie der Deutsche Bundeswehrverband als spezifische Berufsorganisa-

tion; dass die Gewerkschaften eine gewisse „Vorrangstellung“ gegenüber den Streitkräften bean-

spruchten, da sie sich als Element der zivilen Kontrolle der Bundeswehr verstünden; und dass

Gewerkschaften kaum Identifikationsmöglichkeiten für die Soldaten böten.110

später, am 23. Mai 1977, hielt Vetter eine Rede bei der Kommandeurstagung in Sindelfingen. Die Rede ist abgedruckt in Militärpolitik Dokumentation, Heft 23/24: Gewerkschaften und Bundeswehr, S. 31-33.

106 Wette, a.a.O., S. 95.

107 Zitiert nach Trottenberg, a.a.O.

108 Bulletin vom 5. Oktober 1982, Nr. 90, S. 828f. (http://hsb.ub.hsu-hh.de/free/544104552.pdf) (Stand:

06.10.2009).

109 Schössler, Dietmar, Der organisierte Soldat. Berufsproblematik und Interessenartikulation des Soldaten

in der entfalteten Industriegesellschaft, Bonn 1968.

110 Schössler, a.a.O., S. 87. Siehe auch Wette, a.a.O., S. 95: Die Funktionäre des Bundeswehrverbandes

verfügten über enge Verbindungen zu allen wichtigen Stellen im militärischen Apparat, fühlten sich den militärischen Interessen auf das Engste verbunden und kamen insoweit der Mentalität der Berufs- und Zeitsoldaten weit mehr entgegen als eine Gewerkschaft dies konnte und wollte.“

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Im Zuge der sicherheitspolitischen Kontroversen der 80er Jahre gerieten Bundeswehr und Ge-

werkschaften erneut in eine Konfrontation. Die öffentlichen Auseinandersetzungen um die ato-

mare Nachrüstung (NATO-Doppelbeschluss) sowie die Traditionspflege der Bundeswehr führten

zu deutlichen Spannungen zwischen Gewerkschaften und Soldaten. Viele Gewerkschaftler ergrif-

fen Partei für die Ziele der Friedensbewegung („Frieden schaffen ohne Waffen“) und stellten er-

neut die fundamentalkritische Frage nach der Demokratieverträglichkeit des Militärs, die an den

Grundfesten des Selbstverständnisses der Bundeswehr als Armee in der Demokratie rüttelte. Un-

ter den Soldaten, darauf weist der Politikwissenschaftler Wilfrid von Bredow hin, machte sich

damals „eine gewisse Empfindlichkeit gegenüber öffentlicher Kritik breit…“.111

Auch innerhalb der Gewerkschaften gab es Streit über sicherheitspolitische Themen, wie Dieter

Schulte am Beispiel des NATO-Doppelbeschlusses darstellte: „Wie die Gesellschaft stellte der

Streit um den NATO-Doppelbeschluss auch die Gewerkschaften vor eine Zerreißprobe; an der

ersten Großdemonstration der neu entstandenen Friedensbewegung am 10. Oktober 1991 im

Bonner Hofgarten nahmen trotz eines gegenteiligen Votums des DGB-Vorstandes Tausende Ge-

werkschafter unter den Fahnen ihrer Organisation teil.“112 Mehrfach war es dem DGB in sicher-

heitspolitischen Fragen nicht gelungen, einen breiten innergewerkschaftlichen Konsens zu errei-

chen.113

Vor dem Hintergrund zunehmender Spannungen unternahmen die Spitzen von Gewerkschaften

und Bundeswehr 1981 erneut den Versuch, den Dialog zu fördern.114 Dazu wurde eine „Gemein-

same Erklärung des DGB und der Bundeswehr für die künftige Zusammenarbeit“ vereinbart, um

„… Kontakte – soweit noch nicht geschehen - untereinander aufzunehmen, bereits bestehende zu

festigen, gegenseitige Kenntnis und Achtung zu fördern und gemeinsame Interessen zu pfle-

gen“.115 Eine fünf Jahre später durchgeführte Evaluierung der Auswirkungen dieser Initiative

111 Bredow, Wilfried von, Demokratie und Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland. In: Gewerk-

schaftliche Monatshefte 2002, H. 2-3, S. 88.

112 Schulte, a.a.O., S. 5. Einen Hinweis auf kontroverse innergewerkschaftliche Diskussionen zum Krieg in

Afghanistan im Jahre 2001 gibt Schmitthenner, Horst, Ein politischer Mehltau legt sich über das Land. In: http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/Gewerkschaften/stopp.html (Stand: 05.10.2009).

113 Siehe dazu Krasemann, Peter, Vorbemerkungen des Bearbeiters. In: Militärpolitik Dokumentation, Heft

23/24: Gewerkschaften und Bundeswehr, S. 3.

114 Siehe Information für die Truppe 5/88. Zu den Gemeinsamkeiten in der Politischen Bildung siehe In-

formation für die Truppe, Bundeswehr, Gewerkschaften und Politische Bildung. In: IfdT 7/80, S. 75.

115 Siehe dazu den Artikel „Bundeswehr und Gewerkschaften. In: Information für die Truppe, 5/1988, S.

61ff.; siehe auch Neumann, Paul, Das Ende einer unseligen Tradition. In: Sozialdemokratischer Presse-

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brachte allerdings zum Vorschein, dass der Dialog nur auf höchster Ebene geführt wurde und

sich auf repräsentative Kontakte beschränkte. Besonders schwach ausgeprägt wären die Kontakte

der DGB-Jugend mit den Streitkräften.116 Das, was Helmut Schmidt 1968 als „praktische Auf-

nahme der Soldaten bezeichnete“, war auch knapp 20 Jahre später nicht erreicht.

3.3. Neue sicherheitspolitische Fronten

Mit dem Ende des Kalten Krieges und der Beteiligung der Bundeswehr an Auslandseinsätzen

sahen sich auch die Gewerkschaften aufgefordert, sicherheitspolitische Antworten auf die Her-

ausforderungen der Zukunft zu erarbeiten. Erneut tat sich ein tiefer Graben auf zwischen den

Auffassungen der Gewerkschaften und der offiziellen Sicherheitspolitik der Bundesregierung,

insbesondere des Bundesministeriums der Verteidigung (BMVg). Zwar bestand noch Einigkeit

über die Notwendigkeit eines „weiten Sicherheitsbegriffs“, für dessen konzeptionelle Ausarbei-

tung die Gewerkschaften einen nicht unwichtigen Beitrag leisteten. Sie legten den Schwerpunkt

dabei jedoch auf die zivile Krisenprävention und zivilgesellschaftliche Konfliktbearbeitung und -

nachsorge. Vor diesem Hintergrund fallen die Stellungnahmen der Gewerkschaften zu den Eins-

ätzen der Bundeswehr insgesamt kritisch aus.

Mit ihren Stellungnahmen zu den Kriegen und Einsätzen seit 1999 haben die Gewerkschaften die

sicherheitspolitische Debatte in Deutschland belebt. In den Reden zum 1. Mai sowie zum soge-

nannten „Antikriegstag“ am 1. September haben die Gewerkschaften klar Stellung bezogen zu

den Kriegen auf dem Balkan, im Irak und in Afghanistan. Beispielsweise begann Dieter Schulte

seine Rede auf der Mai-Kundgebung des DGB am 1. Mai 1999 mit einem Appell an Serbien, den

Massenmord zu beenden, und an die NATO, jede Chance zu nutzen, an den Verhandlungstisch

zurückzukehren.117

Der Kosovo-Krieg 1999 erhöhte die Teilnehmerzahl bei den traditionellen Mai-Kundgebungen

und schaffte den Gewerkschaften mehr Gehör. Andererseits erwarteten die Mitglieder von ihren

Gewerkschaftsführern klare Stellungnahmen, die sich bisweilen auch gegen die Politik der da-

dienst, 36. Jg, Nr. 144 vom 3. August 1981, S. 4. (http://library.fes.de/spdpd/1981/810803.pdf) (Stand: 05.10.2009).

116 Siehe dazu den Artikel Bundeswehr und Gewerkschaften. In: Information für die Truppe, 5/1988, S. 62.

117 Schulte, Dieter, Rede auf der Mai-Kundgebung des DGB am 1. Mai 1999 in Dortmund

(www.dgb.de/themen/themen_a_z/abisz.../mai-schulte.../view?) (Stand: 05.10.2009).

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maligen rot-grünen Bundesregierung richteten. So hatte das geschäftsführende Vorstandsmitglied

der Industriegewerkschaft Metall, Horst Schmitthenner, den Kosovo-Krieg als „inhumane, völ-

kerrechtswidrige und verhängnisvolle Aggression“118 bezeichnet. Besonders kritisiert wurde das

Fehlen eines Mandats durch die Vereinten Nationen (VN). Öffentlich wurde der Verdacht geäu-

ßert, dass die NATO sich unter Führung der USA über die VN hinwegsetzten und unter dem

Deckmantel der humanitären Intervention machtpolitische Interessen verfolgten.

Ähnlich kritisch äußerten sich die Gewerkschaften auch zum Konflikt in Afghanistan, der im

September 2001 mit flächendeckenden Bombardements begann. Früh wurde eine sofortige Ein-

stellung der Bombardierung verlangt.119 Afghanistan ist seitdem Dauerthema. Zuletzt hat der DGB

zum Antikriegstag am 1. September 2009 folgende Erklärung abgegeben: „In Afghanistan herrscht

Krieg. Die Bundeswehr ist immer tiefer in ihn verstrickt. Der Krieg ist mit militärischen Mitteln

nicht zu gewinnen. Wir fordern, den Bundeswehreinsatz schnellstmöglich zu beenden und Af-

ghanistan beim Aufbau einer nachhaltigen Zivilgesellschaft zu unterstützen.“120

Besonders intensiv war das Engagement der Gewerkschaften gegen den Irakkrieg im Jahre 2003.

Mahnminuten und Menschenketten setzten ein öffentliches Zeichen gegen diesen Krieg.121

Gleichzeitig forderten Gewerkschaftsführer die Politik auf, keine logistische Hilfe zu leisten und

Überflugrechte zu verweigern.122

118 Zitiert nach Frankfurter Rundschau vom 3.05.2009 „Bundesregierung soll eine Reformoffensive einlei-

ten. Gewerkschafter kritisieren bei Maikundgebung rot-grünen Schlingerkurs / Protest gegen Kosovo-Krieg“, S. 8.

119 Presseerklärung des Vorstands der IG Metall (http://www.uni-

kassel.de/fb5/frieden/themen/Gewerkschaften/stopp.html) (Stand: 05.10.2009).

120 „Kriege vermeiden – Krisen bekämpfen – die Weltwirtschaft neu ordnen“. Erklärung des Deutschen

Gewerkschaftsbundes zum Antikriegstag, 1. September 2009 (http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/Antikriegstag/2009-baf-dgb.html) (Stand: 05.10.2009).

121 Zu der 10-minütigen Aktion, die am 14. März 2003 erfolgte, siehe

(http://www.einblick.dgb.de/hintergrund/2003/06/text02/.) (Stand: 06.10.2009) sowie die Presseerklärung „Arbeitsunterbrechungen gegen den Krieg“ (http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/Gewerkschaften/egb-baf.html) (Stand: 05.10.2009). Zu den Demonstrationen vom 10. bis 16. März 2003 siehe AG Friedensforschung an der Uni Kassel, Friedensbewegung in den Medi-en (http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/bewegung/Meldungen/2003-3b.html) (Stand: 06.10.2009). Weite-re Details gibt auch der DGB, "Gegen den Irak-Krieg: Proteste der Gewerkschaften in Europa“, (http://www.einblick.dgb.de/hintergrund/2003/06/text02/) (Stand: 07.10.2009).

122 Zu der von Deutschland geleisteten logistischen Hilfe siehe Dieterich, Sandra, Hummel, Hartwig, Mars-

hall, Stefan, Zusammenhänge zwischen parlamentarischer Macht in der militärischen Sicherheitspolitik und der Beteiligung am Irakkrieg 2003 in 25 europäischen Staaten, paks working paper 10, 2007.

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Vor dem Hintergrund des sich verschärfenden Konflikts mit dem Iran fasste der DGB-Kongress

im Jahre 2006 den Entschluss gegen eine militärische Intervention im Iran.123 Dies würde zu einer

weiteren Eskalation der sicherheitspolitischen Lage in der Golfregion führen. Erneut forderte der

DGB die Bundesregierung auf, sich nicht an einer militärischen Lösung – auch nicht mit logisti-

schen Mitteln – zu beteiligen.

Seine kritische Haltung zu den USA und zur NATO könnte den DGB im Jahre 2007 veranlasst

haben, „… vor allem die Europäische Union aufzufordern, ihre friedenspolitische Verantwortung

wahrzunehmen und den Aufbau friedlicher, zivilgesellschaftlicher Strukturen in Konfliktgebie-

ten – wie dem Irak, Afghanistan, Palästina oder dem Sudan – verstärkt zu unterstützen. Die Ent-

sendung zusätzlicher Truppen in diese Krisenregionen ist nicht zukunftsweisend und hilft nicht

weiter. Die Erfahrung zeigt: Weder in Afghanistan noch im Nahen Osten kann Frieden mit Solda-

ten erzwungen werden.“124

Stellung bezogen haben die Gewerkschaften auch zum Einsatz der Bundeswehr im Innern125 so-

wie zu einzelnen Aspekten der Transformation der Bundeswehr. So äußerte sich der DGB insge-

samt kritisch zum Umbau der Bundeswehr zu einer Armee im Einsatz und lehnte die Einrichtung

eines Generalstabs ab.126

Neben den sicherheitspolitischen Verlautbarungen engagieren sich die Gewerkschaften, vor al-

lem ver.di, für die Wahrung der Interessen ihrer Mitglieder im Zuge der Transformation der

Bundeswehr, beispielsweise bei den Verhandlungen über Tarifverträge sowie in der Ausgestal-

tung der Kooperation mit der Wirtschaft. Daneben kam es aber immer wieder zu Verlautbarungen

gegen die Bundeswehr und ihre Soldaten. So hatte z.B. ver.di zu einer Demonstration gegen ein

123 Initiativantrag des DGB-Kongresses vom 26. Mai 2006, „Die Bundesregierung wird aufgefordert, sich

nicht an einer militärischen Lösung zu beteiligen.“ (http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/regionen/Iran/stimmen/dgb.html) (Stand: 05.10.2009).

124 Siehe DGB Bundesvorstand, Bereich Gesellschaftspolitik/Grundsatzfragen

(http://www.dgb.de/themen/themen_a_z/abiszdb/abisz_search?searchtype=vtext&kwd=soldaten&x=0&y=0) (Stand: 05.10.2009).

125 Siehe dazu ÖTV-Gewerkschaftstag 2000: Den nächsten Kriegverhindern! http://www.uni-

kassel.de/fb5/frieden/themen/Gewerkschaften/oetv-2000.html (Stand: 05.10.2009) 2006: Der DGB-

Bundesvorstand wird beauftragt, sich dafür einzusetzen, dass der Bundeswehr im Innern keine Polizeiauf-

gaben übertragen werden und die Gewährleistung der Inneren Sicherheit ausschließlich durch die Polizei

erfolgt.

126 Siehe dazu ÖTV-Gewerkschaftstag 2000: Den nächsten Kriegverhindern! http://www.uni-

kassel.de/fb5/frieden/themen/Gewerkschaften/oetv-2000.html (Stand: 05.10.2009).

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Feierliches Gelöbnis in München 2009 aufgerufen, um gegen „Faschismus, Krieg und Militaris-

mus“ zu protestieren.127

3.4. Zusammenfassung

Insgesamt zeigt sich, dass die überlieferte Feindschaft zwischen Gewerkschaften und Bundes-

wehr überwunden ist. Dennoch ist heute gegenüber den 60er und frühen 70er Jahren des letzten

Jahrhunderts ein deutlicher Unterschied erkennbar: Die von den jeweiligen Führungspersönlich-

keiten gezielt inszenierten Kontakte und Kooperationen zwischen Gewerkschaften und Bundes-

wehr gibt es in dieser Form und Intensität nicht mehr.128 Peter Schaaf, der im Jahre 2002 den Ar-

beitskreis „Wehrtechnik und Arbeitsplätze in der IG Metall“ leitete, sprach sogar von „Misstrau-

en“ und einer „Sprachlosigkeit“ auf beiden Seiten.129 Der Versuch der Gewerkschaften, im Jahre

2002 einen neuen Dialog über das Verhältnis von Demokratie, Streitkräften und Gewerkschaften

zu initiieren und damit zur auch aus gewerkschaftlicher Sicht geforderten sicherheitspolitischen

Debatte in Deutschland beizutragen, ist ohne größere Wirkung verpufft.130

Wie ist diese Sprachlosigkeit zu erklären? Naheliegend ist der Grund, dass nur wenige Soldaten

in Gewerkschaften organisiert sind. Allerdings haben sich die Gewerkschaften trotz der neuer-

127 Jungholt, Thorsten, „Wir müssen mit den Soldaten bangen – und uns mit ihnen freuen“. Verfassungsge-

richtspräsident Hans-Jürgen Papier mahnt die Deutschen, engagierter an der Seite der Bundeswehr zu ste-hen. In: Die Welt vom 8. August 2009, S. 2. Ver.di distanzierte sich offiziell von dem Demonstrationsaufruf (http://bund-laender.nrw.verdi.de/fachgruppen_1/copy_of_bundeswehr/data/0335_Flugi_Bundeswehr_V3.pdf) (Stand: 16.10.2009). 128 Hinweise auf Spitzengespräche in jüngster Zeit liegen nicht vor. Regelmäßige Treffen finden allerdings

statt auf unteren Ebenen, vor allem im Rahmen der Transformation der Bundeswehr, aber auch des sicher-heits- und gesellschaftspolitischen Dialogs, wie z.B. bei der Kommandeurstagung mit Offizieren der Bun-deswehr, die Ver.di regelmäßig organisiert. Siehe dazu Ver.di, Bund und Länder, Ausgabe 02/2006, Kom-mandeurtagung mit Offzieren der Bundeswehr. (http://bund-laender.verdi.de/++skin++print/fachgruppen/bundeswehr) (Stand: 05.10.2009). 129 Schaaf, a.a.O., S. 66. Zumindest war mit Hermann Lutz der ehemalige Bundesvorsitzende der Gewerk-

schaft der Polizei Mitglied in der „Weizsäcker-Kommission“ (Wehrstrukturkommission oder Kommission „Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr“) im Jahre 2000.

130 Im Jahre 2002 wurde erstmalig eine Ausgabe der Gewerkschaftlichen Monatshefte dem Verhältnis von

Gesellschaft, Gewerkschaften und Militär gewidmet. Siehe Schaaf, a.a.O., S. 65. Zu der notwendigen si-cherheitspolitischen Debatte schrieb Schaaf: „Dieses Land braucht wieder eine politische und wissen-schaftlich unterfütterte Debatte, um die Aufgaben des Militärs und ihr Verhältnis zur Zivilgesellschaft. Die Debatte um die Wiederaufrüstung in den 1950er-Jahren hate eine tiefe Ernsthaftigkeit und ein erhebliches Niveau vorzuweisen, sodass man sie getrost zu den ungeschriebenen Fundamenten dieser Republik zählen darf.“ (Schaaf, a.a.O., S. 67)

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dings stärkeren Hinwendung auf ihre Aufgaben in der Interessenvertretung ihrer Mitglieder131

immer auch als „gesellschaftliche Kraft“ verstanden. Wahrscheinlicher erscheint daher, dass die

vielen handfesten sicherheitspolitischen Meinungsverschiedenheiten zwischen Gewerkschaften

und Bundesregierung eine engere Zusammenarbeit mit der Bundeswehr behindern. Auch die

Beteiligung von Gewerkschaften bzw. Gewerkschaftsmitgliedern an Aktionen, die gegen die

Selbstdarstellung der Bundeswehr in der Öffentlichkeit gerichtet sind (beispielsweise bei Feierli-

chen Gelöbnissen)132, dürfte einem vertrauensvollen Dialog entgegen stehen.

Weiterhin scheint die Wichtigkeit und Dringlichkeit eines Dialogs mit der Bundeswehr aus Sicht

der Gewerkschaften bei weitem nicht mehr so akut zu sein wie in den 60er und 70er Jahren des

letzten Jahrhunderts. Damals ging es den Gewerkschaften aus ihrer Sicht vor allem darum, zu

verhindern, dass die Streitkräfte erneut zu einer Gefahr für die Demokratie würden. Daraus resul-

tierte bei den Gewerkschaften wie auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen ein kritisches

Interesse an den Streitkräften.133 Nach weit verbreitetem Urteil besteht diese Gefahr einer Gefähr-

dung der Demokratie heute nicht mehr. Bereits 1982 hatte Helmut Schmidt festgestellt, dass die

Bundeswehr kein Faktor mehr im innenpolitischen Kräftespiel sei. Hinzu kommt, dass ange-

sichts der positiven sicherheitspolitischen Lage Deutschlands nach Auflösung des Ost-West-

Gegensatzes viele Bürger die Streitkräfte als nicht mehr wichtig erachten. Das Desinteresse an

den Streitkräften könnte insgesamt also auf innenpolitische (abnehmende Relevanz der demokra-

tischen Kontrollfunktion) und außenpolitische (weit entfernte Auslandseinsätze statt Landesver-

teidigung) Gründe zurückzuführen sein.

Zudem stehen die Führungsgremien der Gewerkschaften vor der Herausforderung, ihr Engage-

ment als gesellschaftliche Kraft in sicherheitspolitischen Fragen nicht in eine Politisierung ihrer

Mitglieder ausufern zu lassen. Dies hatte die für ihre Interessenvertretung entscheidende interne

Geschlossenheit in den 80er Jahren mehrfach beeinträchtigt. Andererseits könnte die gegenwärti-

ge mehrheitliche Ablehnung des Afghanistan-Einsatzes durch die deutsche Bevölkerung die Ge-

131 Siehe dazu das Statement von Detlef Wetzel, Zweiter Vorsitzender der IG Metall, anlässlich der Presse-

konferenz zur Mitglieder- und Finanzentwicklung der IG Metall 2008 vom 16. Januar 2009 (http://www.igmetall.de/cps/rde/xbcr/SID-0A456501-392912B1/internet/01_16_PK_Bilanz_Statement_Wetzel_0141449.pdf) (Stand: 16.10.2009). Dort stellte er fest: „Dabei steht klar im Vordergrund: die Stärkung der IG Metall durch die Verbreitung der Mitgliederba-

sis durch Mitgliederorientierung, durch Beteiligungsorientierung und durch Konfliktorientierung.“

132 Alte Ressentiments scheinen wiedergekehrt zu sein, wenn Feierliche Gelöbnisse in die Nähe von „Fa-

schismus und Militarismus“ gerückt werden, wie bei den Demonstrationen gegen ein Feierliches Gelöbnis in München im Jahre 2009.

133 Siehe Bredow, a.a.O., S. 88.

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werkschaftsführung ermutigen, diesem Trend durch offizielle Verlautbarungen zu folgen – nicht

zuletzt, um die Attraktivität und Geschlossenheit ihrer Organisationen zu stärken.

In der strategischen Ausrichtung der Gewerkschaften dürften Faktoren wie „Respekt vor den

Aufgaben der Soldaten“ sowie „Anerkennung ihres Dienstes für Staat und Gesellschaft“ kaum

eine Rolle spielen. Zumindest finden sich in den von den Gewerkschaften verantworteten Medi-

en dazu kaum Stellungnahmen. Ein aktives „Sich-um-die-Soldaten-kümmern“, wie es Helmut

Schmidt einst von den Gewerkschaften gefordert hatte, geht derzeit nicht über die Interessenver-

tretung im Zuge der Transformation der Bundeswehr hinaus.

Dabei hätten die Gewerkschaften vielfältige Möglichkeiten, hier Zeichen zu setzen und mei-

nungsbildend zu wirken. Zum einen verfügen sie über eine relativ weitverzweigte Bildungs- und

Öffentlichkeitsarbeit mit zahlreichen Publikationen134. Besonders am 1. Mai und am 1. September

genießen sie eine hohe öffentlich-mediale Aufmerksamkeit. Zudem sind sie landesweit organi-

siert; ihre Dienststellen könnten „auf Arbeitsebene“ Kontakte zu den militärischen Dienststellen

herstellen. Es böten sich beispielsweise innerhalb des für die Familienbetreuung geschaffenen

„Netzwerks der Hilfe“ vielfältige Möglichkeiten für die Gewerkschaften, sich mit den Soldaten

und ihren Familien solidarisch zu zeigen, ohne damit ihre Kritik an der offiziellen Sicherheitspo-

litik auszublenden. In der Zusammenarbeit mit den Arbeitgebern böten sich Möglichkeiten an,

Vereinbarungen für die Unterstützung beispielsweise von Familienangehörigen von Soldaten im

Einsatz zu treffen (z.B. Urlaubsregelungen, Kindergarten- und Krippenplätze) oder die Teilnahme

an einem Auslandseinsatz bei Einstellungen positiv zu berücksichtigen. Eine Beschränkung auf

die Interessenvertretung in den Einzelfragen der Ausgestaltung der Transformation, beispielweise

in der Kooperation mit der Wirtschaft und in der Ausarbeitung der Tarifverträge,135 liegt unter-

halb dessen, was die Gewerkschaften als „gesellschaftliche Kraft“ leisten könnten.

Allerdings scheint die Bundeswehr an einer Förderung des sicherheitspolitischen, über Detail-

fragen der Transformation hinausgehenden Dialogs mit den Gewerkschaften kaum interessiert zu

sein. Theo Sommer, der in der sog. „Weizsächer-Kommission“ mitarbeitete, kritisierte schon früh

die Öffentlichkeitsarbeit der Bundeswehr und warf ihr vor, dass die Transformation der Bundes-

134 Wie z.B. die Gewerkschaftlichen Monatshefte, die von 1950 bis 2004 als Diskussionsorgan des DGB

dienten.

135 Einen Überblick bietet der „Bericht aus der Sitzung der Koordinierungsgruppe am 27. März 2009“,

Ver.di, Fachbereich 6

(bund-laender.verdi.de/.../2009_04_info_koordinierungsgruppe_bmvgf.pdf_1_.pdf) (Stand: 06.10.2009).

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wehr „im Rücken der Zivilgesellschaft“ verliefe.136 Es gibt Anzeichen dafür, dass die Bundes-

wehr es in den letzten Jahren versäumt hat, sich gesamtgesellschaftlich zu vernetzen oder, wie

der Generalinspekteur der Bundeswehr, General Schneiderhan, es einmal in einer Rede an der

Führungsakademie der Bundeswehr ausdrückte, „die Herzen und Köpfe der Menschen in

Deutschland“ zu gewinnen. Vor allem das Kommunikationspotenzial der Gewerkschaften als

nach dem ADAC mitgliederstärkste Organisation wurde bisher nicht genutzt. Kontakte auf Ar-

beitsebene zwischen Dienst- bzw. Geschäftsstellen bestehen kaum. Von Gewerkschaftsseite un-

terbreitete Angebote werden kaum wahrgenommen.

Empirische Untersuchungen über die Einstellungen von Soldaten der Bundeswehr zu den Ge-

werkschaften liegen nicht vor. Es ist davon auszugehen, dass Soldaten ein unverkrampftes, histo-

risch unbelastetes Verhältnis zu den Gewerkschaften haben und ihren Appell nach mehr gesell-

schaftlicher Anerkennung wie selbstverständlich auch an die Gewerkschaften richten. Dies un-

terstreicht, dass die Innere Führung als eine Führungsphilosophie, die die Verankerung des Sol-

daten in der Gesellschaft sucht, bei den Soldaten der Bundeswehr fest verankert ist. Andererseits

scheint das Thema „Bundeswehr und Gewerkschaften“ in der Führerausbildung kaum relevant

zu sein.

136 Sommer, Theo, Eine Reform der Bundeswehr an Haupt und Gliedern ist unumgänglich. In: Gewerk-

schaftliche Monatshefte 2002, H. 2-3, S. 75.

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4. Kirchen und Bundeswehr

4.1. Einleitung

Das Versagen großer Teile der evangelischen und katholischen Kirche in Deutschland während

der Zeit des Nationalsozialismus war eine starke Triebfeder für deren intensive Beschäftigung

mit sicherheits- und verteidigungspolitischen Herausforderungen nach 1945. Gleichzeitig erwar-

teten die Gläubigen eindeutige Stellungnahmen ihrer Kirchen zu den existenziellen Fragen des

Schutzes von Freiheit und Frieden. Trotz eines weiterhin andauernden Mitgliederschwunds wird

ihnen auch heute noch die Funktion von “moralische Agenturen“ 137 zugewiesen, die Orientie-

rung geben sollen.

4.2. Das politische Christentum 1955-1990

Die Wiederbewaffnung Deutschlands zu Beginn der 50er Jahre, die Planungen für eine atomare

Bewaffnung der Bundeswehr in der zweiten Hälfte der 50er Jahre sowie die atomare Nachrüstung

der NATO in den 80er Jahren markierten die Höhepunkte der theologisch-ethischen Debatten

über Fragen der Landesverteidigung innerhalb der evangelischen und katholischen Kirche in

Deutschland.

In der Wiederbewaffnungsdebatte erfolgte die „entscheidende Weichenstellung“ für das Selbst-

verständnis der Kirchen als politische Akteure, die sich in das politische Tagesgeschehen einmi-

schen. So hatte die evangelische Kirche sich unter dem Motto „Wächteramt der Kirche“138 vorge-

nommen, „… das politische Geschehen wachsam zu begleiten und gegen Entwicklungen Wider-

137 Leicht, Robert, Mit Moral gegen den Terror. Die Kirchen wünschen sich Eindeutigkeit – vergeblich. In:

Der Tagesspiegel vom 16.11.2001, S. 8.

138 Das Funktion des „Wächteramts“ ist eine Folge des „Stuttgarter Schuldbekenntnisses“ vom 19. Oktober

1945. In diesem Bekenntnis wird die Erwartung ausgesprochen, dass „durch den gemeinsamen Dienst der Kirche dem Geist der Gewalt und der Vergeltung“ entgegengewirkt werde und stattdessen…..“der Geist des Friedens und der Liebe zur Herrschaft komme“. Da das entstehende demokratische Staatswesen einen Wi-derstand, wie er in den Jahren 1933 – 1945 hätte geleistet werden sollen, nicht notwendig machte, wurde das „Wächteramt“ auf die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland fokussiert. Dabei berief man sich einerseits auf die 1946 auf der Gründungskonferenz des Ökumenischen Rates der Kirchen in Amsterdam getroffene Entscheidung, dass nach Gottes Willen Kriege nicht mehr sein dürfen, andererseits folgte man auch der von Gustav Heinemann gemachten Aussage, dass, weil Gott den Deutschen die Waffen aus der Hand geschlagen habe, diese sie nicht wieder aufnehmen dürfen. Diese Aussagen beeinflussten die Grundeinstellung zum Militär stark.

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stand zu leisten, wenn sie mit den Einsichten christlichen Glaubens für unvereinbar gehalten

wurden.“139 Wie weit diese Wiederbelebung eines politischen Christentums in sicherheits- und

verteidigungspolitischen Fragen reichen sollte, darüber gab es durchaus konträre Auffassungen,

die auf ein unterschiedliches Verständnis des Verhältnisses von Staat und Kirche hindeuteten.140

Für die Evangelische Kirche Deutschlands (EKD) kommt der Theologe Christian Walther zu dem

Urteil: „Die Formel vom Wächteramt der Kirche hat jedenfalls nicht so einend gewirkt, wie die-

jenigen meinten, die sie im Sinne der Weiterführung des Erbes der Bekennenden Kirche geprägt

hatten.“141 Hierin liegt eine Ursache, weshalb die EKD sich in der Wiederbewaffnungs- und ato-

maren Rüstungsdebatte nicht zu einer einmütigen Ablehnung durchringen konnte und eher ein

Bild der „Entscheidungslosigkeit“ bot.142 In der Rückschau stellt Walther fest, dass das politische

Christentum „…. keine einheitliche Größe dar(stellt). Vielmehr zerfällt es in eine Vielzahl von

Ausdrucksformen. Im Umgang der Vertreter des politischen Christentums untereinander und mit

ihren Kritikern außerhalb treten zudem jene Konflikte zutage, die auch im Bereich des Politi-

schen immer wieder anzutreffen sind.“143

Für die Katholische Kirche stellt sich das Bild im Großen und Ganzen ähnlich dar.144 Auch ihre

Organisationen und Verbände haben die damaligen sicherheits- und verteidigungspolitischen

Fragen kontrovers diskutiert. Allerdings ist es der Katholischen Kirche besser gelungen, ihren

Mitgliedern mit Hilfe von Bischofsworten und Erklärungen des Laiengremiums Zentralkomitee

der deutschen Katholiken (ZdK) eine grundlegende einheitliche Orientierung zu ermöglichen.

Dies liegt wohl auch daran, dass „… die friedensethische Debatte der katholischen Kirche in

139 Walther, Christian, Politisches Christentum. Ein kontroverses Phänomen im Protestantismus, Landsberg

a.L. 1996, S. 7. 140 Zum theologischen Gehalt der Kontroverse, inwieweit kirchliche Stellungnahme zu politischen Fragen

legitim seien (Zweireichelehre Luthers), siehe die vergleichende Darstellung in Rausch, Wolf Werner / Walther, Christian, Evangelische Kirche in Deutschland und die Wiederaufrüstungsdiskussion in der Bun-desrepublik 1950-1955, Gütersloh 1978, S. 16-19.

141 Walther, Politisches Christentum, a.a.O., S. 8.

142 Rausch/Walther, a.a.O., S. 19.

143 Rausch/Walther, a.a.O., S. 15f.

144 Zur Debatte über die Wiederbewaffnung und atomaren Rüstung in der Katholischen Kirche siehe Jus-

tenhoven, Heinz-Gerhard, Die friedensethische Debatte im deutschen Katholizismus seit dem Ende des II. Weltkrieges. In: Katholisches Militärbischofsamt (Hrsg.), Kirche unter Soldaten. 50 Jahre Katholische Mili-tärseelsorge in der Deutschen Bundeswehr, Berlin 2006, S. 286ff.; Doering-Manteuffel, Anselm, Katholi-zismus und Wiederbewaffnung. Die Haltung der deutschen Katholiken gegenüber der Wehrfrage 1948-1955, Mainz 1981, S. 85ff. Zu den Meinungsunterschieden zwischen ZdK und den der Friedensbewegung nahestehenden Verbänden wie Pax Christi oder Bundes der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) siehe Justenhoven, a.a.O., S. 298ff.

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Deutschland sich an den Vorgaben der römischen Friedenslehre orientiert, sei es rezeptiv, weiter-

führend oder kritisierend.“145 Entscheidende Bedeutung kam dabei dem Zweiten Vatikanischen

Konzil von 1965 zu, das eine fundamentale ethische Legitimation des soldatischen Dienstes lie-

fert, indem er sein Handeln auf den Weltfrieden und nicht auf nationale Interessen seines jewei-

ligen Staates ausrichtet: „Wer als Soldat im Dienst des Vaterlandes steht, betrachte sich als Die-

ner der Sicherheit und Freiheit der Völker. Indem er diese Aufgabe recht erfüllt, trägt er wahrhaft

zur Festigung des Friedens bei“.146

Das politische Christentum drang damit in einen Bereich vor, der mit theologisch-ethischen Ka-

tegorien allein nicht vollständig erfasst werden konnte. Zudem zeigte sich, dass die Debatten die

friedensethische Perspektive auf die Zustimmung oder Ablehnung der Friedenssicherung auch

mit Waffen verkürzte. Nagel und Oberhem stellen dazu für die katholische Kirche fest: „Trotz

verbaler Bekundungen zur Wichtigkeit der Friedensförderung zentriert sich die Debatte zustim-

mend oder ablehnend um Militaria. Bejahung oder Verneinung des Bundeswehrdienstes schei-

nen die entscheidenden Fragen der Friedensethik zu sein.“147 Daraus folgte eine bis heute andau-

ernde Ambivalenz: Einerseits die, wenn auch uneinheitliche, aber gleichwohl massiv vor allem

aus dem christlichen Pazifismus vorgetragene Kritik an der Sicherheits- und Verteidigungspolitik

der Bundesregierungen, die später mit einer Höherbewertung der Kriegsdienstverweigerung ge-

genüber dem Wehrdienst einherging; und andererseits die aktive kirchliche Unterstützung der

Soldaten der Bundeswehr im Rahmen des 1957 geschlossenen Militärseelsorgevertrags.148

145 Justenhoven, a.a.O., S. 285.

146 II. Vatikanisches Konzil „Gaudium et Spes”

(http://www.kathpedia.com/index.php/Zweites_Vatikanisches_Konzil) (Stand: 30.10.2009). Siehe dazu Justenhoven, a.a.O., S. 296. 147

Nagel, Ernst-Josef, Oberhem, Harald, Dem Frieden verpflichtet. Konzeptionen und Entwicklungen der

katholischen Friedensethik seit dem Zweiten Weltkrieg, Mainz 1982, S. 136.

148 Zum Militärseelsorgevertrag siehe die einschlägigen Artikel in der Publikation Kirche unter Soldaten

1956-2006. 50 Jahre Katholische Militärseelsorge in der Deutschen Bundeswehr, Berlin 2006. Neben be-kannten Theologen, die eine Wiederbewaffnung ablehnten (wie etwa Martin Niemöller), gab es auch Geist-liche, die früh die Kooperation mit dem Amt Blank suchten, um bei der Ausgestaltung des Reformkonzepts der Inneren Führung und dem Aufbau der Militärseelsorge mitzuwirken. So arbeitete der damalige Super-intendent Hermann Kunst eng mit dem Militärreformer Wolf Graf von Baudissin zusammen; er wurde dann auch der erste Militärbischof der EKD. Zu Hermann Kunst siehe Krug, Peter, Seelsorger und Diplo-mat. In: Bundeswehr aktuell, 29. Januar 2009, S. 6. Zu Joseph Kardinal Wendel, dem ersten Katholischen Militärbischof, siehe Pfister, Peter, Im Dienst von Wahrheit und Nächstenliebe – Joseph Kardinal Wendel, Begründer der Militärseelsorge und erster Katholischer Militärbischof der Deutschen Bundeswehr. In: Kir-che unter Soldaten 1956-2006. 50 Jahre Katholische Militärseelsorge in der Deutschen Bundeswehr, Berlin 2006, S. 71-118.

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Die politischen Kontroversen innerhalb der evangelischen Kirche waren nicht nur ressourcenin-

tensiv, sondern führten zu Kirchenaustritten und Abspaltungen. Walther und Rausch sahen so-

gar ihre Einheit bedroht149. Auch vor diesem Hintergrund ist nachvollziehbar, warum die EKD

sich oftmals nicht zu abschließenden Stellungnahmen durchringen konnte.

Zu Beginn der 80er Jahren bildete das friedenspolitische und –ethische Engagement ein wichti-

ges Element im Selbstverständnis der Kirchen. Christian Walther beschreibt es mit folgenden

Worten: „Die Kirchen verstehen sich heute – gerade auch in ökumenischer Weite – als ein Faktor

in den komplexen Beziehungen, die für die Förderung und Stabilität des Friedens wichtig

sind.“150 Sie hatten allerdings gelernt, dass im Raum des Politischen keine abschließende, ein-

heitliche Stellungnahme möglich ist. Dementsprechend beschränkten sich vor allem die Synoden

der EKD oftmals darauf, die Gesprächsbereitschaft unter kirchlichen Gruppierungen zu stärken

und den Dialog von Vertretern unterschiedlicher Positionen wir Pazifisten und Soldaten zu för-

dern, statt Ausgrenzungen durch eindeutige politische Bewertungen vorzunehmen.

Neben der Bereitschaft der Kirchenführungen, ihren Organisationen und Verbänden Raum für

kontroverse Debatten zu geben, kristallisierten sich zwei weitere Trends heraus: Zum einen die

wissenschaftliche Behandlung friedenspolitischer und –ethischer Fragestellungen in teilweise

eigens dafür eingerichteten Forschungsinstituten und Forschungsprojekten.151 Und zum anderen

der aktiv gesuchte Dialog mit Soldaten auch außerhalb der Militärseelsorge. Als Diskussionsplatt-

formen dienen dafür neben den offiziellen Organen152 Laienorganisationen wie z.B. der ZdK oder

die Gemeinschaft Katholischer Soldaten (GKS)153, die Einladung hochrangiger Offiziere der Bun-

149 Rausch/Walther, a.a.O., S. 19; siehe auch Walther, Der deutsche Protestantismus und die atomare Auf-

rüstung, a.a.O., S. 11, 15.

150 Walther, Der deutsche Protestantismus und die atomare Aufrüstung, a.a.O., S. 175. Siehe dazu auch

Nagel, Ernst-Josef, Oberhem, Harald, Dem Frieden verpflichtet. Konzeptionen und Entwicklungen der ka-tholischen Friedensethik seit dem Zweiten Weltkrieg, Mainz 1982, S. 136.

151 Auf katholischer Seite gehört dazu das 1978 gegründete „Institut für Theologie und Frieden“ in Ham-

burg (http://www.ithf.de/) (Stand: 29.10.2009). Die Dissertation von Hans Langendörfer, Atomare Abschre-ckung und kirchliche Friedensethik, Mainz/München 1987, entstand im Rahmen eines Forschungsprojek-tes „Ethische Probleme der Sicherheitspolitik“, das von der vormaligen Wissenschaftlichen Kommission des „Katholischen Arbeitskreises Entwicklung und Frieden“ in Auftrag gegeben wurde.

152 Im Zentralkomitee der deutschen Katholiken sind drei Soldaten Mitglieder. (http://katholische-

militaerseelsorge.de/fileadmin/kms/kompass/2009/10/kompass200910_17/index.htm) (Stand. 29.10.2009).

153 Zur GKS siehe Koch, Friedhelm, Die Gemeinschaft Katholischer Soldaten – vom Werden und Wirken

einer Laienorganisation. In: Kirche unter Soldaten 1956-2006. 50 Jahre Katholische Militärseelsorge in der Deutschen Bundeswehr, Berlin 2006, S. 515-528. Angesichts des drohenden Kosovo-Krieges schrieb der Bundesvorsitzende der Gemeinschaft Katholischer Soldaten an den damaligen Bundesminister der Vertei-digung, Rudolf Scharping, in einem Brief vom 12. März. 1999 über die ethischen Bedenken, die die GKS

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deswehr zu den Beratungen bei Synoden und Konferenzen154, die Einstellung von Offizieren bzw.

ehemaligen Offizieren als Mitarbeiter in theologischen Forschungsinstituten sowie die Themati-

sierung friedenspolitischer und -ethischer Fragestellungen in den kirchlichen Bildungswerken.155

4.3 Das „politische Christentum“ 1991-2009

Die früh nach der epochalen Wende von 1989/90 stattfindenden Kriege (Irak, Balkan) und Völ-

kermorde (Ruanda, Kosovo) überraschten auch die Kirchen. Sie hatten sich auf ethische Fragen

der Landesverteidigung konzentriert und waren wie andere Institutionen nicht vorbereitet auf die

„Neuen Kriege“ (Münkler). Besonders die Genozide auf dem Balkan (Srebrenica, Kosovo) hätten,

so schreibt Gerhard Arnold, die evangelische Kirche „aufgewühlt“ und bei einigen Anhängern

zur Revision radikal pazifistischer Grundüberzeugungen geführt.156 Die Debatten bestätigten ein-

mal mehr, dass Fragestellungen, die in Politik und Gesellschaft kontrovers diskutiert wurden,

auch innerhalb der Kirchen nicht einheitlich beantwortet werden konnten. Vor allem in der

evangelischen Kirche blieben die Stellungnahmen, wie Pausch es nennt, trotz eines breiten frie-

angesichts der Intervention ohne VN-Mandat habe. Dieser Brief ist abgedruckt in Bender/Arnold, a.a.O., S. 97-98. So nahmen beispielsweise Vertreter der Bundeswehr an der Tagung „Chancen und Grenzen militä-rischer und ziviler Konfliktlösung – Frieden sichern mit ungleichen Partnern?“ vom 20.-22. Oktober 2000 in Hülsa teil. Die Beiträge dieser Tagung wurden im Evangelischen Pressedienst, epd-Dokumentation Nr. 12/01, 19. März 2001 abgedruckt.

154 So trug beispielsweise Brigadegeneral Dr. Wittmann auf der o.a. Konferenz (Anm. 166) zu dem Thema

„Den Frieden sicherer machen – Chancen und Grenzen aus militärpolitischer Sicht“ vor. Wittmann war mehrfach zu Synoden der EKD eingeladen. General a.D. Lothar Domröse stellte die Sicherheitspolitik der Friedenssicherung auf einer Tagung der Katholischen Akademie Bayern am 3./4. Oktober 1981 dar. Siehe dazu: Domröse, Lothar, Friedenssicherung – auch durch Waffen. In: Korff, Wilhelm (Hrsg.), Den Frieden sichern, Düsseldorf 1982, S. 73-87. Eine aktive kirchenpolitische Rolle spielte auch Oberst i.G. Herwig Pickert, der u.a. Beisitzer im Präsidium der Synode war. Siehe dazu http://www.ekd.de/synode197/beschluesse_wahlen.html (Stand: 29.10.2009). Zur Funktion und Bedeu-tung von General Karl-Heinz Lather im ZdK siehe http://www.militaerseelsorge.bundeswehr.de/portal/a/kmba/kcxml/04_Sj9SPykssy0xPLMnMz0vM0Y_QjzKLN3KPN3Yx

NgZJgjmGJuZ--pEI8aCUVH1vfV-P_NxU_QD9gtyIckdHRUUALmB5-

g!!/delta/base64xml/L2dJQSEvUUt3QS80SVVFLzZfMkdfM0QzMw!!?yw_contentURL=%2F01DB090300000001%2F

W2778H8W707INFODE%2Fcontent.jsp (Stand: 16.11.2009).

155 Beispielhaft seien hier die Evangelischen Akademien in Tutzingen und Loccum angeführt. Die Akade-

mie Loccum gehörte zu den wenigen Einrichtungen, die sich mit der Weißbuch 2006 der Bundesregierung zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr beschäftigten. Siehe http://www.loccum.de/protokoll/inhalt/inh0676.html (Stand: 30.10.2009).

156 Arnold, Gerhard, Die Evangelische Kirche und der Kosovo-Krieg. Kirchliches Jahrbuch für die Evangeli-

sche Kirche in Deutschland 1999, Gütersloh 2001, S. 3; zur Stellungnahme von Pax Christi nach dem Mas-saker von Srebrenica 1995 siehe Justenhoven, a.a.O., S. 307).

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densethischen Konsenses157 „schwankend, unklar, unbestimmt“.158 Auch das ernsthafte Ringen

um eine Antwort z.B. auf den geplanten Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr offenbarte eine

unaufhebbare Zerrissenheit.159 So wurde eine Gemeinsame Erklärung der Evangelischen und Ka-

tholischen Kirche zum Afghanistan-Einsatz deutscher Soldaten vom Dietrich-Bonhoeffer-Verein

und der Martin-Niemöller-Stiftung kritisiert. Sie erklärten, dass die EKD mit dem Beschluss der

Synode, nicht grundsätzlich einen Militäreinsatz der Bundeswehr abzulehnen, den Befürwortern

des Krieges Rückendeckung gegeben habe.160 Der damalige EKD-Ratsvorsitzende Manfred Kock

stellte fest: „Es geht uns nicht besser als der gesamten Gesellschaft.“161

Beide Kirchen waren allerdings gut aufgestellt, um in die Debatte über die Auslandseinsätze der

Bundeswehr schnell mit substanziellen Argumenten einzugreifen. Bereits 1994 hatte der Rat der

EKD in seiner Schrift „Schritte auf dem Weg des Friedens“ Kriterien für die Durchführung hu-

manitärer Interventionen erarbeitet162, die eine wichtige Rolle in der kircheninternen Diskussion

spielten163 und noch heute wegweisend sind164. In gezielter Abgrenzung zu pazifistischen Grund-

strömungen innerhalb der evangelischen Kirche hatte die o.a. Schrift deutlich gemacht, dass „…

157 Die Evangelische Kirche geht selbst davon aus, das „… sich nach der Überwindung der Ost-West-

Konfrontation ein breiter friedensethischer Konsens…“ herausgebildet hat, der in der Schrift „Schritte auf dem Weg des Friedens“ von 1994 zum Ausdruck gebracht wird. So z.B. Barth, Hermann, Zwischen der Eindeutigkeit des Gebotes Gottes und der Uneindeutigkeit des Urteils der Vernunft. – Die Kirchen und der Kosovo-Krieg. In: EPD 26a/99, S. 11.

158 Pausch, Eberhard Martin, Brauchen wir eine neue Friedensethik? In: Zeitschrift für Evangelische Ethik,

45. Jg. (2001), S. 17. So kam es beispielsweise zu einem Aufruf zum „sofortigen Stopp aller Kriegshandlun-gen“ durch führende Geistliche der evangelischen Kirche.

159 Militärbischöfe mahnen zu Besonnenheit. In: Frankfurter Rundschau vom 17.11.2002, S. 2; Drobinski,

Matthias, Ein klares Zwar-Aber. Wie die Synode der evangelischen Kirche ohne Ergebnis über den Kampf gegen den Terror stritt. In: Süddeutsche Zeitung vom 10.11.2001, S. 9.

160 Militärbischöfe mahnen zu Besonnenheit. In: Frankfurter Rundschau vom 17.11.2002, S. 2.

161 Einheitlicher waren die Mitglieder der Kirchen in Ablehnung des Irak-Kriegs. Siehe etwa Schwilk,

Heimo, Der Bischof segnet keine Kanonen. Der katholische Militärbischof Walter Mixa kritisiert die Irakpo-litik von US-Präsident Bush. In: Welt am Sonntag vom 15.12.2002, Nr. 50, S. 10.

162 Siehe dazu http://www.ekd.de/EKD-Texte/frieden_1994_vorwort.html (Stand: 29.10.2009).

163 Siehe dazu die Dokumentation des Evangelischen Pressedienstes epd, Nr. 26a/99 vom 21. Juni 1999

„Europa im Krieg – die Evangelische Kirche und ihre Orientierungspunkte“.

164 Die Kriterien sind: 1) Die Entscheidung über Interventionen muss nach den Regeln der Vereinten Nati-

onen getroffen werden. 2) Die Politik muss über klar angebbare Ziele verfügen. 3) Die Erfolgsaussichten müssen nüchtern kalkuliert werden. 4) Von Anfang an muss bedacht werden, wie eine solche Intervention beendet werden kann. Siehe dazu Pausch, a.a.O., S. 23. Zur aktuellen Diskussion über Kriterien für eine Beteiligung der Bundeswehr an Auslandseinsätzen siehe Perthes, Volker, Was zu prüfen ist. Vier Kriteri-engruppen für die Entscheidung über Auslandseinsätze. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. Feb-ruar 2007, S. 10; Rühl, Lothar, Unvorhersehbares vorhersehen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3. Januar 2007, S. 8.

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der Einsatz militärischer Gewalt als ultima ratio, also nach dem Maß der ausgeübten Gewalt äu-

ßerstes Mittel…“ sein kann. „Dies schießt die Aufgabe ein, darüber zu wachen, dass der Einsatz

militärischer Gewalt wirklich Grenzfall bleibt.“165 Gleichzeitig unterstreicht die Schrift, dass Stel-

lungnahmen zu den Einsätzen der Bundeswehr trotz eines Konsenses in theologischen Grundfra-

gen und friedensethischen Positionen immer Abwägungen der politischen Vernunft seien und

daher strittig bleiben könnten.

Im Jahre 2000 hat die Deutsche Bischofskonferenz das Hirtenwort „Gerechter Friede“ herausge-

geben, in dem Erfahrungen aus den Balkankriegen verarbeitet wurden. Es gilt als „. eines der

wichtigsten Schlüsseldokumente der katholischen Friedenslehre“166. Deutlich bringt es deren

Neuorientierung auf den „Frieden“ hin zum Ausdruck, der als „gerechter“ aufzubauen sei. Bei

Vorrangigkeit politischer Krisenbewältigung wird unterstrichen, dass ungerechter Gewalt notfalls

auch mit Gegengewalt entgegengetreten werden müsse. Bemerkenswert ist weiterhin, dass darin

den Mitgliedern der katholischen Friedensbewegung der Dialog mit Soldaten empfohlen wird.167

Am 29. November 2005 legten die katholischen deutschen Bischöfe unter dem Titel „Soldaten

als Diener des Friedens“ eine Erklärung zur Stellung und Aufgabe der Bundeswehr vor. Darin

bewerten die Bischöfe die Herausforderungen und Perspektiven der Inneren Führung, der Füh-

rungsphilosophie der Bundeswehr. Dieses Dokument ist insofern einmalig, als die Deutschen

Bischöfe damit ihre Vorstellungen über Auslandseinsätze, Multinationalität168, Wehrpflicht und

soldatisches Selbstverständnis darlegten und die Innere Führung als unverzichtbare Grundlage

für ihr weiteres Engagement für die Bundeswehr bezeichneten.169 Wichtig ist auch die darin vor-

165 Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, Schritte auf dem Weg des Friedens, 1994, S. 11

(http://www.ekd.de/EKD-Texte/44654.html) (Stand: 08.11.2009).

166 Ortwin Buchbender/Gerhard Arnold (Hrsg.), Kämpfen für die Menschenrechte. Der Kosovo-Konflikt im

Spiegel der Friedensethik, Baden-Baden 2002, S. 71.

167 Das Bischofswort „Gerechter Friede“ empfiehlt „… eine Kultur des Gesprächs zwischen katholischen

Soldaten und katholischen Mitgliedern der Friedensbewegung“ (S. 181).

168 Ähnlich auch die evangelische Kirche in ihrer Denkschrift „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten

Frieden sorgen“ (2007), S. 98.

169 Hier gilt in besonderer Weise, was Jermer zur vergleichsweise kurzen Thematisierung der Inneren Füh-

rung im Hirtenbrief „Gerechter Friede“ angemerkt hat: „Dass Innere Führung im Hirtenwort der Bischöfe ‚Gerechter Friede’ im Herbst 2000 erwähnt und kommentiert wird, ist mehr als bemerkenswert. Wann wurde eine Konzeption zur inneren Verfassung von Streitkräften von einer nationalen Bischofskonferenz auf diese Weise gewürdigt?“ In: Jermer, Helmut, Innere Führung als Ethik für die Bundeswehr. In: Kirche unter Soldaten 1956-2006. 50 Jahre Katholische Militärseelsorge in der Deutschen Bundeswehr, Berlin 2006, S: 332. Zur intensiven Auseinandersetzung der Katholischen Jugendverbände mit der Inneren Füh-rung siehe König 2006: 348ff.

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genommene Selbstverpflichtung der katholischen Kirche, Mitverantwortung im Sinne der Inne-

ren Führung zu tragen. „Die Kirche hat ihre Stimme in den gesellschaftlichen Diskussionen um

Frieden und Sicherheit in der Vergangenheit immer wieder zu Gehör gebracht. Davon werden

wir auch zukünftig nicht ablassen. Wo wir den Eindruck gewinnen, dass die verschiedenen ge-

sellschaftlichen und politischen Akteure ihrer Verantwortung für die Wahrung und Mehrung des

Gemeinwohls in dieser Frage nur unzureichend nachkommen, werden wir auch weiterhin ver-

lässliche Anwälte eines Umgangs mit und in den Streitkräften sein, der dem tiefen Ernst der Sa-

che gerecht wird.“170

Die Evangelische Kirche hat im Jahre 2007 eine neue friedensethische Denkschrift mit dem Titel

„Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“ veröffentlicht. Schon der Titel mit

dem Leitbegriff des „gerechten Friedens“ unterstreicht, dass – wie auch in der katholischen Kir-

che – einer Wiederbelebung der Lehre vom gerechten Krieg nach Thomas von Aquin eine klare

Absage erteilt wird. Trotz großer Skepsis an dem Einsatz militärischer Mittel steht die Evangeli-

sche Kirche weiterhin dazu, als äußerstes Mittel militärische Gewalt einzusetzen, wenn es darum

geht, schlimmeres Unrecht zu verhindern. Dies könnte dann der Fall sein, wenn „aktuelle,

schwerste Unrechtshandlungen“ geschehen, „… die die minimale Friedensfunktion einer politi-

schen Ordnung überhaupt beseitigen und … ganze Gruppen einer Bevölkerung an Leib und Le-

ben bedroht und der Vernichtung preisgegeben werden.“ Damit werden Kriterien für die Legiti-

mation bewaffneter Militäreinsätze genannt, zu denen auch das Mandat durch die Vereinten Na-

tionen und die Einbettung in ein friedens- und sicherheitspolitisches Gesamtkonzept gehören.

Beide Kirchen haben die politischen und militärstrategischen Entscheidungen zu den Einsätzen

der Bundeswehr weiterhin kritisch begleitet. So haben sie im Jahr 2007 davor gewarnt, die Bun-

deswehr aufgrund ihrer Überlastung in zusätzlichen Auslandsmissionen einzusetzen und sich so

zum Anwalt der Soldaten und ihrer Familien gemacht.171

Zusätzlich zur Ausarbeitung friedenspolitischer und –ethischer Grundsätze für die Auslandsein-

sätze betreten die Kirchen neues Terrain, indem sie sich als sicherheitspolitische Akteure bei der

Friedenssicherung vor Ort in den Einsatzgebieten engagieren. Auf dem Balkan halfen die Kirchen

dabei, den Dialog der Kirchen und Religionsgemeinschaften in Bosnien und Herzegowina zu för-

170 „Soldaten als Diener des Friedens. Erklärung zur Stellung und Aufgabe der Bundeswehr“ vom 29. No-

vember 2005, hrsg. Vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, S. 18. Das Dokument ist abrufbar unter http://www.dbk.de/imperia/md/content/schriften/dbk1a.bischoefe/db82.pdf (Stand: 30.10.2009)

171 Siehe dazu den Bericht im domradio, „Weder menschlich noch finanziell zu verantworten“.

(http://www.domradio.de/includes/eactions/eactions_print-asp?ID=35207 (Stand: 22.09.2009).

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dern. Sie unterstützen dort beispielsweise den Aufbau des „Interreligiösen Rats“.172 Dieser wirkte

im Frühjahr 2000 mit, ein solches Gremium auch im Kosovo einzurichten.173 Darüber hinaus leis-

ten die Kirchen mit ihren Organisationen einen aktiven Beitrag zur Linderung der humanitären

Not von Flüchtlingen in den Einsatzgebieten.174

4.4. Die Militärseelsorge als Bindeglied

In bewusster Abkehr vom Modell der Feldseelsorge in der Weimarer Republik bzw. im national-

sozialistischen Deutschland wurde die Militärseelsorge in der Bundeswehr als „Partnerschaft

von Kirche und Staat“175 organisiert. Der Staat sorgt für den organisatorischen Aufbau, die Kirche

jedoch erteilt den Auftrag und übt die Aufsicht über die Militärseelsorge aus. Die Militärseelsorge

ist damit der von der Kirche geleistete, vom Staat gewünschte und unterstützte Beitrag, damit

Soldaten der Bundeswehr ihre Religion frei ausüben können. Die seelsorgerische Betreuung ist

seither ein Wesensmerkmal der Bundeswehr als Armee in der Demokratie und des Selbstver-

ständnisses des Soldaten als Staatsbürger in Uniform.176

Neben der seelsorgerischen Tätigkeit besteht die Arbeit der Militärpfarrer vor allem in der Durch-

führung des Lebenskundlichen Unterrichts, in dem beispielsweise Fragen der ethischen Legiti-

mation des soldatischen Dienens diskutiert werden.177 Die zahlreichen von der evangelischen

172 Informationen zum 1997 gegründeten Interreligiösen Rat sind abrufbar unter

http://www.kas.de/proj/home/home/41/1/webseite_id-2356/index.html (Stand: 29.10.2009).

173 Herbst, Anne, Versöhnungsbemühungen von Kirchen und Konfessionen im Kosovo-Konflikt. In: Süd-

ost-Europa. Zeitschrift für Gegenwartsforschung, 49. Jg (2000), H.

174 Zum Beitrag des Diakonischen Werkes der EKD im Kosovo siehe Arnold 2001, S. 58.

175 Siehe dazu Springer, Klaus-Bernward, Tradition und Neuanfang der Militärseelsorge im Wirken ihres

ersten Militärgeneralvikars Georg Werthmann (1898-1980). In: Kirche unter Soldaten 1956-2006. 50 Jahre Katholische Militärseelsorge in der Deutschen Bundeswehr, Berlin 2006, S: 147; Scheffler, Horst, Die evan-gelische Militärseelsorge. In: Kirche unter Soldaten 1956-2006. 50 Jahre Katholische Militärseelsorge in der Deutschen Bundeswehr, Berlin 2006, S: 197.

176 Weitere Informationen bei Greyer-Wieninger, Alice, Militärseelsorge im Wandel der sicherheitspoliti-

schen, rechtlichen und gesellschaftlichen Entwicklung. In: Kirche unter Soldaten 1956-2006. 50 Jahre Ka-tholische Militärseelsorge in der Deutschen Bundeswehr, Berlin 2006, S: 61. Die Dienstzeit der Militärpfar-rer ist auf max. 12 Jahre begrenzt. Danach kehrt er in den kirchlichen Dienst zurück.

177 Zum Lebenskundlichen Unterricht und seinen Zielen siehe Dirck Ackermann, Neue Wege in der ethi-

schen Bildung in der Bundeswehr. Der Beitrag der Militärseelsorge im Rahmen des Lebenskundlichen Un-terrichts. In: Hartmann, Uwe, Rosen, Claus von, Walther, Christian (Hrsg.), Jahrbuch Innere Führung 2009, S. 176-182.

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und katholischen Militärseelsorge herausgegebenen Schriften bilden eine wichtige Grundlage für

die ethische Urteilsbildung der Soldaten.

Mit den Auslandseinsätzen stehen auch die Militärpfarrer in mehrfacher Hinsicht vor neuen

Herausforderungen. Hierzu gehört vor allem die Betreuung der Soldaten in den Einsatzgebieten.

Schnell zeigte sich, dass auch konfessionell nicht gebundene Soldaten die Begleitung durch Mili-

tärpfarrer für unverzichtbar halten.178 Geschätzt wird auch der aktive Beitrag der Militärseelsorge

in der Familienbetreuung.179 Heute tragen die Militärpfarrer noch stärker als früher zur Förde-

rung der internationalen militärischen Zusammenarbeit bei. In den Einsatzgebieten stehen sie

nicht selten in einem Dialog mit den örtlichen geistlichen Führern. 180

Für die Soldaten sind die Militärpfarrer weiterhin wichtige Gesprächspartner, wenn sie Fragen

zur Legitimation und Sinnhaftigkeit von Auslandseinsätzen haben. Die politische Verantwor-

tung des Christenmenschen ist ein bleibendes Thema und fordert zu ständiger Auseinanderset-

zung heraus – im Vorfeld eines Einsatzes, währenddessen und auch danach. Manche Soldaten

spüren einen Druck aus der Mitte der Gesellschaft, sich für ihr Tun zu rechtfertigen.181 Vor die-

sem Hintergrund sieht die Kirche sich weiterhin in der Pflicht, Sinngebungsangebote für die Sol-

daten und ihre Militärpfarrer zu erarbeiten.

178 Zur hohen Akzeptanz der Militärseelsorge bei den Soldaten der Bundeswehr siehe Bock, Martin, Die

Einstellung zur Militärseelsorge in der Bevölkerung und bei Soldaten im Bosnieneinsatz der Bundeswehr, (SOWI-Arbeitspapier Nr. 126), Strausberg März 2001, S. 71-86; Rauch, Andreas Martin, Beiträge zu Frieden und Sicherheit, Bundeswehr im Ausland. In: Die Neue Ordnung, 58. Jg. (2002), Nr. 2, S. 146.

179 Die evangelische und katholische Militärseelsorge sind aktive Mitglieder im „Netzwerk der Hilfe“.

180 Siehe etwa Bohne, Thomas, Militärseelsorge in Afghanistan. In: Kirche unter Soldaten 1956-2006. 50

Jahre Katholische Militärseelsorge in der Deutschen Bundeswehr, Berlin 2006, S: 370-372. Bohne begleitete während seines Einsatzes in Afghanistan eine deutsche Patrouille. „Der Patrouillenführer stellte mich bei den Begegnungen mit den Dorfältesten und der Begegnung mit dem Mullah eines Ortes als seinen ‚christli-chen Mullah’ vor. Das fand in der Dorfbevölkerung und bei dem Mullah Akzeptanz. Die Gesprächsaufklä-rung der Soldaten ergab sogar, dass an einem Freitag der Mullah gepredigt hatte, den Deutschen und den deutschen Patrouillen könne man vertrauen, denn die Deutschen sind auch Gläubige, da sie sogar ihren Mullah mithaben.“ (372).

181 Darauf weist der Militärgeneralvikar Wakenhut hin: "Und wenn die Soldaten nach Hause kommen,

müssen sie sich für den Einsatz manchmal noch rechtfertigen"

(http://www.militaerseelsorge.bundeswehr.de/portal/a/kmba/kcxml/04_Sj9SPykssy0xPLMnMz0vM0Y_QjzKLN3KPNzQJCQJJQjnmfvqRCPGglFR9b31fj_zcVP0A_YLciHJHR0VFALEFSao!/delta/base64xml/L2dJQSEvUUt3QS80SVVFLzZfMkdfMTRUOQ!!?yw_contentURL=%2F01DB090300000001%2FW27VBFVM265INFODE%2Fcontent.jsp) (Stand: 29.10.2009).

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Die Militärseelsorge setzt sich auch für eine stärkere gesellschaftliche Würdigung des Dienstes

der Soldaten ein. So forderte beispielsweise der Leitende Militärdekan Armin Wenzel die evan-

gelischen Kirchengemeinden dazu auf, Soldaten als Teil der Glaubensgemeinschaft willkommen

zu heißen.182 Der Katholische Militärbischof Mixa wies mehrfach darauf hin, dass der Auslands-

einsatz der Soldaten zu wenig gewürdigt würde.183 In seinem Bistum ordnete er an, dass während

der Gottesdienste regelmäßig der Soldaten gedacht wird. Militärgeneralvikar Wakenhut regte

kürzlich die Einführung eines Gedenktages für Soldaten an184. In diesem Zusammenhang steht

auch die Kritik an der Zurückhaltung der Bundeswehr und ihrer Angehörigen, die sicherheitspo-

litische Debatte anzustoßen oder sich daran zu beteiligen, was Militärbischof Mixa mit folgenden

Worten auf den Punkt brachte: „… wer gehört werden will, muss seine Stimme erheben – und

dies mit guten Argumenten.“185

4.5. Zusammenfassung

Die Kirchen sind ein wichtiger Akteur in der sicherheitspolitischen Debatte in Deutschland. Ihre

friedenspolitischen und -ethischen Stellungnahmen und Erklärungen verfügen über ein politi-

182 Jungholt, Thorsten, „Wir müssen mit den Soldaten bangen – und uns mit ihnen freuen“. Verfassungsge-

richtspräsident Hans-Jürgen Papier mahnt die Deutschen, engagierter an der Seite der Bundeswehr zu ste-hen. In: Die Welt vom 8. August 2009, S. 2. Die Öffnung der Kirchengemeinden für Soldaten war bereits unmittelbar nach der Wiedervereinigung in den neuen Bundesländern erhoben worden. Sie zielte aller-dings darauf ab, die Übernahme des Militärseelsorgevertrages zu verhindern.

183 Siehe die Meldung unter http://www.glaubenslust.de/nachrichten/ansicht/artikel/mixa-auslan.html

(Stand: 30.10.2009).

184 Wakenhut, Walter, Kein Volkstrauertag, sondern Gedenktag!. In: Kompass 9/2009 (http://katholische-

militaerseelsorge.de/fileadmin/kms/kompass/2009/09/kompass200909_07/index.htm) (Stand: 02.10.2009); domradio.de vom 7.09.2009 (http://www.domradio.de/aktuell/artikel_56408.html) (Stand: 29.10.2009); 185 Mixa, Walther, Gesellschaft und Bundeswehr – Parallele Welten? Vortrag anlässlich des Truppenbe-

suchs am Zentrum Innere Führung in Koblenz am 11. Februar 2009

(http://www.militaerseelsorge.bundeswehr.de/portal/a/kmba/kcxml/04_Sj9SPykssy0xPLMnMz0vM0Y_Qjz

KLN3KPNzQJ9gZJQjnmfvqRCPGglFR9X4_83FR9b_0A_YLciHJHR0VFAC_ss7w!/delta/base64xml/L2dJQSE

vUUt3QS80SVVFLzZfMkdfMTRTSw!!?yw_contentURL=%2F01DB090300000001%2FW27P8GV2164INFO

DE%2Fcontent.jsp) (Stand: 30.10.2009). Bischof Mixa nimmt damit eine These des Historikers Klaus

Naumann auf. Siehe dazu Naumann, Klaus, Einsatz ohne Ziel? Die Politikbedürftigkeit des Militärischen,

Hamburg 2008. In ihrer Denkschrift aus dem Jahre 2007 hatte die evangelische Kirche bereits auf ein Dis-

kussionsdefizit unter den Angehörigen der Bundeswehr hingewiesen: „Auch innerhalb der Bundeswehr

werden derartige Diskussionen zu wenig geführt, obwohl diese Themen zentral für das Selbstverständnis

einer »Armee im Einsatz« sind und in engem Zusammenhang mit Aspekten der Legalität und Legitimität,

der Rechtssicherheit der Soldaten und ihres politischen Rückhalts bei Auslandseinsätzen stehen.“ (EKD

2007: 99)

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sches und ethisches Reflexionsniveau, das sich durch theologische Tiefe, Detailkenntnis über

sicherheitspolitische Akteure (VN, NATO, EU, Bundeswehr) und praktische Relevanz auszeich-

net. Grundlage dafür sind die über Jahre gewachsenen Traditionen in der friedensethischen Ur-

teilsbildung, die wissenschaftliche Fundierung theologisch-ethischer Stellungnahmen, die part-

nerschaftliche Kooperation mit der Bundeswehr im Rahmen der Militärseelsorge sowie die Ein-

bindung von Soldaten in die Erarbeitung von kirchlich-offiziellen Dokumenten.

Dabei setzten sich die Kirchenführungen nicht selten in einen Gegensatz zu internen radikalpazi-

fistischen Grundströmungen. Sie scheuten nicht die kontroverse Debatte, auch wenn am Ende

nur uneinheitliche Stellungnahmen möglich waren, was vor allem bei der evangelischen Kirche

häufig der Fall war. Die auf Dauer gestellte Gesprächsbereitschaft resultiert aus der Lehre vom

„gerechten Frieden“, die aufgrund ihrer „qualifizierten Unabgeschlossenheit“186 bzw. wegen des

Friedens „als immer wieder neu zu erfüllende Aufgabe“187 immer weiterentwickelt werden müs-

se. Dabei suchen die Kirchen den Dialog mit Politikern und Soldaten, da friedenspolitische und –

ethische Stellungnahmen immer auch die Bedingungen berücksichtigen sollten, unter denen die-

se handeln (z.B. Zeitdruck; Informationsüberfluss oder -mangel). Insgesamt könnte festgestellt

werden, dass der seit einigen Jahren von zahlreichen Institutionen und Organisationen geforderte

gesamtgesellschaftliche Dialog über Fragen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik innerhalb

der Kirchen in exemplarischer Weise durchgeführt wird.188

Für die Soldaten bieten die Kirchen einen wichtigen Kompass in friedenspolitischen und –

ethischen Fragen. Die Militärseelsorge findet bei den Soldaten – auch bei den konfessionell nicht

gebundenen – höchste Akzeptanz. Neben den Angeboten für die politisch-ethische Orientierung

dürfte dies auch daran liegen, dass die Militärpfarrer „an der Seite“ der Soldaten stehen. Die Mi-

litärpfarrer sind für die Soldaten da – auch in den Einsatzgebieten und auch für die Familien

zuhause. Unterstützend wirkt dabei, wenn außerhalb der Militärseelsorge stehende Theologen

wie der Ratsvorsitzende der EKD, Bischof Huber, die Soldaten in den Einsatzgebieten besu-

chen.189 Militärkritische Stellungnahmen aus dem Bereich der Kirchen, wie sie früher im Zu-

186 Pausch 2001: 26

187 II. vatikanisches Konzil Gaudium et spes 1965: 78.

188 Es erscheint insgesamt sehr glaubwürdig, wenn beispielsweise die Deutschen Bischofskonferenz wäh-

rend ihrer Frühjahrsvollversammlung vom 1. - 4. März 2004 einen breiten sicherheitspolitischen Dialog fordert. Pressemitteilung der DBK vom 4. März 2004, Teil II, 1.

189 Bischof Huber besuchte die im Kosovo eingesetzten deutschen Soldaten vom 15. – 17. Dezember 2007.

Siehe http://www.militaerseelsorge.bundeswehr.de/portal/a/eka/kcxml/04_Sj9SPykssy0xPLMnMz0vM0Y_QjzKL

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sammenhang mit Trauungen in Uniform oder pazifistischen Verlautbarungen zum Ausdruck ge-

bracht wurden, dürften heute eher im Hintergrund stehen. Gleichwohl birgt die spezifische Or-

ganisation der Militärseelsorge die Gefahr, dass Unterstützung und Akzeptanz der Soldaten aus

der Verantwortung der Gesamtkirchen ausgelagert und an die Militärpfarrer als „Spezialisten“

delegiert werden. Vor diesem Hintergrund sind die Appelle der Angehörigen der Militärseelsorge

verständlich, dass die Kirchengemeinde die Soldaten in ihrer Mitte aufnehmen sollten.

N3KLN3IKswRJgjmGJua--pEI8aCUVH1fj_zcVH1v_QD9gtyIckdHRUUA7G1-Vw!!/delta/base64xml/L2dJQSEvUUt3QS80SVVFLzZfMkZfMTQ5RQ!!?yw_contentURL=%2F01DB090200000001%2FW279TH3P021INFODE%2Fcontent.jsp (Stand: 02.11.2009)

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5. Schlussbemerkungen

Es gibt mehr als man auf den ersten Blick vermuten würde. So könnte ein erstes Resultat der

Analyse des Beitrags lauten, den Intellektuelle, Gewerkschaften und Kirchen zur sicherheitspoli-

tischen Debatte in Deutschland liefern. Die Bundeswehr und ihre Soldaten sind jedenfalls kein

„Tabu“ (Cora Stephan). Auffällig ist allerdings, dass Intellektuelle und Gewerkschaften sich dann

zu Wort melden, wenn der (drohende) Ausbruch eines Konfliktes ein militärisches Eingreifen

erfordert. Die intellektuelle Intervention ist also nur fallbezogen; eine kontinuierliche sicher-

heitspolitische Debatte, die dem Aufbau einer strategischen Sicherheitskultur in Deutschland

dienen und so breitere Kreise in Politik und Gesellschaft einbeziehen könnte, besteht also nicht.

Zudem sind Intellektuelle, Gewerkschaftler und Kirchenmitglieder bisweilen durchaus unter-

schiedlicher Meinung über Fragen von Krieg und Frieden. Eine geschlossene Bekundung von

Interesse und Wertschätzung für die Soldaten sollte daher nicht erwartet werden.

Allerdings fordern alle drei untersuchten gesellschaftlichen Gruppen bzw. Institutionen eine In-

tensivierung der sicherheitspolitischen Debatte in Deutschland. Neben einzelnen selbstkriti-

schen Kommentaren über das eigene, intensivierungsbedürftige Engagement hört man häufig den

Appell an die Politik, Impulse und Initiativen besser zu bündeln. Gleichzeitig werden die Solda-

ten, vor allem die höheren Offiziere, aufgefordert, sich stärker an der Debatte zu beteiligen, wie es

schon einmal in den 80er Jahren der Fall war.

Bei dem Verweis auf die Führungsrolle der Politik mag unterschwellig eine Rolle spielen, dass

zwischen Intellektuellen und Gewerkschaften auf der einen und dem Militär auf der anderen

Seite noch historisch begründete, kulturell verfestigte Vorbehalte bestehen, die einen vertrauens-

vollen Dialog erschweren.

Die Kirchen sind eine positives Beispiel dafür, dass die Beteiligung von Soldaten den internen

sicherheitspolitischen Diskurs befruchten könnte. Die weit verbreitete Erkenntnis, dass friedens-

politische Fragen eine permanente Gesprächsbereitschaft voraussetzen, ist eine gute Ausgangsba-

sis für den Dialog zwischen Intellektuellen, Gewerkschaften, Kirchen und Bundeswehr.

Das Scheitern des von den Führungspersönlichkeiten von Bundeswehr und Gewerkschaften ge-

wollten und initiierten Dialogs verdeutlicht, dass nicht nur deren beispielhaftes Engagement,

sondern auch die Durchsetzung ihres Willens innerhalb der Organisationen notwendig ist. Histo-

risch begründete Vorbehalte, unterschiedliche sicherheitspolitische Standpunkte sowie die stär-

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kere Fokussierung von Bundeswehr und Gewerkschaften auf ihre Kernaufgaben verhindern sonst

ein stetiges, ebenenübergreifendes Gespräch.

Die Intensivierung und Verstetigung der sicherheitspolitischen Debatte dürfe allerdings nicht

alles abdecken, was Soldaten unter „mehr gesellschaftlicher Anerkennung und Zuwendung“ ver-

stehen. Neben eher lebenspraktischen Erwartungen, auf die weiter unten eingegangen wird, dürf-

te es hierbei vor allem um Fragen der gesellschaftlichen Stellung des Soldaten gehen. Wenn diese

mehr gesellschaftliche Anerkennung wünschen, dann zeigt es zunächst einmal, dass die nicht

zuletzt von Politik, Gewerkschaften und Kirchen gewünschte Führungskultur der Inneren Füh-

rung tatsächlich funktioniert. Die Soldaten sehen sich als Teil der Gesellschaft und wünschen

eine feste gesellschaftliche Verankerung. Wenn Intellektuelle darauf hinweisen, dass Gesell-

schaft und Militär sich voneinander abschotteten (Wolffsohn), dass das Militär nur noch eine

gesellschaftliche Marginalie sei (Nolte) und dass die negative Konnotation, die mit dem Wort

‚Krieg’ einhergeht, auch auf die zivil-militärischen Beziehungen durchschlage, dann wirft dies

grundsätzliche Fragestellungen auf, für die Intellektuelle und Gewerkschaften bisher kein Inte-

resse zeigten.

Für die Lokalisierung des Soldaten in der Mitte der Gesellschaft müssen manche Intellektuelle,

Gewerkschaftler und kirchliche Amtsträger über ihren Schatten springen. Vor ihnen liegt ein

Feld, das dringend bestellt werden sollte. Vor allem die Aufarbeitung von Rolle und Bild des

Soldaten in Deutschland könnte dazu führen, diese neu zu bestimmen und ins öffentliche Be-

wusstsein zu transportieren. Damit wäre der Weg frei für eine neue intellektuell-künstlerische

Beschäftigung mit dem Soldaten, welche die Fokussierung auf historische Soldatentypen vor

1945 hinter sich lässt. Dazu gehört auch der kritische Umgang mit dem intellektuellen Großpro-

jekt der Zivilgesellschaft. Solange die Zivilgesellschaft als ein Gegenmodell zu Staat und Militär

gesehen wird, bestehen kaum Anknüpfungspunkte dafür, ihre Abhängigkeit von der Existenz

und den Leistungen der Soldaten anzuerkennen.

Wenn Soldaten mehr gesellschaftliche Anerkennung und Zuwendung wünschen, dann denken

sie dabei wohl weniger an die Intensivierung der sicherheitspolitischen Debatte als vielmehr an

neue, lebenspraktische Formen des Umgangs mit Soldaten. Dazu gehört beispielsweise eine

neue Symbolik im Umgang von Politik und Gesellschaft mit ihren Streitkräften. Soldaten spüren

hier ein Defizit, wenn Öffentliche Gelöbnisse als eine der wenigen verbliebenen symbolträchti-

gen Veranstaltungen angesichts von Störungen oftmals nicht mehr öffentlich durchgeführt wer-

den können. Soldaten wünschen sich klare Botschaften aus Politik, Gewerkschaften und Kirche

an die Bevölkerung (z.B. Weihnachts- und Neujahrsansprachen, Veranstaltungen zum 1. Mai und

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1. September, Gottesdienste, Kirchentage usw.), dass trotz konträrer sicherheitspolitischer Auf-

fassungen die Leistungen der Soldaten Anerkennung verdienten. Aus Sicht der Soldaten wäre

wohl auch eine stärkere Beschäftigung der Schriftsteller und Künstler mit der „soldatischen See-

le“ und ihren ethischen Dilemmata, aber auch mit gesellschaftlichen Tabus und Verdrängungen

wünschenswert.

Ein entscheidender Faktor dürfte wohl in der Alltagskommunikation und in der praktischen

Unterstützung der Familien der Soldaten liegen. Studien zeigen, wie Soldatenfamilien darunter

leiden, wenn sie sich für ihre Väter oder Mütter bzw. Söhne und Töchter im Einsatz rechtfertigen

müssen; wie ihre Bewältigung von Trennungsgefühlen und Angst beeinträchtigt wird, wenn sie

kein Verständnis und Mitgefühl bei Nachbarn oder am Arbeitsplatz erfahren.190 Hier geht es um

praktische Hilfe, wie sie vorbildlich von den Kirchen im Rahmen der Militärseelsorge geleistet

wird. Hier geht es aber auch um Aufklärung der Menschen über die Auslandseinsätze der Bun-

deswehr, über die Belastungen der Soldaten und ihrer Familien sowie über staatsbürgerliche So-

lidarität, die diese von ihren Mitbürgern erhoffen.

190 Siehe hierzu Gödickmeier, Silvio, Schloßmacher, Martin, Soldatenfamilien um Einsatz, Münster 2005;

Tomforde, Maren, Einsatzbedingte Trennung. Erfahrungen und Bewältigungsstrategien Sozialwissenschaft-liches Institut der Bundeswehr, Forschungsbericht 78, Strausberg November 2006.