wichtig — aber schwierig!

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14 MMW-Fortschr. Med. Nr. 3 / 2013 (155. Jg.) _ Der am häufigsten bestimmte Labor- wert zur Beurteilung der Nierenfunkti- on ist das Kreatinin. Dieses entsteht im Muskelgewebe durch Abbau von Krea- tin. „Im Plasma ist Kreatinin in relativ konstanter Konzentration vorhanden“, sagte Prof. Andreas Kribben von der Nephrologischen Universitätsklinik in Essen. Kreatinin wird frei im Glomeru- lus filtriert und durch die Niere weder rückresorbiert noch metabolisiert. Doch ein durchaus relevanter Anteil des aus- geschiedenen Kreatinins stammt bei Pa- tienten mit fortgeschrittener chroni- scher Niereninsuffizienz nicht aus der glomerulären Filtration, sondern wird durch die Nierentubuli in den Primär- harn sezerniert. Kreatinin-blinder Bereich „Auch wenn das Serum-Kreatinin mit zunehmender Nierenfunktionsein- schränkung ansteigt, ist dieser Klassiker in den frühen Stadien einer Nierener- krankung ein ungenauer Marker von ge- ringer Sensitivität“, so Kribben. Erst eine Abnahme der GFR auf 50 ml/min. führt zu einem Anstieg des Serum-Kreatinins. Dieser „Kreatinin-blinde“ Bereich muss bei der Beurteilung der Nierenfunktion berücksichtigt werden. Auch zeigen Pa- tienten mit geringer Muskelmasse wie Frauen und ältere Patienten, solche mit Leberzirrhose oder geringer Eiweißauf- nahme häufig einen falsch niedrigen Kreatininwert. Umgekehrt führen Sport, große Muskelmasse, vermehrte Eiweiß- zufuhr und eine Hyperglykämie zu einem Anstieg des Kreatininwertes. „Wer sich ausschließlich auf das Serum- Kreatinin verlässt, kann leicht eine rele- vante Niereninsuffizienz übersehen“, so Kribben. Cystatin C ist sensitiver Eine neue, vielversprechende Alternati- ve zur Beurteilung der Nierenfunktion ist das Cystatin C. Dabei handelt es sich um einen Cystein-Proteinase-Inhibitor, Bestimmung der Nierenfunktion in der Hausarztpraxis Wichtig – aber schwierig! Die Bestimmung der Nierenfunktion ist für den Hausarzt eine alltägliche Herausforderung. Dabei geht es nicht nur um die Früherkennung einer Nierenerkrankung, auch muss bei etlichen Medikamenten die Dosierung an die Nierenfunktion angepasst werden, um eine Überdosierung zu vermeiden. Die entscheidende Frage lautet: Welche Parameter sind sowohl zuverlässig als auch im Alltag praktikabel? © BSIP/yourphoto.today

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Page 1: Wichtig — aber schwierig!

14 MMW-Fortschr. Med. Nr. 3 / 2013 (155. Jg.)

_ Der am häufigsten bestimmte Labor-wert zur Beurteilung der Nierenfunkti-on ist das Kreatinin. Dieses entsteht im Muskelgewebe durch Abbau von Krea-tin. „Im Plasma ist Kreatinin in relativ konstanter Konzentration vorhanden“, sagte Prof. Andreas Kribben von der Nephrologischen Universitätsklinik in Essen. Kreatinin wird frei im Glomeru-lus filtriert und durch die Niere weder rückresorbiert noch metabolisiert. Doch ein durchaus relevanter Anteil des aus-geschiedenen Kreatinins stammt bei Pa-

tienten mit fortgeschrittener chroni-scher Niereninsuffizienz nicht aus der glomerulären Filtration, sondern wird durch die Nierentubuli in den Primär-harn sezerniert.

Kreatinin-blinder Bereich„Auch wenn das Serum-Kreatinin mit zunehmender Nierenfunktionsein-schränkung ansteigt, ist dieser Klassiker in den frühen Stadien einer Nierener-krankung ein ungenauer Marker von ge-ringer Sensitivität“, so Kribben. Erst eine

Abnahme der GFR auf 50 ml/min. führt zu einem Anstieg des Serum-Kreatinins. Dieser „Kreatinin-blinde“ Bereich muss bei der Beurteilung der Nierenfunktion berücksichtigt werden. Auch zeigen Pa-tienten mit geringer Muskelmasse wie Frauen und ältere Patienten, solche mit Leberzirrhose oder geringer Eiweißauf-nahme häufig einen falsch niedrigen Kreatininwert. Umgekehrt führen Sport, große Muskelmasse, vermehrte Eiweiß-zufuhr und eine Hyperglykämie zu einem Anstieg des Kreatininwertes. „Wer sich ausschließlich auf das Serum-Kreatinin verlässt, kann leicht eine rele-vante Niereninsuffizienz übersehen“, so Kribben.

Cystatin C ist sensitiverEine neue, vielversprechende Alternati-ve zur Beurteilung der Nierenfunktion ist das Cystatin C. Dabei handelt es sich um einen Cystein-Proteinase-Inhibitor,

Bestimmung der Nierenfunktion in der Hausarztpraxis

Wichtig – aber schwierig!Die Bestimmung der Nierenfunktion ist für den Hausarzt eine alltägliche Herausforderung. Dabei geht es nicht nur um die Früherkennung einer Nierenerkrankung, auch muss bei etlichen Medikamenten die Dosierung an die Nierenfunktion angepasst werden, um eine Überdosierung zu vermeiden. Die entscheidende Frage lautet: Welche Parameter sind sowohl zuverlässig als auch im Alltag praktikabel?

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AKTUELLE MEDIZIN–REPORT

MMW-Fortschr. Med. Nr. 3 / 2013 (155. Jg.)

der in allen kernhaltigen Körperzellen konstant gebildet wird. Er wird frei in der Niere filtriert und tubulär nicht sezerniert, allerdings fast vollständig in den Tubulusepithelzellen rückre-sorbiert. „Es gelangt aber nicht in den Blutkreislauf zurück, da es von den Tubuluszellen abgebaut wird“, so Krib-ben. Vor allem bei Patienten mit leich-ter Einschränkung der Nierenfunkti-on, vermehrter Muskelmasse oder akutem Nierenversagen ist Cys tatin ein besserer Marker für die Beurtei-lung der Nierenfunktion als Kreatinin. „Cystatin C bringt Licht in den Kreati-nin-blinden Bereich, da es bereits bei einer GFR < 80 ml/min erhöht ist“, so Kribben.

Allerdings ist auch die Cystatin-C-Bestimmung im Blut störanfällig. Falsch erhöhte Werte finden sich bei Hyperthy-reose, hoch dosierter Kortikoidtherapie, bei Autoimmunerkrankungen und me-tastasierenden Malignomen, falsch nied-rige Werte bei der Hypothyreose. „Die Bestimmung von Cys tatin C ist zwar sensitiver, aber auch weniger standardi-siert und deutlich teurer als die des Krea-tinins“, so Kribben. Bei bereits erhöhtem Kreatinin ist die Bestimmung des Cysta-tin C deshalb nicht sinnvoll.

GFR-Bestimmung: Messen oder berechnen?Die GFR stellt das Gesamtvolumen des Primärharns dar, das von allen Glome-ruli beider Nieren zusammen in einer definierten Zeiteinheit gefiltert wird. Bei Menschen mit einem normalen Blut-

druck sind dies 0,12 Liter/Min. bzw. 170 Liter/Tag. „Die GFR sinkt pathologisch bei Nierenerkrankungen und physiolo-gisch mit zunehmendem Alter“, sagte Priv.-Doz. Dr. Elke Schaeffner von der Nephrologischen Universitätsklinik der Charité in Berlin. Dagegen beschreibt die Clearance das Plasmavolumen, das pro Zeiteinheit von einer bestimmten Substanz befreit wird. Um die GFR zu ermitteln, wird die Clearance einer Markersubstanz bestimmt, die im Tubu-lussystem der Niere weder sezerniert noch rückresorbiert wird.

Für die Clearance-Bestimmung kön-nen exogene Marker wie Inulin oder en-dogene Marker wie Kreatinin verwendet werden. „Für die klinische und ambu-lante Routinediagnostik sind exogene Marker zu aufwendig“, so Schaeffner.

Aber auch die Ermittlung der Kreati-nin-Clearance mit Hilfe des Sammel-urins über einen definierten Zeitraum ist in der Hausarztpraxis kaum möglich und überdies mit einer Reihe von Feh-lern behaftet. Um auf das Sammeln des Urins verzichten zu können, wurden Nä-herungsformeln entwickelt, mit denen die GFR aus dem Serum-Kreatinin be-rechnet wird: die Cockcroft-Gault- und die MDRD-Formel*. Dabei muss man jedoch berücksichtigen, dass die Kreati-ninkonzentration von Muskelmasse, Al-ter, Geschlecht und Hautfarbe abhängt. So entspricht ein Serum-Kreatinin von 1,3 mg/dl bei einem 20-jährigen Mann einer GFR von 75 ml/min, bei einer 80-jährigen Frau dagegen von nur 50 ml/min.

Aussagekraft mit EinschränkungenBeide Formeln sind mit Nachteilen asso-ziiert. Für die Cockcroft-Gault-Formel spricht, dass auch das Körpergewicht in die Berechnung mit einbezogen wird. Die MDRD-Formel wird für eine standardi-sierte Körperoberfläche von 1,73 m2 an-gegeben. „Die MDRD-Formel ist für Pa-tienten über 70 Jahre nicht validiert“, so Schaeffner. Beide Näherungsformeln seien nur für ambulante chronisch nie-renkranke Patienten mit moderater bis schwerer Nierenfunktionseinschränkung (Stadium 3 und 4) ausreichend validiert.

Für Personen mit normaler oder leicht eingeschrän kter Nie renfunktion seien sie nicht geeignet. Die MDRD-Formel unterschätze bei Patienten mit einer GFR über 60 ml/min diese um ca. 10 ml/min. Auch für Patienten mit aku-ter Nierenfunktionsverschlechterung, solche mit starkem Übergewicht, stark verminderter Muskelmasse, bei Einnah-me von Nahrungsergänzungsmitteln und bei verringerter Eiweißzufuhr, z. B. bei Vegetariern, sind die Näherungsfor-meln unzuverlässig und eignen sich auch nicht, um Frühstadien einer diabe-tischen Nephropathie zu erfassen.

Für eine Anpassung der Medikamen-tendosierung hat sich im Alltag die Cockcroft-Gault-Formel bewährt.

DR. MED. PETER STIEFELHAGEN ■* Die Formeln finden Sie im Internet unter: www.

charite.de/klinphysio/lehre/a_phy_niere_cock-gault.htm und http://www.labor28.de/laborinfo/labinfo140.html

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Auch nach Mikroalbuminurie fahnden

Prognostisch wegweisend

„Nicht nur die GFR, sondern auch die Untersuchung des Urins auf Eiweiß ist zum Nachweis bzw. Ausschluss einer Nierenerkrankung zwingend erforder-lich“, so Schaeffner; denn nicht nur eine Abnahme der GFR, sondern auch der Nachweis einer Albuminurie signalisiert ein deutlich erhöhtes Risiko für die Ge-samt- und kardiovaskuläre Mortalität, die Entstehung einer chronischen Nie-reninsuffizienz oder eine Progression einer bestehenden Niereninsuffzienz.

Entsprechend der berechneten GFR wird die chronische Niereninsuffizi-enz in fünf Stadien unterteilt:

Stadium 1: > 90 ml/min.

Stadium 2: 60–89 ml/min.

Stadium 3: 30–59 ml/min.

Stadium 4: 15–29 ml/min.

Stadium 5: < 15 ml/min.

Eine chronische Nierenkrankheit liegt dann vor, wenn über minde-stens drei Monate die GFR unter 60 ml/min. liegt oder über einen eben-solchen Zeitraum Eiweiß im Urin nachweisbar ist.

Stadien der Niereninsuffizienz