was messen schmerzskalen bei patienten mit rheumatoider arthritis?

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ORIGINALIEN DerSchmerz und Forschung Was messen Schmerzskalen bei Patienten mit rheumatoider Arthritis ? I. Curio und O.B. Scholz Lehrstuhl fiir Klinische und Angewandte Psychologie der RFW-Universit/it Bonn What do pain scales measure in patients with rheumatoid arthritis? Abstract. In this study carried out in a sample of 80 pa- tients suffering from rheumatoid arthritis (RA) tried an attempt was made to answer the following questions: 1. are there pain factors with a wider range that are more generally applicable than those covered by current German questionnaires? 2. To what extent can somatic parameters predict pain factors? 3. To what extent can a patient's pain behavior (a patient's activity scores) pre- dict pain factors? The study was based on data collected by means of the Pain Experience Questionnaire (PEQ), the McGill Pain Questionnaire MPQ, the West Haven- Yale Multidimensional Pain Inventory WHYMPI, the Measurement Of Patient Outcome Scale MOPO, as well as six different clinical parameters. By means of factor analysis, two second-order factors were extracted, repre- senting 1. the patient's impairment due to intensive pain and 2. socio-emotional consequences of pain. At a stat- istically significant level, the first factor can be predicted by the clinical variables. Regression of the activity scores on the factor "socio-emotional consequences" suggests a close correlation between the two variables, although the results failed to reach statistical significance. On the whole, the results strongly support the notion of integra- ting clinical, behavioral and cognitive findings in the diagnostic assessment of chronic rheumatoid pain pa- tients. Zusammenfassung. Die an 80 Patienten mit rheumato- ider Arthritis (RA) durchgefiihrte Untersuchung ver- folgt 3 Fragestellungen: 1. Es werden Schmerzfaktoren gesucht, die von grrl3erer Breite und AUgemeinheit als die Dimensionen in einigen derzeit verfiigbaren deutsch- sprachigen Fragebrgen sind. 2. Es wird gepriift, inwie- weit somatische Parameter der RA diese Schmerzfakto- ren vorhersagen krnnen. 3. SchlieBlich wird untersucht, inwieweit das Krankheitsverhalten, insofern es in den Aktivit/iten des Patienten zum Ausdruck kommt, diese Schmerzfaktoren vorhersagen kann. Der Untersuchung lagen die Daten des Pain Experience Questionnaire PEQ [28], des McGill Pain Questionnaire MPQ [18], des West Haven-Yale Multidimensional Pain Inventory WHYMPI [15], des Measurement Of Patient Outcome- Bogens MOPO [14] sowie 6 verschiedene somatische Pa- rameter zugrunde. In der Faktorenanalyse wurde je ein Faktor 2. Ordnung gefunden, der die Beeintr/ichtigun- gen des Patienten durch intensiven Schmerz sowie die sozioemotionalen Konsequenzen yon Schmerz abbildet. Der erstgenannte Faktor kann durch die somatischen Variablen statistisch iJberzuf'~llig vorhergesagt werden. Auch die Regression der Aktivit~itsvariablen auf den Faktor ,,sozioemotionale Konsequenzen" deutet einen engeren Zusammenhang beider Variablen an. Jedoch ist dieser Befund statistisch nicht zu sichern. Insgesamt be- legen die Ergebnisse die notwendige Integration soma- fischer, behavioraler und kognitiver Befunde bei der dia- gnostischen Beurteilung chronisch-rheumatischer Schmerzpatienten. Fragestellung In der klinischen Schmerzmessung werden 2 Typen von Fragebrgen verwendet: Mit Schmerzskalen wird ver- sucht, verschiedene Schmerzqualit~iten sowie die Schmerztopografie zu beurteilen. Prototyp derartiger Schmerzskalen ist der McGill Pain Questionnaire MPQ [18], von dem eine Reihe deutschsprachiger Adaptatio- nen abgeleitet und teilweise standardisiert worden sind, so z.B. die Revidierte Mehrdimensionale Schmerzskala [6], die Hoppe-Skala [13], der Berner Schmerzfragebogen [22] und die Obersetzung von Stein u. Mendl [26]. Neben den Schmerzskalen und z.T. mit ihnen kombiniert gibt es eine Reihe von Selbstberichtsinventaren, die indivi- duelle Schmerzerfahrungen der Patienten erfassen. Auch bier stehen Adaptationen aus dem angloamerikanischen Sprachraum stammender Inventare im Vordergrund. Dazu gehrren beispielsweise die Revidierte Mehrdimen- Der Schmerz (1990) 4:207-213 Springer-Verlag 1990

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ORIGINALIEN DerSchmerz und Forschung

Was messen Schmerzskalen bei Patienten mit rheumatoider Arthritis ? I. Curio und O.B. Scholz Lehrstuhl fiir Klinische und Angewandte Psychologie der RFW-Universit/it Bonn

W h a t d o p a i n sca les m e a s u r e in p a t i e n t s w i t h r h e u m a t o i d a r t h r i t i s ?

Abstract. In this study carried out in a sample of 80 pa- tients suffering from rheumatoid arthritis (RA) tried an attempt was made to answer the following questions: 1. are there pain factors with a wider range that are more generally applicable than those covered by current German questionnaires? 2. To what extent can somatic parameters predict pain factors? 3. To what extent can a patient's pain behavior (a patient's activity scores) pre- dict pain factors? The study was based on data collected by means of the Pain Experience Questionnaire (PEQ), the McGill Pain Questionnaire MPQ, the West Haven- Yale Multidimensional Pain Inventory WHYMPI, the Measurement Of Patient Outcome Scale MOPO, as well as six different clinical parameters. By means of factor analysis, two second-order factors were extracted, repre- senting 1. the patient's impairment due to intensive pain and 2. socio-emotional consequences of pain. At a stat- istically significant level, the first factor can be predicted by the clinical variables. Regression of the activity scores on the factor "socio-emotional consequences" suggests a close correlation between the two variables, although the results failed to reach statistical significance. On the whole, the results strongly support the notion of integra- ting clinical, behavioral and cognitive findings in the diagnostic assessment of chronic rheumatoid pain pa- tients.

Zusammenfassung. Die an 80 Patienten mit rheumato- ider Arthritis (RA) durchgefiihrte Untersuchung ver- folgt 3 Fragestellungen: 1. Es werden Schmerzfaktoren gesucht, die von grrl3erer Breite und AUgemeinheit als die Dimensionen in einigen derzeit verfiigbaren deutsch- sprachigen Fragebrgen sind. 2. Es wird gepriift, inwie- weit somatische Parameter der RA diese Schmerzfakto- ren vorhersagen krnnen. 3. SchlieBlich wird untersucht, inwieweit das Krankheitsverhalten, insofern es in den Aktivit/iten des Patienten zum Ausdruck kommt, diese

Schmerzfaktoren vorhersagen kann. Der Untersuchung lagen die Daten des Pain Experience Questionnaire PEQ [28], des McGill Pain Questionnaire MPQ [18], des West Haven-Yale Multidimensional Pain Inventory WHYMPI [15], des Measurement Of Patient Outcome- Bogens MOPO [14] sowie 6 verschiedene somatische Pa- rameter zugrunde. In der Faktorenanalyse wurde je ein Faktor 2. Ordnung gefunden, der die Beeintr/ichtigun- gen des Patienten durch intensiven Schmerz sowie die sozioemotionalen Konsequenzen yon Schmerz abbildet. Der erstgenannte Faktor kann durch die somatischen Variablen statistisch iJberzuf'~llig vorhergesagt werden. Auch die Regression der Aktivit~itsvariablen auf den Faktor ,,sozioemotionale Konsequenzen" deutet einen engeren Zusammenhang beider Variablen an. Jedoch ist dieser Befund statistisch nicht zu sichern. Insgesamt be- legen die Ergebnisse die notwendige Integration soma- fischer, behavioraler und kognitiver Befunde bei der dia- gnostischen Beurteilung chronisch-rheumatischer Schmerzpatienten.

Fragestellung

In der klinischen Schmerzmessung werden 2 Typen von Fragebrgen verwendet: Mit Schmerzskalen wird ver- sucht, verschiedene Schmerzqualit~iten sowie die Schmerztopografie zu beurteilen. Prototyp derartiger Schmerzskalen ist der McGill Pain Questionnaire MPQ [18], von dem eine Reihe deutschsprachiger Adaptatio- nen abgeleitet und teilweise standardisiert worden sind, so z.B. die Revidierte Mehrdimensionale Schmerzskala [6], die Hoppe-Skala [13], der Berner Schmerzfragebogen [22] und die Obersetzung von Stein u. Mendl [26]. Neben den Schmerzskalen und z.T. mit ihnen kombiniert gibt es eine Reihe von Selbstberichtsinventaren, die indivi- duelle Schmerzerfahrungen der Patienten erfassen. Auch bier stehen Adaptationen aus dem angloamerikanischen Sprachraum stammender Inventare im Vordergrund. Dazu gehrren beispielsweise die Revidierte Mehrdimen-

Der Schmerz (1990) 4:207-213 �9 Springer-Verlag 1990

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sionale Schmerz~kale [6] und die deutsche Adapta t ion der Arthritis Impac t Measurement Scale (MOPO) [14]. Eine Reihe von Frageb6gen aus dem angloamerika- nischen Sprachraum werden ohne wesentliche psycho- metrische f0berarbeitung - also lediglich als Llbersetzun- gen in Praxis und Forschung angewendet. Zu denken ist beispielsweise an den Pain Experience Questionnaire PEQ [28] und das West Haven-Yale Multidimensional Pain Inventory W H Y M P I [15]. Die MeBintention der einzelnen Skalen reicht von ,,sensorisch-diskriminative Schmerzqualit/i t" fiber , ,kognitiv-sorgenvolle Auseinan- dersetzung mit dem Schmerz" bis zu , ,Auswirkungen von Schmerz auf das ganze Leben bzw. die pers6nliche Lebenszufriedenheit". Die Palette unterschiedlicher Aspekte der subjektiven Schmerzbeurteilungen ist often- sichtlich sehr reichhaltig. Wir mfissen uns fragen, was wir meinen, wenn wir unter psychometrischen Aspekten von Schmerzerleben und Schmerzerfahrung spreehen. Diese Frage ist u.a. deshalb relevant, weil verschiedene Literaturfibersichten fiber psychodiagnostische Metho- den der Schmerzmessung [3, 12, 25] vermuten lassen, dab die Vielzahl der durch Frageb6gen ermittelten Schmerzdimensionen immer gr6Ber und damit nicht mehr ohne weiteres nachvollziehbar wird. So zeigte sich beispielsweise [31], dab der deduktive Aufbau des McGill Pain Questionnaire empirisch nicht best/itigt werden konnte, als die dem Fragebogen zugrunde lie- gende Dimensionen mit Hilfe einer konfirmatorischen Faktorenanalyse repliziert werden sollten. M6glicher- weise liegt der Vielzahl faktoriell begrfindbarer Schmerz- dimensionen eine hierarchische Struktur zugrunde, ffir die eine gr6Bere Breite und Allgemeingiiltigkeit kenn- zeichnend ist. Mathematisch-statist isch l/il3t sich dieser Sachverhalt mjttels Faktorisierung aus verschiedenen Frageb6gen gewonnener Schrnerzfaktoren fiberprfifen. Das 1. Anliegen der vorliegenden Untersuchung besteht also in dem Nachweis psychometrischer Schmerzfakto- ren 2. Ordnung.

Das 2. Anliegen befal3t sich mit der Frage, inwieweit somatische Befunde und Daten, wie sie ffir die Diagno- stik yon Patienten mit rheumatoider Arthritis (RA) er- hoben werden, mit den Schmerzberichten der Patienten zusammenh/ingen. Zahlreiche Studien und Obersichtsar- beiten (z.B. [2, 4, 30]) lassen den Schlul3 zu, dab die somatischen Befunde ganz andere Krankhei tsaspekte er- fassen als die Selbstberichte der Patienten fiber ihren Schmerz. Dies trifft selbst dann zu, wenn lediglich Daten klinischer und experimenteller Schmerzmessung zu- grunde liegen, wie in einer Untersuchung an RA-Patien- tinnen [5] gezeigt werden konnte. Gilt das auch ffir Schmerzfaktoren gr613erer Breite und Allgemeingfiltig- keit? Es w/ire doch denkbar, dab wenigstens einer dieser Schrnerzfaktoren mit jenen relativ unspezifischen, medi- zinisch-diagnostischen Parametern, wie z. B. der Blutsen- kungsgeschwindigkeit (BSG), der Dauer der Erkran- kung oder best immten Immunpararne tern in Zusam- menhang steht. Uns geht es also um die Beantwortung der Frage, inwieweit die Schrnerzfaktoren 2. Ordnung ein pr/iziseres Kri ter ium ffir die sornatischen Befunde der RA-Patienten sind als die Schmerzfaktoren 1. Ord- nung.

Das 3. Anliegen dieser Untersuchung befal3t sich mit dem Zusammenhang zwischen den Schmerzberichten der Patienten und jenen Aspekten ihres Krankheitsver- haltens, wie sic beispielsweise in Mobilit/it, Freizeit- u./i. Aktivit/iten zum Ausdruck kornmen. Fordyee [8] sieht enge Beziehungen zwischen Schmerz und Krankheitsver- halten. Aber in neueren Untersuchungen, z.B. von Lin- ton [17] konnte dieser enge und direkte Zusammenhang nicht bestfitigt werden. Unsere 3. Fragestellung lautet deshalb: Inwieweit sind die Schmerzfaktoren 2. Ord- nung ein pr/iziseres Kri ter ium ffir das Krankheitsverhal- ten der RA-Pat ienten als die Schmerzfaktoren 1. Ord- nung?

Methodik

Stichprobe

Der Untersuchung liegt eine Stichprobe von 80 RA-Patienten (65 weiblich; 15 miinnlich) zugrunde, die sich zu einem sechsw6chigen Kuraufenthalt in einer Kurklinik befanden 1. Die klinische Dia- gnose ,,chronische Polyarthritis" gait als Auswahlkriterium und wurde internistisch-rheumatologisch mehrfach abgesichert. Alle Patienten entsprechen den diagnostischen Kriterien fiir rheuma- toide Arthritis, die vonder International Association for the Study of Pain [20] erstellt worden sind und ebenfalls der Klassifizierung nach Ropes et al. [23]. AusschluBkriterien sind Grenzfalldiagnosen, iiberlagerte Erkrankungen oder Unterformen entziindlicher rheu- matischer Erkrankungen (z. B. Spondylitis ankylosans).

Die durchschnittliche Erkrankungsdauer betrug 10,9 Jahre (range: 5-30). Von wiederholten Klinikaufenthalten berichteten 88,4% der Patienten. Etwa ein Fiinftel (21%) ist invalidisiert, 23,5% der Stich- probe pensioniert. Das durchschnittliche Alter liegt bei 51 Jahren (range: 24-83), wobei die Hiilfte der Stichprobe zwischen 41 und 60 Jahren alt ist. Die Mehrzahl der Patienten ist verheiratet (60%) und hat Familie (65%). Ihr Ausbildungsstand ist durch abgeschlos- sene Volksschule sowie Mittlere Reife gekennzeichnet.

Somatische Variablen

1. Das Krankheitsstadium wurde nach Steinbrocker et al. [27] be- stimmt. Aufgrund von R6ntgenbefund, AusmaB der Muskelatro- phien, extraartikulfiren Verginderungen, Gelenkdeformationen und Ankylosezeichen werden 4 Stadien definiert.

2. Es wurde registriert, ob im bisherigen Krankheitsverlauf rheu- machirurgische Eingriffe (Operationen) erfolgten.

3. Ebenso wurde festgehalten, ob sieh ein Rheumafaktor im Serum der Patienten nachweisen lieB (seropositiv/-negativ).

4. die Blutsenkungsgesehwindigkeit (BSG) wurde 3fach unterteilt: inaktiv: kleiner 20 mm; m/iBig aktiv: bis 60 mm; hoch aktiv: gr6- Ber 60 mm.

5. Die klinische Prozeflaktivitiit wurde nach Voit und Gamp (zit. n. Albrecht [1] S. 2) bestimmt. Aufgrund von Allgemeinsympto- men, Entwicklung des rheumatischen Prozesses, entziindlicher Ge- lenksymptome und aufgrund der BSG sowie des R6ntgenbefundes werden 4 Aktivit/itsstufen definiert.

6. Schliel31ich wurde die Erkrankungsdauer in Jahren registriert.

1 Fiir die M6glichkeit der Untersuchungsdurchfiihrung in der Rheumaklinik Oberammergau (Arztlicher Direktor: Dr. H.-J. Al- brecht) m6ehten wit uns bei der Klinikleitung, dem Personal und den Patienten herzlich bedanken. Die Datenerhebung erfolgte durch Frau Dipl.-Psych. F. Hammer und Frau Dipl.-Psych. M. Rodenkirch im Rahmen ihrer Diplomarbeiten, die von Frau Dr. H. Flor wissenschaftlich betreut wurden.

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Es ist klinisch evident, dab die 6 Variablen nicht disjunkt sind, sondern sich teilweise fiberlagern. Das gilt insbesondere ffir die Erkrankungsdauer und das Krankheitsstadium. - Die genannten Variablen werden als Pr/idiktoren zur Beantwortung der zweiten Fragestellung ben6tigt.

Statist ische Bearbei tung

Zur Bestimmung der ffir die vorliegende Stichprobe charakteri- stischen Schmerzfaktoren 1. Ordnung wurden die Schmerzfrageb6- gen getrennt faktorisiert. Es wurde bei allen Faktorenanalysen die Hauptkomponentenmethode mit anschlieBender Varimaxrotation verwendet (Statistikpaket KMSS [16]). Zum AusschluB von trivia- len und Fehlerfaktoren wurde der Scree-Test eingesetzt. Durch die im Vergleich zur Stichprobengr6Be hohe Variablenzahl wird eine Kapitalisierung der Zufallsvarianz bewirkt, die im Hinblick auf die Konstruktion der Ausgangsvariablen ffir die Faktorenanalyse 2. Ordnung aus den individuellen Faktorscores in Kauf genommen wurde.

Zur Vorhersage der Schmerzfaktoren 2. Ordnung aus den soma- tischen Variablen und den Aktivitfitsvariablen wurde die multiple Regressionsanalyse nach Veldman [32] verwendet.

Schmerzvariablen

1. Der Pain Experience Questionnaire PEQ [28] bildet entsprechend seiner ursprfinglichen MeBintention Schmerzerfahrungen ab. Es handelt sich dabei um die Dimension ,,emotionality", ,,worry" und ,,response style". 15 der 40 Items haben keine Zuordnung zu den 3 Dimensionen. Die revidierte Fassung PES [29] lag zum Zeitpunkt der Datenerhebung noch nicht vor. Jedes Item wird mit 1 von 7 (trifft nicht zu ..., trifft voll zu) Stufen beantwortet. Die Ergeb- nisse der Faktorenanalyse sind in Tabelle 1 wiedergegeben.

2. Der McGill Pain Questionnaire MPQ [18] bildet mittels 78 in 20 Klassen angeordneter Deskriptoren sensorisch-diskriminative, affektiv-motivationale und evaluative Komponenten der Schmerz- wahrnehmung ab. Zus~itzlich k6nnen Global- und Intensit/itsscores berechnet werden [19]. Da zum Zeitpunkt der Datenerhebung brauchbare standardisierte Deskriptorskalenwerte ffir eine deutsch- sprachige Version noch nicht vorlagen [11, 22, 26], wurde als Vor- aussetzung •r die Faktorenanalyse unter Beibehaltung der durch die 20 Klassen vorgegebenen Struktur des Fragebogens eine Aus- wahl stichprobenrelevanter Deskriptoren getroffen. Es wurden zu- n/ichst all jene Deskriptoren ermittelt, die fiir mehr als 10% der Stichprobe zutreffend sind. Zus/itzlich wurden die Deskriptoren der betreffenden Klasse beriicksichtigt, deren semantische .~quiva- lenz zu den vorgenannten Deskriptoren gegeben ist. Das Ankreu-

Tabelle 1. Ergebnisse der rotierten Hauptkomponentenanalyse des Pain Experience Questionnaire (PEQ) [28]

Anzahl der Variablen: 40, n = 80 RA-Patienten

1. Faktor: Oberw/iltigtsein von Schmerz Beispielitem: Wenn ich starke Schmerzen habe, denke ich dar- fiber nach, dab meine Schmerzen sich noch verschlimmern k6nnten Eigenwert des Faktors: 13,33, aufgekl~irte Varianz: 33,3%

2. Faktor: Versuche der kognitiven Schmerzbew/iltignng Beispielitem: Wenn ich starke Schmerzen habe, denke ich, dab dies eine Herausforderung ffir mich ist Eigenwert des Faktors: 3,43, aufgekl/irte Varianz: 8,7%

3. Faktor: Emotionaler Kontrollverlust Beispielitem: Wenn ich starke Schmerzen habe, werde ich wfi- tend Eigenwert des Faktors: 2,67, aufgekl/irte Varianz: 6,7%

Tabelle 2. Ergebnisse der rotierten Hauptkomponentenanalyse des McGill Pain Questionnaire (MPQ) [18]

Anzahl der eingegebenen Variablen: 18, n = 80 RA-Patienten

1. Faktor: Emotionale Komponenten von Schmerzintensit/it Beispielitem: Meine schlimmsten Schmerzen beschreibt das Wort ,,entsetzlich" bzw. ,,ffirchterlich" Eigenwert des Faktors: 4,1, aufgekl/irte Varianz: 23%

2. Faktor: Thermische Schmerzkomponente (~_Entzfindungs- schmerz) Beispielitem: heiB, entziindet Eigenwert des Faktors: 1,5, aufgekl~irte Varianz: 8,5%

3. Faktor: Lokalisierte, vitalisierte Schmerzempfindung Beispielitem: reizend, bohrend, ziehend Eigenwert des Faktors: 1,4, aufgekl/irte Varianz: 7,9%

Tabelle 3. Ergebnisse der rotierten Hauptkomponentenanalyse des West Haven-Yale Multidimensional Pain Questionnaire (WHYMPI) [151

Anzahl der eingegebenen Variablen: 28, n = 80 RA-Patienten

1. Faktor: AusmaB der Behinderung durch Schmerz Beispielitem: Wie stark waren Ibre Schmerzen in der letzten Woche? Eigenwert des Faktors: 11,09, aufgekl/irte Varianz: 35,5 %

2. Faktor: Wahrgenommene Zuwendung des Partners zum Schmerz (~ positive Verst/irkung) Beispielitem: Wieviel Sorgen macht sich Ihr(e) Partner(in) um Sie wegen Ihrer Schmerzen? Eigenwert des Faktors: 3,9, aufgekl/irte Varianz: 13,8 %

3. Faktor: Sozioemotionale Konsequenzen von Schmerz Beispielitem: Wie ~irgerlich wird Ihr(e) Partner(in) mit Ihnen wegen Ihrer Schmerzen? Eigenwert des Faktors: 1,8, aufgekl/irte Varianz: 6,8%

zen eines dieser Deskriptoren wurde fiir die betreffende Klasse mit 1, anderenfalls mit 0, codiert. Es verblieben 16 Klassen. Zus~itzlich wurden 2 Ratings des MPQ berficksichtigt, in denen die Patienten eine Beschreibung ihrer Schmerzen i. allg. sowie ihrer schlimmsten Schmerzen abgaben. Als Antwortalternativen standen jeweils die Deskriptoren ,,leicht", ,,unbehaglich", ,,j ~immerlich", ,,entsetzlich" und ,,marternd" zur Verffigung. Die Skalenwerte dieser Deskripto- ren wurden aufgrund einer Likertskalierung berechnet. Die Ergeb- nisse der Faktorenanalyse sind in Tabelle 2 zusammengefaBt.

3. Das Westhaven Yale Multidimensional Pain Inventory WHYMPI [15] hat in seiner Gesamtfassung 3 Teile. Wir benutzten Teil I, in dem der Patient selbst fiber seine Schmerzen und deren Wirkungen berichtet. Die Testautoren geben an, daB dieser Teil folgende Faktoren abbildet:

a) Pain interference with life and life satisfaction, b) support from significant others, c) pain severity and suffering, d) self control und e) negative mood 2

Jedes der 28 Items wird auf einer 7stufigen visuellen Ratingskala mit den Extremen (Iteminhalt ist fiberhaupt nicht .... ist /iuBerst zutreffend) beantwortbar. Aus Tabelle 3 gehen die Ergebnisse der Faktorenanalyse hervor.

2 Wir benutzten eine Vorform des WHYMPI, die wegen der r setzung ins Deutsche neu faktorenanalysiert werden muBte.

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210 Originalien

Tabelle 4. Ergebnisse der rotierten Hauptkomponentenanalyse der Faktorskores der 3 Fra- geb6gen aus Tabellen 1-3 (Faktoren 2. Ordnung)

Faktor 2. Ordnung Eigenwert Aufgekl~irte Varianz

Faktoren 1 .Ordnung AusmaB der Behinderung Zuwendung des Partners Sozioemotionale Konsequenzen

Uberw/iltigtsein yon Schmerz Kognitive Schmerzbew/iltigung Emotionaler Kontrollverlust

Emotionale Schmerzintensit~it Thermischer Schmerz Lokalisierter, vitalisierender Schmerz

1 2

2,46 1,48 26% 18%

h 2

0,899 0,046 81,08 WHYMPI 0,079 -0,555 31,40

0,142 0,565 33,94

0,764 0,163 61,00 PEQ 0,493 0,093 25,19

0,078 0,729 53,79

0,809 0,107 66,55 MPQ 0,128 0,442 21,22

-0,082 0,443 20,25

Bezeichnung der Faktoren 2. Ordnung: 1. Faktor: Beeintr~ichtigung durch intensiven Schmerz

Kurzbezeichnung: Schmerzerleben 2. Faktor: Sozioemotionale Konsequenzen yon Schmerz

Kurzbezeichnung: Schmerzerfahrung

Aktivitdtsvariablen

Das Inventar ,,Measurement Of Patient Outcome" MOPO [14] erfaBt die k6rperlichen Beeintr~ichtigungen der RA-Patienten sowie deren psychosoziale Konsequenzen im Wertsystem des Patienten. Der Fragebogen selbst besteht aus 67 Items, die insgesamt 9 Skalen konstituieren. Jedes Item ist Guttman-skaliert, ihre Validit/it und Zuverlfissigkeit ist psychometrisch belegt worden. Wir verwendeten die Skalen ,,Mobilitfit" (Beispielitem: Kommt es vor, dab Sic wegen Ihres Gesundheitszustandes Ihre Wohnung nicht verlassen k6nnen?), ,,K6rper"l]ehe Aktivit~it" (Beispielitem: K6nnen Sic sich biicken, aufstehen und hinsetzen?), ,,Geschicklichkeit" (Beispiel- item: K6nnen Sie die Schuhe zuschniiren?), ,,Aktivit~ten im Haus- halt" (Beispielitem: K6nnen Sie ein Telefon benutzen (H6rer ab- nehmen, w~ihlen?)), ,,soziate Aktivitiiten" (Beispielitem: Wie oft haben Sie im letzten Monat Freunde oder Verwandte in deren Haus besucht?) und ,,Aktivifiiten im thglichen Leben" (Beispiel- item: Wie gut sind Sic in der Lage, Ihre Haare zai waschen?). Hohe Merkmalsauspr~igung bedeutet also starke Beeintr~chtigung des jeweiligen Funktionsbereiches.

Die Summenscores dieser Skalen dienen als Pr~idiktoren bei der Beantwortung der 3. Fragestellung, die sich auf die vollst~indigen MOPO-Daten von n = 56 stiitzt.

Ergebnisse

Schmerzfaktoren 2. Ordnung

Die 9 Faktoren der 3 Schmerzfrageb6gen konstituieren eine Zweifaktorl6sung, deren aufgekl/irte Varianz (Spur) 46,6% betr~igt. Die Ergebnisse sind in Tabelle 4 darge- stellt.

Der 1. Fak to r hat seine h6chste Ladung in der Skala des W H Y M P I , die das AusmaB an Behinderungen in- folge Schmerz beschreibt. I m PEQ sind die Ladungen der Faktoren 1. Ordnung ,,Uberw/iltigtsein von Schmerz" und in geringerem AusmaB auch ,,Kognitive

Schmerzbew/iltigung" von Bedeutung. Hohe Ladungen sind weiterhin in dem Fak to r des M P Q zu verzeichnen, der emotionale T6nungen intensiver Schmerz/iuBerun- gen auf sich vereinigt. Man kann diesen 1. Fak to r 2. Ordnung deshalb als ,,Beeintrdchtigung dutch intensi- yen Schmerz" bezeichnen, f/Jr dessen Kurzbezeichnung der Begriff , ,Schmerzerleben" gew/ihlt wird.

Der 2. Fak to r 1/idt hoch auf der PEQ-Skala, die I tems des emotionalen Kontrollverlustes infolge Schmerz auf sich vereinigt. F/Jr die Interpretat ion hilfreich sind die beiden W H Y M P I - S k a l e n ,,negative Zuwendung bzw. Abwendung des Par tners" und ,,langfristig negative so- zioemotionale Konsequenzen infolge Schmerz". Wir schlagen deshalb ,,sozioemotionale Konsequenzen yon Schmerz" als Faktorbezeichnung vor und w~ihlen als Kurzbegr i f f , ,Schmerzerfahrung". Die beiden Skalen des MPQ, die sensorisch-diskriminative Komponen ten der Schmerzwahrnehmung abbilden, treten in der Faktor - 16sung kaum in Erscheinung, was den explorativen Cha- rakter dieses Versuches einer Schmerzdimensionierung unterstreicht.

Schmerzfaktoren 2. Ordnung und somatische Variablen

Die 6 somatischen Variablen , ,Krankhei tss tadium", , ,Operat ionen", , ,Rheumafaktor" , , ,BSG", ,,klinische Aktivitiit" und , ,Erkrankungsdauer" sind im Verbund miteinander mit einer Wahrscheinlichkeit von 19,6% in der Lage, das AusmaB des Schmerzerlebens der Patien- ten vorherzusagen. Der entsprechende multiple Korrela- tionskoeffizient zwischen dem Kri ter ium ,,Schmerzerle- ben" und den Pr/idiktoren betr/igt r=0 ,442. In der Abb. 1 ist der Anteil der einzelnen Priidiktoren an der Vorhersage des Kri ter iums grafisch dargestellt.

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Orig ina l i en 21 1

Erkrankungungsdauer [ - -

klin. Aktlvlt~it I

Blutsenkung

Rheumafaktor poe.

rheumachirurg. OP

Krankheltsetadium

-0,4 -0,2 0 0,2 0,4 Regressionskoel lizlenten

Abb. 1. Standardisierte Partialregressionskoeffizienten (fl-Ge- wichte) der somatischen Befunde und Daten (Pr~idiktoren) hin- sichtlich der Kriterien ,,Schmerzerleben" bzw. ,,Schmerzerfah- rung" (n = 80). [] Schmerzerleben; [] Schmerzerfahrung

V Akt. ira t~,gl. Leben i [

eoziale Aktlvit~t

Akt. im Haushalt

Gesohickliohkeit

k~rperl. Aktlvlt~it

Mobllitllt

-0.4 -0,2 0

I J

0,2 0,4 Regressionskoef fizienten

Abb. 2. Standardisierte Partialregressionskoeffizienten (//-Ge- wichte) der Aktivit~itsvariablen (Pr~idiktoren) hinsichtlich der Kriterien ,,Schmerzerleben" bzw. ,,Schmerzerfahrung" (n=56). [] Schmerzerleben; [] Schmerzerfahrung

Offenbar hat die BSG den gr6Bten Anteil an der Vorher- sage. Den geringsten Anteil hat die Variable ,,Krank- heitsstadium", wenngleich dieser Effekt aufgrund der Korrelation mit dem Kriterium (r=0,432) nicht zu er- warten gewesen w~ire. Die Variablen ,,klinische Aktivi- tat" und ,,Erkrankungsdauer" gehen mit negativem Gewicht in die Vorhersage ein, d.h. dab geringere kli- nische Aktivitfit resp. Erkrankungsdauer eher mit einem gr613eren AusmaB an Schmerzerleben zusammenhfingt. SchlieBlich sei erw~ihnt, dab den Variablen ,,Operatio- nen" und ,,Erkrankungsdauer" Supressorfunktion zu- kommt.

Die Varianzanalyse best~itigt die o.g. Effektstfirke von 19,6% (MAQ=I,61 bei FG=6/73; F=2,961; p = 0,012). Es ist dagegen nicht m6glich, mit Hilfe der somatischen Variablen den Faktor 2. Ordnung ,,Schmerzerfahrung" vorherzusagen. Die multiple Korrelation betr/igt ledig- lich r=0,097, was einer Effektstfirke yon 0,9% ent- spricht. Das Ergebnis der Varianzanalyse best~itigt die Untauglichkeit der somatischen Variablen, das Ausmag an sozioemotionalen Konsequenzen yon Schmerz vor- herzusagen (MAQ = 0,760 bei FG = 6/73; F = 0,117; p = 0,993). In Abb. 1 sind die Anteile der einzelnen Varia- blen an der Vorhersage des Schmerzerlebens und der Schmerzerfahrung grafisch dargestellt worden.

Schmerzfaktoren 2. Ordnung und Aktivitdtsvariablen

Die 6 MOPO-Variablen des Krankheitsverhaltens ,,Mo- bilit~it", ,,k6rperliche und soziale Aktivit~it" sowie ,,Ge- schicklichkeit" und ,,Aktivit~iten im Haushalt bzw. im ffiglichen Leben" sind weder in der Lage, das Ausmal3 an Schmerzerleben noch an Schmerzerfahrung vorherzu- sagen. Der multiple Korrelationskoeffizient ffir das Kri- terium ,,Schmerzerleben" betr~igt r = 0,179, was einer Ef- fektsfiirke yon 3,2% entspricht. Der Anteil der einzelnen MOPO-Variablen an der Vorhersage geht aus Abb. 2 hervor. Da die Varianzanalyse der individuellen Regres- sionswerte lediglich zuf'fillige Effekte zeigt (MAQ = 0,337

bei F = 6/49; F = 0,269; p = 0,940), k6nnen die fl-Ge- wichte der Pfiidiktorvariablen nicht zuverl~issig interpre- tiert werden.

Ebenso liegen die Verh~iltnisse bei der Vorhersage des Faktors 2. Ordnung ,,Schmerzerfahrung". Der multiple Korrelationskoeffizient betr~igt r=0,327, was einer Ef- fektst~irke von 10,7% entspricht. Zwar k6nnen die Pr/i- diktoren des Krankheitsverhaltens das Kriterium ,,so- zioemotionale Konsequenzen von Schmerz" besser vor- hersagen als das Kriterium ,,Beeintr~ichtigung durch in- tensiven Schmerz", doch zeigt die Varianzanalyse keine statistisch zu sichernden Unterschiede zwischen den ge- wichteten Testscores des MOPO (MAQ=l,154 bei FG = 6/49; F = 0,977; p = 0,540). Der Anteil der einzel- hen Pfiidiktorvariablen an der Vorhersage ist in Abb. 2 grafisch dargestellt.

Diskussion

Ein wesentliches Anliegen dieser Studie bestand darin, psychologische Schmerzdimensionen zu beschreiben, die eine gr6Bere Breite und Allgemeingiiltigkeit haben als Fragebogenskalen herk6mmlicher Art. Die beiden Fak- toren ,,Schmerzerleben" und ,,Schmerzerfahrungen" sind die entsprechenden Bezeichnungen bzw. Kon- strukte. Der Faktor ,,Schmerzerleben" bezieht sich iJber- wiegend auf aktueUe Schrnerzbeschreibungen. Er be- schreibt psychische Qualit~iten von Schmerz. Er weist gewisse ,~hnlichkeit zu den von Hoppe [13] beschriebe- nen Faktoren der affektiven und sensorischen Schmerz- sprache auf und hat noch engere Beziehungen zu dem von Naliboff et al. [21] gefundenen Faktor der psycholo- gischen Anpassung an den Schmerz, welcher yon der Art der Schmerzberichte der Patienten und seiner Aktivi- t~it im Alltag konstituiert wird.

Der 2. Faktor ,,Schmerzerfahrung" beschreibt Konse- quenzen von Schmerz bzw. Bedingungen, die mit Schmerz in Zusammenhang stehen. Er ist damit einem Faktor sehr ~ihnlich, der von Naliboff et al. [21] als ,,ge- neral conditioning factor" bezeichnet wurde. Dieser

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Faktor hat vornehmlich einen Vergangenheitsbezug und ist betont behavioraler Natur. Feuerstein et al. [7] zeig- ten, dab Schmerzverhalten mit Aktivit/itsverlust (r--- 0,57) und mit verschiedenen Parametern einstellungsbe- zogener Schmerzkomponenten wie geringst mrglicher Schmerz (r=0,51) und Krankheits/iberzeugung (r= 0,36) in Zusammenhang zu bringen ist.

Wenn die von den Testautoren mitgeteilten Faktoren- strukturen von uns nicht vollst/indig repliziert werden konnten, dann hat das seine Ursache neben dem Stich- probenbias zweifelsohne in den Konnotations/inderun- gen, die mit dem Ubersetzungsvorgang zusammenh/in- gen. Die semantischen ,~hnlichkeiten, wie sie beispiels- weise von Gaston-Johansson [10] fiir die Begriffe ,,Schmerz", ,,anhaltender Schmerz" und ,,Verletzung" mitgeteilt wurden, rechtfertigen die Suche nach breiteren und generalisierbareren Schmerzfaktoren als sie den Er- hebungsinventaren zugrunde liegen, die in unserer Un- tersuchung verwendet wurden. Eine Mrglichkeit kann im hypothetisch-deduktiven Vorgehen gesehen werden, wie sie die konfirmatorische Faktorenanalyse nahelegt. Eine andere Mrglichkeit besteht in der von uns verwen- deten Analyse von Faktorr/iumen.

Gem/iB unserem Wissen fiber Schmerzberichte vom Schmerzpatienten w/ire eine Dreifaktorlrsung mit den Faktoren Schmerzerleben, Schmerzerfahrung und Schmerzwahrnehmung angemessener als die hier auf- grund der Ergebnisse des Scree-Tests pr/iferierte Zwei- faktorenlfsung. Eine solche oder /ihnlich interpretier- bare L/Ssung konnte jedoch mit dem vorliegenden Da- tenmaterial nicht identifiziert werden.

Das 2. wesentliche Ergebnis dieser Studie ist darin zu sehen, dab lediglich der Faktor ,,Schmerzerleben" mit somatischen Befunden in Zusammenhang zu bringen ist, die im Rahmen der Routinediagnostik bei RA-Patienten kontrolliert werden. Die schmerzbedingten Beeintrfichti- gungen der Patienten kfnnen mit einer Wahrschein- lichkeit von ca. 20% durch die somatischen Variablen vorhergesagt werden. Die Vorhersageleistung in dieser Hrhe wurde erst mfglich durch den Suppressoreffekt der Variablen ,,Operationen" und ,,Erkrankungsdauer". Sie korrelieren also f/Jr sich genommen nicht mit dem Schrnerzerleben, sie sind jedoch in den Variablen ,,klini- sche Aktivit/it, BSG, Rheumafaktor und Krankheitssta- dium" enthalten. Die Variablen ,,Operationen" und ,,Erkrankungsdauer" unterdr/icken in der Analyse somit jenen Anteil in den/ibrigen 4 Pr/idiktoren, der nicht zur Vorhersage beitr/igt.

Praktisch nicht mfglich ist es, aus den medizinisch-rheu- matologischen Befunden der Patienten irgendwelche so- zioemotionalen Konsequenzen ihrer Schmerzen abzulei- ten. Dieses Ergebnis ist insoweit erwartungskonform, als Schmerzerfahrungen eher den behavioralen als den so- matischen Komponenten der RA zugerechnet werden krnnen.

Viel eher w/ire ein deutlicher Zusammenhang zwischen den sozioemotionalen Konsequenzen von Schmerz (Schmerzerfahrung) und den Aktivit/itsvariablen zu er-

warten gewesen, da krankheitsbedingte Mobilit/its- und Aktivit/itseinschr/inkungen h/iufig in Wechselwirkung mit negativen sozioemotionalen Bedingungen stehen. Wenn dieser Zusammenhang in der vorliegenden Stich- probe mit einer mittleren Krankheitsdauer von 10,9 Jah- ren nicht gefunden wurde, kann der Grund u.a. in einem effektiven Arrangement der Patienten mit ihren Aktivi- tfitseinschr/inkungen gesehen werden. Der hohe negative Regressionskoeffizient der Skala ,,Aktivit/it im t/iglichen Leben" spricht dafiir. Andererseits differenzieren die MOPO-Skalen unter den besonderen Bedingungen eines Klinikaufenthaltes der Patienten m/Sglicherweise nicht hinreichend. Im Extremfall wiirden die MOPO-Skalen - das ergab die Inspektion der Interkorrelationsmatrix - lediglich eine eindimensionale Messung erlauben.

Insgesamt machen die vorliegenden Resultate deutlich, dab es mit der gr/indlichen Erhebung des somatischen Status von RA-Patienten nicht getan ist. Aus den medi- zinisch-rheumatologischen Routineparametern k/Snnen zwar Hinweise auf das Schmerzerleben der Patienten er- halten werden. Damit ist aber das Symptomspektrum der RA keineswegs abgedeckt. So forderten Frederiksen et al. [9] bereits 1978, dab die Schmerzdiagnostik im Hin- blick auf die Notwendigkeit somatischer Interventionen, im Hinblick auf die Analyse reduzierter Funktionsffihig- keit (z. B. Aktivit/itsverlust, Meidung beruflichen Enga- gements, reduzierte interpersonelle Kontakte) sowie im Hinblick auf die Modifikation der Klagsamkeit der Pa- tienten zu erfolgen habe. Eine interdisziplin/ire Zusam- menarbeit zwischen Rheumatologen und Psychologen wfirde also bereits im Stadium der Diagnostik zur Quali- t/itssicherung der Patientenversorgung beitragen. Dabei kann vom Psychologen erwartet werden, daB er sich nicht nur hinl/inglich mit Interview und Fragebogenme- thoden auskennt. Die diagnostisehe Beurteilung des di- rekt beobachtbaren Verhaltens (verbal, nonverbal, mo- torisch), des berichteten (verdeckten) Verhaltens (Kogni- tionen, Emotionen, Vorstellungen) sowie der psycho- physiologischen Funktionsabl/iufe (autonome, pyrami- dale, extrapyramidale Reaktionen) sollten nach Vor- schlfigen von Sanders [24] und Scholz [25] die medizini- sche Schmerzdiagnostik erweitern.

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Prof. Dr. O.B. Scholz Psychologisches Institut Lehrstuhl fiir Klinische und Angewandte Psychologic der Universit/it R6merstral3e 164 W-5300 Bonn 1 BRD