was hab ich dem lieben gott getan, dass ich solche...

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[email protected] „ Was hab ich dem lieben Gott getan, dass ich solche Kinder hab?“ 1 Hase Hase von Coline Serreau (1.Teil ) Ein Unterrichtsmodell für die 6. Klassenstufe Mitwirkende Mama und Papa Hase, ihre Kinder Hase, Bébert, Marie, Jeannot, Lucie sowie Gérard, Lucies Verlobter, 2 Polizisten und der Ministerpräsident ( Fernsehansprache) Thema Wenn sich im Theater der Vorhang öffnet oder der Leser das Textbuch aufschlägt, wird man in die ärmliche , jedoch recht anheimelnde Stube der Familie Hase entführt, in der sich drei Mitglieder befinden: der Papa Hase und seine Söhne Bébert und Ha- se Hase. Letzterer verleiht der Szene etwas Surreales. Halbwüchsig steht er da und plaudert mit den Außerirdischen, die ihn in diese Familie transportierten. „Ich bin auf einem fliegenden Schiff hier angekommen und die Äther haben mein schon befruchtetes Ei in die Gebärmutter meiner Mutter eingeführt.“(Hase) 2 Seinem Aussehen verdankt er seinen Namen. „..und als er draußen war, mit seinem hübschen Gesicht und seinen zwei Vorder- zähnen...“Mama 3 „Hase Hase“ war in Deutschland meistgespieltes Theaterstück der Spielzeit 1993/94. 4 1986 wurde es in Paris unter dem Titel „Lapin Lapin“ uraufgeführt, die Au- torin spielte die Rolle der Mama. Handlung: „... es geht um eine Familie, bei der die Probleme des Lebens Einzug hal- ten. Der Vater verliert seine Arbeit, die Tochter trennt sich von ihrem Mann, der ältere Sohn gehört einer extremen Gruppe an und der kleine Sohn hat Schulprobleme und ist zusätzlich nicht von dieser Welt. Außerdem gibt es noch die lieben Nachbarn, Po- lizei und Militär... Alles in allem also reichlich Stoff für komische und ernste Situatio- nen, die auch unser heutiges Leben kennzeichnen.“ 5 Die vertraute Familiensituation in einer Wohnung, die alltägliche und witzige Spra- che, die überraschenden Wendungen, die übersichtliche Zahl der Mitwirkenden und die sich furios steigernde Spannung machen vor allem den 1.Teil des Stückes auch für jüngere Schüler interessant und verständlich und ermöglichen eine erste Begeg- nung mit einem zeitgenössischen Theatertext. Intentionen Eine veränderten Kindheit 6 und das damit verbundenen frühere Heranreifen führt dazu, dass Sechstklässer das klassische Kindertheater nicht immer zu fesseln ver- mag. Die Probleme und auch die Sprache der Erwachsenenwelt gewinnen zuneh- mend mehr Einfluss auf jüngere Schüler. Mehr und mehr mache ich die Erfahrung, das „Hase Hase“ in besonderer Weise den Schülerbedürfnissen entgegen kommt. Darüber hinaus erschließen sich grundlegende Merkmale modernen Theaters (Mi- lieuschilderungen, Alltagssprache, Zeitkritik, ...) quasi nebenbei, wenn das Stück zeit- lich eingeordnet wird. Auf den ersten Seiten beinhaltet der Dialog eine Fülle von Informationen. Hier bietet sich die Möglichkeit, in arbeitsteiliger Gruppenarbeit Rollenporträts zu erstellen und zu diskutieren. Da die Charaktere kontinuierlich neue Facetten ihrer Persönlichkeit offenbaren, begleiten diese Porträts die gesamte Unterrichtseinheit und werden stän- dig ergänzt. So werden aktuelle Lebensbezüge hergestellt, denn auch im Alltag müssen wir Sichtweisen von Personen korrigieren oder erweitern. Die überraschen- den Wendungen erhalten die Lesemotivation und bieten Gelegenheit zur Hypothe- senbildung mit nachträglicher Überprüfung am Text. Da das Stück bühnenwirksam konzipiert, der Darstellerkreis übersichtlich ist und die benötigten Requisiten leicht 1

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„ Was hab ich dem lieben Gott getan, dass ich solche Kinder hab?“1 Hase Hase von Coline Serreau (1.Teil ) Ein Unterrichtsmodell für die 6. Klassenstufe Mitwirkende Mama und Papa Hase, ihre Kinder Hase, Bébert, Marie, Jeannot, Lucie sowie Gérard, Lucies Verlobter, 2 Polizisten und der Ministerpräsident ( Fernsehansprache)

Thema Wenn sich im Theater der Vorhang öffnet oder der Leser das Textbuch aufschlägt, wird man in die ärmliche , jedoch recht anheimelnde Stube der Familie Hase entführt, in der sich drei Mitglieder befinden: der Papa Hase und seine Söhne Bébert und Ha-se Hase. Letzterer verleiht der Szene etwas Surreales. Halbwüchsig steht er da und plaudert mit den Außerirdischen, die ihn in diese Familie transportierten. „Ich bin auf einem fliegenden Schiff hier angekommen und die Äther haben mein schon befruchtetes Ei in die Gebärmutter meiner Mutter eingeführt.“(Hase) 2 Seinem Aussehen verdankt er seinen Namen. „..und als er draußen war, mit seinem hübschen Gesicht und seinen zwei Vorder-zähnen...“Mama3 „Hase Hase“ war in Deutschland meistgespieltes Theaterstück der Spielzeit 1993/94.4 1986 wurde es in Paris unter dem Titel „Lapin Lapin“ uraufgeführt, die Au-torin spielte die Rolle der Mama. Handlung: „... es geht um eine Familie, bei der die Probleme des Lebens Einzug hal-ten. Der Vater verliert seine Arbeit, die Tochter trennt sich von ihrem Mann, der ältere Sohn gehört einer extremen Gruppe an und der kleine Sohn hat Schulprobleme und ist zusätzlich nicht von dieser Welt. Außerdem gibt es noch die lieben Nachbarn, Po-lizei und Militär... Alles in allem also reichlich Stoff für komische und ernste Situatio-nen, die auch unser heutiges Leben kennzeichnen.“5 Die vertraute Familiensituation in einer Wohnung, die alltägliche und witzige Spra-che, die überraschenden Wendungen, die übersichtliche Zahl der Mitwirkenden und die sich furios steigernde Spannung machen vor allem den 1.Teil des Stückes auch für jüngere Schüler interessant und verständlich und ermöglichen eine erste Begeg-nung mit einem zeitgenössischen Theatertext.

Intentionen Eine veränderten Kindheit6 und das damit verbundenen frühere Heranreifen führt dazu, dass Sechstklässer das klassische Kindertheater nicht immer zu fesseln ver-mag. Die Probleme und auch die Sprache der Erwachsenenwelt gewinnen zuneh-mend mehr Einfluss auf jüngere Schüler. Mehr und mehr mache ich die Erfahrung, das „Hase Hase“ in besonderer Weise den Schülerbedürfnissen entgegen kommt. Darüber hinaus erschließen sich grundlegende Merkmale modernen Theaters (Mi-lieuschilderungen, Alltagssprache, Zeitkritik, ...) quasi nebenbei, wenn das Stück zeit-lich eingeordnet wird. Auf den ersten Seiten beinhaltet der Dialog eine Fülle von Informationen. Hier bietet sich die Möglichkeit, in arbeitsteiliger Gruppenarbeit Rollenporträts zu erstellen und zu diskutieren. Da die Charaktere kontinuierlich neue Facetten ihrer Persönlichkeit offenbaren, begleiten diese Porträts die gesamte Unterrichtseinheit und werden stän-dig ergänzt. So werden aktuelle Lebensbezüge hergestellt, denn auch im Alltag müssen wir Sichtweisen von Personen korrigieren oder erweitern. Die überraschen-den Wendungen erhalten die Lesemotivation und bieten Gelegenheit zur Hypothe-senbildung mit nachträglicher Überprüfung am Text. Da das Stück bühnenwirksam konzipiert, der Darstellerkreis übersichtlich ist und die benötigten Requisiten leicht

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beizubringen sind, steht, zumindest einer halbszenischen Lesung, nichts im Wege. Exemplarisch hier eine Durchführungsmöglichkeit für den Auftakt des Stückes. Realisierung Die Titelfigur „Hase“ ist ein geeignetes Einstiegsmedium: ein Außerirdischer mit Ha-senzähnen in einer (vermeintlichen) Durchschnittsfamilie. Der Anfang des Stückes kann im Klassenverband gelesen werden. Hase und Bébert sind allein im Zimmer. Bébert ist am Tisch in ein Che- miebuch vertieft. Hase steht am anderen Ende des Zimmers, er mimt eine sehr lebhafte Unterhaltung mit fiktiven Partnern (den Außerirdischen! Anmerkung der Autorin) in Ranghöhe. Papa tritt ein, müde. PAPA N’Abend! Geht's? BÉBERT UND HASE Ja. PAPA Mama noch nicht zu Hause? BÉBERT UND HASE Nein. PAPA Wo ist sie denn? BÉBERT Sie ist einkaufen, glaub ich ... HASE Sie ist einkaufen. PAPA setzt sich in seinen Sessel auf der Vorderbühne. Und euch geht's gut? Mann ist das 'ne Kälte! BÉBERT Ja. Schweigen HASE zu Papa Und dir geht's? PAPA Ja Schweigen PAPA War's gut in der Schule, Hase? HASE Ja.

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PAPA Ackerst du, Bébert? BÈBERT Ja. Schweigen. Der Vater guckt auf seine Armbanduhr, dann auf die Eingangstür. Bébert vertieft sich in sein Buch. Hase träumt. PAPA für sich Eine Saukälte heute ... BÉBERT in sein Buch vertieft Das stimmt, kalt ist es. Der Vater steht auf und guckt zum Fenster raus. PAPA Hast mir nichts Besonderes zu erzählen, Hase? HASE noch immer träumend Nein ... Nichts Besonderes ... PAPA Da, ich glaub, das ist sie. Er geht zur Tür. Bébert und Hase spitzen die Ohren. Die Mama tritt ein, sie ist eine sehr dicke Frau, klein. Sie trägt zwei riesige vollgestopfte Einkaufsnetze. Von dem Moment an, in dem sie die Wohnung betritt, kommen Bébert, Hase und Papa zu ihr und reden in aller Schnelle auf sie ein. Alle verstauen die Einkäufe in die verschiedenen Schränke, Kühlschrank u. s. w.7 Ein müder Vater mit seinen maulfaulen Söhnen. Die Schüler bewerten das Gespräch und stellen fest, dass die Kommunikation stockend verläuft. Die Frage wird gestellt, ob sich die Gesprächsituation ändern wird, wenn die Mutter hinzutritt. Jetzt bietet sich die Arbeit in Kleingruppen an. Fünf Schüler (Hase, Bébert, Papa, Mama und der Leser der Regieanweisungen) verteilen die Rollen untereinander und lesen im Gruppenverband weiter. MAMA Puh, so eine Saukälte! Mistwetter, n’Abend, Papa, war's gut auf Arbeit,... BÉBERT, HASE, PAPA N’Abend, Mama ... MAMA Ich hab keine Steaks genommen, diese Schweine machen's jeden Tag teurer, Bébert, wie geht's dir? Hase, hast du deine Hausaufgaben gemacht? PAPA Oh ja, so eine Saukälte, noch dazu haben die im Betrieb nicht geheizt, sie behaupten, es sei jetzt Frühling, Mistbande, sie werden uns alle vor Kälte krepieren lassen. Was können wir dafür, dass es im Frühling

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schneit? Nur weil da Frühling im Kalender steht, müssen wir uns den Tod ho-len ... HASE Mama, meine Französischlehrerin will dich sprechen, sie sagt, dass es so nicht weitergeht, aber in Wirklichkeit geht es sehr gut. In Mathe hatte ich'ne 1, Bébert sagt, ich mache nichts im Gymnasium, aber das ist nicht wahr, in Mathe habe ich immer 'ne1, selbst ohne zu lernen, Semana ,der Schwarze, hat Charlotte auf den Mund geküsst, Robert, der war eifer- süchtig, Charlotte, die war einverstanden. BÉBERT Es geht ganz gut Mami, aber sie haben mich in ein anderes Kranken haus gesteckt, ich werde Nachtwachen machen müssen, einerseits ärgert's mich, aber andererseits ist es ein sehr interessantes Gebiet, die Reanimation, weißt du, die Typen mit Schläuchen überall, es gibt unge- fähr zwei Tote pro Nacht... PAPA Morgen müsste ich meinen dicken Pullover anziehen, aber ich finde ihn nicht. Weißt du nicht, wo er sein könnte, und dann muss ich dir noch was Wichtiges sagen ... HASE Ich habe das Buch, das du mir zum Geburtstag gekauft hast, gegen ein Mathebuch der nächsthöheren Klasse getauscht, aber mach dir keine Sorgen, wenn es dir nicht passt, verlang ich's wieder zurück. Mama, ich hab Hunger, kannst du mir nicht 'ne Stulle machen? BÉBERT Für diesen Dienst werde ich besser bezahlt, aber ich muss ein paar Bücher kaufen. Ich bräuchte drei Blaue. Ich geb sie dir zurück, im nächsten Monat mach ich Ersparnisse ... Die Mama hat die Einkäufe alle weggepackt, sie deckt den Tisch und bereitet das Essen vor. Die drei umschwirren sie wie Fliegen. MAMA Hase, stell Pfeffer und Salz hin, aber der Pullover ist mit deinen Winter-sachen zusammen weggelegt, Papa, ich leg ihn dir morgen raus, das fehlte nur noch, dass du dir den Tod holst, Bébert, bring das Brot, Hase, ich weiß, warum deine Französischlehrerin mich sprechen will, du lernst nicht Französisch ,du liest während des Unterrichts Mathebücher, ich weiß das und bin da ihrer Meinung, du sollst während ihres Unter- richts nicht andere Sachen lesen, Papa, wird es denn diesen Monat was mit deiner Lohnerhöhung? Nein, Bébert, nicht dieses Brot da, nimm das von heute morgen ... BÉBERT Ich möchte lieber das frische ... MAMA Ja, aber das von heute morgen muss vor dem frischen gegessen werden, was willst du draufhaben, Hase? HASE Käse. MAMA Nimm ein Glas Milch. BÈBERT Warum machst du ihm seine Stulle mit frischem Brot? Wir können

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uns beim Abendbrot mit dem harten rumschlagen ... MAMA Bébert, es ist dein kleiner Bruder ... Hase, gib die Butter her, zum Teufel ... HASE Also mir ist es egal, ich nehme auch das Brot von heute morgen ... MAMA Na, dann gib's schon her, was musst du mir denn Wichtiges sagen, Papa? Hase, ein Messer ... Aber wenn du Nachtwachen machst, wie schaffst du es dann tagsüber mit deinen Vorlesungen? Du wirst dich völlig fertig machen ... Hase, lass die Schokolade, die brauch ich für den Nachtisch! PAPA Na ja, ich wollte dir sagen, dass wir eine Mitteilung von der Direktion bekommen haben, wir haben nichts davon kapiert, ich hab's den Kollegen von der Gewerkschaft gezeigt, die werden's heute Abend durcharbeiten, es kann gut sein, dass Kurzarbeit auf uns zukommt und sogar... BÈBERT Aber nein, ich mach mich nicht fertig, außerdem ist es nicht jeden Abend, da mach ich mir nicht solche Sorgen, letztens habe ich einen Typen gesehen, der lief mit offener Luftröhre herum, am Hals voller Schläuche, sie ver-ständigen sich in solchen Fällen durch Zeichen, die Krankenschwestern ge-wöhnen sich sehr schnell daran ... MAMA Hier, Hase, zeig mal deine Hausaufgaben ... Was ist denn das nun wieder für eine Geschichte mit der Mitteilung der Direktion? Sie werden uns doch nicht noch Scherereien machen? Auch du wirst dich daran gewöhnen, Leute zu sehen, die überall Schläuche haben, und wenn du erst mal selbständig bist, in ei-ner schönen kleinen Praxis, siehst du Leute mit Schläuchen nie wieder, und du wirst schön dein Geld verdienen, und das ist alles, was man von einem Arzt verlangt, schön sein Geld zu verdienen, seit neun Jahren rackern wir uns dafür ab und werden uns doch jetzt nicht von einem Kerl mit Schläuchen im Hals beeindrucken lassen, Hase, mach den Fernseher an ... Hase schaltet den Fernseher an. Der Nachrichtensprecher wird von einem Schauspieler im Apparat gespielt. HASE Mama, die Französischlehrerin, die müsstest du möglichst bald sprechen, weil sonst könnt's Ärger geben, letztens habe ich einen Vortrag über Rous-seau gehalten, aber es wurde überhaupt nichts, obwohl ich ihn sehr gut vor-bereitet hatte, aber jedes Mal, wenn ich den Mund aufmachte, kamen andere Wörter raus, ich hab ihnen vom letzten Buch erzählt, das ich über den Fall Adamski gelesen habe, und ich war völlig entnervt, und die Lehrerin hat ge-sagt, ich solle mich wieder hinsetzen, aber da redete ich immer lauter, und dann weiß ich nicht mehr was passiert ist... MAMA Was ist denn das, der Fall Adamski? Gut, Essen, ich hab nichts Großartiges gekocht ... es ist alles kalt, wir essen morgen Abend besser, aber man kann diese gottverdammten Steaks nicht mehr kaufen jeden Tag werden sie teurer, was stecken sie in ihr Fleisch, Goldklumpen oder was? Bébert, mit deinen drei Blauen wird es schwierig werden, bist du sicher, dass du die Bücher brauchst? Aber natürlich, wenn dein Vater diesen Monat Lohnerhöhung be-kommt, könnte es vielleicht gehen, aber was erzählst du, Papa, was ist das für eine Geschichte mit der Mitteilung der Direktion? Haben sie dich nun erhöht ja oder was? Hase, ich will nicht, dass du die Bücher, die ich dir schenke, gegen irgendwas tauschst ... Du wirst mir den Gefallen tun, das

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Buch zurückzugeben ... und was ist bei deinem Vortrag über Rousseau denn genau passiert? HASE Na ja, ich war dabei zu reden ... MAMA Warte, sei ruhig, der Ministerpräsident spricht ...8 Zunächst sollten sich die Schüler spontan über das veränderte Gesprächsverhalten äußern. Sie werden feststellen, dass jetzt „Stimmung“ aufgekommen ist, von einer Unterhaltung, die Gesprächsregeln beachtet, allerdings nicht die Rede sein kann. Jetzt wissen wir beträchtlich mehr über die Akteure. Um die Inhalte dieses komple-xen Textes zu sichern stellen die Schüler ihr Wissen schriftlich in einem Rollenport-rait dar. Dabei kann die Ich-Form, beispielsweise „Ich bin Mama !“, oder der neutra-lere Impuls „Wer ist Mama?“ gewählt werden. Jeder Schüler kann sich entweder seiner Leserolle zuwenden und sein Ergebnis erst der Gruppe und dann der Klasse vorstellen, oder aber die Gruppen entscheiden sich für jeweils für eine Person, markieren und diskutieren die entsprechenden Textpas-sagen und wählen einen Gruppensprecher, der das Rollenporträt vorstellt. Hier Auszüge aus Schülerbeispielen: „Ich bin Mama. Ich bin eine kleine, eher dicke Frau und schätzungsweise 47 Jahre alt. Ohne mich läuft hier nichts. Ohne mich öden sie sich an. Wer würde einkaufen, wenn ich nicht da wäre? Wer würde mit allen reden? Allerdings bin ich etwas hek-tisch. Aber noch einmal klipp und klar: Ohne mich wären alle aufgeschmissen. ...“ (Claudia) In der Ich-Form trifft die Schülerin den Charakter der Mama sehr gut. Weniger geeig-net ist diese Form, um kritische Anmerkungen zu machen. Das wiederum gelingt in der neutraleren Version besser: „...Leider ist die Mama etwas oberflächlich. Sie sagt, ein Arzt muss nur ‚schön sein Geld verdienen.’ Ich dachte immer, Ärzte müssen Ihre Arbeit gut machen und den Leuten richtig helfen.“ (Gamze) Hier bietet sich die Gelegenheit, auf das Gestaltungselement der Ironie hinzuweisen. „Der Vater ist zunächst ein einsilbiger Mensch. Am Anfang ist er müde und träge, aber wenn seine Frau kommt, wird er aufgeregt. Er arbeitet in einem Betrieb und dort wird nicht geheizt. Er ist traurig, weil ihm Kurzarbeit bevorsteht. Vielleicht wird er so-gar arbeitslos...“ (Özgür, Jania, Robert, Ahmed und Mehtap) In diesem Auszug wird deutlich, dass sich die Schülergruppe bemüht hat, den Text zu deuten, denn die bevorstehende Arbeitslosigkeit wird vom Vater nicht explizit er-wähnt. „Ich bin BÉBERT. Ich bin ca.22 Jahre alt und wurde kürzlich in ein anderes Kranken-haus gesteckt. Jetzt habe ich Nachtwache in der Reanimationsabteilung. Von der Arbeit lasse ich mich aber nicht fertig machen. Bald werde ich meine eigene Praxis haben und die Typen mit den Schläuchen im Hals sehe ich nie wieder. Hof-fentlich bekommt Papa die Lohnerhöhung, denn ich bräuchte drei Blaue, um mir Bü-cher zu kaufen.“ ( Caroline) Diese Schülerarbeit ist in besonderem Maße zur Weiterarbeit geeignet, denn die Ak-teure werden noch ihr wahres Gesicht zeigen und Bébert weiß, dass sein Vater keine Lohnerhöhung bekommen wird.

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„Hase geht aufs Gymnasium. Er hat eine nette und rücksichtsvolle Art, denn er nimmt auch das alte Brot. In der Schule redet er gegen seinen Willen über andere Sachen, wahrscheinlich weil ihn die Außerirdischen ablenken. Er ist verträumt und sympathisch.“( Tanja, Alex, Gül und Güler ) Da Hase schon als Einstiegsmedium fungierte, geht das Schülerwissen über den aktuellen Text hinaus. Nach dieser Sicherung erwartet uns nun die Rede des Ministerpräsidenten. Interes-sant ist im Vorfeld die kurze Erörterung der Frage, ob der Ministerpräsident zu den Problemen, die ja nicht nur die Familie Hase betreffen werden, Stellung nehmen wird. Das Spektrum der Antworten reichte von „Politiker sagen immer, dass es keine Prob-leme gibt!“ bis „Er wird einen Plan haben, damit es den Leuten besser geht!“. MINISTERPRÄSIDENT Wir sind stolz, ihnen mitteilen zu können, dass alles gut geht, es geht alles gut, wir sind reich, wir sind stark ,wir sind intelligent, alles geht gut, wir verdienen viel Geld, wir sind überall sehr gut platziert, wir lie-ben unser Land, die ganze Welt liebt uns, wir helfen den Armen, und wir sind völlig unabhängig von denen, die reicher sind als wir, wir haben pünktliche Züge, unsere Kinder sind glücklich in der Schule, wir sind sau-ber, unsere Polizei ist korrekt und schützt die alten Leute, unser Camem-bert verkauft sich gut, alles geht gut, wir haben viel Wein, und er ist gut, alles geht gut, die Jugend kann Reisen machen, wir haben das Vergnü-gen, Ihnen mitzuteilen, dass bei uns alles gut geht, von einigen vorüberge-henden, aber sehr vorübergehenden Problemen abgesehen, geht alles gut ...9 (leicht gekürzt, Anmerkung der Autorin) C.Serreau bietet uns hier die Karikatur einer politischen Rede, im sozialkundlichen Unterricht sollten sich die Schüler mit Gehaltvollerem auseinandersetzen. Nachdem die Schüler die Rede einmal gehört, bzw. gelesen haben, ist folgende Auf-gabenstellung geeignet, um für ein genaueres Nachlesen zu motivieren: „Die Familie verfolgt die Rede. Markiere die Abschnitte, in denen sich bei den ein-zelnen Mitgliedern Wiederspruch regen könnte. Begründe deine Auswahl.“ „Ich glaube, dass sich Papa darüber ärgert, dass der Ministerpräsident sagt: ’Wir verdienen viel Geld, wir helfen den Armen’, weil auf ihn selber doch Kurzarbeit zu-kommt“.(Carlos) „Bébert wird sich darüber ärgern, das die Jugend angeblich Reisen machen kann. Er schuftet doch nachts in der Reanimationsabteilung“.(Caroline) „Eigentlich müsste sich Hase über die ganze Rede ärgern und nicht nur darüber, dass die Kinder glücklich sind in der Schule, weil er doch gerade anfangen wollte zu reden.“(Fabian) Und wie reagiert Familie Hase auf die Rede? Bébert steht auf ,rot vor Wut, er brüllt. BÉBERT Macht sofort diesen gottverdammten Scheißfernseher aus, oder ich schlag alles kurz und klein, es passiert ein Unglück, ich schlag alles kurz und klein, sie erzählen nur Schwachsinn, Schwachsinn, nichts als Schwachsinn, macht sofort diesen Fernseher aus, oder es passiert ein Unglück.. .

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MAMA steht auf. Sie schreit auch. Bébert, fang nicht wieder an, ja! Setz dich hin und iss, was du auf deinem Teller hast. Wir hören die Nachrichten. BÉBERT Unerschütterlich, stehend, schreit. Macht sofort den Scheißfernseher aus, oder ich schlag alles kurz und klein, in zwei Minuten kann mich keiner mehr zurückhalten, ich hau die- sen Fernseher in Stücke ... MAMA immer noch stehend, schreit. Hase, mach den Fernseher aus, dein Bruder Bébert fängt wieder mit seinen Geschichten an. Sie sagt das, indem sie Bébert fixiert. Hase steht auf und schaltet den Fernseher aus. Bébert setzt sich ruhig wie-der hin und isst. Schweigen. Plötzlich steht Mama auf und schreit: MAMA Bébert, zur Strafe wäschst du heute ab. Sie setzt sich wieder hin. BÉBERT schreit Ja, Mama. PAPA brüllend Könnt ihr das nicht sagen, ohne zu brüllen? MAMA blitzartig, immer schreiend im Ton des Vorwurfes zum Vater Ein Saustall ist das hier. Alle essen schweigend. BÉBERT Hier ist überhaupt kein Saustall. Ich brülle, weil sie in diesem Fernseher nur Schwachsinn erzählen. MAMA Was heißt denn hier >nur Schwachsinn<? Ist das Schwachsinn, zu sagen , dass wir bei uns gute Sachen haben? Dass wir Sachen herstellen, die sich gut verkaufen? BÉBERT Mama, du weißt sehr gut, dass es Schwachsinn ist. Du weißt sehr gut, dass alles schlecht geht MAMA Gut, dass stimmt, alles geht verquer, aber ist das ein Grund, es im Fernse-her zu sagen? BÉBERT

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Mama, du bist wieder einmal völlig unlogisch. MAMA Oh Bébert, bloß weil du studierst, hast du noch lange kein Recht, mich zu beschimpfen. BÉBERT Also da haben wir's, ich beschimpfe sie! MAMA Ja Bébert, du beschimpfst deine Mutter. Ich bin unlogisch, einverstanden, aber in der Scheiße, da steck ich den lieben langen Tag bis zum Hals, seit dem Tag, an dem du, mein Altester, geboren wurdest, und da hab ich es am Abend, wenn ich mit meiner kleinen Familie in Ruhe Abendbrot esse, gern, fröhliche Dinge im Fernsehen zu hören. Das ist alles. Außerdem stecken wir denn doch nicht so tief in der Scheiße. Dein Vater hat Arbeit, du, du wirst Arzt, dein Bruder Jeannot hat eine gute Stellung im Ausland, er ist ver-lobt, deine Schwester Marie ist gut verheiratet, Hase ist auf dem Gymnasi-um, er hat die Realschule geschafft, deine Schwester Lucie heiratet einen ernsthaften Jungen, und ich bin bei bester Gesundheit, was willst du mehr? Denk an die kleinen Chinesen, die kein Brot haben! BÉBERT Aber sie essen kein Brot, die Chinesen, sie essen Reis, Mama. MAMA Ein Grund mehr. BÉBERT Ein Grund mehr was? MAMA Ein Grund mehr, das ist alles. Iss Bébert, es wird kalt. BÉBERT Wie soll es denn kalt werden, es ist ja ein kaltes Essen. MAMA Bébert, das sagst du aus reinem Widerspruchsgeist. Bébert gibt den Kampf auf. Er isst. Schweigen. Es klingelt.10 Die Meinung der Schülerin Gamze (s.O), die Mama sei etwas oberflächlich, findet in diesem Textausschnitt Bestätigung. Es klingelt. Welch ein bewährtes und nie versagendes Spannungsmittel! Wer könnte das sein? Die Schüler überlegen in Gruppen. Sie entscheiden, ob es ein Familienmitglied ist ( vgl. Mitwirkende ) oder jemand anderes. Mit dieser Aufgabe können wir das Leseverständnis der Schüler prüfen. Sie entwerfen eine kurze Fort-setzung. Als Schreibhilfe kann der Originalsatz der Mama vorgegeben werden: MAMA Hase, geh aufmachen, frag aber wer da ist, falls es die Gerichtsvollzieher sind. Hase geht zur Eingangstür raus, er kommt einen Moment später wieder. Hase - - -

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Hier zwei Beispiele: 1. Hase: Der Pizzaservice ist da. Was soll ich machen? Mama geht zur Tür. Pizzaservice: 7.90 € bitte! Mama: Hase, tritt ihn gegen das Schienenbein, Bébert, fang die Pizza! Mama schmeißt die Tür. Papa: Warum habt ihr die Pizza nicht einfach bezahlt? Mama: Na, wenn du eine Lohnerhöhung bekommen hättest, dann hätten wir sie auch einfach bezahlen können. Papa: Wie soll ich denn eine Lohnerhöhung bekommen in diesem Scheißbetrieb? 2. Hase: Es ist Marie! Mama: Marie!!! Marie: Es ist so schrecklich! Mama: Setz dich hin, iss und erzähl!! Marie: Es ist so schrecklich, mein Alter betrügt mich! Mama: Daran wirst du dich gewöhnen. Iss. Papa: Nu mal ruhig. Was ist denn genau passiert? Marie (schluchzt): Also, neulich kam er aus dem Swinger-Club und gestern erwischte ich ihn mit unserer Nachbarin. In meinem Ehebett!! Bébert: Hab’ ich’s dir nicht gleich gesagt? Er ist nicht der Richtige! In den Beispielen wird deutlich, dass die Schüler ein adäquates Textverständnis er-worben haben. Ebenso passen sie sich stilistisch der Sprache der literarischen Vor-lage an. Die erste Gruppe betont den lebenstüchtig-raffinierten Charakter der Mama und erinnert die Arbeitsplatzprobleme des Papas. Intuitiv werden im 2. Beispiel die Eheprobleme der Schwester Marie antizipiert, diese wird tatsächlich ihren Mann ver-lassen.

Schlussbetrachtung und Ausblick Der Auftakt des Stückes war anregend und forderte Leseverständnis und -fertigkeit auf hohem Niveau. Die Schüler bündelten den komplexen Sprechtext der einzelnen Figuren, indem sie Rollenporträts verfassten, sie hatten die Gelegenheit, eigene Vor-stellungen, Bilder und Interpretationsansätze mündlich und schriftlich zu verbalisie-ren. Sie reflektierten über familiäre Gesprächsstrategien und wurden am Ende des beschriebenen Ausschnittes zu Autoren, die eine mögliche Fortsetzung erdachten. Die Motivation für die Weiterarbeit dürfte gewährleistet sein und der Fortgang der Handlung wird die jungen Leser nicht enttäuschen. Der Bruder Jeanot taucht mit zwei Koffern auf, die Sprengmaterial enthielten. Er ist Mitglied einer terroristischen Vereinigung, die Mutter wähnt ihn in Belgien, als Dolmetscher bei der EG. Papa ist längst arbeitslos, Hase ist vom Gymnasium geflogen, die Schwester Lucie hat bei der Eheschließung „nein“ gesagt und Bébert betreibt Waffenhandel. Marie kommt und teilt allen mit, dass sie ihren Mann verlassen hat, weil er zu ihr sagte: „Reich mir das Salz.“ 11Alle bevölkern die enge Wohnung.

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Das Rollenporträt Hase kann nach der Lektüre seines Monologes 12 vervollständigt werden . „ Ich weiß jetzt, dass Hase ein Heilmittel für alle unsere Probleme hätte und dass er Katastrophen voraussieht. Auf seinem Planeten interessiert man sich nicht so fürs Geld, das haben sie schon. Wenn wir nicht so viel ans Geld denken würden, hätten wir weniger Probleme.“ (Fabian) Auch werden wir unsere Sichtweise bezüglich der Mama korrigieren müssen. Diese haben wir bis jetzt für eher oberflächlich und raffiniert gehalten. Ihr Monolog, den sie hält, nachdem ihre Scheinwelt zusammengebrochen ist, zeigt Tiefe und see-lische Wahrhaftigkeit. Spätestens jetzt erhebt sich das Stück aus der Genrezeich-nung und rechtfertigt seinen Bühnenerfolg . MAMA Die Tage meiner Jugend, ich weiß, dass sie vergangen sind.. aber wann? Wie? Ich will Ihnen sagen, was mich traurig macht, nicht Maries Scheidung, Lu-cies verpatzte Heirat, dass Hase rausgeschmissen, Papa arbeitslos und Jean-not ein Terrorist...Was mich traurig macht, ist diese graue Gipsschicht, die mir den Körper und das Leben ganz bedeckt hat, so dass mich niemand mehr sieht.13 Anmerkungen: 1 Mama in „Hase Hase“ von Coline Serreau S.35f Alle Textzitate beziehen sich auf: Hrsg.: Staatliche Schauspielbühnen Berlin, Programmbuch 31, Mai 1992 2 aaO S.21 3 aaO S.64 4 http://www.guckkasten.de/Stücke/Hase.html 5 ebenda 6 vgl.:http://www.uni-wuerzburg.de/sopaed1/koch/kindheit/litvor.htm 7 aaO S.9f 8 aaO S.10ff 9 aaO S.14 10 aaO S.14ff 11 aaO S.35 12 aaO S.21f 13 aaO S.49

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