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Von Erscheinungsbildern zu Grundformen seelischen Krankseins Von M. BLEULER (Nach einer am 9. Januar 1943 gehaltenen Antrittsvorlesung an der Zürcher Universität) Wenn das Ziel des ärztlichen Handelns das Heilen ist, so steht an seinem Anfang das Beobachten. Die Brücke zu schlagen zwischen Beobachten und Heilen erwies sich in der Psychiatrie als ganz besonders schwierig. Die Trag- pfeiler dieser Brücke sollte die Einteilung der beobachteten krankhaften Er- scheinungsbilder in Krankheitseinheiten schaffen. Solche Krankheitseinhei- ten sind der Ausdruck dafür, dass zwischen der Art der Erscheinungsbilder und den Ursachen des Krankseins Beziehungen erkannt wurden, dass aus dem Beobachteten auf das Wesen der Krankheit und damit auch auf ihre Beeinflussbarkeit durch die Behandlung zurückgeschlossen werden kann. Heute habe ich mir zur Aufgab e gestellt, Ihnen vom erbitterten Ringen der Psychiatrie zu berichten, das sie um das Ordnen der krankhaften Er- scheinungsbilder und so auch um die Erkennung der Krankheitsursachen und der Behandlungsmöglichkeiten führte. Vorerst habe ich Ihnen Miss- erfolge zu nennen, Misserfolge, die sich vor allem aus dem naheliegenden Versuche ergaben, die Erscheinungsbilder nur nach ihren äusseren, sozialen Kennzeichen einzuteilen und die Gesamtheit seelischer Äusserungen dabei unberücksichtigt zu lassen. Vor allem aber habe ich Ihnen darzulegen, dass es schlussendlich doch gelungen ist, wenn auch nicht zahlreiche natürliche Krankheitseinheiten, so doch einige Grundformen des seelischen Krankseins herauszuschälen, nach denen sich die unübersehbare Mannigf alt der see- lischen Erscheinungsbilder gemäss ihrem biologischen Wesen natürlich ord- nen lässt. Diese Lehre von der ursächlichen Eindeutig- keit einiger weniger Grundformen des seelischen Krankseins hat nun die Brücke vom Beobachten zum Heilen in der Psychiatrie geschlagen. Erst in den letzten zwei Jahrzehnten ist sie ganz im Stillen zu etwas Ganzem und Fertigem aus- gereift, so dass sie heute zur zusammenfassenden Darstellung auffordert. In den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts schilderte der grosse fran- zösische Arzt PINEL, einer der Schöpfer der wissenschaftlichen Psychiatrie, in seinem Werke, das er «Abhandlung über die Geistesverwirrung» nannte, eine recht anschauliche Episode aus der französischen Revolution: ein wü- tender Volkshaufe, der soeben die Gefängnisse entleert hatte, begab sich in ein Irrenhaus, um auch dort nach eingekerkerten Opfern der Tyrannei zu suchen. Er fand denn auch wirklich einen Mann in Ketten, der ihm vernünf- tig und besonnen Red und Antwort stand. Der Verdacht der Menge schien gerechtfertigt. Den Beschwörungen der anwesenden Pfleger zum Trotz be-

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Page 1: Von Erscheinungsbildern zu Grundformen seelischen Krankseins · 2014. 3. 23. · Ursachenlehre der Psychiatrie — skizziere: Die erste Unterscheidung, auf die sich die heutige Systematik

Von Erscheinungsbildern zu Grundformenseelischen Krankseins

Von

M. BLEULER(Nach einer am 9. Januar 1943 gehaltenen Antrittsvorlesung an der Zürcher Universität)

Wenn das Ziel des ärztlichen Handelns das Heilen ist, so steht an seinemAnfang das Beobachten. Die Brücke zu schlagen zwischen Beobachten undHeilen erwies sich in der Psychiatrie als ganz besonders schwierig. Die Trag-pfeiler dieser Brücke sollte die Einteilung der beobachteten krankhaften Er-scheinungsbilder in Krankheitseinheiten schaffen. Solche Krankheitseinhei-ten sind der Ausdruck dafür, dass zwischen der Art der Erscheinungsbilderund den Ursachen des Krankseins Beziehungen erkannt wurden, dass ausdem Beobachteten auf das Wesen der Krankheit und damit auch auf ihreBeeinflussbarkeit durch die Behandlung zurückgeschlossen werden kann.

Heute habe ich mir zur Aufgab e gestellt, Ihnen vom erbitterten Ringender Psychiatrie zu berichten, das sie um das Ordnen der krankhaften Er-scheinungsbilder und so auch um die Erkennung der Krankheitsursachenund der Behandlungsmöglichkeiten führte. Vorerst habe ich Ihnen Miss-erfolge zu nennen, Misserfolge, die sich vor allem aus dem naheliegendenVersuche ergaben, die Erscheinungsbilder nur nach ihren äusseren, sozialenKennzeichen einzuteilen und die Gesamtheit seelischer Äusserungen dabeiunberücksichtigt zu lassen. Vor allem aber habe ich Ihnen darzulegen, dasses schlussendlich doch gelungen ist, wenn auch nicht zahlreiche natürlicheKrankheitseinheiten, so doch einige Grundformen des seelischen Krankseinsherauszuschälen, nach denen sich die unübersehbare Mannigf alt der see-lischen Erscheinungsbilder gemäss ihrem biologischen Wesen natürlich ord-nen lässt. Diese Lehre von der ursächlichen Eindeutig-keit einiger weniger Grundformen des seelischenKrankseins hat nun die Brücke vom Beobachten zumHeilen in der Psychiatrie geschlagen. Erst in den letztenzwei Jahrzehnten ist sie ganz im Stillen zu etwas Ganzem und Fertigem aus-gereift, so dass sie heute zur zusammenfassenden Darstellung auffordert.

In den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts schilderte der grosse fran-zösische Arzt PINEL, einer der Schöpfer der wissenschaftlichen Psychiatrie,in seinem Werke, das er «Abhandlung über die Geistesverwirrung» nannte,eine recht anschauliche Episode aus der französischen Revolution: ein wü-tender Volkshaufe, der soeben die Gefängnisse entleert hatte, begab sich inein Irrenhaus, um auch dort nach eingekerkerten Opfern der Tyrannei zusuchen. Er fand denn auch wirklich einen Mann in Ketten, der ihm vernünf-tig und besonnen Red und Antwort stand. Der Verdacht der Menge schiengerechtfertigt. Den Beschwörungen der anwesenden Pfleger zum Trotz be-

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freite sie ihn und trug ihn im Triumph auf ihren Schultern durch die Strassen.Plötzlich und unvermittelt aber entriss der Kranke einem seiner Befreierden Degen, stürzte sich blindlings auf die Umstehenden und richtete einfurchtbares Blutbad an. — PINEL glaubte in dieser plötzlichen, sinnlosenGewalttätigkeit bei völliger Besonnenheit den Ausdruck einer besonderenKrankheit sehen zu können. Er nannte sie Manie sans délire. — ZwanzigJahre später umschrieb ESQUIROL an Hand dieses und ähnlicher Fälle dasKrankheitsbild der Monomanie homicide und war wie PINEL der Überzeu-gung, eine in ihrem Wesen selbständige Krankheit erfasst zu haben.

Dieses Unterfangen von PINEL und ESQUIROL steht am Anfang einer wis-senschaftlichen Entwicklung, die die Psychiatrie ein Jahrhundert lang be-herrschen sollte und die bis zum heutigen Tage Einfluss auf unser ärztlichesDenken nimmt: sie gipfelt in der Hoffnung, dass Erscheinungsbilder see-lischen Krankseins (in unserem Beispiel der Drang zum Töten) nur in ihrersozialen Bedeutung zergliedert werden müssten, um die Erkennung vonKrankheitseinheiten zu ermöglichen. Zweifellos stand diese Hoffnung ur-sprünglich in irgendeinem Zusammenhang mit den grandiosen ErfolgenLINNÉ's: wie er durch die einfache Betrachtung von Form und Farbe zueinem System der Tier- und Pflanzenwelt gelangte, so sollte die einfachesoziale Wertung krankhafter Erscheinungsbilder zu einem System der see-lischen Krankheiten führen.

Die alten systematischen Bestrebungen hätten aber die Gültigkeit desSatzes vorausgesetzt: «Ein (äusseres) psychisches Erscheinungsbild — eineUrsache». Vor der klinischen Erfahrung von anderthalb Jahrhunderten hatsich das Gegenteil als richtig erwiesen: «Ein psychisches Erscheinungsbild— mancherlei Ursachen». Und umgekehrt: «Eine Ursache — mancherleiErscheinungsbilder».

Weshalb dem so sein muss, ist heute leicht zu verstehen: jede Schädigung,jeder Reiz, der die Psyche trifft, wird sofort in Beziehung gesetzt zu allenFunktionen, die die Psyche ausmachen, zur Gesamtheit der Erinnerungen,der Vorstellungen und der Strebungen. Und die Reaktion erfolgt angemessenzur Bedeutung des neuen Reizes für unsere Strebungen, so wie sich dieseBedeutung nach einer intellektuellen Verarbeitung des Reizerlebnisses füruns darstellt. Die Schreckhaftigkeit ein und desselben Ereignisses z. B. hängtganz davon ab, ob und wie wir es schon früher erlebt haben, was wir im ge-gebenen Augenblick erwarten, befürchten und erhoffen. Kurz: in jede psy-chische Reaktion flicht sich die Psyche als Ganzes ein. Die G a n z h e i t s -f unk t i o n des Seelischen erklärt, weshalb ein und dieselbe Schä-digung die allerverschiedensten psychischen Folgen haben kann.

So kann denn auch umgekehrt ein und dieselbe soziale Handlung die ver-schiedensten Ursachen haben: der Kranke PINEL'S kann vielleicht getötethaben, weil er die Situation aus einem intellektuellen Defekt heraus nichtverstand, vielleicht hat er sie aus einem Wahnsystem heraus umgedeutet,vielleicht war er ein Schizophrener, der im Töten irgendeine symbolhafte

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Handlung beging, an deren wirklicher Bedeutung er vorbeidachte, vielleichtlitt er an gesteigerter Erregbarkeit. Jedenfalls ermöglicht die soziale Be-deutung seines Tuns allein noch keine Rückschlüsse auf dessen psycholo-gische Voraussetzungen, geschweige denn auf dessen Ursachen.

So selbstverständlich uns das alles heute klingt, so hat sich die Neuzeitdoch nicht ganz von dem allzu einfachen Schliessen aus äusseren Erschei-nungsbildern auf Krankheitseinheiten freigemacht. Beispielsweise wird auchheute noch zu Unrecht angenommen, dass es eine Kleptomanie, eine krank-hafte Stehlsucht, von biologisch und auch forensisch einheitlicher Bedeutunggebe, die einzig durch den sozialen Tatbestand des Stehlens um des Stehlenswillen zu umschreiben wäre. — Vor allem aber hat die alte Betrachtungs-weise Triumphe gefeiert, nachdem ihr KRAEPELIN in seinem System derGeisteskrankheiten einen grossen Einfluss belassen hatte. Es ist ein unver-gängliches Verdienst KRAEPELIN's, neben den seelischen Erscheinungsbil-dern die Krankheitsverläufe und die körperlichen Begleiterscheinungen derGeisteskrankheiten mitberücksichtigt zu haben. Wenn er aber vom Bestre-ben nicht loskam, jeder einzelnen krankmachenden Ursache ein gewisser-massen spezifisches seelisches Erscheinungsbild zuzuschreiben, so ist seineSystematik gerade in diesem Punkte heute unhaltbar geworden. Ich brauchedas nur am Beispiel der progressiven Paralyse, die ja immer noch als klas-sische Krankheitseinheit angeführt wird, zu versinnbildlichen: Wir müssenuns mit der Tatsache abfinden, dass sie sich zwar körperlich durch die diffusesyphilitische Hirnentzündung scharf umschreiben lässt, dass ihr aber keinauch nur annähernd spezifisches seelisches Erscheinungsbild entspricht. Dasklassische Erscheinungsbild der Paralyse, die gehobene Grundstimmung,mit unsinnigen, sich selbst übersteigernden Grössenideen, Hemmungslosig-keit und Urteilsschwäche, ist nur eine und nicht einmal die häufigste Form,in der sich die paralytische Hirnkrankheit seelisch äussert. Sehr oft verläuftsie auch unter Erscheinungsbildern, die sich von solchen bei Altersblödsinn,bei Melancholie und bei Schizophrenie kaum unterscheiden. Also: «Eine Ur-sache — mancherlei psychische Erscheinungsbilder». Umgekehrt findet sichdas klassische psychische Erscheinungsbild der Paralyse häufig ursächlichganz anders bedingt: bei Hirnarteriosklerose, degenerativen Hirnkrank-heiten u. a. m. «Ein psychisches Erscheinungsbild — mancherlei Ursachen».— Wir könnten die Psychiatrie von vorne nach hinten und von hinten nachvorne durchstöbern — vergeblich würden wir ein einziges Krankheitsbildsuchen, das sich nicht ähnlich zerpflücken liesse wie dasjenige der progres-siven Paralyse.

So hat WERNICKE auch nach der allgemeinen Anerkennung von KRAEPE;

LIN'S Systematik noch lange Jahre hindurch recht behalten, wenn er 1899 dieKlassifikation der Geisteskrankheiten als «das Schmerzenskind der Psy-chiatrie» bezeichnet hatte. Es fehlte in der Folgezeit nicht an resignierendenStimmen, die jedes Ordnen, jedes einheitliche Betrachten der seelischenKrankheitserscheinungen als naturfremd, eitel und aussichtslos verwarfen.

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Ihnen zum Trotze durfte aber die Psychiatrie nicht auf eine Systematik ver-zichten: denn nur auf Grund eines Ordnens der seelischen Krankheits-erscheinungen konnte ja der Zusammenhang zwischen bestimmten Schädi-gungen und bestimmten krankhaften Äusserungen untersucht werden, demkausalen Denken musste das ordnende Denken vorausgehen.

Wenn wir nun heute das psychiatrische Wissen überblicken, so dürfenwir getrost feststellen, dass die Klassifikation der seelischen Störungen keinSchmerzenskind mehr ist, dass sich vielmehr das natürliche Gefüge einersolchen Klassifikation endlich deutlich abzeichnet und dass die gewonneneSystematik dem kausalen Denken und Forschen eine Grundlage gegeben hat.

Das Gefüge der psychiatrischen Systematik konnte erst errichtet werden,nachdem sich einerseits der Blick vom hervorstechenden seelischen Einzel-symptom, dem Töten in unserem Beispiel, einer Wahnidee in anderen Bei-spielen, abgewandt hatte und nachdem statt dessen das ganze seelische Zu-standsbild berücksichtigt wurde, namentlich auch die psychischen Elemen-tarfunktionen des Wahrnehmens, Erinnerns, Denkens und Fühlens. Ander-seits durfte auch die Schädigung nicht mehr als Einzelerscheinung betrachtetwerden, sondern es galt zu prüfen, in welcher Art sie die physiologischenVoraussetzungen der psychischen Funktion störte, es musste gewissermassenstatt der Einzelschädigung die Art ihrer Angriffsebene in Rechnung gestelltwerden. — Ich will versuchen, diese allzu abstrakten Feststellungen sogleichzu erhärten, indem ich in kurzen Zügen das Grundgerüst unserer heutigenpsychiatrischen Systematik — und damit gleichzeitig das Grundgerüst derUrsachenlehre der Psychiatrie — skizziere:

Die erste Unterscheidung, auf die sich die heutige Systematik aufbaut,betrifft die seelischen Störungen mit und ohne H i r n e r k r a n k u n g.Mancherlei Schädigungen, die zu seelischem Kranksein führen, wirken da-durch, dass sie die Hirnstruktur stören, andere aber lassen die Hirnstrukturunverändert. Diese Unterscheidung hört sich heute simpel, fast als Binsen-wahrheit an. Aber es brauchte eine jahrhundertelange wissenschaftliche Ent-wicklung, bis alle philosophischen, klinischen und anatomischen Irrtümer,die ihr im Wege standen, beseitigt waren. Nachdem einmal die Bedeutungdes Hirns für die psychische Funktion erkannt worden war, ist sie jahr-zehntelang unzulässig verallgemeinert worden. Aus der Verletzlichkeit derseelischen Funktionen auf dem Wege über die Hirnstruktur schloss man vor-eilig, dass die seelische Funktion einzig auf der dem Auge erkennbarenHirnstruktur beruhe. Erst das Fehlen von erklärenden Veränderungen amHirne vieler Geisteskranker brachte die Besinnung darauf, dass die psychi-schen Funktionen noch andere Voraussetzungen haben müssen als bloss dieUnversehrtheit des Hirns. So gut wie das Leben selbst die anatomischeStruktur zur Voraussetzung hat, aber nicht durch die anatomische Strukturrestlos erklärt werden kann, so gut ist die Hirnstruktur eine Voraussetzung,aber nicht die einzige Voraussetzung für die Seele.

Das Herausheben der geistigen Störungen zufolge von Hirnschädigung aus

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der Fülle anderer geistiger Krankheitserscheinungen war der erste grosseSchritt zur natürlichen psychiatrischen Systematik. Wenn man nun aber dieEinzelschädigungen, die auf das Hirn wirken konnten, säuberlich nach Ver-letzungen, Vergiftungen, Infektionen, Altersfolgen usw. einteilen wollte, ge-riete man wieder in eine Sackgasse und fände keineswegs, dass irgendeinerdieser Schädigungen ein auch nur einigermassen charakteristisches see-lisches Krankheitsbild entsprochen hätte. Hingegen genügte es, die Hirn-schädigungen nach allgemeineren Gesichtspunkten einzuteilen in chronischeund akute, diffuse und lokale, um sofort am Ziel zu sein. Der akuten, derchronischen, der diffusen und der lokalen Hirnschädigung entsprechen klarumgrenzbare Grundformen seelischer Störungen und von dieser Feststellungaus beginnt sich das naturgegebene System der Psychiatrie aufzurollen.

Am längsten bekannt sind diepsychischenFolgender dauer-haften, diffusen Hirnschädigung, die man unter der Etikettedes organischen Psychosyndroms, oder, gleichbedeutend, des amnestischenoder KoRsAKow'schen Syndroms zusammenfasst. Diese Folgen sind grund-sätzlich dieselben, ob die Schädigung durch einen Unfall, durch ein Gift,durch Infektionen, durch Altersrückbildung bedingt sei, ob diffuse kleineBlutungen, eine diffuse Entzündung, eine diffuse Degeneration den Hirn-schaden setzen. Für die Prägung des Krankheitsbildes kommt es einzig dar-auf an, dass das Hirn chronisch und diffus geschädigt ist. Umgekehrt setzt diediffuse chronische Hirnschädigung immer dieselbe Grundform geistigenKrankseins, nämlich das psychoorganische Syndrom und niemals anders-artige Geisteskrankheiten.

Dieses psychoorganische Syndrom ist hauptsächlich durch Störungen desErinnerns, des Denkens und des Fühlens charakterisiert. Das Erinnern wirderschwert, besonders für frische Eindrücke. Das Denken leidet unter einerzu geringen Gegenwärtigkeit der Einzelvorstellungen, es wird schwerbesinn-lich, bleibt an einer einmal vorhandenen Vorstellung haften, übersieht dasWesentliche, um sich in Allgemeinheiten oder umgekehrt in belanglosenEinzelheiten zu verlieren. Die Gefühlsregungen auf Ausseneindrücke werdenzu labil, es tritt eine übersteigerte Rührseligkeit, Reizbarkeit und Suggesti-bilität auf, gleichzeitig aber verflachen und erstarren die spontanen Gefühls-äusserungen Hand in Hand mit der Verarmung der spontanen Erinnerungenund Vorstellungen. Dazu gesellen sich weitere Kennzeichen von mehr sekun-därer Bedeutung.

Zu Unrecht werden immer noch die seelischen Erscheinungsbilder derchronischen diffusen Hirnkrankheiten jedes für sich beschrieben, als objedem von ihnen irgend etwas Besonderes eigen wäre. In Wirklichkeit gibtes nur ein einziges seelisches Erscheinungsbild der diffusen chronischenHirnkrankheiten, eben das psychoorganische Syndrom. Dieser einen Grund-form seelischen Krankseins fügen sich die seelischen chronischen Folgenvon Altersschwachsinn, Hirnverletzung, syphilitischer und anderer Hirn-entzündungen, Hirnvergiftung und aller anderen strukturellen Störungendes Hirns zwanglos ein. (Nur der Verlauf dieser Krankheiten, nicht ihre Ein-

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zelkennzeichen, wird insofern durch die Art der Schädigung geformt, als fürjede dieser Schädigungen eine besondere Zeitfolge der Einwirkung charak-teristisch ist, langsames, stetiges Fortschreiten z. B. für den Altersblödsinn,Fortschreiten in kleinen, immer wiederholten Schüben für die Folgen derdiffusen Hirnarteriosklerose, langsame Besserung nach einmaliger Schädi-gung bei Hirnverletzungen usw.)

Es bedeutet einen besonderen Fortschritt der modernen Psychiatrie, dassnicht nur das vollentwickelte psychoorganische Syndrom erkannt und aufeine diffuse chronische Hirnschädigung zurückgeführt werden kann, sondernauch das leichte und beginnende psychoorganische Syndrom, das bis vorkurzem gänzlich verkannt worden ist. Beim leichten psychoorganischen Syn-drom werden die seelischen Störungen erst unter besonderen Bedingungen,gewissermassen bei Provokation erkennbar. So treten sie namentlich an denTag im Zorn, in Angst und Hast, überhaupt bei heftigen Gefühlsaufwallun-gen, dann bei körperlicher und seelischer Ermüdung, unter dem Einfluss vonGiften (z. B. in der veränderten Ansprechbarkeit auf Alkohol), endlich unterallen Bedingungen, die die Blutzufuhr zum Hirn vermehren, wie vornüber-gebeugte Haltung, starke Sonnenbestrahlung usw. Dieses leichte nur aufProvokation deutliche psychoorganische Syndrom ist im Zusammenhang mitder Begutachtung von Schädelverletzten am genauesten untersucht worden.Man vergisst aber heute noch häufig, dass die leichten seelischen Folgen vonHirnverletzungen nicht etwa spezifisch, sondern vollkommen wesensgleichsind mit den leichten psychischen Folgen zahlloser anderer diffuser Hirn-schädigungen. So fallen sie vollkommen zusammen mit dem sog. pseudo-neurasthenischen Vorstadium der Paralyse, mit den psychischen Folgen voneitrigen Hirnhaut- und Hirnentzündungen, mit den leichten psychischen Be-gleiterscheinungen der multiplen Sklerose, der Tabes dorsalis und mit denFolgen eklamptischer Psychosen des Wochenbettes. Alle diese Störungensind auch wesensgleich mit den ersten, leichten Folgen von chronischen Ver-giftungen, die das Nervensystem angreifen, z. B. mit Schwermetallen undLösungsmitteln, vor allem auch mit den Persönlichkeitsschädigungen, dieein chronischer Alkoholismus setzt. Endlich fallen sie zusammen mit denInitiälsymptomen des Greisenschwachsinns. Die Erkenntnis, dass die see-lischen Folgen auch einer leichten chronischen Hirnschädigung grundsätz-lich immer dieselben sind, wenn auch die ursprüngliche Noxe eine ganz ver-schiedene ist, bedeutet eine erhebliche Vereinfachung des ärztlichen Wis-sens. Sie verdient es, mehr berücksichtigt zu werden als bisher, so dass mannicht mehr ein und dasselbe, nämlich ein abortives psychoorganisches Syn-drom, unter hundert verschiedenen iïberschriften darzustellen braucht.

Soviel über die seelischen Folgen der c h r o n i s c h en d i f f us en Hirn-schädigungen. Die seelischen Erscheinungsbilder bei akut en strukturellenund funktionellen Hirnschädigungen lassen sich nicht minder einheitlich be-trachten. Wir verdanken ihre Kenntnis vor allem BONHOEFFER, der sie alsden akuten exogenen Reaktionstypus zusammengefasst hat.Es sind ihm vorerst Störungen des Bewusstseins eigen, von leichter Benom-

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menheit bis tiefer Bewusstlosigkeit. In den Benommenheitszuständen kön-nen alle intellektuellen Funktionen, Wahrnehmen, Erinnern, Denken, un-zusammenhängend und traumhaft werden. Im einzelnen können sie gleich-artig gestört sein wie beim psychoorganischen Syndrom, aber die Störungist ungleichmässig, betrifft bald diesen, bald jenen Gedankengang, schwanktzeitlich wie auch der Grad der Bewusstseinstrübung von Minute zu Minute,so dass ein Bild ungemeiner Wechselhaftigkeit entsteht. Es wird dadurchnoch farbiger, als auch die gefühlsmässige Ansprechbarkeit zwischen ex-tremer Apathie und extremer Reizbarkeit schwankt. Verstimmungen, soeuphorische und ängstliche, kommen dazu. Solche Zustände sind uns z. B.bei fiebernden Kindern besonders vertraut, die plötzlich aus anscheinenderseelischer Gesundheit hinübergleiten können in Delirien, in denen sie dieUmgebung z. T. noch richtig deuten, aber doch dem Wolf, der abgebildet ander Wand hängt, Wirklichkeitswert zusprechen und plötzlich etwa vollerVerzweiflung sehen, dass er auf sie zukommt. Bei 'schweren Grundkrank-heiten kann der deliriöse Zustand in ein tiefes Coma und schliesslich in denTod übergehen, bei leichten sich rasch wieder lösen, wenn man z. B. demKind nur tröstend zuspricht. Rückblickend sind für Zustände des akutenexogenen Reaktionstypus Gedächtnislücken charakteristisch.

Der akute exogene Reaktionstypus ist als seelische Folge einzelner akutbedingter Störungen der Hirnfunktion längst bekannt. Neu ist nur wiederdie bedeutungsvolle Erkenntnis, dass jede akute Hirnfunktionsstörunggrundsätzlich genau dieselbe seelische Störung bedingt, nämlich immer undausschliesslich eine deliriöse Erkrankung vom akuten exogenen Reaktions-typus. Auch hier gibt es keine Spezifität des seelischen Erscheinungsbildesje nach einer bestimmten Einzelursache. Die verschiedensten Ursachen, diedie Hirnfunktion akut stören, wirken gleichsinnig: die akuten Vergiftungenaller Art, Hirnverletzungen, akute Infektionskrankheiten, akute degenera-tive Hirnprozesse, akute Kreislaufstörungen des Hirns u. a.

Mit dem psychoorganischen Syndrom und dem akuten exogenen Reak-tionstypus sind die Grundformen der seelischen Störungen zufolge von Hirn-schädigung noch nicht erschöpft. Es bleiben jene seelischen Syndrome übrig,die sich auf einelokalumschriebene SchädigungdesHirnsz u r ü c k f ü h r en 1 a s s e n. Sie sind hauptsächlich durch den Wechselvon Triebhemmung und Triebsteigerung gekennzeichnet. Eine fesselnde undnoch ungelöste Frage liegt darin, ob es, wie man lange vermutete, je nachder Lokalisation des Hirnherdes verschiedene seelische Folgekrankheitengibt oder ob, wie es mir wahrscheinlicher erscheint, die rein seelischenFolgen von jedem Hirnherd, wo er auch lokalisiert sein möge, grundsätzlichähnlich sind. Vom Gesichtswinkel meiner heutigen Darstellung ist nur be-deutungsvoll, dass auch hier wieder dem grundsätzlichen Wesen der Schä-digung — also der lokalen Zerstörung der Hirnstruktur — allein Bedeutungfür die Gestaltung der seelischen Folgeerscheinungen zukommt, währenddie genaue Art des Schadens — lokalisierte Blutung, Entzündung, Ge-

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schwulstbildung usw. — für die psychische Symptomgestaltung so gut wiebelanglos ist.

Die Grundformen seelischer Störungen, die zu den Folgen von Hirnver-änderungen im schroffsten Gegensatze stehen, bilden die seelisch bedingten,die psychoreaktiven Krankheiten und die angeborenenPersönlichkeitsvarianten. Ebensowenig, wie uns irgend etwasdarüber bekannt wäre, dass die normalpsychologischen Vorgänge des täg-lichen Lebens die Hirnstruktur veränderten und dass die Charakterunter-schiede innerhalb der Norm auf hirnanatomisch fassbaren Grundlagen be-ruhten, ebensowenig haben wir die geringsten Anhaltspunkte für eine Hirn-pathologie der krankhaften psychischen Reaktionen und der krankhaftenangeborenen Persönlichkeitsvarianten. Dementsprechend fehlen diesen bei-den Grundformen seelischen Krankseins auch alle und jede Kennzeichender Psychosyndrome, die durch eine Hirnkrankheit verursacht werden.

Die psychoreaktiven Störungen sind ihrem Wesen nach instinktbedingteund damit naturgewollte Abläufe, die unter durchschnittlichen Bedingungendurchaus im Sinne der Erhaltung von Art und Individuum wirken würden.Zu etwas Krankhaftem und zu Störungen werden sie erst dadurch, dass sieunter ausserordentlichen äusseren Bedingungen ablaufen, unter Bedingun-gen, an die unsere Instinkte nicht angepasst sind. So ist das Heimweh an sicheine durchaus gesunde und notwendige psychische Reaktion, die den unaus-gereiften und in der Fremde hilflosen Menschen in der Umgebung zurück-zuhalten hilft, die sich seiner annimmt und in der er am besten gedeihenkann. Unter ausserordentlichen Bedingungen aber wird das Heimweh zurpsychischen Krankheit, z. B. wenn ein kleines Kind seine Eltern verlorenhat, sich vor Heimweh nicht bei den Pflegeeltern angewöhnen kann, bei ihnennicht mehr recht isst und trinkt, nicht mehr schläft und nachts in Angstzu-stände gerät, oder wenn es nachträglich auf Grund des Milieuwechsels wiederdie Fähigkeiten seiner Altersstufe verliert, sich wie ein viel kleineres Kindpflegen lässt usw. Oder ist es eine durchaus normale, biologische Ausdrucks-form eines seelischen Schmerzes, wenn er sich u. a. auch in Herzbeengung,Herzschmerzen und gepresster Atmung geltend macht. Eine solche Reaktionkann mithelfen, den Leidenden zur Besinnung zu bringen, seinem Tun, daszum Schmerzerlebnis geführt hat, Halt zu gebieten und ihn schlussendlichveranlassen, eine Triebbefriedigung in neuen Richtungen zu suchen. Unterbesonderen Lebensumständen kann es aber vorkommen, dass die Besinnungauf das Schmerzerlebnis fruchtlos ist, dass wir dem Tun, das zum Schmerzeführt, nicht Halt gebieten können und eine genügende Befriedigung desTriebhungers in anderer Richtung unmöglich ist. Wenn der Leidende des-halb gezwungen ist, entgegen der biologischen Warnung durch die Schmerz-äusserung, die schmerzenden Lebensbedingungen weiter zu ertragen, wenner den Schmerz aus seinem Bewusstsein verbannt, ihn aber weiterempfindet,so können die Herzsensationen als Ausdruckserscheinung des Schmerzes zueiner Krankheit, einer Herzneurose werden. So beruht auch die Neuroseauf durchaus normalen Ausdruckserscheinungen, die erst dadurch eine

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krankhafte Bedeutung bekommen, dass sie unter äusseren Umständen spie-len, die die Erreichung ihres biologischen Sinnes unmöglich machen.

So ist zwar rein äusserlich betrachtet das Erscheinungsbild aller psycho-reaktiven Störungen (der Primitivreaktionen, der krankhaften Charakter-entwicklungen und der Neurosen) ein unerhört mannigfaches: rein äusser-lich betrachtet scheint es jeder Einheitlichkeit und jeder Gemeinsamkeit derZüge zu entbehren, wenn es von der Depression zur Erregung, vom Stuporbis zu hysterischen Bewegungsstürmen, von einfachen Charakterentwick-lungen bis zu schwersten körperlichen Erscheinungen (etwa herzasthma-tischen Anfällen oder anaphylaktischen Reaktionen) schwankt. Bei genauemZusehen zeigt sich aber die Wesensgleichheit aller psychoreaktiven Erschei-nungen darin, dass sich in ihnen einzig normalpsychologische Vorgänge auf-decken lassen, welche unter der Ungunst der Umgebung ihren biologischenSinn nicht erreichen können. Für die Psychoneurosen ist von BRUN vorkurzem mit besonderer Klarheit ihre Entstehung aus der Biologie der In-stinkte herausgearbeitet worden.

Aus der ganzen Lehre über die psychoreaktiven Krankheitsbilder habeich hier aber nur das herauszugreifen, was für das Gerüst der psychiatrischenSystematik wichtig ist, nämlich:

1.Wiederum ist es nicht eine Einzelschädigung, die ein spezifisches Zu-standsbild erzeugt. Charakteristisch für das resultierende Zustandsbild istnur die grundsätzliche Art, wie die Schädigung in das psychische Ge-schehen eingreift: sobald psychische Erlebnisse zu unstillbarem Trieb-hunger und unlösbaren Triebkonflikten führen, sind die Entstehungsbe-dingungen für psychoreaktive Schädigungen gegeben. Der genaueren Ar-tung der Schädigung fehlt symptomgestaltende Kraft. Viel wichtiger fürdie Symptomgestaltung ist der Zustand der Persönlichkeit, die vom Kon-flikt getroffen wird. BINDER hat das am Beispiel des Erlebens der unehe-lichen Mutterschaft eindrucksvoll nachgewiesen: sie erzeugt die Bereit-schaft zur Entwicklung psychoreaktiver Störungen. Welche Art psycho-reaktiver Störungen aber entsteht, hängt nicht von der Schädigung, son-dern von Persönlichkeit und Lebenserfahrung der Mutter ab.

2.Umgekehrt sind deshalb auch die seelischen Zustandsbilder, die psycho-reaktiv zustande kommen, ganz uncharakteristisch für die genauere Artungder ursächlichen psychischen Konfliktsituation. Nur ihr Wesen ist charak-teristisch für die Art ihres Zustandekommens im allgemeinen: Alle psycho-reaktiven Störungen lassen die seelischen Elementarfunktionen intakt,und sie setzen sich insgesamt aus seelischen Einzeläusserungen zusammen,wie sie auch in der Normalpsychologie in Erscheinung treten.

Was für die durch Hirnschädigung entstandenen Geisteskrankheiten rich-tig war, gilt also auch für die seelisch bedingten: der Angriffsebene derSchädigung entspricht eine spezifische Gemeinsamkeit der Grundzüge derresultierenden seelischen Störung. Davon hingegen, dass jeder einzelnen

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Schädigung ein eng umschriebenes einzelnes Krankheitsbild entsprechenwürde, kann auch hier gar keine Rede sein.

Angeborene Persönlichkeitsvarianten sind beim Men-schen nach allgemeinem Naturgesetz zum vorneherein zu erwarten: dennMass und Qualität jeder komplexen Eigenschaft variiert von Individuum zuIndividuum um einen Mittelwert. Gewisse Varianten der Persönlichkeit be-dingen Konfliktsituationen mit den sozialen Anforderungen einer bestimmtenKulturepoche. Die Träger solcher asozial sich auswirkenden Persönlich-keitsvarianten nennen wir Psychopathen, wenn die ungünstige Variationhauptsächlich den Charakter betrifft und Schwachsinnige, wenn sie haupt-sächlich die Intelligenz betrifft. Auch für diese Gruppe seelischen Krank-seins lässt sich die moderne systematische Betrachtung ohne weiteres an-wenden: einer grundsätzlich besonderen Artung der Ursache — der bio-logischen Variabilität — entspricht eine erscheinungsbildliche Wesensein-heit: die Über- oder Unterentwicklung normaler charakterlicher oder in-tellektueller Eigenschaften.

Bis dahin war die Aufstellung von Grundformen seelischer Störungen ein-fach. Alle diese bereits erwähnten Grundformen, wie sie sich auf akute undchronische, diffuse und lokalisierte Hirnerkrankungen, auf psychoreaktiveVorgänge oder auf sozial schädliche Persönlichkeitsvarianten zurückführenlassen, sind fast zum Verwundern klar gegenseitig abgegrenzt, als ob dieNatur unserem ordnenden Betrachten entgegenkommen wollte. Sofort abertürmen sich die Schwierigkeiten, wenn wir gerade die häufigsten Geistes-krankheiten in unsere Betrachtungen einbeziehen: die sog. endogenen, d. h.besonders die Schizophrenie und das Manisch-depres-sive Irr es ei n. Wenn wir vorher etwas darüber lächeln durften, dassviele Klassifikationen selbst heute noch an der Einheitlichkeit, namentlichder hirnpathologisch bedingten Syndrome vorbeisehen, so weiss ich dieLacher plötzlich im andern Lager, wenn sie der Gedankenakrobatik zusehen,mit der schizophrene und manisch-depressive Krankheiten in die neue Auf-fassung eingebaut werden sollten! Aber immerhin: Ich wage zu behaupten,dass sich heute endlich aus allen klinischen Tatsachen doch auch in bezugauf diese Beziehungen zwischen der Angriffsebene der Schädigung und ihrenpsychischen Folgen zwar nicht beweisen, aber doch erahnen lassen.

Was die Angriffsflächen der Schädigungen betrifft, so lassen sie sich aller-dings bisher bloss negativ genau umschreiben: wir müssen heute annehmen,dass Schizophrenie und Manisch-depressives Irresein weder als Hirnkrank-heit noch als psychoreaktive Entwicklung noch als blosse Persönlichkeits-variante zu verstehen sind. Diese Feststellung ist wichtig, auch wenn in posi-tiver Hinsicht unser Wissen um die Ursachen dieser Krankheiten noch somager sein mag. Dieses Wissen ist wohl auch noch gar nicht reif, um aus-gebaut zu werden, solange wir eben in der Hauptsache nur die hirnpatho-logischen, die psychoreaktiven und die konstitutionellen Grundlagen desSeelenlebens kennen. Gar manche Gründe drängen zur Vermutung, dassdarüber hinaus noch allgemeinere und bedeutungsvolle Bindungen zwischen

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Seelischem und Körperlichem bestehen müssen, die uns ihrem Wesen nachunbekannt sind. Und wir müssen wohl annehmen, dass auch sie Störungenunterworfen sein können — Störungen, die sich eben weder auf Hirnkrank-heiten noch auf psychische Reaktionen noch auf Persönlichkeitsvariantenzurückführen lassen. Gerade solchen Störungen in den noch unbekanntenhirnunabhängigen körperlichen Voraussetzungen des Seelischen dürftenSchizophrenie und Manisch-depressives Irresein entsprechen. Wenn sich dieForschung der letzten zehn Jahre gerade an stoffwechselpathologischen Klä-rungsversuchen der Schizophrenie festgebissen hat, so entsprang ja diesesBestreben dem Ahnen um Störungen in jenen noch unbekannten struktu-rellen Untergründen der Psyche.

Jedenfalls gehen also Schizophrenie und Manisch-depressives Irreseinauf Schädigungen mit besonderer Angriffsebene zurück, Schädigungen, diegrundsätzlich andere sind als jene bei der psychoorganischen, akuten exo-genen, hirnlokalen, psychoreaktiven und persönlichkeitsvariierten Grund-form seelischen Krankseins. Wieder um entspricht nun der Be-sonderheit der Ursachen bei Schizophrenie und Ma-nisch-depressivem Irresein eine Grundform des see-lischen Erscheinungsbildes. Diese Feststellung bedeutet denletzten und massgeblichen Schritt zu einer natürlichen und logisch befriedi-genden Ordnung der Welt krankhafter psychischer Äusserungen. Was istnun das Besondere, das die vielfältigen Erscheinungsformen von schizo-phrenen und manisch-depressiven Störungen zu einer einheitlichen Grund-form seelischen Krankseins zusammenschmilzt? Vorerst lässt es sich wiedernegativ klar umschreiben: es fehlen hier alle jene Störungen der seelischenelementaren Funktionen, die für die hirnanatomisch bedingten Syndromecharakteristisch sind — und doch gehen die Veränderungen offensichtlichüber das hinaus, was beim psychoreaktiven Syndrom und bei Persönlich-keitsvarianten vorkommt. Was im positiven Sinne elnen wichtigen Teil dergemeinsamen Eigenart von Schizophrenie und Manisch-depressivem Irre-sein ausmacht (und was in seiner Bedeutung immer noch zu gering einge-schätzt wird), liegt darin, dass trotz schwersten Veränderungen des Denkensimmer wieder neben und zwischen dem krankhaften Denken ein gesundesDenken irgendwie weitergeht. Es wird gewissermassen das gesunde Denkennicht ersetzt, vielmehr wird ihm das kranke nur beigegeben. So wird vonsolchen Patienten denn auch ein und dasselbe Ereignis häufig doppelt ver-arbeitet, sowohl nach vernünftigen wie nach krankhaften Überlegungen.Dieses einzigartige Nebeneinander von normalenund krankhaften Abläufen der elementaren psychi-schen Funktionen ist eines der bedeutsamen Merk-male der schizophrenen und manisch-depressivenG r u n d f o r m e n. — Wir brauchen nicht bei Einzelheiten zu verwei-len, nachdem das Wesentliche herausgeschält wurde: dass auch bei Schizo-phrenie und Manisch-depressivem Irresein eine besondere Pathogenese einebesondere Symptomgestaltung zur Folge hat.

VierteIjahrsschrift d. Naturf. Ges. Zürich. Jahrg. 88. 1943. 5

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66 Vierteljahrsschrift der Naturf. Gesellschaft in Züric. 1943

Damit, meine Damen und Herren, wären die Grundrisse der Ordnung um-schrieben, die heute eine einheitliche, systematische und kausale Betrach-tung der verwirrenden Fülle seelischer Störungen ermöglicht. Es bleibtzusammenzufassen:

Die blosse Abgrenzung von krankhaften seelischen Einzelerscheinungennach ihrer sozialen Bedeutung führt nicht, wie PINEL und so manche nachihm hofften, zu Krankheitseinheiten; denn dem äusserlichen, dem sozialenErscheinungsbild seelischer Störung entspricht niemals eine einheitlicheUrsache. Es gibt überhaupt keine Einzelschädigungen mit charakteristischemseelischem Erscheinungsbild und umgekehrt gibt es keine sozial abgrenz-baren seelischen Einzeläusserungen, die spezifische Ursachen hätten.

Dagegen steht am Anfang alles Ordnens und am Anfang des Erkennensaller Ursachen in der Psychiatrie das Gesetz:

Der grundsätzlichen Besonderheit der Angriffs-weise der Schädigung entsprechen charakteristischeGrundformen seelischer Störungen. Im einzelnen kann diePsyche durch die folgenden wesensverschiedenen Vorgänge beeinflusstwerden:1.Durch Erkrankung des Hirns, sei es akuter oder chronischer, diffuser

oder lokaler Art;2.dadurch, dass die äusseren Bedingungen, unter denen das menschliche

Triebleben sich abspielt, den Umweltbedingungen widersprechen, an diedieses Triebleben biologisch angepasst ist;

3. dadurch, dass angeborene Persönlichkeitsvariationen den Anforderungeneiner bestimmten Kulturepoche nicht entsprechen;

4. durch irgendwelche Störungen in den hirnunabhängigen, noch nicht näherbekannten strukturellen Grundlagen des Seelischen.Jeder dieser Schädigungsarten entspricht eine gut umschriebene Grund-

form seelischen Krankseins.Dieses nackte Schema bedarf im einzelnen tausenderlei Ergänzungen, Ein-

schränkungen und Erläuterungen'): aber es eignet sich trotzdem heute schonals Gerüst für die Beobachtung und die Erklärung seelischer Störungen undschafft damit auch die Voraussetzung für deren Verhütung und Behandlung.

So hat eine hundertfünfzigjährige wissenschaftliche Entwicklung Ordnungund Einheitlichkeit schaffen lassen in einen noch vor kurzem unentwirr-baren Knäuel von Einzelbeobachtungen. Und die Psychiatrie darf stolz dar-auf sein, dass sie von der Feststellung des Vielfachen zur Erkennung desEinfachen fortgeschritten ist: von Erscheinungsbildern zu Grundformen.

') So wäre zu erwähnen, dass diffuse dauerhafte Hirnschädigungen, die im Malleben,während der Geburt oder in der frühesten Kindheit entstehen, niemals ein psychoorgani-sches Synchrom bewirken wie beim älteren Kinde und beim Erwachsenen. Vielmehr führteine diffuse Hirnschädigung, die so früh schon entsteht, zu einem psychischen Erschei-nungsbild, das voll und ganz identisch ist dem Schwachsinn, wie er als vererbte Persön-lichkeitsvariante entsteht. Die grundsätzlich gleiche Schädigung hat also andere erschei-nungsbildliche Folgen, je nach dem Zeitpunkt, in dem sie das sich entwickelnde Indivi-duum trifft -- eine Beobachtung, für die die Entwicklungsphysiologie ja zahlreicheParallelerscheinungen aufgedeckt hat.