versorgungsformen der zukunft – von bismarck bis brüssel
TRANSCRIPT
S. N. Willich
Charité – Universitätsmedizin Berlin, BRD
Versorgungsformen der Zukunft – von Bismarck bis Brüssel
Bundesgesundheitsbl - Gesundheitsforsch -
Gesundheitsschutz 2008 · 51:481–482
DOI 10.1007/s00103-008-0550-5
© Sprin ger Me di zin Ver lag 2008
Liebe Leserin, lieber Leser,
seit über 20 Jahren erleben wir eine Serie
von „Gesundheitsreformen“ in Deutschland,
die wie hilflose Reparaturversuche zur
kurzfristigen Stabilisierung der steigenden
Gesundheitsausgaben erscheinen. Kom-
plette Entwürfe für fundierte Reformen
wurden bislang nicht vorgelegt, wären aber
dringend notwendig angesichts der demo-
graphischen Entwicklung hin zu einer im-
mer älteren Bevölkerung einerseits sowie
der immer besseren (aber auch teureren)
medizinischen Möglichkeiten andererseits.
Dabei stellt sich vor allem die Frage, welches
Versorgungssystem Deutschland benötigt.
Auf Basis einer Analyse der historischen
Wurzeln des Gesundheitssystems sind inno-
vative Strukturen für ein sinnvolles, funkti-
onstüchtiges Versorgungssystem der Zu-
kunft zu entwickeln, auch unter Berück-
sichtigung der europäischen Integration.
Ein Schwerpunkt des vorliegenden Hef-
tes umfasst mehrere Beiträge auf Basis von
Vorträgen der Berliner Gespräche zur Sozi-
almedizin, die am 31. Oktober 2007 an der
Berliner Charité unter dem Titel „Versor-
gungsformen der Zukunft – von Bismarck
bis Brüssel“ stattfanden.
Der erste Beitrag von Claudia Diede -
richs, Karen Klotmann und Prof. Friedrich
Wilhelm Schwartz, Institut für Epidemiolo-
gie, Sozialmedizin und Gesundheitssystem-
forschung der Medizinischen Hochschule
Hannover, beleucht die historische Ent-
wicklung der deutschen Gesundheitsversor-
gung und ihrer Reformansätze. Gesell-
schaftliche Werte und Strukturen haben im
erheblichen Maße die Entwicklung unseres
Sozialversicherungssystems beeinflusst, im
19. Jahrhundert vor allem die drängenden
sozialen Probleme, welche die industrielle
Entwicklung begleiteten. Die Weiterentwick-
lung des Gesundheitssystems im Nach-
kriegsdeutschland war durch die Rückgabe
von Selbstbestimmung und Verantwortung
an die professionellen Verbände und Kör-
perschaften geprägt. So entstand die heutige,
in ihrer Form weltweit einmalige Selbstver-
waltung im Gesundheitswesen, die durch
eine Vielzahl komplexer Steuerungsprozesse
gekennzeichnet ist, wobei die politischen
Organe primär die Rahmenbedingungen
vorgaben. Resultat war ein recht starres
Gesundheitssystem mit dem Anspruch auf
solidarische und im Grunde einheitliche
medizinische Versorgung der Bevölkerung.
Erst in jüngster Zeit wird das Gesundheits-
wesen als ein eigenständiger moderner
Wirtschaftssektor erkannt, Begriffe wie
Konsum, Produkt und Wettbewerb rücken
stärker in den Vordergrund. Allerdings
können ohne Berücksichtigung des jewei-
ligen wirtschaftlichen, politischen und ge-
sellschaftlichen Kontextes nachhaltige Ge-
sundheitsreformen nicht gelingen.
Der darauf folgende Beitrag von Prof.
Herbert Rebscher, Vorstandsvorsitzender
der DAK, Hamburg, stellt aus der Perspek-
tive der Krankenkassen notwendige Re-
formschritte im Gesundheitswesen dar. Die
Folge aus der zunehmenden Ökonomisie-
rung im Gesundheitswesen unter Erhalt der
bisherigen Selbstverwaltungsstrukturen
führt notgedrungen zu immer komplexeren
Steuerungsmaßnahmen, die wiederum auf
diffizile Klassifikationen und Definitionen
zurückgreifen müssen. Dieser „mikroöko-
nomische“ Reform- und Regulierungseifer
steht jedoch in keinem Verhältnis zu den
bislang schwach ausgeprägten „makro-
ökonomischen“ Vorgaben der Politik, die
Qualitätsziele und Versorgungsstandards
stärker vorgeben sollte.
Der dritte Betrag stammt von Dr. Su-
sanne Weinbrenner aus dem Ärztlichen
Zentrum für Qualität in der Medizin
(ÄZQ) in Berlin. Dr. Weinbrenner beleuch-
tet, welche Rolle Leitlinien in der Entwick-
lung und Evaluation neuer Versorgungs-
formen spielen. Bisherige Reformschritte
haben innerhalb der Versorgungssektoren
„ambulant“, „stationär“, „Rehabilitation“
und „Pflege“ eine Vielzahl von neuen Regu-
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larien hervorgebracht, die Sektorengrenzen
jedoch nicht niederreißen können. Sie wer-
den nicht zuletzt durch die Vielzahl von in
der Selbstverwaltung mitsteuernden Ver-
bänden, Körperschaften und Gesellschaften
aufrechterhalten. Moderne Leitlinien ver-
suchen daher, sektorenübergreifend Kom-
munikation und Kooperation zu regeln, um
die erheblichen Ressourcenverluste an den
Grenzen der Versorgungsbereiche zu ver-
ringern. Vorbildliche Modelle neuer Versor-
gungsformen finden sich in der leitlinienge-
stützten integrierten Versorgung.
Die bisherigen Reformschritte und neu-
entwickelten Versorgungsformen gehen
nicht adäquat auf die erhebliche demogra-
fische Veränderung unserer Gesellschaft
ein, sondern beschränken sich auf ihre je-
weiligen Einzelperspektiven und begrenzten
Versorgungswelten. Prof. Klaus Dörner,
Hamburg, bekannt geworden nicht zuletzt
durch eine Vielzahl von Buchpublikationen
zum Thema Krankheit und Versorgung
und unermüdlicher Kämpfer für mensch-
liche Versorgungsformen chronisch Kran-
ker und psychiatrischer Patienten, entwi-
ckelt vor diesem Hintergrund seine visio-
näre Sicht der zukünftigen Versorgung.
Eine aus der Ökonomisierung des Gesund-
heitswesens geborene stetige Zunahme der
Morbidität – Krankheit ist Markt – sowie
eine durch die wachsende Zahl älterer
Menschen steigende Morbidität verlangen
andere, grundlegende Veränderungen der
Versorgungsangebote. Dörner stellt in sei-
nem Beitrag sein neues Hilfesystem eines
„Bürger-Profi-Mix“ vor, welches Versor-
gung und Pflege der großen Zahl Hilfebe-
dürftiger in der Zukunft durch die koordi-
nierte Zusammenarbeit von professionellen
Anbietern und ehrenamtlichen Helfern
und Versorgern, die ihre Angebote und
Strukturen regional entfalten, sicherstellt.
Insbesondere in der wachsenden Anzahl
von Menschen, die aus dem Berufsleben
austreten, aber lange noch nicht selbst hilfe-
bedürftig sind, können dringend nötige
Ressourcen bürgerschaftlichen Engage-
ments für das Versorgungssystem mobili-
siert werden.
Wie Gesundheitsreformen aussehen
könnten und sollten, entfacht rege gesell-
schaftliche Diskussionen und beinhaltet eine
Vielzahl von Perspektiven. In den 4 Beiträ-
gen dieses Schwerpunktheftes werden einige
wesentliche Sichtweisen vorgestellt. Wir
hoffen, damit zum gesundheitspolitischen
und gesellschaftlichen Diskurs beizutragen,
als wichtige Basis für die zukünftige Gestal-
tung unseres Gesundheitssystems und der
gesundheitlichen Situation der Bevölke-
rung.
Ihr
Stefan N. Willich
Kor re spon die ren der Au tor
Prof. Dr. med. Stefan N. Willich, MPH und MBA
MPH MBA, Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie, Charité – Universitätsmedizin Berlin, 10098 Berlin, BRDE-Mail: [email protected]
Editorial
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