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Kai van Eikels Zeit zur Liquidierung des Geldes 1. Das zähflüssige Äquivalent Die Umwertung der Währung Geld lohnt nicht mehr lautete der Arbeitstitel für einen Performance-Abend am Hamburger Schauspielhaus 2003 in der Reihe gocreateresistance™. Als die Veranstaltung dann stattfand, hatte die starke Behauptung sich in eine bescheidenere Frage verwandelt: Geld – wo kommt es her, wo ist es hin? Man versuchte „nochmal nachzuvollziehen, wie Geld wirklich funktioniert und wie das unsere Gesellschaft und unser Leben strukturiert“. Dieser plötzliche Respekt, der die Herangehensweise ins Historische verschob, reduzierte die Einsicht über das Ende des Geldes auf ein ironisches Bedauern darüber, daß es ebenso ungreifbar verschwindet, wie es auftaucht. Und er führte im Schutz des Wortspiels zu jener Faszination am Geld zurück, der die Moderne von ganz unterschiedlichen ideologischen Positionen aus immer wieder nachgegeben hat: Faszination am reinen, leeren Zeichen, das so überaus reale Konsequenzen im Leben von Milliarden Menschen zeitigt, dessen Macht und Ohnmacht so dicht beieinanderliegen, daß eins ins andere umkippt, sobald man das Zeichen einem Test unterzieht und es auf seine Referenz prüft; Faszination am Unendlichen, das in der Form der monetären Währung eine Zählbarkeit und Zahlbarkeit angenommen hat, den Charakter einer durchführbaren Handlung, eines Managements des Möglichen. Auch dort, wo kein Geld mehr da ist, kehrt die Unsicherheit angesichts dieser Situation rasch zur romantischen Frage nach dem Woher und dem Wohin, dem fehlenden Ursprung und dem fehlenden Ziel zurück. Eine Gegenwart ohne Geld (mit zuwenig Geld) begreift sich einmal mehr als ein Jetzt, das mitten im Unendlichen schwebt und dessen Freiheit die der Konvertierung des realen Mangels in eine neue Fülle des Möglichen, das Auffüllen von Herkünften und Zukünften und das Initiieren neuer Projekte ist. Die Herrschaft des

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Page 1: Vaneikels-liquidierung Des Geldes

Kai van Eikels

Zeit zur Liquidierung des Geldes

1. Das zähflüssige Äquivalent

Die Umwertung der Währung

Geld lohnt nicht mehr lautete der Arbeitstitel für einen Performance-Abend am

Hamburger Schauspielhaus 2003 in der Reihe gocreateresistance™. Als die

Veranstaltung dann stattfand, hatte die starke Behauptung sich in eine bescheidenere

Frage verwandelt: Geld – wo kommt es her, wo ist es hin? Man versuchte „nochmal

nachzuvollziehen, wie Geld wirklich funktioniert und wie das unsere Gesellschaft und

unser Leben strukturiert“. Dieser plötzliche Respekt, der die Herangehensweise ins

Historische verschob, reduzierte die Einsicht über das Ende des Geldes auf ein

ironisches Bedauern darüber, daß es ebenso ungreifbar verschwindet, wie es auftaucht.

Und er führte im Schutz des Wortspiels zu jener Faszination am Geld zurück, der die

Moderne von ganz unterschiedlichen ideologischen Positionen aus immer wieder

nachgegeben hat: Faszination am reinen, leeren Zeichen, das so überaus reale

Konsequenzen im Leben von Milliarden Menschen zeitigt, dessen Macht und Ohnmacht

so dicht beieinanderliegen, daß eins ins andere umkippt, sobald man das Zeichen einem

Test unterzieht und es auf seine Referenz prüft; Faszination am Unendlichen, das in der

Form der monetären Währung eine Zählbarkeit und Zahlbarkeit angenommen hat, den

Charakter einer durchführbaren Handlung, eines Managements des Möglichen. Auch

dort, wo kein Geld mehr da ist, kehrt die Unsicherheit angesichts dieser Situation rasch

zur romantischen Frage nach dem Woher und dem Wohin, dem fehlenden Ursprung und

dem fehlenden Ziel zurück. Eine Gegenwart ohne Geld (mit zuwenig Geld) begreift sich

einmal mehr als ein Jetzt, das mitten im Unendlichen schwebt und dessen Freiheit die

der Konvertierung des realen Mangels in eine neue Fülle des Möglichen, das Auffüllen

von Herkünften und Zukünften und das Initiieren neuer Projekte ist. Die Herrschaft des

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Geldes überlebt schließlich in der Begeisterung darüber, daß man mit einem Mangel an

Geld ebenso produktiv sein kann wie mit einem Überschuß, mit seinem Verlust ebenso

wie mit seiner sparsamen Rationierung. Vielleicht sogar noch produktiver.

Hätte man dagegen die Behauptung vom Ende des Geldes, das aufgehört hat sich zu

lohnen, nicht wörtlich nehmen sollen? Man hätte besser erklärt, warum das Regiment

des Geldes, die Zeit, in der das Geld die Welt regiert, vorbei ist. Nicht: sein sollte oder

könnte, in der alten utopischen Perspektive des Traums von einer Überwindung des

materiellen Strebens, sondern vorbei ist. Und dies nicht entgegen den ‚harten’

ökonomischen Fakten, sondern gerade an dem Punkt, wo die ökonomischen Fakten am

Ende der Möglichkeiten des Geldes angelangt sind und dessen Versagen dokumentieren.

Geld lohnt nicht mehr aus einem Grund, der die traditionelle Auseinandersetzung

zwischen den Kritikern des Kapitalismus und den Stimmen seiner Selbstbehauptung in

einer unvermuteten Richtung durchkreuzt. Geld schafft genau das nicht mehr, was man

seit dem 19. Jahrhundert als seine große kulturelle Leistung gefeiert oder als kulturelle,

soziale und politische Erosion beklagt hat: es bringt nicht mehr in Bewegung,

beschleunigt die Entwicklungsprozesse nicht mehr über ihren eigenen Fortgang hinaus,

wirkt in seiner reflexiven Ablösung vom Hin und Her der Gegenstände nicht mehr

potenzierend, universalisierend, entgrenzend.

Von den vielfältigen Prozessen der Steigerung, in die sich der antike griechische

Impuls des aristeuein im Verlauf der Jahrtausende zerstreut hat, haben unterdessen viele

eine Grenze überschritten, wo es ohne Geld viel leichter weitergehen würde –

interessanterweise nicht zuletzt in der Wirtschaft, deren Begriff von Dynamik die

Problematik des Geldes heute vielleicht sogar am unmißverständlichsten deutlich

werden läßt. Geld ist nicht mehr dynamisch genug, um mit den Erwartungen

schrittzuhalten, die eine postfordistische Produktion an ihre Zukunft stellt. Es hat sich

vom Inzentiv zum Hemmer der Produktivität gewandelt. Immer mehr Projekte, ob auf

staatlicher oder privatwirtschaftlicher Ebene, scheitern an unzureichender

Finanzierbarkeit, und die Spur dieses Scheiterns zeigt keineswegs einfach nur „neue

Chancen“, mit weniger Geld etwas anderes auf die Beine zu stellen, sondern eine

heiklere und tiefgreifendere Veränderung: eine Umwertung der Währung, die Umkehr

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des Geldes selbst als dasjenige, was währt, was in einer gewissen Weise Zeit bindet und

durch diese Zeitbindung Produktivität organisiert, vom Medium des Ermöglichens und

des Verwaltens von Möglichkeiten zum medialen Tool einer Reinigung der Zirkulation,

deren Ziel schon immer Null war und die dieses Ziel mittlerweile erreicht hat.

Wir werden das womöglich nie bemerken, wenn wir weiterhin der Konjunkturkurve

folgen, die sich mittlerweile um den Globus zieht und sich als Modell einer

ökonomischen Weltgeschichte aufdrängt. Die sogenannte Globalisierung lebt davon,

daß sie immerzu Orte findet, wo sie erst noch initiiert oder um den entscheidenden

Schritt vorangetrieben werden muß. Und sie verläßt sich darauf, daß zu dem Zeitpunkt,

wo diese Entwicklungsgebiete zur Weltelite aufgeschlossen haben, dieselbe

ökonomisch-politische Dynamik andere Gebiete hinreichend ruiniert haben wird, um

mit ihnen wieder anzufangen. Der globale Kapitalismus verspricht und verschweigt eine

Art ewiger Wiederkehr von Initiative und Verwüstung. Die globale Welt wird als solche

nie vollständig sein, sondern immer nur in der Perspektive eines politischen Vorbehalts

und einer ökonomischen Anschubfinanzierung existieren. Eine entsprechende globale

Verwaltung schafft stets wieder Zonen, wo Geld gebraucht wird, und inszeniert

Übergänge, wo es für ein paar Jahre oder Jahrzehnte einen Boom auslöst. China und

Indien sind die aktuellen Beispiele, und es könnte durchaus sein, daß Deutschland zur

übernächsten Generation gehört und nach der Depression und ihren

Zwischenaufschwüngen in die ökonomische Frühmoderne eines weiteren

„Wirtschaftswunders“ zurückgeworfen wird.

Das alles verhindert vor allem, daß wir das Geld vergessen. Es zwingt auch die

einstweilen reichen Länder, das Geld stets im Gedächtnis zu behalten – oder, genauer:

die Fragen nach der Produktivität, nach Steigerung und Emergenz, Entwicklung und

Innovation stets in der Sprache des Geldes zu stellen und Antworten in Geld zu

erwarten. Selbst die Armut wird zu einer Art traumatischem Kern umfunktioniert, der

die Wohlstandsgesellschaften an das Erinnern des Geldes bindet (das Wissen um diese

Armut führt nicht zu ihrer Abschaffung, sondern zu einem Diskurs des Mahnens, der

die Wichtigkeit des Geldes bekräftigt und das Verbot, es zu vergessen, unendlich

erneuert). Bestünde aber die Verteidigung des Wohlstands, das heißt die Insistenz auf

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dem essentiellen Luxus, den eine Zivilisation wie die europäische durch ihre monetären

Epochen hindurch erarbeitet hat, nicht genau darin: das Geld anerkennend zu

vergessen? Sollten wir nicht versuchen, uns eine Ökonomie vorzustellen, die alles das,

was Geld ermöglicht hat, voraussetzen kann, ohne endlos darauf zurückkommen zu

müssen? Hätten wir nicht schließlich diese Bewegung der Rückkehr zum Geld, an der

das Geld festhält, diese innere Verwüstung des Ermöglichens für die Wiederkehr der

neuen Chance zu unterbrechen – indem wir die Zirkulation des Geldes in jene Leere

entlassen, in die sie sich selbst hineingesteigert hat?

Der übersprungene Aufschub

Die moderne Bedeutung des Geldes ist aus dem Kredit erwachsen. Indem eine Bank

oder eine Privatperson jemandem Kredit einräumt, gibt sie ihm Zeit, um etwas

anzufangen. Die mit einer Geldsumme gegebene Zeit ist die der unternehmerischen

Initiative, das heißt einer Form des Handelns, die sich vollends in die Frist eines

Aufschubs einfügt und den Zeitdruck, unter dem sie steht, für eine neue Art von

Produktivmachen nutzt. Die Entschlossenheit zum Produzieren und die

Entschlossenheit zur Steigerung der Produktion, diese entrepreneurial determination,

ohne die der Kapitalismus mit seinem alternativenlosen Bekenntnis zum Wachstum

nicht denkbar wäre, entspricht der Zeitbindung des Geldes im Kredit. Der Kredit

verkörpert den Glauben dieses Kapitalismus an sich selbst, den Glauben daran, daß das

Schaffen von Möglichkeiten ein unendlich fortzusetzender und unendlich

differenzierbarer Prozeß ist, der zu seiner Absicherung nichts weiter als einer

Verfahrensreglementierung hinsichtlich der Zumessung von Mitteln, einer gewissen

Reserve des im Realen zurückbehaltenen Möglichen bedarf. Nach dem Zusammenbruch

des Goldstandards in den 30er Jahren verständigte man sich darauf, den Wert des

Geldes ganz auf die Regulierung des Kreditvolumens zu stützen, und etablierte damit

das Regime der eingeräumten Möglichkeiten offiziell als globale Ordnung. Die in

Bretton Woods geschaffenen Institutionen, der IWF und die heutige Weltbank, scheinen

noch immer den Glauben an eine nahezu unbeschränkte Macht durch die Vergabe von

Krediten zu verkörpern: Macht zum Guten oder zum Schlechten (viele

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Globalisierungskritiker, auch solche aus den eigenen Reihen wie Joseph Stiglitz, teilen

diesen Glauben an den Kredit).

Der Aufschub des Kredites verschaffte nicht nur Chancen zur Vermehrung des

Geldes, er unterhielt damit vor allem auch eine nicht voll determinierte ‚Kreativität’.

Der quantitative Rausch der Akkumulation brachte wie von selbst neue Qualitäten

hervor – neue Produkte, neue Produktionsverfahren, neue Organisations- und

Distributionsformen, neue Typen von Arbeit. Das kapitalistische Spiel mit der Zeit des

Möglichen förderte eine Emergenz, hinsichtlich der gelungene ökonomische

Kalkulation und sinnlose Vergeudung nicht immer klar zu unterscheiden waren. Der

spekulative Kapitalismus lebte gerade von dieser Indifferenz, er erneuerte seine Kraft

und Selbstgewißheit aus einem Augenblick der Gleich-Gültigkeit von Vermehrung und

Verschwendung, von Erfolg und Scheitern, von Geniestreich und Katastrophe. Er

bewohnte diese Zeit des Möglichen wie eine Höhle im Vorläufigen, die zumindest dem

Unternehmer selbst einen eigentümlichen Schutz bot und in der eine Art neurotischer

Gelassenheit herrschte. Der Zeitdruck, den das Kapital bedeutete, brachte zugleich eine

Befreiung von der Hektik der gegenständlichen Welt, wo Dinge sofort zu vergehen

drohten, nachdem sie entstanden waren, oder ins Irreparable entglitten. Die Fälligkeit

des Kredits entfernte die Gegenwart um einen entscheidenden Schritt von der

materiellen Zeit des Verfalls, und in dieser Entfernung von der Welt konnte die

unternehmerische Entscheidung ihre Wirkung erlangen. Entscheiden hieß zu diesem

Zeitpunkt: Die Zeit arbeitet für uns, gerade weil sie nur einen Aufschub darstellt. Das

Geld ist nur da, um wieder zu verschwinden, aber es bedeutet, daß wir die Zeit haben,

um etwas zu beginnen, was mit dem Verstreichen der Frist wachsen, sich entfalten, neue

Möglichkeiten eröffnen und Zugang zu weiteren Krediten verschaffen wird. Die

Unternehmung war in der Epoche des kreditgetriebenen Kapitalismus die aktive

Wendung eines Wartens, und die große Beschleunigung, die dieses ökonomische

System der Welt mitgeteilt hat, entsprang einer Komplizenschaft mit dem Aufschub, die

sich ganz auf das Potential des im Geld zugesagten Wartens verließ.1

1 Die machtvollste Opposition gegen die Unternehmer, der Streik der Arbeitenden, artikulierte dasselbe Vertrauen: Die Zeit arbeitet für uns, wir müssen nur durchhalten! Die Allianz der Regierung Thatcher mit den Konzernen gegen den Streik der Bergarbeiter in den 80er Jahren führte

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Heute drängt dagegen das Zeitmanagement auf immer größere Beschleunigung

entgegen diesem Aufschub. Mit dem sog. Toyotismus der 1970er Jahre setzte eine

Rationalisierung innerhalb des Spekulativen selbst ein: Durch eine flexiblere und

schnellere Produktion, die sich ohne große Verzögerung den Marktentwicklungen

anpassen konnte, trat der Zukunftsentwurf, die unternehmerische „Vision“ in ihrer

Umarmung des Schicksalhaften zurück zugunsten einer fast response-Ideologie, die

mitunter an die strategischen Szenarios des nuklearen Zweitschlags erinnerte. Statt dem

in Form von Geld erhaltenen Aufschub den Namen eines Produkts zu geben, dem die

time to market helfen würde, sich zu entwickeln und jene Durchsetzungskraft zu

sammeln, die das Neue braucht, um im Verdrängungswettbewerb zu bestehen, situierte

sich die Produktion in einer time to customer, die ganz anders beschaffen war. Das neue

Produkt stellte lediglich den Reflex einer Tendenz des Marktes dar. Es war somit

weniger abolut neu als in einer bestimmten Richtung zukunftsträchtig optimiert. Es

handelte sich um das Resultat einer Reaktion, doch zielte die innere Beschleunigung der

Produktion darauf ab, diesem Reagieren den Charakter von Zeitverlust und Rückstand

zu nehmen und in der forcierten Präsenz eines „just in-time“ Reaktion und Prognose zu

einer dynamischen Synthese zu verbinden. Die Qualität des so produzierten Produktes

bestand in einem Entgegenkommen – es befand sich mit seinem Entwicklungsprozeß

auf einem Weg in die Zukunft, wo es die Wünsche seiner Käufer traf, um von dieser

virtuellen Begegnung her in die Gegenwart eines nur minimal hinter dem Aktuellen

herhinkenden Herstellens zurückzukehren.

Mit dem Übergang zur immateriellen Produktion in der Dienstleistungs- und

Beratungsgesellschaft trifft diese Refiguration der time to market durch die time to

customer offenbar auf keinerlei Hindernisse mehr. Die relative Umständlichkeit des

Herstellens weicht der Alertheit des Bereitstellens. Der Begriff „Proaktivität“, der in

zu einer ersten traumatischen Erschütterung dieses Selbstvertrauens. Seither scheint der Streik nur noch in speziellen, unter einem eher traditionellen Zeitdruck stehenden Wirtschaftszweigen (etwa bei den Hafenarbeitern oder den Lokführern) eine wirklich wirksame Waffe im Arbeitskampf darzustellen. Kritiker der postfordistischen Arbeitsstrukturen wie Paolo Virno versuchen Entwürfe zu einer neuen Theorie des Streiks als „Exodus“ zu liefern (vgl. Paolo Virno, A Grammar of the Multitude, Cambridge/Mass. und London 2004). Die Frage ist, ob sich unter den gegenwärtigen Bedingungen eine Situation herbeiführen läßt, wo das Vergehen der Zeit einen entscheidenden Vorteil darstellt.

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diesem Zusammenhang populär wurde und den man heute im Jargon von Politikern,

Friedensforschern oder Pädagogen ebenso findet wie bei Managern, bringt das zeitliche

Paradox dieses Produktionskonzeptes mit etwas unfreiwilliger Komik auf den Punkt: Es

geht nicht mehr um den Entwurf, der das Verstreichen der Zeit während der

eingeräumten Frist nutzt, um sich möglichst viel Welt anzueignen, sondern um ein

Sichselbstüberholen der Reaktion in Richtung auf die Spitze der Gegenwart, die bereits

in die Zukunft hineinragt. Das Produzieren ist ein Vorgehen, das den Aufschub

überspringt und direkt mit dem Maximum des Möglichen operiert. Es bleibt hier keine

Zeit mehr, um der Passivität des Wartens eine aktive Wendung zu geben. Alles, auch

das Reagieren, ist von vornherein ins äußerste Extrem des Aktiven gedrängt. Diese

Neukonfiguration der Zeit zum Produzieren vermag den Leistungen des Geldes nicht

mehr viel abzugewinnen. Das postfordistische Unternehmen entfernt sich in dem Maße,

wie es sich seiner strukturellen Bindungen entäußert, seine Organisation flexibilisiert

und nahezu verflüssigt, um bis ins kleinste Glied proaktiv zu agieren, von einer

traditionellen Chance/Risiko-Ratio. Es läuft weniger Gefahr, während der Zeit bis zur

Fälligkeit von Krediten von unvorhergesehenen negativen Ereignissen betroffen zu

werden, und setzt andererseits auch kaum mehr auf die Chance positiver Ereignisse. Das

Unternehmen orientiert sich an der Effizienz der eigenen Reorganisation in

Entsprechung zu den Marktbewegungen, was, trotz oder vielmehr wegen des ständigen

Wechsels, alles Offene an der Zukunft neutralisiert.

Diese freie, kaum mehr behinderte Reorganisation erzeugt eine eigene Haltlosigkeit.

Im unentwegten Bestreben, sich mit seinen Aktivitäten selbst zu überholen und heute

schon die Zukunft zu gestalten, büßt das Unternehmen nicht nur sein Gedächtnis ein,

sondern auch das klare Bewußtsein davon, was es eigentlich tut.2 So wenig verankert in

irgendeiner Geschichte es ist, fehlt diesem unablässigen Dazwischen der

2 Zeitgenössische „Unternehmensphilosophien“, in der Regel von externen Beraterfirmen erstellt, neigen dazu, das „Kerngeschäft“ als Unternehmensziel zu definieren, scheinbar ohne die offenkundige Aporie dieser Zielsetzung zu bemerken: Wenn die Steigerung der Effizienz die Identität des Unternehmens bestimmt und das „core business“, also das, was man eigentlich tut, in dieser Perspektive zum Ziel erklärt wird, initiiert das eine Art passage à l’acte de produire, eine Unwirklichkeit der Produktion als Objekt der reinen, phantasmatisch selbstbezüglichen Steigerung. Je ausschließlicher die Unternehmen sich darauf konzentrieren, ihre Handlungsfähigkeit zu steigern, desto endgültiger entfernen sie sich davon, wirklich und wissentlich etwas zu tun.

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Restrukturierung andererseits die exzessive Dynamik des Entwurfs. Es folgt stattdessen

einer Logik der Selbststeigerung, die nichts Anderes mehr freisetzt, sondern das Selbe

in seiner Selbigkeit verstärkt, gerade auch durch Innovationen. Aus den ständigen und

mit großem Aufwand betriebenen Verbesserungen von Service geht keine wirklich neue

Qualität mehr hervor. Die time to customer ist ereignislos, gerade weil sie Kreativität,

Innovativität, allgemein die rhetorische Spontaneität eines erklärtermaßen

unkonventionellen Denkens prinzipiell in den Erhalt des Status quo namens

Optimierung einrechnet. Wir haben es daher zugleich mit der kreativsten und mit der

chancenlosesten Wirtschaft zu tun. Potentiale erschließen sich dem Unternehmen in

dieser Ökonomie nur noch in der Perspektive einer Selbstverkürzung des Abstands, der

es von sich selbst zu trennen scheint, einer Selbstverflüssigung des eigenen Operierens,

das flexibler als flexibel wird und kraft dieser Hyperflexibilität neue Figuren von

Bereitschaft hervorbringt.3

Für diese Verflüssigung von Produktivität ohne Zukunftsbindung des Produktes stellt

Geld kein entsprechend geschmeidiges Äquivalent mehr da. In Deep Space Nine, einer

Science Fiction-Serie aus der Star Trek-Reihe, die im 24. Jahrhundert spielt, ist die

Währung für diejenigen Völker des Universums, die überhaupt noch kapitalistischen

Handel treiben, goldgepreßtes Latinum. Dabei ist das Gold gerade der wertlose

Bestandteil (es wird nur zum Pressen verwendet, um dem Ganzen irgendeine Form zu

geben), während es sich bei dem wertvollen Latinum um eine klare farblose Flüssigkeit

handelt.4 Diese Trennung von Festem und Flüssigem veranschaulicht die Problematik

des Geldes: Ab einem gewissen Punkt läßt die Eigendynamik der Produktions- und

Transaktionsprozesse die Leistungsfähigkeit des monetären Mediums hinter sich zurück.

3 Diese Bereitschaft hat zu dem, was man mit einer neuen Gläubigkeit die Bedürfnisse der Kunden nennt, eine größere Nähe als die souveränen Marketingkonzepte der 80er Jahre, als die Unternehmen sich in der Macht wähnten, Konsumentenbedürfnisse fast nach Belieben produzieren zu können. Die Unternehmen sind nun sogar an einer dauerhaften („nachhaltigen“) Kommunikation mit den Kunden interessiert und versuchen zu diesem Zweck gerade das Materielle, das Träge, Schwerfällige und schleppend Funktionale der Produkte zu nutzen, um Anschlußkontakte herzustellen. Doch gerade eine solche Strategie der totalen Verwendung, wie sie eine Ökonomie der Bereitschaft kennzeichnet, bringt ihre eigenen Aporien hervor. Vgl. dazu unten, Teil 2, „Wie kaufen?“. 4 Vgl. die Deep Space Nine-Folge „Who Mourns for Morn?”. Als optimaler Aufbewahrungsort erweist sich dort der zusätzliche Magen des Besitzers, ein atavistisches Organ, das nicht an das Verdauungssystem angeschlossen ist.

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Was ursprünglich einmal die Quelle einer starken Abstraktion und die Antriebskraft

eines an sich eher trägen Geschehens war, erweist sich nun als zu zähflüssig für die

Selbstvermittlung einer Welt, in der Dinge, Personen und Aktionen aus ihren festen

Konturen herausgetreten und eine engere Allianz mit der Flüchtigkeit eingegangen sind,

als ein gerade noch liquides Medium sie zuläßt. Der Bezug zum Möglichen, den das

Geld stiftet, beruhte auf einer Wertschätzung des Aufschubs, die in den

postfordistischen Unternehmen nicht mehr besteht. Die Konjunktur von Begriffen wie

„enable“ oder „empower“ im Management-Diskurs sollte diesen wesentlichen

Unterschied nicht verdecken (obwohl vielleicht genau das die Aufgabe der Begriffe

oder jedenfalls der Grund für ihre Popularität ist): Die Ermöglichung, um die es hier

geht, entspricht nicht mehr dem Schaffen von Möglichkeiten als Funktion des

Aufschubs. Dieses Ermöglichen versteht sich vielmehr als Verwaltung einer

Optimierung, die das Potential und seine Aktualisierung im selben Moment einer

vorweggenommenen Zukunft miteinander verrechnet und sofort sämtliche

Konsequenzen daraus zieht. Das enabling anulliert jede temporale Differenz zwischen

Realem und Möglichem; es zielt auf eine Expansion der gegenwärtigen Performance in

die Zukunft, die mit der gegebenen Zeit des Kredits nichts mehr anzufangen weiß, da

ihr zentraler Glaubenssatz lautet: Wir können es uns unter keinen Umständen leisten zu

warten.

Der Druck der Echtzeit

Eine wichtige Rolle für die Vorbereitung dieser Umwertung des Geldes spielte der

globale Kapitalmarkt, den man zunächst als Höhepunkt und Totalisierung der

Geldherrschaft angesehen hatte. Stattdessen führte er zu einer Spaltung und internen

Konkurrenz der Instanzen, die Geld geben. Die Kapitalbeschaffung durch Ausgabe von

Aktien und eigene Spekulationen an den Börsen ersetzte zunehmend den Bankkredit,

was den Unternehmen mehr Flexibilität, aber auch andere Abhängigkeiten brachte. Je

mehr die Banken (deren Vergabevolumen an die Vorgaben der Staatsbanken gebunden

blieb) an Bedeutung für die Wirtschaft einbüßten, desto mehr schwand die staatliche

Kontrolle über Währungen und allgemein über wirtschaftliche Entwicklungen, bis

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Staaten sich schließlich als Akteure unter anderen auf den internationalen

Finanzmärkten wiederfanden. Mit dem Schritt vom Kredit zur breit gefächerten

Refinanzierung verändert sich aber auch der Zeithorizont für das, was das Unternehmen

unternimmt.5 Die Produktion muß sozusagen in einer anderen temporalen Umgebung

überleben. Der Kapitalmarkt ist der erste Markt, der quasi in Echtzeit funktioniert und

bei dem sogar die Zeitzonen der Welt unmittelbar Einfluß auf die Gewinne und Verluste

haben.6 Die sprunghafte Erhöhung der Transaktionsgeschwindigkeit, verstärkt durch

den elektronischen Handel, bedeutet nicht nur eine neue Art von Riskanz, sie verändert

das Wesen jenes Kapitals, das in Milliardenhöhe binnen Minuten oder mitunter

Sekunden weltweit hin und her springt. Wo Geld selbst zur Ware wird und man direkt

mit „Futures“ handelt, entfällt die Produktivität des Aufschubs. Die Geschäfte auf den

Finanzmärkten haben eine Produktivität entdeckt, bei der dem Geld nicht mehr die

Funktion zukommt, etwas zu ermöglichen, sondern die Spekulation sich praktisch

unmittelbar im selben Medium realisiert – also genau die zeitliche Distanz, die Geld als

Währung ausmacht, verschwindet.

Das Geld ist hier gewissermaßen schneller als es selbst, es kommt mit seinen eigenen

Möglichkeiten zur Deckung, bevor diese zur Ermöglichung von etwas führen. Und in

dem Maße, wie die globale Wirtschaft sich in den Börsen reflektiert, wie die

Unternehmen ihre Strategien vorzüglich im Hinblick auf ihren Auftritt vor Aktionären

ausrichten, erweisen die Kapitalflüsse, die in Form längerfristiger Investitionen erfolgen,

sich als zu zäh. Es gibt hier weder den klassischen Zweckoptimismus noch die Form

einer Wette, sondern ein viel direkteres Rechnen mit den Licht- und Schatteneffekten

der Euphorie. Indem die Computerprogramme der verschiedenen Börsen-Netzwerke

künftiges Geld antizipieren oder projizieren, überspringen sie jenen Aufschub, den das

Geld als gegebenes eingeräumt haben würde, und ziehen daraus einen unmittelbaren,

nicht im Umweg über ein Realisierung des Möglichen erlangten Gewinn. In diesem

Sinne handelt es sich um „virtuelle“ Märkte – denn virtuell bedeutet hier, wie auch im

5 Und es ist wohl kein Zufall, daß die Banken mittlerweile zum Problemkind der globalen Marktwirtschaft geworden sind und zunehmend staatliche Unterstützung benötigen, um Krisen zu überleben. 6 Vgl. Francois Chesnais, La mondialisation du capital, Paris 1994.

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Fall der „virtual reality“, eine Ersetzung des Möglichen, eine Anachronisierung der

Beziehung zum Möglichen. Das virtuelle Geld der Börsen- und Währungstransaktionen

emanzipiert das Risiko vom Vergehen der Zeit und etabliert eine neue Art von riskanter

Flüchtigkeit, ein Spiel der permanenten Reorganisation des Wert-Portfolios, das eine

ganz andere Art von existenzieller Beweglichkeit erfordert als der erfolgreiche Umgang

mit geliehenem Geld.

Es neutralisiert damit auch jene „Dissemination“, die Jacques Derrida als Forcierung

des Kredits, als Möglichkeit der Möglichkeit in einer Zeit des Möglichen beschrieben

hat.7 Was immer auf den Kapitalmärkten geschieht, wird sogleich die Form einer

self-fulfilling prophecy angenommen haben. Ob Boom oder Katastrophe, das Ereignis

kann hier niemals der Einbruch eines Anderen sein, da die Prognosen den Aufschub

systematisch eliminieren und das Prognostizierte (eine Art vollendeter Gegenwart eher

denn Zukunft) dem Kommendem in jedem Augenblick zuvorkommt. Die Echtzeit der

Börse, ihre unmittelbare Verrechnung von antizipierter Zukunft und gegenwärtiger

Entwicklung, bricht endgültig mit der Zeit des Möglichen. Der Wirtschaftstheoretiker

Brian Rotman spricht von einem „Xenogeld“, dessen Wertentwicklung völlig frei von

‚äußeren’, d.h. nicht unmittelbar aus den Finanzmärkten selbst hervorgehenden

Einflüssen ist: „[D]ie Trennung der Finanz vom sogenannten wirklichen Handel hat zur

Folge, daß jeder besondere zukünftige Zustand des Geldes bei seinem Eintreten nicht

etwas ‚Objektives’ sein wird, ein Referent, der einfach da ist und von einer ‚wirklichen’

Handelskraft bestimmt wird, sondern durch genau diejenige Geldmarktaktivität entsteht,

die seinen Wert vorhersagen soll.“8

Damit würde schließlich auch das Apokalyptische aus der Geschichte des Geldes

verschwinden: Geldspekulanten könnten die Angst vor einem Versiegen der Ölquellen,

dem Zusammenbruch von Regimes oder der Überhitzung von Volkswirtschaften einem

prognostischen Diskurs überlassen, für den „Katastrophe“ nur noch eine Figur unter

anderen bedeutet. Schon heute lässt sich auf Verfall und Niedergang ebenso spekulieren

wie auf Steigerung und Wachstum. Ihre wahre Freiheit erlangt die Spekulation aber erst

dann, wenn der temporale Horizont der Finanzmärkte sich von der Geschichte des 7 Vgl. Jacques Derrida, Falschgeld. Zeit geben I, München 1993. 8 Brian Rotman, Signifying nothing. The semiotics of zero, London 1987, S. 96.

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Wachstums, wie sie die Produktion schreibt, radikal emanzipiert. Man sollte daher

damit rechnen, daß sich die Geschicke von Kapitaltransaktionen und Produktion rasch

vollständig trennen – daß Geld als Medium in eine neue Positivität übergeht, in der

Geld tatsächlich einfach nur noch Geld bedeutet und die Zukunftskalkulationen nicht

einmal mehr an der Möglichkeit eines wirklich Kommenden haften, während die

Produktion ihre eigene Zeitmessung entdeckt und die Zeit selbst zur neuen Währung

erklärt.

Das Zittern mit der Flexibilisierung

Die Geschichte des Geldes und seiner Wertschätzung erzählt vom Wunsch, durch

Flexibilisierung das eigene Überdauern zu sichern. Der Mensch geht eine strategische

Allianz mit dem absolut Unsicheren ein, um sich gegen die Folgen der relativen

Wechselhaftigkeit in einer zeitlichen und endlichen Welt zu wappnen. Bei Locke löst

das Geld die Verlegenheit einer Arbeit, die vornehmlich Verbrauchsgüter, also

vergängliche Dinge produziert. Man kann diese Dinge, die zur umgehenden

Konsumtion bestimmt sind, zwar überreichlich genießen und im Rahmen des

Genießbaren bis zu einem gewissen Grad anhäufen. Der wechselnde Besitzstand an

ihnen vermag jedoch niemals ein beständiges Eigentum zu bilden, das in der Form einer

rechtlich garantierten Beziehung von Eigentümer und Eigentum Identität verbürgte.

Wenn ich hingegen Geld besitze, wenn mein Reichtum primär in Geldwerten und nicht

in bestimmten Dingen besteht, verschafft mir das eine Selbständigkeit gegenüber dem

Entstehen und Verfall der Dinge – eine Selbständigkeit, in der ich meine bürgerliche

Identität als Eigentümer finde und behaupte. Eben die Flexibilisierung meines Besitzes

durch das Geld, seine Verlagerung vom Besitz der Dinge zum Eigentum an der

Möglichkeit, mir beliebige Dinge zu verschaffen, institutionalisiert mich dauerhaft als

Subjekt meines Reichtums. Geld dient hier also als zunächst Mittel gegen die Dynamik

einer Welt, in der nichts Gegenständliches Bestand hat.

Mit dem Kapitalismus verdoppelt sich die Dynamik der Bestandssicherung im Besitz

am Geld: Ich kann mein Geld nur noch als Besitz (be)halten, indem ich es vermehre, es

fortwährend wieder in die Produktion von Dingen investiere. Wenngleich diese Dinge

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als solche weitgehend gleichgültig werden (der Unternehmer nimmt irgendeine

Gelegenheit zum Produzieren wahr, er hat im Gegensatz zum Handwerker keine

privilegierte Beziehung zu einem Gegenstands- oder Herstellungsbereich), beherrschen

sie meinen Besitzstand doch dadurch, daß ihre Veräußerung wieder Geld einbringen

muß. Übereigne ich meine Existenzangst dem Kapitalismus, so ist mein Eigentum nicht

am Geld, sondern am Unternehmen seines Einsatzes als Medium des

mehrwertbildenden Tausches. Es handelt sich um ein „Eigentum an der

Aneignung“ (Arendt), in dem Geld nicht mehr der Stabilisierungsfaktor ist, der die

Flüchtigkeit und die kontingenten körperlichen Prozesse des Verbrauchs ausgleicht. Die

körperliche Instabilität des Besitzes affiziert das Geld selbst, und es potenziert diese

Instabilität, so daß sie nur mehr in der exponentiellen Steigerung zu einem Ausgleich

findet.

Das Geld ist in dieser Phase zugleich mehr und weniger als abstrakt. Seine

Leistungsfähigkeit als Äquivalent für beliebiges Konkretes bedeutet nicht mehr, daß es

selbst von dessen Unbeständigkeit völlig frei wäre. Es muß investiert werden, wie Güter

verbraucht werden müssen, und wird damit zu einer Ressource im Produktionsprozeß

unter anderen, die konjunkturbedingten Schwankungen unterliegt und über die man nur

im Rahmen gewisser Wahrscheinlichkeiten planerisch verfügen kann. Der

klassisch-moderne Kapitalismus unterscheidet daher im Grunde nicht zwischen Geld

und den Dingen, die er für die Produktion benötigt, ebensowenig wie zwischen diesen

Dingen und den arbeitenden Menschen (alle sind Kostenfaktoren). Und Geld

funktioniert als Äquivalent solange gut, wie es selbst sich in dieses Unterschied-lose

einfügt, als Konvertierungsmedium zwischen Dingen und menschlicher Arbeit

zwischen den Dingen und Arbeitsleistungen verschwindet. Es führt ein, wie Derrida

gesagt hat, gespenstisches Dasein inmitten von Phänomenen, die allesamt an der Grenze

ihrer Solidität, in einer geisterhaften Verdopplung ihrer selbst existieren.9

Diese Paradoxie bringt die Aura des modernen Geldes hervor, die besondere Aura

des unscheinbar Allgemeinen. Das Geld scheint in dieser Epoche des Kapitalismus die

größte Präsenz überhaupt zu besitzen, eine gleichsam magische Präsenz, der die ganze 9 Vgl. Jacques Derrida, Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt a.M. 1995.

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Welt verfällt, und die Selbstbeschreibungen dieser Welt präsentieren ein rauschhaftes

Spektakel des Kaufens und Verkauftbekommens. Doch im Produktionszusammenhang

bleibt das Geld unsichtbar diskret, liegt es als Posten in einer Planungstabelle wie ein

virtueller Stapel Holz zwischen anderen Ressourcen. Die gesteigerte spektakuläre

Präsenz und die strukturelle Unsichtbarkeit des Geldes sind zwei Seiten desselben

Phänomens, der Phänomenalität von Geld überhaupt. Denn nur in dieser Phase erlangt

das Geld wirklich eine phänomenale Existenz. Nur in dieser gespenstischen Disposition

zwischen Dingen, die selbst aus den Fugen des Gegenständlichen geraten, tritt es als

Kraft des Kapitals in Erscheinung, ohne mit irgendeinem materiellen Bild seiner selbst

zur Deckung zu kommen.

Das beginnt in dem Moment problematisch zu werden, wo das Geld als solches in

die Position eines Objektes gerät, mit dem man Handel treiben kann. Die Immaterialität

des Geldes an den Börsen ist selbst nur der Effekt eines spezifischen

Sichtbargewordenseins, eines Kollabierens der geisterhaften Phänomenalität des Geldes

zwischen materiellen Äquivalenten und der reinen, leeren Zeichenhaftigkeit. Aus seiner

spektakulären Zerstreuung in eine Unzahl von „Szenen des Ökonomischen“ tritt das

Geld zu einer Positivität und Endlichkeit zusammen, die frappierend, aber durchaus

suspekt ist. Die Neuigkeiten von den Börsen, die mittlerweile einen festen Bestandteil

der Nachrichtensendungen bilden, und die Ungeheuerlichkeiten, die man bisweilen von

den internationalen Finanzmärkten erfährt, wo Großspekulanten schwache Währungen

angreifen und Milliardengewinne erzielen, indem sie ganze Länder in den Ruin treiben,

lenken die Aufmerksamkeit unmittelbar auf das Geld. Zwar sieht man es auch so nicht,

doch diese Unsichtbarkeit hat jetzt etwas Kompaktes, die Bestimmtheit einer realen

Eigenschaft des Geldes: „Dieses irrsinnig dynamische Etwas“ mag irrsinnig dynamisch

sein, aber es ist nichtsdestoweniger ein Etwas. Und für mehrere Generationen stellt sich

die Frage, ob man ein langfristiges unternehmerisches Risiko eingehen soll, um

vielleicht irgendwann damit Geld zu verdienen, oder sich nicht eher direkt mit dem

Geld befaßt.10

10 Es muß hier nicht einmal mehr unbedingt ein Widerspruch sein, wenn gerade Menschen, die dem Kapitalismus als einem vom Geld (Profitgier, „trockenen“ Kalkulationen usw.) bestimmten System distanziert oder kritisch gegenüberstehen, Unternehmer werden. Die Geschäftsgründungswelle in

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15

Damit treten auch die Unterschiede zwischen dem Geld und den anderen Posten der

Produktion aus dem Unmerklichen ins Licht eines Kapitalismus, der, innerlich

gespalten, zugleich euphorisch und skeptisch, vom Geld selbst fasziniert und daher von

dessen Leistungen als Äquivalent zunehmend unbeeindruckt ist. Der

reflexiv-spekulative Kapitalismus der Börsenepoche läßt sich als eine Anstrengung

beschreiben, das Geld als selbstbezügliches Medium des Handelns von seiner

funktionalen Bindung als Äquivalent zu emanzipieren. Die Konsequenzen dieser

Emanzipation für die Produktion bleiben eine Weile dadurch im dunkeln, daß die

Produktion sich ihrerseits immaterialisiert, sich umstellt von der Herstellung von

Verbrauchsgütern auf die Bereitstellung von Serviceleistungen. Parallel zu einem

‚freien’ Geld entsteht offenbar eine ‚freie’ Produktion, die nicht mehr an den Umlauf

von gegenständlichen Gütern gebunden ist, sondern ihren Wert in einer Performance

einlöst, die nur noch wie beiläufig (und vorübergehend) Formen des Tausches annimmt.

Der kritische Punkt einer solchen Ökonomie liegt offenkundig dort, wo auch die

Performance sich darauf zurückgeworfen findet, daß irgendwann irgendwer dafür zahlt.

Und es trifft die fortschrittlichsten Business-Ideen am stärksten, daß es sich bei dem

Geld, das Gegenstand von Zahlungen ist, nunmehr um etwas von der Wirtschaft selbst

Vernachlässigtes, eine fast abgestorbene Dimension des Monetären handelt, deren

Wiederbelebung mit teilweise halsbrecherischen Preismanövern und der Erfindung

neuer Zahlungsmethoden einem Partisanenkampf nach verlorener Schlacht gleicht.11

Deutschland Anfang/Mitte der 90er zeigte einen neuen Typ von jungen Unternehmern, die zu einem großen Teil aus „alternativen“ Szenen kamen, denen es mit ihren Projekten nicht in erster Linie ums Geld ging (weshalb die Firmen auch mehrheitlich rasch Konkurs machten), sondern eher darum, persönliche Wünsche zu realisieren, mit Freunden etwas aufzubauen, was sozialen Netzwerken einen konkreten Ort gab, oder der Verlockung des Möglichen nachzugeben, ohne sich um Risiken zu kümmern. Die Protokolle in Minusvisionen. Unternehmer ohne Geld (herausgegeben von Ingo Niermann, Frankfurt a.M. 2003) bieten eine aufschlußreiche Rekonstruktion dieser Unternehmer-Biographien. 11 Der sog. „Niedergang der Zahlungsmoral“ ist nur eine ins Ethische verschobene Oberflächenansicht dieser Abwendung des Geldes von seiner Zahlungsfunktion. Die Klage über diesen Niedergang (die üblicherweise von der Position eines Privatbürgers oder Kleinunternehmers aus artikuliert wird) stößt sich an der Einsicht, daß Nichtzahlen in einer Phase des Kapitalismus, wo es keinen gemeinsamen Horizont des produktiven Wartens mehr gibt, effizienter ist als Zahlen. So wie die Unterlassung von Investitionen (etwa im Rahmen globaler Finanzspekulationen, die ihre Profite aus dem Verfall von Währungen ziehen) besser mit dem Geist des freien selbstbezüglichen Geldes harmoniert als die investitionsbasierte Unternehmung, profitiert ein Großunternehmen direkt von seiner Größe, indem es kleinere Zulieferer oder „Partner“ einfach nicht bezahlt. Die Konsequenz

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Der euphorische Diskurs, der technologische Neuerungen ankündigt oder ins

Gegenwärtige hineinimaginiert, täuscht darüber hinweg, welches Problem die

Immaterialisierung des Geldes in Form von elektronischen Zahlungen, Cybermoney

und Abrechnungschips zu lösen sucht. Es geht darum, das Geld wieder ins Unmerkliche

zurückzudrängen, nachdem es an einem abgesonderten Ort als solches sichtbar

geworden ist und uns mit dem störenden Nachbild einer Blendung zurückgelassen hat.

Es geht darum, seine allgegenwärtige, alles durchdringende Unsichtbarkeit

wiederherzustellen, indem das Zahlen von einer „Web-Erfahrung“ aufgenommen wird

oder mit dem Verlassen des Geschäftes automatisch die Abbuchung vom Konto erfolgt.

Das Digitale bietet eine Chance, die Ununterschiedenheit von Geld und Dingen

wiederherzustellen. Wenn man alles in binären Code auflöst und aus dieser Binarität zu

einer neuen Sinnlichkeit zusammensetzt, wenn man die Repräsentationen von

Zahlungsvorgängen und die Repräsentationen von Dingen gleichermaßen im

homogenen Raum des Digitalen verteilt, entsteht für eine Weile jener magisch

schimmernde Zustand neu, der den Kapitalismus bis in die 80er Jahre des 20.

Jahrhunderts hat funktionieren lassen. Doch die neue Unmerklichkeit des Geldes und

seine stillschweigende Verteilung zwischen den Dingen gelingt nur in einigen

Bereichen und vermag nichts daran zu ändern, daß es kein gemeinsames Maß für Geld

und Dinge mehr gibt.12 Geld läßt sich als Äquivalent nicht mehr ohne weiteres dem

kann kaum darin bestehen, das Nichtzahlen moralisch zu verteufeln, sondern wohl nur darin, es als ökonomische Handlung anzuerkennen und die Rolle des Geldes entsprechend neu zu bestimmen. 12 Ein Gegenbeispiel, das zeigt, daß die Immaterialisierung des Geldes eher eine bestimmte Verlegenheitslösung ist als die zwangsläufige Konsequenz der fortschreitenden Kommerzialisierung des Lebens, wäre Japan. Es gibt dort eine weit stärkere Durchsetzung der gesellschaftlichen und kulturellen Sphäre mit kommerziellen Strukturen als in Europa (oder sogar den USA). Die Eröffnung einer neuen Shopping-Mall stellt in einer japanischen Stadt ein kulturelles Ereignis ersten Ranges dar. Mega-Shopping-Center wie das 2003 eröffnete Roppongi-Hills in Tokyo lösen alle Unterschiede zwischen Kommerz und Kultur auf und schaffen durch gewagte architektonische und infrastrukturelle Experimente Orte eines äußerst beschleunigten kommerziellen Flows, in denen der Akt des Kaufens zur Form praktisch jeder Handlung wird. Dabei bleiben jedoch die Zahlungskonventionen andererseits überraschend traditionell, beinahe anachronistisch. Der größte Teil der finanziellen Transaktionen findet in Japan nach wie vor in Form von Bargeld statt. Kreditkarten sind zwar verbreitet, kommen aber nur bei großen Käufen oder in teuren Restaurants zum Einsatz (einige Japaner besitzen ihre Kreditkarte überhaupt nur für das Holiday-Shopping im Ausland). Die Geschäftsgepflogenheiten schenken dem Akt der Geldübergabe große Aufmerksamkeit: An jeder Kasse gibt es eine spezielle Schale, in die der Kunde das Geld legen kann, und die Annahme und Rückgabe des Wechselgelds durch den Kassierer geschieht mit der lauten und formellen Nennung der Summe, in vielen Geschäften auch mit einer speziell eintrainierten Geste,

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hinzuzählen, wozwischen es vermittelt. Es hat eine Eigendynamik entwickelt, die sich

den Dingen nicht mehr mitteilt, die immer deutlicher und schmerzhafter ihre

Heterogenität gegenüber jenem Fließen offenbart, in dem sich die Dinge, Aktionen und

Ereignisse mittlerweile befinden. Fast zwei Jahrhunderte hat man das Geld benötigt, um

die Dinge in Bewegung zu bringen, die Arbeit, den tätigen Umgang mit den Dingen,

über das bloß Notwendige einer Sicherung des Lebens hinaus produktiv zu machen.

Nun sehen die Verwalter dieser großen Initiative sich in der Verlegenheit, schnell etwas

Besseres als Geld zu erfinden. Aus Verlegenheit hat es bislang noch den Charakter eines

besseren Geldes.

Die totale „Sozialisierung“ des Geldes

Was es am Geld jedoch zu verbessern gilt, ist sein Verhältnis zur Zeit: Wie wäre ein

Geld beschaffen, das einer ökonomischen Neutralisierung des Wartens entspricht? In

welcher Weise müßte es den Agenten einer postfordistischen Produktion zur Hand sein,

die darauf angewiesen sind, daß alles, was sie tun, sich sofort in einer Steigerung von

Effizienz verwirklicht, die sich den Aufschub nicht mehr leisten können, da es mehr als

zweifelhaft ist, ob sie selbst in Zukunft noch Bestandteil des Unternehmens sein

werden?

Und wie sollte das Geld andererseits eine Konsumtion unterstützen, nachdem Service

nicht mehr darin besteht, den Konsumenten zu beliefern und bei dieser Gelegenheit

seine Zahlung in Empfang zu nehmen, sondern das Unternehmen um fast jeden Preis

mit der das okaeshi zusammen mit dem Kassenbon überreicht wird. Während die deutschen Banken auf mitunter wenig attraktive, aber doch irgendwie konsequente Weise bemüht sind, sich bei Senkung der Personalkosten als immer attraktiverer Dienstleister zu präsentieren, gleichen die japanischen Banken eher Ämtern: Man zieht eine Nummer und wartet geduldig, bis ein Schalter frei wird. Für Überweisungen und Buchungen werden hohe Gebühren verlangt, so daß es bspw. durchaus nicht unüblich ist, die Miete am Monatsanfang persönlich dem Vermieter zu übergeben, sofern dieser im Haus oder in der Nachbarschaft wohnt. Die Banken betrachten sich eher als Verwaltungsorgane denn als Kreditinstitute, die Kunden innerhalb sinnvoller Risikogrenzen zum dynamischeren Umgang mit Geld motivieren. Und wie das unproduktive Kapital auf den Konten der japanischen Postbanken in den 90ern zeigte, agieren sie auch selbst keineswegs selbstverständlich als Inzentive des Kapitalismus. Durch das weitgehende Fehlen von Diebstahlskriminalität fallen Sicherheitsprobleme als Motiv für häufigere Bankbesuche und einen beschleunigten Rhythmus des Abhebens-Ausgebens weg. Bargeld ist in Japan nicht bedroht – man kann es beliebig lange aufbewahren und behalten und ungeschützt in aller Öffentlichkeit verwenden.

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eine „nachhaltige“ Beziehung zum Kunden etablieren will, indem es die Lieferung, das

„Fulfilment“ möglichst endlos ausdehnt? Wenn Anbieter mittlerweile ihren

Kundendienst für den Verkauf schulen, da man Kunden, die Fragen oder Probleme mit

den erhaltenen Produkten haben, besonders leicht vom Vorteil weiterer Produkte, von

Ergänzungen, Upgrades und Zubehör überzeugen kann, zeichnet sich darin die neue

Dramaturgie einer kommerziellen Interaktivität ab, die über den einzelnen Kaufakt

hinausgeht, ja die bestrebt ist, dem Kaufen die Pointiertheit des Aktes zu nehmen und es

in etwas Weiches, Andauerndes, einen Effekt der Nachgiebigkeit oder Nachlässigkeit

des Käufers eher denn seines Entscheidens zu verwandeln. Kann eine Währung vom

Typ des Geldes ein solches Kaufen tragen, wo der Kauf nicht mehr den Abschluß einer

Transaktion darstellt, sondern sich während der andauernden Ausdifferenzierung der

kommerziellen Beziehung zwischen Unternehmen und Kunde zu vollziehen hat? Kann

Geld weiterhin den kommerziellen Verkehr regeln, obwohl die aktuellen

Unternehmensphilosophien die kommerzielle Beziehung als eine Form von

Kommunikation verstehen und die Unternehmen den Anspruch erheben, finanzielle

Transaktionen zusammen mit anderen Formen des kommunikativen Austauschs zu

behandeln? Es fällt leicht, sich über einen Business-Slang lustig zu machen, der die

scheinbar banale Sache des Kaufes (möglichst billige Ware hin, möglichst viel Geld

her) mit Vokabeln wie „individuelles Bedürfnisprofil“, „Identifikation mit dem

Kunden“, „Commitment“, „Begeisterung“ oder „Empathie-Prozeß-Matrix“ umnebelt.

Doch nimmt man all diese Begriffe und Wendungen für einen Augenblick ernst, zeigt

sich, daß sie eine alte Zweideutigkeit der Geldwährung mit neuer Radikalität zum

Ausdruck bringen: den sozialen Charakter des Geldes.

„Geld“ lautete im Jahr 1900 die Antwort von Georg Simmel auf die Frage, wie

Vorstellungen in einer Gesellschaft unabhängig von den Individuen zirkulieren können,

die sie hervorbringen. Die Zirkulation des leeren und dadurch frei besetzbaren

Geldzeichens schien das Modell par excellence für die vom individuellen Denken und

Handeln abgespaltene Realität des Sozialen zu sein – das Medium einer imaginären,

aber dennoch wirksamen und nicht abweisbaren Objektivität von Werten, an denen wir

uns als gesellschaftliche Wesen immer schon messen lassen müssen und die ungefragt

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(und normalerweise unbewußt) zum Maß dessen werden, was wir denken, sagen und

tun. Aber eben dieser paradigmatische Status des Geldes als oberstes Symbol des

Sozialen, als ausgezeichnetes Zeichen für das, was an der Realität über das dem

individuellen Handeln direkt Erreichbare hinausgeht, muß heute fragwürdig erscheinen.

Nicht deshalb, weil uns der Glaube an das Geld zu „nichts Gutem“ geführt hat und wir

endlich die „wahren Werte“ erkennen sollten (tatsächlich hat das Geld lange Zeit sehr

effektiv dazu gedient, als Negativfolie und Unterscheidungskriterium diese „wahren

Werte“ wie Liebe, Güte, Menschlichkeit, Verantwortung usw. als anökonomisch zu

identifizieren). Sondern weil Geldtransaktionen ein sozialer Prozeß unter anderen

geworden sind und keineswegs mehr das Symbol, in dem sich das Wesen der sozialen

Prozesse reflektiert. Wie die Sprache eine zeitlang das Modell aller formalen,

semantischen und pragmatischen Beziehungen zu sein schien und die Linguistik den

Rang einer Universalwissenschaft von der Beziehung als solcher bekleidete, so haben

auch die indirekten, über temporär standardisierte Werte vermittelten Formen des

Austausches, die das Geld ermöglicht, als Modell der sozialen Beziehung überhaupt

gegolten. Doch ist es heute umgekehrt die vielfältige soziale Bestimmtheit des Geldes,

die neu ins Blickfeld rückt und einen Philosophen wie Simmel wieder ein bißchen

aktuell macht.

Denn die zentrale These der Philosophie des Geldes besagt, daß eine Währung vor

allem von ihrer Anerkennung abhängt. Es gibt keine definitive Instanz, die sie dauerhaft

autorisieren könnte – auch nicht, wie wir mittlerweile noch besser wissen als Simmel

(der sich gegen die nationalistischen wilhelminischen Ökonomen im Aufstand befand),

der Staat. Obwohl es die konkrete einzelne soziale Beziehung distanziert oder

suspendiert, bleibt das Geld seinem Wesen nach sozial. Und eben dieses soziale Wesen

des Geldes könnte sich als eine unerwartete Grenze seiner Wirkungsfähigkeit

herausstellen, wenn das Ökonomische selbst sich jeder Differenz zum Sozialen entledigt

und mit der staatlichen Autorität die letzte Bezugsgröße jenseits des gesellschaftlichen

„Es hat Erfolg, wenn es Erfolg hat“ wegfällt. Eine neoliberale Dynamik der sich selbst

überantworteten Anerkennung, der reinen Rückkopplung von Verkehrswerten an die

Suggestivität ihres Zirkulierens steuert auf die restlose Identifikation von Ökonomie und

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20

Gesellschaft zu. Das bedeutet nicht nur eine Ökonomisierung des Sozialen, wie sie seit

längerem diagnostiziert und kritisiert wird, sondern im Gegenzug auch eine

„Sozialisierung“ des Ökonomischen (es ist bezeichnend, daß wir dafür kein

entsprechend furchterregendes Wort haben, außer diesen Marx’schen Begriff, der doch

eigentlich etwas Gutes versprechen soll). Und die Auswirkungen einer derart

„sozial“ gewordenen Ökonomie, deren Wertschöpfung dem assessokratischen Regime

der Begutachtung und Verteilung von Partizipationsmöglichkeiten an

Bewertungsprozessen, dem Spiel der Anerkennung und ihres Vorbehalts unterworfen ist,

lassen sich nur erst erahnen.

Die sozio-ökonomische Entwicklung, wie wir sie aus der Geschichte der Neuzeit

kennen, hat sich in einer Spannung zur souveränen Selbstbehauptung des Staates

vollzogen. Der junge Nationalstaat stärkte seine Macht dadurch, daß er sich das

Geldmonopol sicherte (Norbert Elias hat das beschrieben). Doch er eröffnete damit

zugleich eine Front gegenüber seinen Bürgern, die als Vertreter privater Interessen

gerade in der Sache des Geldes zu seinen Konkurrenten wurden. Novalis entwarf in

Glauben und Liebe einen Staat, der sich ganz und gar in ein hochproduktives

Unternehmen verwandelt hat (und nahm damit den „totalitären Staat“ des 20.

Jahrhunderts in einer Version vorweg, die dem von Marx attestierten Primat des

Ökonomischen vor dem Politischen, Sozialen und Kulturellen in einem Maße Rechnung

trägt, das die wirtschaftlich schwachen Staaten des real existierenden Sozialismus und

Kommunismus haben vergessen lassen). Genau diesen Schritt konnte und wollte der

bürgerliche, nicht-totale Staat jedoch nie gehen. Obwohl er die Kontrolle über das Geld

hatte, nutzte er sein Monopol nie aus, blieb er gegenüber den sozialen und

ökonomischen Initiativen von privater Seite stets im Rückstand. Die ehemaligen

staatlichen Betriebe Post, Telekom und Bahn, die auf dem freien Markt nur überleben,

weil sie von ihren Quasi-Monopolen zehren, wirken wie monströse Zeugnisse dieser

ungeheuren ökonomischen Nachlässigkeit eines Staates, der „der Wirtschaft“ als

Bereich des privaten Unternehmertums erst eigentlich den Vorteil verschaffte, der die

Unternehmens-Konsortien nun als Akteure auf einem staatlich nicht mehr zu

kontrollierenden Weltmarkt zu überlegenen Gegnern jedes politischen Reformprojekts

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macht, das die neoliberalen Glaubenssätze verletzt.

Das Geld fällt dabei zunehmend jener Entpolitisierung zum Opfer, die es selbst

angestoßen und getragen hatte. Im selben Moment, wo das Geld rückhaltlos

„sozialisiert“ wird, da die Dynamik der Anerkennung sich in Gestalt von globalen

Finanzmärkten verselbständigt und die politische Gegenkraft der souveränen staatlichen

Maßnahme wegfällt13, verschwindet die Grenze, die das Geld als Symbol von anderen

Medien sozialer Kommunikation trennte. Wir haben es nicht einmal mehr mit einer

dialektischen Wechselbeziehung von „materiellem Tausch“ und „symbolischem

Tausch“ zu tun, deren Dynamik sich im Medium des Geldes austrägt.

„Sozialisierung“ des Geldes besagt: das Geld verliert jede Szene, auf der es als

Motivation, Resultat oder verborgener Hintergrund eines sozialen Prozesses zu dessen

Symbol werden könnte. Monetäre und andere Interaktionen stehen in direkter

Konkurrenz zueinander oder durchdringen sich bis zu einem Punkt, wo ein Medium

widerstandslos dem anderen stattgibt.

Für ein Medium sozialer Kommunikation geht es nicht so sehr um geschmeidige

Äquivalenz und gehaltvollen Aufschub als vielmehr um effiziente Präsentation. Es gibt

keine Trennung von Zeichen und Gegenständen mehr, die dem Geld einen besonderen

Status garantierte. Der Übergang von der materiellen zur immateriellen Produktion, von

der herstellenden Arbeit zur bereitstellenden Verwaltung von Service bedeutet, daß die

symbolische Abspaltung von der Realität sich in die Realität der Produktion verlagert.

Eine Dienstleistung erlangt ihre Wirklichkeit als Produkt wesentlich dadurch, daß sie

sich selbst als solche präsentiert, die Zeichen für das, was in ihrem Namen vorstellbar

ist, auf eine Weise organisiert, die auf den Adressaten hinreichend suggestiv wirkt und

ihn so davon überzeugt, wirklich eine wertvolle Leistung in Anspruch genommen zu

haben. Die gegenständliche Spezifizierung einer Dienstleistung bleibt dabei oft ebenso

unklar wie ihr sachlicher Umfang, der Zeitpunkt ihrer vollständigen Lieferung usw.

(wie prekär derlei Spezifizierungen sind, zeigt sich in den zahlreichen Fällen, wo die

13 Auch das Führen von Kriegen, das in einer Phase, wo der Nationalstaat ums Überleben in einer globalen Ordnung kämpft, wie ein letztes Aufbäumen der staatlichen Souveränität wirkt, droht selbst den Haushalt der Weltmacht USA zu ruinieren und erhöht die Abhängigkeit des Staates von der privatwirtschaftlichen Unterstützung – vom Outsourcing der Logistik aus Kostengründen bis zu Wiederaufbau-Deals.

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Suggestivität der Selbstauszeichnung nicht hinreichend war und der Kunde bemerkt,

daß die Dienstleistung vollkommen verzichtbar ist). Hier steht nicht mehr Ware gegen

Geld, sondern es treten Zeichen, deren Verweise das Profil einer Leistung modellieren

und diese präsent machen sollen, neben Geldzeichen, „qualitative“ neben

„quantitative“ Zeichen. Die Organisation dieser Zeichenarrangements ist weitaus

komplexer als eine Herrschaft des Geldes über die Dinge oder Dienstbarkeit des Geldes

für deren Verkehr. Das Geld trifft in seiner zeichenhaften Selbstbezüglichkeit in der

Warenwelt der Dienstleistungsökonomie auf eine Vielzahl anderer Zeichen, die

möglicherweise ebenso ‚leer’ sind und ebenso darauf angelegt sind, ihre eigene Realität

zu erzeugen, indem sie zirkulieren und als Beweis für die Wirklichkeit ihres eigenen

Funktionierens ihre bezeichnende Wirkung selbst unentwegt bekräftigen.

Geld gerät damit unter einen Präsenzdruck. Es muß sich in einem Kampf um

Gegenwärtigkeit behaupten, für den es niemals gedacht war. Hannah Arendt stellte

bereits in den 60er Jahren fest, daß im Vergleich zur Flüchtigkeit von Aufmerksamkeit

und Anerkennung im modernen sozialen Verkehr das Geld als etwas Dauerhaftes und

„Wirkliches“ erscheine.14 Je dichter ökonomische und soziale Prozesse einander

durchdringen, je mehr sich Verkaufen ebenso wie Arbeit als Kommunikation oder

Organisation von Kommunikation zu verstehen hat, so daß die kommerzielle

professionelle Tätigkeit und das soziale Leben konvergieren, desto stärker beschleunigt

sich die Wertschöpfung gegenüber jenen Transaktionen, in denen Geld die maßgebliche

Rolle spielt. Das treffendste „Symbol“ (tatsächlich eine Metonymie) für den aktuellen

Zustand des Kapitalismus sind die Praktikanten, die praktisch ohne Einkommen für die

Arbeit selbst arbeiten. Nur sie haben definitionsgemäß die Energie, das Engagement

und die Flexibilität, um den Idealen des Postfordismus zu entsprechen.15 Wer für seine

14 Hannah Arendt, Vita Activa. Vom tätigen Leben, München 2002 (1967), S. 71. 15 Platon sah die „lohndienerische Kunst“, d.h. die Kunst, Geld zu verdienen, als eine technische Fähigkeit unter anderen – keineswegs als Teil oder gar Beweggrund der Arbeit, sondern gerade als das Mittel, um nicht arbeiten zu müssen und die Freiheit zum (künstlerischen) Herstellen oder zum (politischen) Handeln oder schließlich zur Philosophie zu haben (Vgl. Politeia, 346c-e). Es scheint, als habe sich eine solche Trennung nunmehr im Arbeitsleben etabliert, als wäre das Geld-für-Arbeit-Prinzip in der postfordistischen Produktion sowohl von der Seite des Geldes als auch von der Seite der Arbeit her in Frage gestellt. Auf der einen Seite muß der im Management oder als Freelancer Beschäftigte stets selbst den Beweis führen, daß das, was er tut, als Arbeit zu zählen verdient, daß die Entscheidung, die der trifft, es wert ist, bezahlt zu werden, daß eine solche

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Tätigkeit fest bezahlt wird, verfällt schon einer strukturellen Trägheit, die auf alle seine

Anstrengungen eine lähmende Wirkung ausübt. Demgegenüber bezeugt das

Gehaltsniveau im Spitzenmanagement, daß das Geld an irgendeiner Stelle vernichtet

werden muß, da im Grunde zuviel davon da ist und da es die eigentliche ökonomische

Aktivität nur noch stört. Der Vorwurf einer „Absahnermentalität“ und „skrupelloser

Bereicherung“ von moralisch besonders verkommenen Individuen, die es dummerweise

weit gebracht haben, reicht kaum aus, um die Bereitschaft zu ihrer Überbezahlung zu

erklären. Die Wahrheit scheint eher zu lauten, daß Geld träge macht und daß Mitarbeiter

dieser Trägheit erliegen, wenn man ihnen gute und verläßliche Gehälter zahlt. Die

Top-Manager sind die bösen Helden dieses Kapitalismus im Übergang zu einer

postmonetären Epoche, weil sie als einzige die Geldmengen verkraften können, ohne

dadurch nachzulassen. Ihre Schlüsselqualifikation besteht darin, daß ihre

Entschlossenheit von den Millionen, die man auf ihre Konten überweist, nicht gedämpft,

sondern weiter stimuliert wird. Es ist, mit einem altmodischen Wort, ihre unersättliche

Gier – doch bekommt diese Gier, die jedes Kosten-Nutzen-Kalkül überbordet und der

Investitionslogik hohnspricht, nun die quasi ökologische Dignität einer Entsorgung des

schlechten Geldes. Der überbezahlte Spitzenmanager ist ein Reflexionspol, der die

schlechte Endlichkeit der Geldsummen in die gute Unendlichkeit der unvergleichlichen

Leistung einer ‚Entscheidung, die die Effizienz erhöht’ zurückspiegelt. Der größte

ökonomische Fehler in einem solchen System wäre es, jemandem Geld zu geben, der

damit zufrieden ist. Und diese Gefahr besteht bei Geld immer.

Geld als Gegenwert für Arbeit ist also in dem Augenblick überholt, wo die Arbeit

eine den Tausch übersteigende Mobilisierung von Aktivität verlangt, wo sich die

Zahlung eine Investition und keine Ausgabe darstellt. Auf der anderen Seite wird in immer stärkerem Maße erwartet oder einfach vorausgesetzt, daß der Arbeitende einen Teil seiner Zeit und Kraft dafür aufbringt, für die Arbeit zu arbeiten, damit er den verbleibenden Rest (die von ihm ‚gewonnene’ Zeit) für sich selbst, für seine eigene Selbstverwirklichung arbeiten kann. Wenn der Künstler, der mehrere Jobs hat, um seine Arbeit als Künstler zu finanzieren, für die er kaum oder gar kein Honorar bekommt, zum Modell der Ich-AG avanciert, erweist sich die Kunst, Geld zu verdienen, als ein separater Bereich des Arbeitslebens, der zu all dem, was in der Moderne die Identität von Arbeit ausgemacht hatte – ein zusammenhängender Komplex von Wissen und Fertigkeiten, ein bestimmtes Zeitgerüst (der „Werktag“), eine in ihrer Höhe jeweils aushandelbare, aber als solche feststehende Beziehung von Arbeitsleistung pro Stunde und Geldwert usw. – die Verbindung verliert

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Prinzipien der Produktion von den Gesetzen des Tausches emanzipieren. Innerhalb der

Ökonomie des Tausches gab es stets die Perspektive einer eigenen Übersteigerung,

einer riskanten „chrematistischen“ Spekulation, die zu einer unverhältnismäßigen

Vermehrung des Wohlstands oder zu seinem Verlust führte.16 Der klassisch-moderne

Kapitalismus konnte diese Perspektive nutzen, um den Tausch zu forcieren, die Einsätze

zu erhöhen und entsprechend exponentiell höhere Erträge zu erwirtschaften. Doch mit

der postfordistischen Neubewertung von Produktivität gilt es die chrematistische

Dimension von der Ökonomie der Produktion abzukoppeln: Die paar obersten

Entscheider an der Spitze, die als Unternehmer reich werden oder als Top-Manager

Millionen verdienen, haben nicht mehr die Rolle von Beispielen, von treibenden

Kräften, die ein Vorbild für das Ganze abgeben. Sie stehen eher für eine heikle, aber

notwendige Katharsis, eine Exteriorisierung des Geldes, die das Produktionssystem

braucht, um sich zu reinigen und seine selbstbezügliche Produktivität ungebremst

weiterzuentwickeln.

Zählen – Geld oder Zeit?

Die Zeit, nicht mehr das Geld, ist heute das Brot jener „innerweltlichen Askese“, von

der Max Weber hinsichtlich des modernen Kapitalismus sprach. Geld zu akkumulieren

und es dann nicht für Genuß oder Besitz auszugeben, sondern ohne Umschweife wieder

zu investieren – diese Haltung hat offenkundig die Bestimmungsmacht über die

ökonomischen Aktivitäten der Gegenwart verloren. Stattdessen realisiert sich das, was

früher die Reinvestition des Mehrwerts war, heute direkter und vollständiger im

Medium der Zeit in Form der Entscheidung. Das Entscheiden ist jener „asketische“ Akt,

der alles, was es an Zeit gibt, augenblicklich in Maßnahmen zum Erreichen eines neuen

organisatorischen Niveaus investiert. Das Entscheiden verbraucht Zeit nur, um Zeit zu

gewinnen. Ein gutes Zeitmanagement affirmiert sogar die Müßigkeit zu dem Zweck,

das Verhältnis von Produktivität und Zeit weiter zu steigern.17

16 Die begriffliche Entgegensetzung von Ökonomie und Chrematistik stammt von Aristoteles (Politik, 1257b, 1258a). Vgl. dazu auch Derrida, Falschgeld. 17 Ich habe die Paradoxien des Zeitmanagements ausführlicher untersucht in: Kai van Eikels, Poetik der Zeitkürzung. Zur temporalen Organisation im postindustriellen Management, http://t-rich.prognosen-in-bewegung.de/de/was-weiss-t-rich/texte/kai-van-eikels-poetik-der-zeitk-rzu

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So sehr sich Management-Ratgeber und die Statements der Betreffenden bemühen,

das Entscheiden als den harten, realistischen Kern der Arbeit für das Unternehmen zu

präsentieren, sucht eine fast religiöse Emphase den Begriff der Entscheidung heim. Als

eine Art originärer zeitigender Akt kommt der Entscheidung des Managers mehr Macht

zu als die Perspektivierung einer spezifischen günstigen Zukunft (d.h. einer

Einschränkung der Unwahrscheinlichkeit ihres Eintretens). Der Akt der Entscheidung

redeterminiert vor allem auch die Zeit, in der die Entscheidung getroffen wird, und übt

dadurch einen Einfluß auf die Temporalität der Prozesse aus, die mit dieser

Entscheidung in Zusammenhang stehen. Jede Entscheidung im Management stellt eine

Selbstermächtigung über die Zeit des eigenen Handelns dar, einen Versuch, die Zeit

selbst als solche in die Hand zu nehmen – und die Logik dieser Ermächtigung ist im

Grunde eine poetische: „Mit jeder Berührung entsteht eine Substanz, deren Wirckung so

lange, als die Berührung dauert“, schreibt Novalis in einer seiner fragmentarischen

Skizzen einer magischen Chemie der Zeit. Die quasi alchimistische Substanz einer

solchen Berührung der Zeit spielt für die manageriale Organisation eine immer

maßgeblichere Rolle. In ihr lokalisiert sich etwas, was man als den magischen Kern der

zeitgenössischen Vorstellung von Arbeit ansehen müßte: eine unendlich kostbare

Kernsubstanz von Arbeitslebenszeit, die das Potential hat (oder ist), sich selbst zu

intensivieren, durch unendliche Verwandlung ihrer eigenen Struktur eine Verdichtung

zu erreichen. Die Verdichtung erlaubt es nicht einfach bloß, in kürzerer Zeit mehr zu

produzieren, sie wirkt sich unmittelbar auf die Qualität des Produkts aus. Hegel hatte

postuliert, daß eine quantitative Steigerung irgendwann in eine neue Qualität umschlägt.

Er formulierte damit die Maxime einer industriellen Ökonomie, die sich zunächst auf

das quantitative Mehr konzentrierte und die Emergenz des Neuen dem unaufhaltsamen

Fortschritt überließ. Die strukturelle Ungeduld des Postfordismus ist dagegen

vollkommen unfähig, auf den Moment eines solchen Umschlags von Quantität in

Qualität zu warten. Sie ruft bereits im Ansatz der Produktion, in der managerialen

Initiative, einen Kurzschluß zwischen quantitativer und qualitativer Steigerung hervor –

und hat daher kaum Verwendung für ein Medium, das Werte in quantitativen Einheiten

ng/.

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speichert, um unterschiedliche Qualitäten zu repräsentieren, und von Fall zu Fall eine

Rückübersetzung ins Qualitative verlangt. Der unhinterfragbare Letztbegriff der

Effizienz steht hier für eine Ablösung der Steigerung von der Dialektik des

Quantitativen und Qualitativen. Er bezeichnet den unentwegten Kurzschluß dieser

Dimensionen in einem Augenblick, da die Gegenwart dazu angehalten ist, alle

Konsequenzen aus sich selbst zu ziehen: ein Mehr, das als Mehr zählt, ohne daß man

Zeit damit verlieren müßte, es nachzuzählen; ein Mehr-Werden, das sich ganz dem

Gegenwärtigen hingibt und die widerspenstige Form einer ungewissen Zukunft hinter

sich läßt.

Die Magie der Effizienz, die Zauberkraft eines unmittelbaren Umgangs mit der Zeit,

die sich von jeder mechanischen Äußerlichkeit befreit, läßt den magischen Glanz des

Geldes verblassen. Die Epoche des Geldes endet dort, wo die Zeit selbst jene Medialität

der freien Steigerbarkeit, eines nicht determinierten Enhancements übernimmt. Es

entfällt die Konvertierung der Steigerung in eine symbolische Ordnung des Mehr. Statt

ihn zu symbolisieren, um das Symbol auf ein Konto des unternehmerischen

Geleistet-Habens zu transferieren, verwendet man den Gewinn im Medium der Zeit

direkt – für eine weitere Entscheidung, die alles noch effizienter gemacht haben wird.

Gewinnen wird so ein Vorgang, der sich vollends ins Reale einläßt, ohne Umweg über

die Repräsentation der Differenz in einem symbolischen Code addierbarer Werte. Das

Arbeitsleben als eine Weise, in der Zeit zu sein, reorganisiert sich selbst als Technik des

Zählens – das heißt, Zählen stellt keine symbolische Operation mehr dar, die Arbeit

abbildbar und kalkulierbar macht, sondern es ist die elementare Funktion des Arbeitens:

ein märchenhaft anmutendes Er-zählen, ein unablässiges Sichpräsentieren, bei dem der

Arbeitende die Präsenz seiner eigenen Performance selbst generiert.

In einer Ökonomie, die nicht mehr primär durch das Produzieren, das

„Sich-selbst-Produzieren“ des Menschen bestimmt ist, sondern durch eine total soziale

Arbeit, die auch das Produzieren in Arbeit verwandelt, braucht man eine direktere

Konvertierung als die symbolische Äquivalenz des Geldes. Geld war, wie man im

Industriekapitalismus entdecken konnte, als leeres Zeichen des möglichen Mehr das

genuine Medium des Produzierens. Es unterbrach die Produktion und erlaubte es ihr,

Page 27: Vaneikels-liquidierung Des Geldes

27

sich mit Produktivität anzureichern, dabei aber auch als Wertschöpfung Produzieren zu

bleiben. Das Medium für die total soziale Arbeit ist jedoch die Zeit ohne symbolische

Beziehung ihrer Einheit zu einem diskreten Ort im Zentrum des Tausches – die

Äquisistenz statt der Äquivalenz.

Der fragliche Wert des Messens

Doch welchen Wert hat diese Präsenz von Arbeit, dieses „intangible capital“, wenn das

Geld als Maßstab versagt? Und welchen Wert haben die Produkte, die ein

postfordistisches Management von Produktivität über selbst immer flüchtigere Märkte

verstreut? Wie erfassen wir Werte, die sich von der Effizienz herleiten, bei denen es

sich um Figuren der Ununterscheidbarkeit von Qualität und Quantität handelt?

Nach der Enttäuschung an der „New Economy“ zum Ende des Jahrtausends beeilte

man sich, eine „Real Economy“ auszurufen, um das selbstbezüglich gewordene

Unternehmen wieder auf eine feste Basis zu stellen. Zu den Folgen dieser Wende, die

bis heute merkbar sind, gehört eine fetischistisch anmutende Fixierung auf die

Meßbarkeit von Erfolg. Techniken wie „Benchmarking“, ein minutiöser Vergleich der

eigenen Leistungen mit denen des Marktführers, Abteilung für Abteilung und Prozeß

für Prozeß, sollen Fiktionen abbauen und das Management auf Zahlen und Fakten

zurückbeziehen. Für fast alle Arbeitsabläufe etabliert man Meßmethoden, so daß jede

einzelne Leistung eines Mitarbeiters sich in irgendwelchen Meßergebnissen

niederschlägt und separat zur Beurteilung steht. Die Vervielfältigung von Messungen

und die Schaffung neuer Meßsysteme liefert dabei, fast unfreiwillig, einen weiteren

Beweis dafür, daß das klassische Maß aller Dinge in der Wirtschaft viel von seiner

Signifikanz eingebüßt hat. Die „Zahlen“ des Unternehmens haben mittlerweile einen

begrenzten Erklärungswert. Die Unternehmen präsentieren ihre positiven Bilanzen zwar

nach wie vor als starke Aussagen, aber eben weil sie vornehmlich für den Auftritt an der

Börse als Statement formuliert werden, sinkt ihr interner Wert. Die Orientierung auf den

shareholder value motiviert zu einer Vielzahl von Manipulationen, die auch die eigene

Unternehmensführung häufig kaum mehr durchschaut: „They can stretch out payments

by classifying them as capital expenditures to be amortized over years rather than

Page 28: Vaneikels-liquidierung Des Geldes

28

expensed all at once, treat debt as capital, book income before they have received it and

set up partnerships for transactions designed to hide liabilities or boost income

artificially. The possibilities of self-serving manipulation are endless, as Enron and

others have demonstrated.”18

Solche Bilanzen verraten den Managern eher wenig über die Arbeit, die sie in ihrem

Unternehmen organisieren. Deshalb tritt eine Vielzahl von Zeit- und

Effizienzmessungen hinzu, um das innere Schweigen der nach außen lautstark

verkündeten Zahlen zu interpretieren, und diese Messungen erschaffen ihre eigene

Wirklichkeit, eine Evaluationswirklichkeit, deren Kriterien sich gegenüber dem, was

Geld zu sagen vermag, zu einer anderen Sprache verschließen. Es gibt eine Stummheit

des Geldes, die den zahlreichen überlieferten Redensarten zu antworten scheint, mit

denen unsere Kultur sich der Bedeutung der monetären Währung zu versichern pflegte.

Zeit ist Geld? Nein: Zeit ist Zeit. Wir werden lernen müssen, die ökonomischen

Bewegungen in dieser Gleichung zu entziffern, ohne auf Geldzeichen zu treffen.

Kapitalistische Zeitmessung

Wenn ich hier die Dysfunktionalitäten der Geldes in der gegenwärtigen Phase des

Kapitalismus aufzähle, anstatt Ungerechtigkeiten anzuprangern oder Umverteilungen zu

fordern, so aus zwei Gründen: Erstens, weil es ein Fehlschluß wäre, aus der

unbestreitbaren Armut, die auf der Welt und mittlerweile auch wieder in Deutschland

herrscht, einen neuen ‚Ernst des Geldes’ zu machen. Die Verwalter des Reichtums und

die Opfer der Armut sind sich gerade in diesem Ernst fatal einig, der im einen

Augenblick die Form eines „Wir brauchen und haben Anspruch“, im nächsten die eines

„Wir können es uns nicht mehr leisten“ annehmen kann und die Einheit und Rationalität

einer Haushaltsführung vorspiegelt, die beide Haltungen miteinander vermitteln könnte.

Der korrekte Hinweis darauf, daß viele Menschen zu wenig Geld haben, sollte uns nicht

in den Glauben an die Macht des Geldes, ob zum Guten oder zum Schlechten,

zurücktreiben. (Eine Politik der Entschuldung, wie sie zurecht gefordert wird, hätte

gerade endgültig mit der Kreditherrschaft zu brechen, indem sie die Verpflichtungen auf 18 Robert Guttmann, Cybercash. The Coming Era of Electronic Money, Basingstroke/New York 2003, S. 32.

Page 29: Vaneikels-liquidierung Des Geldes

29

Null bringt; sie müßte die Unmöglichkeit einer Politik des Geldes dadurch anerkennen,

daß sie die überkommene Zeitbindung durch gegebenes Geld irreversibel annulliert).

Zweitens geht es mir darum, auf einen Bereich der Steuerung, der Kontrolle und

Manipulation des Lebens hinzuweisen, der bislang eher im Schatten einer Kritik des

Postfordismus stand und selbst in den Analysen der Entdifferenzierung von Leben und

Arbeit eine eher marginale Rolle spielt: die Etablierung einer kapitalistischen

Zeitmessung, deren Wirkung weit über die Auflösung fester Arbeitszeiten und eine

allgemeine Ökonomisierung hinausgeht, die am Ende einer Ära des Geldes vielmehr die

Aufgabe bekommt, Maße dafür zu implementieren, was zählt, was einen Wert darstellt,

was Anerkennung findet, was in einer restlos kommunikativen Realität das Niveau des

Existierenden erreicht – und was nicht. Da die Zeit der Bindung durch das Geld

entgleitet, wird sie selbst zum Medium, in dem sich Gewinne und Verluste ohne

Umweg über eine symbolische Repräsentation realisieren. Und die

Existenzbedingungen in einer solchen Realität der unmittelbaren Realisierung sind

weniger von Gegensätzen wie Haben und Nichthaben bestimmt als von den Differenzen

in der Fähigkeit, sich mit bestimmten Anerkennungs- und Bewertungsprozessen zu

synchronisieren, die eigenen Leistungen innerhalb dieser Prozesse präsent zu machen

und von dieser Präsenz für das eigene Dasein zu profitieren. Geld lohnt nicht mehr, weil

etwas anderes mittlerweile zum privilegierten Objekt einer systematischen

Verknappung und eines prinzipiellen Vorbehalts geworden ist. Die aktuellen Szenen des

Mangels und des Überflusses sind Augenblicke, in denen wir es uns „nicht mehr leisten

können zu warten“ oder in denen die Freiheit die Gestalt eines Entlassenwordenseins

angenommen hat. Augenblicke verminderter oder verstärkter Anwesenheit an der

Schwelle zur Partizipation. Wie verhält man sich in so einer Zeit?

Der leere, stets nur zeichenhafte Wert des Geldes hielt, indem er ihn scheinbar

vollkommen zu vernachlässigen gestattete, immer noch jenen absoluten Wert in der

Gegenwart, der „weder zweckgerichtet noch sich selbst äquivalent ist“.19 Wenn die

Selbstbezüglichkeit des Geldes, das „die Welt regiert“, das Menschliche ersetzen konnte,

so indem das Geld präzise an die Stelle der Menschheit trat, um das Menschen-Werk

19 Jean-Luc Nancy, Die Erschaffung der Welt oder Die Globalisierung, Zürich/Berlin 2003, S. 25.

Page 30: Vaneikels-liquidierung Des Geldes

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vom unmenschlichen Druck seiner Totalität zu entlasten, ihm mehr Zeit zu verschaffen

(mehr vor allem auch im Verhältnis zur Geschichte) und unterdessen, zur Zeit der

Suspendierung des Menschen-Werkes, vieles zum Funktionieren zu bringen. Das

Geldzeichen hielt dabei den Platz dieses Menschen-Werkes, den Platz des absoluten

Wertes offen, und gerade dort, wo es sich allein auf sich selbst bezog, wahrte und

bewahrte es die Möglichkeit einer revolutionären Umkehr des Kapitalismus in eine

Epoche der Menschheitsgeschichte – die Möglichkeit einer Umkehr, mit der sich

herausstellen würde, daß das alles doch zu etwas gut gewesen war, daß es im Sinne des

Projekts Menschheit sinnvoll gewesen war, die Sache auch durch ihre kritischen Phasen

hindurch weiterlaufen zu lassen. Wer immer sagte, daß es „nur ums Geld“ gehe, brachte

mit diesem Vorwurf noch einmal die Hoffnung zur Sprache, die Entleerung der Welt

durch die Herrschaft des Geldes erhalte die Welt doch als Horizont einer denkbaren

Umkehr. Der Kapitalismus, der die Weltherrschaft beanspruchte oder sie sich zumindest

vorwerfen ließ, erneuerte indirekt sein Versprechen, daß sein eigentliches Ziel seine

Aufhebung sei. Ein Kapitalismus ohne Geld ist dagegen ein Kapitalismus ohne ein

solches Versprechen, ja vielleicht überhaupt ohne Versprechen.

Page 31: Vaneikels-liquidierung Des Geldes

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2. Aporien des Kaufens

Zahlungserinnerungen

Die deutsche Politik der Nachwendezeit hat sich auf die Verwaltung von Problemen

konzentriert, die „strukturell“, d.h. in den gegenwärtigen Strukturen unlösbar sind:

Arbeitslosigkeit, Krise des Renten- und Gesundheitssystems, schlechte Leistungen der

Schulen... Die Maßnahmen der Regierung erhielten daher regelmäßig den Titel

„Strukturreform“. Ihr Status relativierte sich aber schon in dem Moment, wo das

Finanzierungskonzept vorgestellt wurde, das sie ermöglichen sollte. Was sich in den

Programmen und Erklärungen als radikale Erneuerung präsentierte (deren Radikalität

man auch mit negativen Attributen wie „schmerzhafte Einschnitte“, „Heulen und

Zähneklappern“, „Opfer bringen“ usw. zu unterstreichen suchte), erschien in der

Haushaltsplanung als ein Hin- und Herschieben von Positionen, deren Gesamtumfang

kaum verrückbar war, ein paar minimale Änderungen im Verhältnis von

Schuldensummen und erwarteten Einnahmen. Zum einen durchkreuzte diese fade

buchhalterische Kreativität des Verschiebens die Dramaturgie des Neuanfangs und

lieferte die vollmundige Sprache der Innovation einem kleinbürgerlichen Mißtrauen aus

(gab es einen deutlicheren Beweis für die Machtlosigkeit „der da oben“ als ihr

klägliches Hoffen auf rettende Mehreinnahmen bei irgendeiner Steuer? – und bewies

nicht andererseits das Tricksen und Schieben bei der Finanzierung, daß das alles

„irgendwie nicht sauber“ war und von der Parteispende bis zur Rentenreform im

Grunde „ein einziger Sumpf“ herrschte?). Zum anderen erhielt der Haushalt eine

repräsentative Funktion von nie dagewesener Prominenz: Stellvertretend für politische

Selbstbestimmungen des Staates schienen seine Zahlen die (meist bittere, mal etwas

freundlichere) Wahrheit des Ganzen zu sagen. Die Haushaltsbilanz avancierte zur

höchsten und bald einzigen Instanz der Selbstbeobachtung und Selbstprüfung – und

damit implizit zur letzten wirksamen Unterstellung einer Einheit, für die es weder eine

politische noch eine soziale oder kulturelle Bestätigung gab. Auf die Frage eines

Außerirdischen, was der Staat sei, müßte man zu Beginn des 21. Jahrhunderts

Page 32: Vaneikels-liquidierung Des Geldes

32

antworten: die Verbindlichkeit eines Haushalts für die Finanzierung von Maßnahmen,

die ein paar Millionen Menschen betreffen.

Das heißt, die Zahlen des Geldes haben wie nie zuvor den Sinn des Ganzen zu tragen.

Sie büßen gerade den Vorteil ihrer Abstraktheit ein, angesichts der appellativen und

suggestiven Konkretheit inhaltlicher politischer Bestimmungen zu verblassen und

zwischenzeitlich vergessen zu werden. Geld ist nicht mehr das Medium des Vergessens,

das verlockende Ausbreiten einer Zwischenzeit, die dem Handelnden eine gewisse

Rücksichtslosigkeit und Unvorsichtigkeit ermöglicht, da sie ihn für eine Weile von den

Erinnerungen an das Nichtbeglichene befreit. Die Sprache der Zahlen überläßt die

Dinge nicht mehr der entschlossen zupackenden Hand des Unbedachten. Sie bringt

selbst einen neuen Diskurs des Mahnens hervor, eine Rede, die sich und allen

Adressaten jedes Vergessen, jede Befreiung durch einen Augenblick des Vergessens im

Handeln versagt. Wie keiner seiner Vorgänger personifizierte der deutsche

Finanzminister Eichel während der konjunkturell schwachen Jahre der

Schröder-Regierung dieses Regime der unnachgiebigen Zahlungserinnerung: jemand,

der stets mit der Geste des Mahnenden auftrat, während er selbst als von der EU

Gemahnter mit der Miene eines verstockten Schülers vor die Kameras trat.20

Zu den „Schlüsselkompetenzen“ des international konkurrenzfähigen jungen

Menschen, wie ihn die Post-Pisa-Pädagogik vorsieht, gehört ein Wissen, das zum

Umgang mit der Mahnung befähigt. Von heute aus betrachtet wirkt es wie ein

exotisches Versäumnis, daß man noch meiner Generation in der Schule so gut wie

nichts über Wirtschaft beigebracht hat. Das wenige, was wir im Abiturjahrgang 1989

erfuhren, kam im Erdkunde-Unterricht zur Sprache. Das Bildungssystem ordnete

Ökonomie in das Wissen um die Erde ein – ein Wissen, das eine dem Menschen

grundsätzlich vertraute, quasi-natürliche Umgebung betraf, die tellurische

Zuverlässigkeit des Nutzens und Nährens, und das jeder historischen Dynamik

entbehrte (in Geschichte spielte Wirtschaftspolitik eine auf die Schicksalsattribute

„günstig“ oder „ungünstig“ reduzierte Rolle, und ein Geschichtsmodell wie das

Marxsche, das politische Vorgänge auf die ökonomische Basis zurückführte, wurde 20 Peer Steinbrück hat dagegen Erfolg mit einer ins Fröhliche gewendeten Mahnergeste und bietet gewissermaßen die komplementäre Miene zur selben Botschaft.

Page 33: Vaneikels-liquidierung Des Geldes

33

kaum mehr als erwähnt). Heute stellen Bildungsreformer das Fach Wirtschaft neben

Englisch und Mathematik, um seine Wichtigkeit hervorzuheben. Es scheint in dieser

Trias auch inhaltlich richtig plaziert, denn neben die Weltsprache für die internationale

Kommunikation und die künstliche Sprache der Berechnungsformeln zur Verwaltung

und zum Reengineering derselben Welt tritt das Ökonomische als eine dritte Sprache,

die es zu lernen gilt.

Die fremde Sprache der Zahlen

Geld gleicht zunehmend einem schwierigen Diskurs, den ich mir erarbeiten und in dem

ich eine stammelnde und stotternde Selbstbehauptung formulieren muß. Die Rede vom

„finanziellen Analphabetismus“ kommt auf in einer Situation, wo der Staat seine Bürger

in die finanzielle Selbständigkeit entläßt und die Diskussion um Rentenfonds und

Eigenbeiträge (oder andererseits Schuldenverjährung und Möglichkeit der Insolvenz als

Privatperson) das Tagesgespräch durchzieht. Die Verwirrung, die bei diesen im

einzelnen durchaus nachvollziehbaren Schritten entsteht, geht darauf zurück, daß die

monetäre Währung heute nicht mehr das ausgezeichnete Symbol sozialer Beziehungen

ist, sondern nur ein Typ von zirkulierenden Zeichen unter vielen anderen, und wir

dennoch weiterhin glauben, daß die Zahlen uns das Wesentliche sagen werden. Die

Institutionen unserer Gesellschaft halten das Geld in seiner symbolischen Funktion

zurück. Geldsummen, so legt man uns nahe, bedeuten etwas – doch es ist zunehmend

unklar, was. Was früher als Weg vom Mehrdeutigen zum Eindeutigen erschien, die

Rückführung eines komplexen Bedeutungszusammenhangs auf Zahlenwerte, stellt sich

nun umgekehrt als Ursprung einer anderen Mehrdeutigkeit heraus: Soll ich die Aktien

eines Unternehmens kaufen, das mit einer positiven Bilanz aufwartet, um die

Perspektiven für meine Altersversorgung zu verbessern? Vielleicht, aber selbst wenn

die Bilanz stimmt (das heißt, ‚wahr’ und nicht bloß ‚stimmig’ manipuliert ist), reicht das

noch lange nicht, um eine aussichtsreiche Prognose über die weitere Entwicklung zu

stellen. Hat es im Unternehmen in jüngerer Zeit eine umfassende Reform der

Geschäftsprozesse gegeben? Hat es nachhaltiges Innovationspotential? Haben andere

Unternehmen im selben Markt vergleichbare Erfolge erzielt, und gibt es dafür ähnliche

Page 34: Vaneikels-liquidierung Des Geldes

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oder unterschiedliche Ursachen? Diverse 3-, 5-, 7- oder 20-Punkte-Programme

versuchen den Analphabeten in der Sprache des selbstbezüglichen Geldes zu

unterrichten, aber diese Crash-Kurse verstärken ihrerseits den Eindruck, daß es sich

dabei um eine fremde Sprache handelt, daß ich von mir aus nicht verstehe, was eine

Zahl besagt.

Der griechische Ausdruck „ta mathemata“ meinte ursprünglich das Bekannte, das,

was von einer Sache selbst bekannt ist, unabhängig davon, ob ich einzelne

Eigenschaften daran wahrgenommen habe oder nicht: das Körperliche des Körpers, das

Pflanzenhafte der Pflanzen usw. Die Zahlen und ihre Projektion in den geometrischen

Raum wurden bereits für die Griechen rasch zum exklusiven Inbegriff dieser Art von

Evidenz, und ihre Lernbarkeit („Mathematik“ bezeichnete dann allgemein das

Lernbare) reinitiierte das menschliche Dasein in der Welt an einem neuen

Ausgangspunkt und mit einer neuen Perspektive. Das rationalistische Abenteuer einer

analytisch immer tiefer durchdrungenen und dabei immer fremder und unverständlicher

werdenden Welt, in der die Klarheit der Zahl den einzigen festen Anhaltspunkt darstellt,

setzt sich bis in unsere naturwissenschaftlich-technologisch geprägte Gegenwart fort

(wobei der Glaube an die Wiedererinnerung überzeitlicher Wahrheiten mittlerweile

einem Zweckvertrauen in die reine Operativität des Berechnens gewichen ist). Während

sich die Mathematik als wissenschaftliche Disziplin vom Alltagswissen entfernte, blieb

der Glaube an die Klarheit der Zahlen Teil des „common sense“. Das bürgerliche

Ressentiment zieht heute zwar nach Belieben Statistiken in Zweifel (wenn sie etwa

besagen, daß die Zahl der sexuellen Gewaltverbrechen zurückgegangen ist). Die

eigentliche Erschütterung dieses Lebens in einer von der Zuverlässigkeit der Zahl

geschützten Umgebung erfolgt jedoch in der Sache des Geldes, denn hier geht es nicht

bloß um einen Vorbehalt gegen die Korrektheit einzelner Darstellungen, sondern um

eine existenzielle Verunsicherung: Ich verstehe nicht, was diese oder jene Rechnung

bedeutet, obwohl man mir klar macht, daß sie mein Leben betrifft. Das Nennen eines

Geldbetrags trifft immer seltener auf jene Evidenz der Zahlen, die der Entscheidung

vorarbeitet und sie von der Last ihrer eigenen Willkür erleichtert. Die Zahlen haben

aufgehört, die Sprache des Bekannten zu sprechen; sie deuten nur an, daß es etwas gibt,

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was man kennen müßte, um sie zu verstehen.21

Und wer immer Zahlen veröffentlicht, steht im Verdacht, unsere mangelnde

Kenntnis auszunutzen. Die seltsame Verwirrung vieler Bürger hierzulande damals bei

der Euro-Einführung wäre wohl in diesem Zusammenhang zu sehen. Die

Währungsumstellung wurde indirekt zum Schauplatz der allgemeinen Verwirrung durch

die Umwertung des Geldes. Rein arithmetisch erklärt es sich kaum, warum in

Deutschland, wo der Umrechungskurs von Mark in Euro fast genau 2 zu 1 war, der

Wechsel ein solches emotionales Chaos anrichten konnte. Es scheint, als ob diese

plötzliche symbolische Schwäche, diese Phase der Labilität auf der Zeichenebene nur

die Gelegenheit gab, um die Ängste und Aggressionen aus der Verunsicherung über den

Wert des Geldes überhaupt auf die neue Währung zu projizieren. Der Euro mißriet zum

Exempel eines Geldes, dessen Zahlen nicht das sagten, was sie sagen sollten, eines

Geldes, das an sich schon eine Lüge war. Egal, wie oft die Vertreter des Handels den

Verbraucherverbänden vorrechneten, daß es sich bei den neuen Preisen mehrheitlich um

exakte oder nach unten gerundete Entsprechungen zu den alten handelte – ein innerer

Widerstand gegen diese Währung hatte sich bereits organisiert.

Die Unsicherheit hinsichtlich des Geldwerts betrifft diesmal nicht schwankende

Umtauschkurse (der Euro hat sich ja als äußerst stabil erwiesen) oder eine hohe

Inflation, wahrscheinlich noch nicht einmal den realen Verlust von Kaufkraft. Sie

betrifft die Orientierungsfunktion des Zählens. Die Verbindung zwischen Zahl und Wert

scheint durchtrennt – und der „quiet, rational way“ des Geldes, den Adam Smith pries,

damit an einem Punkt angelangt, wo das Zählen, die scheinbar regulärste und

verläßlichste Tätigkeit, die der Mensch vermag, einer unerwarteten eigenen Kontingenz

begegnet: Daß ich die Zahlen kenne, bedeutet noch lange nicht, daß ich ihre Botschaft

vernehme. Falls andere anders zählen, ist meine eigene Kalkulation nichts mehr wert.

Ich werde einen großen Teil meiner Lebenszeit darauf verwenden müssen, um die

Kalküle letzter Hand zu erfahren, nach denen die anderen zählen.

Und die Netzwerke des Zählens finden sich nicht mehr zu einer großen

21 „Leben Sie – alles andere machen wir“, lautete der Werbeslogan einer Bank, die darauf reagierte. Doch gerade den Banken traut man die Kompetenz im Diskurs des Geldes nicht mehr zu. Ihre Mitarbeiter können korrekt Geldnoten zählen, aber als Anlageberater gehören sie zu den Versagern.

Page 36: Vaneikels-liquidierung Des Geldes

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Gemeinschaft zusammen, die im Katastrophenfall ein New Deal wieder konsolidiert.

Die Katastrophen in diesem deregulierten Spiel mit Zahlen werden, unabhängig davon,

welches verheerende Ausmaß ihre Schäden erreichen mögen, niemals die starke

Wir-Form einer „Weltwirtschaftskrise“ annehmen. Sie sind und bleiben persönliche

Katastrophen, private Ausfälle, Idiosynkrasien in der glokalen monetären

Kommunikation. Einzelpersonen, Interessengemeinschaften, KMU und große

multinationale Konzerne, NGOs und Regierungsorganisationen, Staaten und

Staatenverbände – die Größe der Akteure entscheidet zwar weiterhin maßgeblich über

ihren Einfluß und ihre Macht, doch die sozialen Determinationslinien des Zählens

ziehen sich quer durch diese Hierarchie hindurch. Es gibt kein allgemeines und

besonderes Zählen. Die Konsequenz dieser Resistenz der Zahl gegen die hierarchische

Ordnung heißt nicht Chancengleichheit, sondern gleichmäßige Instabilität (und damit

das Verschwinden einzelner fester Punkte, von denen her die Ordnung verständlich

wird, und einzelner labiler Punkte, an denen sie umkehrbar wird).

Szenen der Bewertung

In keiner Phase des monetären Kapitalismus hat der Geldwert die verschiedenen

Wertzuschreibungen, die eine Ware auf sich zieht, jemals vollständig repräsentieren

können. Das war auch nicht seine Aufgabe. Vielmehr interagierte der Geldwert mit den

anderen Bewertungen, brachte die Dynamik der Wertschätzung, der Ent- und

Neubewertung immerzu wieder in Gang: Ist eine Ware wirklich das wert, was wir dafür

bezahlt haben? Hat jemand anderes etwas ähnliches für deutlich weniger bekommen?

Übersteigt der persönliche Wert, den ein Gerät mit den Jahren zuverlässigen

Funktionierens in meinem Hauhalt für mich bekommen hat, das, was ich dafür bezahlt

habe, so daß ich kein neues kaufen will, selbst wenn leistungsfähigere Geräte heute viel

billiger sind? Der Geldwert kann diese belebende Kraft in der Sphäre des Wertes dann

entfalten, wenn es eine Szene der Bewertung gibt, eine vom Kommerziellen

durchzogene Öffentlichkeit, in der Wertvorstellungen sichtbar aufeinandertreffen, sich

vergleichen, kollidieren, einander bekräftigen oder modifizieren. Der kommerzielle

Erfolg von Produkten hängt zu einem erheblichen Teil davon ab, ob es gelingt,

Page 37: Vaneikels-liquidierung Des Geldes

37

zusammen mit ihrer Einführung solche Szenen zu schaffen bzw. die vorhandenen zu

besetzen.

Die Dynamik der Bewertung läßt sich auch in Zeiten schleppender Konjunktur und

sinkenden Wohlstands steigern. Die Explosion von Tarifsystemen, etwa der

Tarifdschungel, den wir in Deutschland mittlerweile bei Mobilfunk-, Telefon- und

Internet-Providern haben, zeugt vom Erfolg solcher Strategien und vielleicht auch schon

von ihren Grenzen. In einer Situation, wo das Verhältnis von Preis und Wert nicht nur

von immer mehr Faktoren abhängt, da die Leistung sich durch Zusatzdienste,

Service-Mixes und technologisch bedingte Neuerungen und Verbesserungen

diversifiziert, sondern fast täglich neue Tarife dazukommen und die Verhältnisse

umstürzen, entstehen ein eigener „Handy-Diskurs“, ein „DSL-Diskurs“ usw. Diese

Diskurse bündeln für eine Weile die Aufmerksamkeit auf die Produkte und nehmen die

entsprechenden Produktbereiche von der allgemeinen kommerziellen Flaute aus. Man

kann sich jedoch fragen, was mit dem Geld passiert, wenn es als Position innerhalb

einer Strategie der Verlebendigung von Bewertung um jeden Preis fungiert, und wie

diese dramatische Dynamisierung auf seine Funktion als Währung zurückwirkt.

Obgleich sie sich dieser traditionellen Form bedienen, gehen derartige Strategien weit

über die temporäre Unterbrechung von Preis-Leistungs-Kurven durch Rabatte und

Dumping-Preise hinaus. Sie reduzieren das Geld auf ein Mittel zur unablässigen

Wiedererweckung des sterbenden Interesses an Produkten.

Das hat den Effekt, daß das gekaufte Produkt dem Risiko einer sofortigen

Entwertung unterliegt. Der Anbieter wird das Handy, das ich heute für 200 Euro gekauft

habe, möglicherweise morgen für 0 Euro zusammen mit einem Vertrag verschenken.

Wäre es also nicht in jedem Fall besser, mit dem Kauf abzuwarten, bis der Wert bei

Null ist? Ist Null nicht der einzige zuverlässige Orientierungspunkt und alles über Null

tendenziell unbefriedigend? Auch wenn das ein Extrembeispiel sein mag – der

rückhaltlos dynamisierte Bewertungsdiskurs ruiniert letztlich den Kaufakt. Souverän in

diesem Spiel fast ohne Regeln ist derjenige Kunde, der unbegrenzt abwarten kann,

während der Käufer, selbst dort, wo er auf ein Sonderangebot reagiert, immer riskiert,

sich in der Position des Verlierers wiederzufinden wie der Kleinaktionär, der aus

Page 38: Vaneikels-liquidierung Des Geldes

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Feigheit zu früh abgestoßen hat, ehe der Titel explodierte.22

Während sie in ihrem Alltagsleben immer mehr Zeit auf Szenen der Bewertung

verbringen und dabei starke kommerzielle Interessen entwickeln, lernen die Menschen

zugleich, daß Nichtkaufen tendenziell dem Kaufen überlegen ist. Das Gekaufthaben im

Sinne des Sicheistenkönnens tritt als Selbstbehauptungsgeste hinter das Wissen um den

neuesten Stand der Wertverschiebungen zurück. Man kauft quasi nur noch aus Notwehr,

weil es sich irgendwann nicht mehr vermeiden läßt. Und es kann durchaus sein, daß die

Kunden zukünftig noch wesentlich besser im Vermeiden des Kaufens werden, daß sich

die Logik der Bewertungsdiskurse umkehrt und die dynamische Preisgestaltung sich

von einem Stimulans zur kommerziellen Katastrophe wandelt.23

Wenngleich die Kulturpessimisten recht haben mögen und unser Leben tatsächlich

immer stärker von kommerziellen Strukturen durchdrungen ist, schwächt die gesteigerte

Kompetenz der potentiellen Käufer im sozialen Prozeß der Wertermittlung die

Bestimmungsmacht des Geldes in diesem Prozeß. Stellte die Größe des Geldes in der

sog. Konsumgesellschaft stets einen dominanten und daher sozial heiklen Faktor dar

(man denke an die alte Weisheit, Freundschaft und Geld getrennt zu halten, um die

Freundschaft nicht zu gefährden), wird das Geld in der Bewertungsgesellschaft von der

Dynamik der sozialen Interaktionen erfaßt und aus der Reserve seiner monetären

Distanz gerissen, wird die Dignität der Zahl im sozialen Zeichentausch bis zu einem

Zustand persifliert, wo nur noch die Null einen Rest von Autorität über die Beliebigkeit

22 Am ausgeprägtesten sind die Bewertungsdiskurse unter den Angehörigen finanziell schwacher Schichten. Es würde zu kurz greifen, wollte man einfach unterstellen, daß diejenigen, die sie sich am wenigsten leisten können, am stärksten von materiellen Gütern fasziniert sind. In einem Zustand vor dem Kauf bildet sich hier eine eigene soziale Dynamik mit eigenen Kompetenzprofilen heraus. Es genießt nicht der das größte soziale Prestige, der dem Kauf am nächsten ist, sondern derjenige, der sein Wissen über das neueste kommerzielle Objekt am coolsten und überzeugendsten so präsentiert, daß er zugleich mit seiner Expertise seine Unabhängigkeit vom Haben beweist. Man sollte diese Diskurse als eine Rekonstruktion, vielleicht auch bloß Simulation jenes Gefühls des „Die Zeit arbeitet für uns!“ analysieren, das früher die Arbeiter im Streik einte. 23 Nebenbei droht dieses angeheizte Spiel der Bewertung andere Bewertungsdynamiken zu vernichten. Für diejenigen Anbieter, die z.B. mit einer langfristigen Stabilität von Preisen argumentieren und dies als Ausdruck einer besonderen Dignität, eines „bleibenden Wertes“ der Ware präsentieren wollen, erweist sich diese Entwicklung der kommerziellen Öffentlichkeit als fatal. Wenn es immer weniger „Qualitätsarbeit“ gibt, dann vielleicht nicht einmal primär deshalb, weil die Menschen in unserer „kurzlebigen Zeit“ das Interesse an der Güte von Produkten verloren hätten, sondern weil das Geld, das sie für diese Produkte ausgeben, die Stabilität, die es braucht, um einen bleibenden Wert in der Vorstellung des Käufers zu erzeugen, kaum mehr zu garantieren vermag.

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bewahrt.

Die qualitative Relation zwischen Angebot und Nachfrage, die klassische

ökonomische Berechnungsformeln in Wechselwirkung mit dem Preis sehen – einem

Preis, der die souveräne Abstraktheit der Zahl hat und von dorther ins Konkrete

zurückwirkt –, findet sich heute mit einer umstandlosen Konvertierung des

Quantitativen und Qualitativen in der sozialen Performanz der Bewertung konfrontiert.

Bislang sind Absatzsstrategien erfolgreich, die mit der Steigerung dieser Performanz

kooperieren. Aber diese Kooperation verstärkt die soziale Abhängigkeit der

ökonomischen Strukturen. Wenn Jugendliche nur noch über Handys zu reden scheinen

und Angestellte einen wachsenden Anteil ihrer Freizeit (oder Arbeitszeit) damit

verbringen, im Internet nach günstigen Tarifen zu surfen, haben wir es keineswegs nur

mit der oft beklagten Kommerzialisierung des sozialen Lebens zu tun. Umgekehrt wird

man ebenso die Redeterminierung der kommerziellen Strukturen durch die sozialen

Prozesse zu beobachten haben, denen sie sich anvertrauen, wenn sie Szenen der

Bewertung zu eröffnen oder zu aktivieren versuchen. Wir haben uns daran gewöhnt, das

Soziale als „gut“, das Ökonomische, insbesondere wenn es „nur ums Geld geht“, als

„schlecht“ anzusehen, und noch die jüngeren Anstrengungen, die Wirtschaft zur

Leitdisziplin und zur conditio sine qua non aller Wohltaten zu erklären, halten an der

Fiktion des Sozialen als Endzweck der ökonomischen Steigerung fest. Diese Sichtweise

verkennt zwangsläufig, in welchem Maße das Soziale immer schon Teil des

Ökonomischen ist und wie weitgehend die Wirtschaft unserer Zeit sich den

Kontingenzen vielfältig beeinflußter sozialer Prozesse öffnen muß, um ihren Produkten

überhaupt Aufmerksamkeit zu verschaffen. Die Wendung „Ökonomie der

Aufmerksamkeit“, die durch Georg Franck populär wurde, ist im Grunde die verlegene

Umschreibung eines einzigen Wortes, das es in unserer Sprache bisher nicht gibt:

Aufmerksamkeit (genauer: das Moment der Anerkennung, das ein bloßes Aufmerken

bereits impliziert) bezeichnet eine durchgängige Verbindung des Ökonomischen mit

dem Sozialen. Geld hat lange Zeit dazu gedient, dieses ökonomische Moment sozialer

Prozesse zu stärken, und so die Illusion ihrer Steuerbarkeit kultiviert. Doch gegenwärtig

gerät es eher in die Position eines Spielballs der sozialen Dynamik von Bewertung. Der

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Akt des Kaufens, mit dem das Geld die Kontrolle übernimmt, büßt auf den Szenen der

Bewertung seine versammelnde Kraft ein. Die Zeit des Bewertens kommt immer besser

ohne einen Augenblick des Kaufens aus.

Wie kaufen?

Apologeten des Geldes (etwa Norbert Bolz in seinem Konsumistischen Manifest) loben

ausführlich, wie es Distanz schafft, wie es die penetrante Komplexität wechselseitiger

sozialer Beziehungen durch einen einfachen Bezahlungsvorgang ersetzt. Ich muß den

anderen nicht überzeugen oder überreden, mir etwas zu geben oder etwas für mich zu

tun. Ich muß keine Gemeinsamkeiten zwischen uns konstruieren oder deren

Unterstellung erdulden. Ich muß ihn nicht in mich verliebt machen oder seinen Haß auf

mich besänftigen. Es reicht, daß ich ihn bezahle. So sieht ein großer zivilisatorischer

Fortschritt aus.

Hat das Geld diese Leistung aber wirklich jemals erbracht? In der europäischen

Literatur, die ab dem späten 18. Jahrhundert eine gewisse Aufmerksamkeit für die

Szenen des Kaufens entwickelt, finden sich hier und da nachdrückliche Zweifel.

Rousseau klagt in seinen Confessions darüber, es habe ihn nie glücklich gemacht, Geld

zu besitzen, weil es für jemanden wie ihn unmöglich gewesen sei, sich etwas Gutes

dafür zu kaufen. Nur wer mit dem Händler verwandt, befreundet oder in seinem Metier

bewandert sei und zu feilschen verstehe, habe eine Chance, nicht betrogen und

gedemütigt zu werden. Geld schützt mich nicht zuverlässig vor dem Gewaltpotential der

persönlichen Begegnung mit dem anderen. Es verlagert das Psychodrama nur ins Innere

eines Gesprächs, dessen expliziter Teil sich auf eine Frage, ein paar Informationen über

Dinge, Preise, Serviceleistungen und Garantien, ein Zögern und sanftes Drängen und

einen raschen informellen Vertrag beschränkt – um jede dieser Aussagen mit einer Flut

von herrischen und knechtischen Gesten zu überschwemmen.24

Kritische Geister haben immer wieder behauptet, daß Kaufen in unserer modernen

Gesellschaft die einzige Handlungsmöglichkeit sei, die dem Menschen verbleibe. Wenn

24 Vgl. dazu ausführlicher: Kai van Eikels, Das Denken der Hand. Japan-Affirmationen als Entwürfe einer nichtperformativen Pragmatik, in: Zeitschrift für Germanistik 3/2002, hrsg. von Inge Stephan, Verlag Peter Lang, Bern u.a. 2002, S. 488-497.

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dem so ist, verblüfft es, wie wenig Aufmerksamkeit man den Komplikationen des

Kaufens als Handlung schenkt. Denn tatsächlich gelingt es heute ebensowenig wie zur

Zeit Rousseaus, die Beziehung zwischen mir und einem Verkäufer durch den Kaufakt

zu definieren. Seit Aristide Boucicaut 1852 in Paris sein Geschäft in einem ehemaligen

Leprakrankenhaus eröffnete und den Prototyp des Kaufhauses schuf, treffen wir bei

unseren Besorgungen auf die Figur des Verkäufers, eines lohnabhängig Beschäftigten,

der weder produziert noch handelt, sondern allein mit dem Tausch von Ware gegen

Geld und der Kommunikation betraut ist, die ihn ermöglicht, vorbereitet, begleitet und

zum Abschluß bringt. Dieser Agent des Verkaufens personifiziert zugleich das

Versprechen auf eine Dynamik des kommerziellen Ereignisses, die den Kunden von

jeder Aktivität befreit. Der perfekte Verkäufer wäre einer, der alles für den Kunden

erledigt, gerade auch den Teil der Kommunikation, der dem Kunden selbst obliegt. Man

erinnert sich vielleicht an einen altmodischen Typ von Verkäufer (oder Vertreter, die

Steigerung des Verkäufers), der während des Beratungs- und Verkaufsgesprächs

praktisch mit sich selbst zu reden schien wie ein Arzt und einem das Gefühl vermittelte,

die Sache laufe automatisch ab. Die Bereitwilligkeit, sich etwas von ihm verkaufen zu

lassen, entsprang nicht zum mindesten einem Glück über diesen glatten, geschmeidigen

Ablauf des Vorgangs. Es war eine glückselige Erfahrung vollkommener Passivität, die

dem Wesen des Geldes entsprach, das einem damit „aus der Tasche gezogen“ wurde.25

Geld eignete sich in der Tat viel besser dazu, dem Besitzer abgenommen zu werden, als

zum aktiven Ausgeben, dem stets ein letzter Skrupel hinsichtlich seines Verbleibs

anhing. Seine Abstraktheit wartete geradezu auf eine Chance zum Vergessen, und diese

Wonne des Vergessens stellte in einer Gesellschaft, die sich dem Geld hingab, die

initiale Sünde dar. Der Kauf und nicht der Ver- oder Gebrauch der gekauften Ware

verschaffte die eigentliche Lust. Im Augenblick des Kaufens verschmolz das Gefühl

von Allmacht mit der Überwältigung durch die Passivität.26 25 Die Lust daran, beraubt zu werden (man denke an das Hotelabenteuer von Felix Krull), ist sicherlich eine der elementaren Formen von „Interpassivität“, wie Slavoj Žižek diesen Begriff verwendet hat: Der andere gibt das Geld für mich aus, er erspart mir die Mühe, es selbst loszuwerden, und verschafft mir damit einen Genuß, der dem Genießen des eigenen Einkaufens zumindest gleichwertig, wenn nicht überlegen ist. Diesen Effekt bringt vielleicht auch der Witz „Das Geld ist nicht weg, es gehört jetzt nur jemand anderem“ zur Sprache. 26 Von daher versteht es sich, daß die Haltung des reichen Käufers zum Inbegriff der

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Doch man braucht nicht in Berlin zu leben, um zu wissen, daß dieser Typ des

Verkäufers der Vergangenheit angehört – und vielleicht überhaupt in der Geschichte des

Kapitalismus eine Ausnahmeerscheinung war, ein Virtuose des Vergessenmachens,

dessen Zeit enden mußte, sobald das Geld aus dem spektakulär Unmerklichen in die

Positivität von etwas hinaustrat, um das es geht, ob ich daran denken will oder nicht.

Der Verkäufer von heute leiht eher meinem Zweifel, ob ich wirklich etwas kaufen sollte,

Körper und Stimme. Er ist selbst so offensichtlich schlecht bezahlt, daß mir die bloße

Entschlossenheit zur Verschwendung bereits peinlich zu werden beginnt, wenn ich

meine Frage nach dem gewünschten Gegenstand an ihn richte. Das Geld verteilt ihn und

mich nicht mehr auf zwei Seiten eines Aktes; es bekräftigt ungewollt eine

Gemeinsamkeit zwischen uns, denn keiner von uns hat die Freiheit, ein Vergessen zu

geben oder in Anspruch zu nehmen, und er ist nur derjenige, der mich darüber aufklären

wird. Die nach eigenen Gesetzen optimierte Unnachgiebigkeit von

Kommunikationsstrukturen, die das Unternehmen vorgesehen hat (und die keine

virtuose Steigerung auf Seiten des Angestellten erlauben), vereitelt von vornherein

jeden Versuch, die Abstraktion des Geldes für irgendeine Art von grundsätzlicher

Erleichterung zu nutzen. Er und ich sind gleichermaßen in die festgelegte Dramaturgie

einer kommerziellen Beziehung gezwungen, in der Geld nichts ermöglicht, nichts

verkürzt, von nichts befreit.

Obgleich ich nie zu den Großverdienern gehört habe, verfolgte ich früher die

Strategie, bewußt mehr zu zahlen, damit man mich mit Registrierungen und den

strapaziöseren Formen des Verkaufsgespräches verschonte. Ich leistete mir den Luxus,

nicht in verschiedenen Läden nachzufragen, Preise zu vergleichen, die Tarifsysteme

verschiedener Anbieter auf ihre Vor- und Nachteile hin zu überprüfen, nicht über

Rabatte oder Zusatzleistungen zu verhandeln, nicht durch eine vorweg geäußerte

Verantwortungslosigkeit werden konnte – was heute, wo jemand, der kaufen will, mehr als alle anderen Grund hat, sich zu sorgen, eigentlich kaum mehr nachvollziehbar sein dürfte. Die Verwendung des Geldes bedeutete in dieser Epoche Vergessen. Wie sehr die Selbstverständlichkeit des Vergessens das Image des Geldes bestimmte, zeigt ein schockierendes Gegenbeispiel: eine Erzählung von Borges über ein Geldstück, das seinem Besitzer in Erinnerung bleibt, nachdem er es ausgegeben hat, und ihn in den Wahnsinn treibt, da er unfähig ist, es zu vergessen. Vgl. Jorge Luis Borges, Der Zahir, in: Werke in 20 Bänden, hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Bd. 6: Das Aleph. Erzählungen 1944-1952, Frankfurt a.M. 1992, S. 95-104.

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Beschwerde dafür zu sorgen, daß das bestellte Produkt auch wirklich funktionstüchtig

geliefert wurde, sondern ich entrichtete kommentarlos den höheren Preis und die

unweigerlich anfallenden Extrakosten. Der einzige wahre Luxus (die Verbindung von

Wahrheit und Luxus ist essentiell) bestand für mich darin, über die Bedingungen des

Kaufes nicht nachdenken zu müssen. Doch erweist sich dies nun als immer schwieriger,

denn die Unternehmen sind auch für mehr Geld nicht mehr bereit, mich von einem

Engagement als Verbraucher zu entbinden und mir lange Unterhaltungen mit ihrer

Service-Abteilung zu ersparen. Diese Option ist strukturell nicht mehr vorgesehen: Ein

Versuch, das DSL bei T-online fertig installiert und die Verbindung auf allen Rechnern

so weit eingerichtet zu bekommen, daß man nur noch den Browser zu öffnen brauchte,

um im Internet zu sein, scheiterte beim Umzug nach Berlin auf ganzer Linie. Ich konnte

noch so oft betonen, daß es mir egal sei, was es koste – die Dame am Telefon hatte in

der Auftragsmaske auf ihrem Bildschirm für „Kunde will alles einfach nur erledigt

haben“ kein Feld. Meine verzweifelte Weigerung, bei Problemen die Hotline anzurufen,

löste bei ihr nichts als verständnisloses Erstaunen aus. Auf einen Kunden, der nicht

kommunizieren wollte und der Geld fürs Schweigendürfen bot, hatte sie niemand

vorbereitet.

Wie nicht verkaufen?

Unser Kaufverhalten ist, wie die Epoche der Shopping-Exzesse am deutlichsten machte,

eine ins Passive abgesunkene Verkaufsbereitschaft. Andy Warhol definierte die

amerikanische Kultur in den 70ern durch den Willen zum Kaufen und dessen Ablösung

vom Interesse am Verkaufen: „In Europa und im Orient handeln die Leute gern –

kaufen und verkaufen, verkaufen und kaufen –, im Grunde ihres Herzens sind sie alle

Händler. Anders die Amerikaner. Sie wollen überhaupt nicht verkaufen, sie werfen ihre

Sachen lieber weg, als daß sie etwas verkaufen. Eines machen sie allerdings wirklich

gern, nämlich kaufen! Leute, Geld, Länder.“27 Diese einfache Unterscheidung

bezeichnet auf ihre Art durchaus präzise den Übergang zwischen zwei Typen von

Kapitalismus: Einerseits eine Gesellschaft des Tausches, in dem die Transaktion durch 27 Andy Warhol, Die Philosophie des Andy Warhol. Von A nach B und zurück, München 1991, S. 235.

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die Szene einer symmetrischen Begegnung konfiguriert ist. Hier geht es darum,

Gelegenheiten zum Kaufen/Verkaufen zu schaffen, Orte einzurichten, an denen sich die

kommerzielle Aktivität, die durch alle Einwohner hindurchfließt, manifestieren und eine

dramatische Form annehmen kann. Andererseits eine Gesellschaft des Konsums, in der

die Transaktion eine radikale Trennung von Kaufen und Verkaufen bekräftig. Hier

konzentriert sich alles darauf, Kunden zu schaffen, d.h. den Menschen Lust daran zu

machen, etwas zu kaufen, statt es selber herzustellen, zusammenzubasteln oder

einzuhandeln. Man entwickelt Waren, die durch ihren genuin kommerziellen Charakter

bestechen, da man sie nur kaufen kann, nicht auf anderem Wege bekommen oder zu

Hause herstellen (die Erniedrigung des selbstgenähten Kleides aus der Modezeitschrift,

das ein unerschwingliches Designer-Modell kopiert, wie sie bis in die 1980er Jahre zum

kleinbürgerlichen Lebensstil gehörte). In beiden Ökonomien funktioniert Geld, aber die

Funktion ist jeweils eine andere: In der europäisch/orientalischen Ökonomie des

Handelns bleibt das Geld der Schauplatz einer Begegnung, wo alle Beteiligten in der

Rolle des möglichen Käufers und des möglichen Verkäufers auftreten. Die Neutralität

des Geldes hat die Aufgabe, die Passage zwischen diesen Rollen offen zu halten. Geld

wirkt als Inzentiv, weil es die Übergänge beschleunigt, das Spiel der merkantilen

Selbstinszenierung flexibilisiert, seine Rhetorik bereichert. In der amerikanischen

Ökonomie des consumerism dient das Geld dagegen zur Beendigung des Handels, zur

definitiven Etablierung der Asymmetrie zwischen Käufer und Verkäufer. Ich bin

Konsument dadurch, dass ich nichts als Geld habe (eine Scheckkarte ist daher stärker

als Münzen oder Papiergeld, da sie diese Nacktheit des „nichts als“ besser verkörpert).

Die Zahlung symbolisiert bereits im Augenblick, da ich die Ware empfange, daß diese

nur in meine Hände wechselt, um dort zu verschwinden. Ich werde sie restlos

verbrauchen oder wegwerfen, und das Wegwerfen bestimmt dabei letztlich das

Verbrauchen. Warhol schlug vor, daß alle Artikel ein Haltbarkeitsdatum haben sollten,

denn das Datum signalisiert mir, wieviel Zeit mir bleibt, die Sache zu verbrauchen,

bevor ich sie wegwerfen muß (das „Best before...“ ist in diesem Sinne zu verstehen:

eine Ware ist nur vor dem Wegwerfen, als Antizipation des Wegwerfens wirklich auf

der Höhe ihrer Qualität).

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Nun scheint es, als habe sich in Europa eine schleichende, aber endgültige

Abspaltung von dem vollzogen, was Warhol mit der ihm eigenen Ironie als

orientalische Wurzeln unserer Ökonomie anspricht. Es fehlt, nach einem eher

halbherzigen Trend in den 70er Jahren, nach wie vor der positive Bezug zum

Wegwerfen, die souveräne Wendung des Kaufakts als Geste des Beendens der

Transaktion. Vielmehr steht der Kauf heute mehr denn je im Zeichen des Restes, den

man sich damit einhandelt, im Zeichen des Produkts, das aufbewahrt, gepflegt, gewartet,

upgedatet, aufgerüstet und schließlich recycelt werden muß. Bei viele führt dies

offenbar dazu, daß die wieder zur leidenschaftlichen Verkäufern werden, ja dies selbst

ohne große Gewinnmargen quasi als Hobby betreiben: Die Popularität von eBay scheint

darauf hinzudeuten, daß der Händlergeist nur schläft und wieder geweckt werden kann.

Was jedoch widerfährt denen, die diesen Weg zurück in den Tausch nicht mitgehen

wollen? Ich selbst habe eigentlich keine Lust, etwas zu verkaufen, selbst wenn ich es

nicht mehr brauche und selbst wenn eine realistische Chance besteht, dafür Geld zu

bekommen. Ich kaufe zögerlich, da ich nicht mit der feurigen Skepsis eines potentiellen

Händlers kaufe, sondern mit der trägen, defensiven Haltung eines Endverbrauchers, der

mit dem Gekauften dann dasitzt und leben muß. Meine Position am Ende der

Handelskette ist nicht souverän, so lächerlich ich mich im Laden auch als König

aufzuspielen versuche (und so sehr mir das Unternehmen signalisiert, daß ich noch

immer das Recht dazu habe). Das Geld, das ich auszugeben habe, bedeutet nicht die

Stärke eines Konsumenten, der mit dem Kauf von nützlichen-oder-nutzlosen Dingen die

Kraft des Vergessens beweist; es verrät eher die Schwäche eines überforderten

Archivars von Alltagsgegenständen, der wahrscheinlich mit etwas Unpassendem,

Stillosem, Dysfunktionalem und Folgekostenintensivem nach Hause gehen wird.

Überhaupt ist es diese Bewegung des Nach-Hause-Gehens, die hierzulande die

ökonomische Transaktion oft beschließt und ihr ein unentschlossen besorgtes statt

triumphal passives Ende bereitet. Geld hat in unserem Kulturkreis nie den Charakter

von etwas erreicht, was sich ganz im Öffentlichen abspielt. Das Ausgeben bedeutet ein

Sich-aus-dem-Haus-Begeben, einen eher schüchternen Schritt vor die Tür, der dem

Verbrauch der Ware zwangsläufig den Charakter eines Rückzugs verleiht. Diese

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traditionelle Determination des Ökonomischen durch das Haus setzt dem Konsum im

starken, warholschen Sinne enge Grenzen. Während die Mobiltechnologie-Branche uns

mit Bildern des fröhlichen Nomaden traktiert, für den auch die eigene Familie nur ein

weiteres Netzwerk ist, bleibt der Akt des Kaufens selbst in ein immobiles Verhältnis

zum häuslichen oikos eingelassen. Der Kaufakt findet kaum je wirklich unterwegs, auf

der Fährte eines Weges statt, der nicht sogleich nach Hause zurückkehrte. Und egal wie

viele Service-Stationen in der städtischen Infrastruktur auftauchen, die einem das

Abheben vom Konto gestatten, wirkt das Geld immer noch wie etwas von zu Hause

Mitgebrachtes, das es außerhalb des schützenden Heims selbst im Moment des

Ausgebens zu verteidigen gilt – zu verteidigen bis zuletzt gegen die feindliche

Besetzung der Privatsphäre durch eine Ware, die ihre eigenen Gesetze gegen die Regeln

des häuslichen Lebens durchzusetzen droht.

Die leicht und federnd daherkommenden Diskurse, mit denen man versucht, den

Kunden einen Lifestyle des unbeschwerten Konsumierens zu vermitteln, sind

kompromittiert durch ein diplomatisches Gespräch, das Werbung und Verkauf

durchzieht und am ehesten dort Chancen freisetzt, wo es die Sorgen der Hausbewohner

zu mobilisieren vermag. Auch die Betonung des Sparens als Kaufanreiz hat in diesem

Kontext einen anderen Sinn als beim amerikanischen Typ des Discounts, dessen Modell

das „Buy 2, get 1 free“, die Lust am überreichlichen Noch-mehr ist. Die Bewerbung des

Sparens verbündet sich gerade in Deutschland mit der Scham des Kunden. An die Stelle

von Aussagen, die eine Solidität und Zuverlässigkeit von Zeit und Geld adressierten

(wie die alte Wüstenrot-Reklame, wo die wertbildende Stetigkeit des Bausparens mit

einem Termin, dem „Wüstenrot-Tag“, verknüpft wurde), treten nun quasi therapeutische

Reize zur Konvertierung der Existenzängste und Geldsorgen in die hemmungslose Lust

am Geiz. Der Slogan „Geiz ist geil!“ brachte das vielleicht am besten auf den Punkt:

Geld verschafft am ehesten dort noch Zugang zu einem freien Genießen, wo die

Befreiung in einer gewaltsamen Inversion der Zwänge besteht, die das monetäre

Medium den Menschen auferlegt. Lustvoll ist nicht mehr das Vergessen, sondern nur

noch die kollektive Bejahung des zwanghaften Erinnern-Müssens. Diese neuen Szenen

des Kaufens ähneln den Swinger-Clubs, wo die sexuelle Aktivität nicht durch eine

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Überschreitung bürgerlicher Normen, sondern durch eine exzessive Spießigkeit, eine

rauschhafte Feier der eigenen Unfähigkeit zur Überschreitung in der endlosen

Ausdehnung und Vervielfältigung der familiären Beziehung Auftrieb erhält.

Wann zahlen?

In der postfordistischen Produktion löst sich die time to customer zusehends von der

time to market, die selbst in ihrer toyotistischen Verkürzung immer noch für einen

zeitlichen Abstand, eine uneinholbare Verzögerung der Produktion gegenüber der

Vermarktung stand. In einer durch „proaktives“ Produzieren bestimmten Zeit findet der

Augenblick des Kaufens keine dramaturgisch sinnvolle Stelle mehr: Die Unternehmen

nötigen die Kunden, sich mit ihrer unablässigen Restrukturierung und

Selbstoptimierung zu synchronisieren, in einer andauernd offenen kommerziellen

Beziehung zu verbleiben. Sie entziehen ihnen jenen Augenblick, in dem der Kauf

vollendet ist und die Güte des Produkts seinen Hersteller oder Bereitsteller gleichgültig

werden läßt. Aber wann, wo und wie kann in dieser Dramaturgie einer

„B2C“-Kommunikation überhaupt so etwas wie Kaufen stattfinden? Und vor allem:

wann, wo und wie soll „C“ dafür zahlen? Wie verhindert man, daß der weiter und

weiter gestreckte Akt des Erwerbens seine Beziehung zum Bezahlungsvorgang gänzlich

verliert?

Der einzige Ausweg scheint darin zu bestehen, daß das Bezahlen sich in dieselbe

strukturelle Vorzeitigkeit einfügt wie das bereitstellende Produzieren. Der Akt des

Zahlens müßte sich selbst von der Reaktion auf eine entgegengenommene Ware in eine

auslösende, produktive, „kreative“ Handlung verwandeln. Statt der bloßen Pflicht, den

Kaufvertrag einzuhalten (ist es nicht immer lustvoller, einen Vertrag zu brechen als ihn

einzuhalten?), müßte der Käufer das Gefühl haben, mit dem, was er an Zahlung leistet,

ein Projekt zu finanzieren, das ohne ihn so nie zustandegekommen wäre. Je früher der

Kunde zahlt, je weniger das Zahlen dem Begleichen einer Rechnung ähnelt, je weiter es

an den Anfang der Wertschöpfungskette rückt und die kommerziellen Aktivitäten

initiiert, statt sie abzuschließen, desto eher gibt es eine Chance für postfordistische

Unternehmen, etwas zu verdienen.

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Ein interessantes Beispiel für diese Wandlung des Bezahlens ist die Kampagne, die

eine Web-Agentur 2004 für Mazda in Großbritannien durchführte. Marktforschung über

die Mazda UK-Website hatte gezeigt, daß das Interesse der Kunden an einem neuen

Pkw-Modell am größten ist, bevor das Modell auf den Markt kommt. Die Agentur

erweiterte daher die Vorankündigungs-Präsentation des neuen Mazda RX-8 um eine

Möglichkeit, online eine Voranzahlung von 1000 Pfund zu leisten – mit dem Erfolg,

daß über 1.700 Kunden binnen kurzer Zeit die erste Rate für ein Auto zahlten, das sie

weder real gesehen noch probegefahren hatten. Bei einer kostspieligen

Langzeitanschaffung, bei der man mit „kritischen“ Verbrauchern rechnen würde,

überrascht diese Resonanz (vergleichbare Aktionen gab es vorher nur bei kleinen

Mode-Labels oder Musikbands). Doch das Konzept spiegelt sehr gut die Anforderungen

wider, die an eine neue Dynamik des Zahlens gestellt werden: Der Unterschied

zwischen Herstellung, Marketing und Verkauf war hier tendenziell aufgehoben. Die

virtuelle Präsentation des Wagens schuf selbst ein ‚wertvolles’ Ereignis. Die Kunden

zeigten sich bereit, für die Stimulation und Steuerung ihrer eigenen Erwartungen zu

bezahlen. Sie demonstrierten, daß diese Bereitschaft mehr oder etwas anderes ist als ein

gebrochener Widerstand.

Dafür spielte es sicherlich auch eine wichtige Rolle, daß die Zahlung direkt online,

als eine Bewegung innerhalb des Navigierens durch die Präsentation machbar war und

nicht erst im Umweg über eine Überweisung oder einen Besuch beim lokalen

Mazda-Händler. Der Autokauf glich hier eher dem Abonnement eines Internet-Service

wie bei Porno-Diensten als einem traditionellen Tausch von Ware gegen Geld. Die

vorzeitige Zahlung profitierte von der Unmerklichkeit des Geldes, das per Kreditkarte

übermittelt wurde, aber die entscheidende Pointe liegt in der Umkehrung der Bedeutung

(des, wenn man so will, zeitlichen Sinnes) der Zahlung: Der Kunde erhält hier selbst die

Aufgabe, eine primäre Differenz, ein initiales Zuviel zu erzeugen. Er generiert mit

seiner Anzahlung einen Überschuß, den er selbst unmittelbar verbraucht, wenn er sich

seiner Erwartungsfreude hingibt, etwas genießt, was es noch nicht gibt und was

dennoch schon ein Stück weit sein ist. Die Rate signalisiert hier nicht eine

Verantwortung, eine Bindung der eigenen Zeit durch ein Zahlungsversprechen, das

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einem abgenommen wurde, sondern die Freiheit, sich an einem Produktionsvorgang zu

beteiligen. Demgegenüber rückt die spätere Lieferung des Autos in die Position, die

klassischerweise das Zahlen hatte: Das Unternehmen braucht lediglich die Rechnung zu

begleichen.

Die Währung der kommerziellen Synchronisierung von Kunde und Unternehmen –

denn so muß man diesen Kauf nennen – ist hier noch das immaterialisierte Geld der

Kreditkartennummer. Aber das Geld erhält eine neue Funktion: Es taucht nicht als

Symbol eines Wertes auf (es ging bspw. nicht um Preisnachlässe, überhaupt nicht um

Preise), sondern wirkt, indem es eine Partizipationsmöglichkeit eröffnet. Der

kommerzielle Vorgang nimmt die Form eines sozialen Prozesses an („Wir bringen ein

neues Auto heraus“), an dem man von Anfang an teilhaben, den man mit initiieren, in

den man sich ein-kaufen kann. Es wäre nur ein weiterer Schritt, den Kunden tatsächlich

am neuen Auto mitbauen zu lassen. Die Zahlung hat hier nicht mehr die Aufgabe, diese

Teilnahme an der Produktion zu ersetzen. Sie bietet sich selbst wie ein partizipativer

Vorgang dar. Ihre monetäre Indirektheit in der Form „Ware gegen Geld“ gibt einem

direkteren Austausch im Medium der Zeit statt: Ich gebe vorweg mein Geld für das

neue Auto, aber ebenso wie das Geld wäre ich im Grunde bereit, mein Wissen und

meine Arbeitsleistung zu geben (meine Freizeit sowieso). Die Konsequenzen dieser

Gleichung reichen vielleicht weiter als eine clevere Werbekampagne.

Die Zeit als Währung

In den Entwürfen für Alternativen zur neoliberalen Arbeitslosengesellschaft, etwa bei

André Gorz, spielen Tauschringe eine prominente Rolle.28 Gorz betont, daß diese

Organisationen zwar kein Geld, sehr wohl aber eine Währung kennen – nämlich die

Arbeitszeit, die zum Erbringen einer Dienstleistung aufgewandt wird. Drückt man sie in

Arbeitsstunden aus, sind ganz verschiedene Tätigkeiten miteinander vergleichbar und

gegeneinander tauschbar, wobei der Tausch nicht gegenwärtig eins zu eins, sondern

vermittels eines Zeitkontos erfolgt, auf dem die Gemeinschaft meine Leistungen für

andere als Haben, die von mir in Anspruch genommenen Leistungen anderer als Soll

28 Vgl. André Gorz, Arbeit zwischen Misere und Utopie, Frankfurt a.M. 2000, S. 147-156.

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verbucht.

So sehr Gorz die Tauschringe als Vorbild für eine idyllische Gesellschaft von

glücklich sozialen Dienstleistern idealisiert, gibt es dabei eine interessante

währungspolitische Pointe: Die Abschaffung des Geldes zugunsten eines Zählens der

Zeit soll die Vorteile einer neutralen Währung ohne deren Nachteile bringen. Man kann

Zeit nicht in derselben Weise dem Investitionskreislauf entziehen wie Geld. Der Geiz,

der, wie Marx nach Plinius zitierte, seinen Ursprung im Geld hat, findet in einer

Ökonomie der Zeitmessung ebensowenig einen Anhaltspunkt wie die

„Absahnermentalität“ einer über das eigene Konsumvermögen hinausgehenden Gier.

Da es kein Außerhalb des Tauschsystems gibt, wo die gewonnenen Stunden irgendeinen

Wert hätten, muß der Teilnehmende sein Guthaben verbrauchen.

Das packt die Urangst des Besitzenden sozusagen bei der Wurzel: Die Umstellung

von der Geld- auf die Zeitwährung läßt die ganze strategische Architektur der

Besitzssicherung durch Flexibilisierung an einem Punkt zusammenbrechen, wo eine

andere Art von Gewißheit an die Stelle der hochriskanten Sicherungsmaßnahmen tritt –

die Gewißeit und vorbehaltlose Anerkennung unserer Endlichkeit. Der neuzeitliche

Bürger, wie ihn Locke beschrieb, verwandelte sein materielles Hab und Gut möglichst

weitgehend in Geld, in das Eigentum an der Möglichkeit, sich zu einem beliebigen

Zeitpunkt beliebige Dinge zu kaufen, weil der Geldwert dauerhafter und

zukunftssicherer schien als die vergänglichen Dinge. Dieses Dauern des Wertes im

Zustand des Geldes entfaltete nach und nach in der Moderne seine eigene Dynamik; es

setzte neue Chancen und Risiken frei und veränderte das Wesen der Ökonomie bis hin

zu einer Gegenwart oder nahen Zukunft von „Xenogeld“ einerseits und

postfordistischer Produktion andererseits, in der die Zirkulation des Geldes und die der

Güter und Arbeitsleistungen kaum mehr miteinander in Einklang zu bringen sind. Die

Zeitwährung rechnet nicht damit, dieser Geschichte des Geldes eine weitere Wendung

abzugewinnen (sie behandelt die Zeit nicht wie Geld). Es geht hier um einen neuen,

wörtlicheren Begriff von Währung im Sinne des Zeitwortes währen, das Heidegger

einmal als ein Bleiben im Einvernehmen mit dem Vergehen der Zeit bestimmt hat: Die

Zeitwährung fängt die Geschichte der Währung noch einmal neu an, in einem

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Augenblick, da es unmöglich ist, etwas als Besitz zu verteidigen. Diese Währung löst

sich von dem jahrhundertealten Aufstand gegen das Vergehen der Zeit und den

forcierten Anstrengungen, dem Vergehen einen anderen Sinn abzutrotzen als den des

bloßen Vergehens. Sie mißt ein Eigentum, das nicht unter der Herrschaft des Besitzes

gegen seine Endlichkeit aufbegehrt – ein Eigentum, das nicht in der Aneignung von

Möglichkeiten besteht, sondern in jenem Zeit-Haben, das jedes eigene Handeln

auszeichnet, ohne das dieses Handeln kein eigenes wäre. Eine Ökonomie, in der die Zeit

zählt, ohne daß das Zählen länger an Geldzahlen haftet, steht durchaus im Zeichen des

Habens. Aber sie versteht das Haben vom Zeit-Haben her, also gerade von jenem Haben,

das eine Ökonomie des verselbständigten Geldes (und einer dem Geld nacheifernden

selbstbezüglichen Produktivität) chronisch vernachlässigen muß.

Die Zeitwährung bildet nicht dadurch Wert, daß sie sich vom bloßen Vergehen der

Zeit abspaltet, es im Modus des Möglichen verdoppelt, potenziert und die Potenzierung

in den Zeitablauf als Mehrwert wiedereinzuführen sucht. Sie beziffert lediglich das

Vergehen der Zeit als solches – man könnte sagen, sie trägt eine Ökonomie der

Genügsamkeit statt der spekulativen Ökonomie der Potenzierung, eine Ökonomie der

„perfect continence“ (eine Wendung von George Spencer Brown) statt der

Erwirtschaftung von Überschüssen aus dem Geist des Mangels. Doch eben dank dieser

Orientierung an einer primären Genügsamkeit gelingt es der Zeitwährung, einem

Umstand Rechnung zu tragen, den die Geldwährung strukturell leugnen muß: der

Tatsache, daß es zwar niemals genug, aber bereits mehr als genug gibt und daß wir mit

diesem „mehr als genug“ bereits endgültig über jede Erwartung einer Zukunft hinaus

sein sollten, die uns einen paradiesischen Zustand des allgemeinen Wohlstands bringt.

Das Genügen hat nicht den Charakter einer Zufriedenheit vom Typ des Faustschen

Augenblicks, in dem der Begehrende schließlich verweilt. Es verdankt sich einem

Überdruß, der dahin gelangt, sich selbst als Zeugnis des Überflusses anzuerkennen: Es

lohnt sich schon längst nicht mehr, für eine solche Zukunft zu arbeiten, unabhängig

davon, ob sie eintreten wird oder nicht. Und was immer uns zu unserem Glück fehlt (in

einer solchen Perspektive haben wir nie genug, bleiben wir auf ewig einen Schritt

davor), wir können von diesem „Es lohnt nicht mehr“ ausgehen, statt dort

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stehenzubleiben. Die Frage, mit der wir zur Ökonomie der Genügsamkeit übergehen,

lautet: Was tut man, wenn sich das Arbeiten zur Auffüllung des Mangels nicht mehr

lohnt?

Georges Bataille hat erklärt, warum eine Ökonomie des Nutzens, der Mehrung, des

sparsam rationalen Einsatzes der Mittel, des Wachstums und der Steigerung von

Wachstumsraten niemals für sich allein bestehen kann. Sie bedarf stets einer

komplementären Ökonomie der Verschwendung, um den Überreichtum, den sie

hervorbringt, wieder zu vernichten und zur Dynamik des Mangels zurückzukehren.29

Das Geld steht für diese Verbindung von Nutzen und Verschwendung: Es verschafft

einen Vorschuß zum Produzieren und hält die erzielten Gewinne für die Reinvestition in

den Ausbau der Produktion zur Verfügung, und es erlaubt, alle Quellen des Verlustes zu

identifizieren, um sie zu beseitigen. Aber es gestattet ebenso, das erreichte Mehr der

Produktion zu entwenden – entweder in einem spektakulären Akt der Verausgabung

(„Luxus, Trauerzeremonien, Kriege, Kulte, die Errichtung von Prachtbauten, Spiele,

Theater, Künste, die perverse [...] Sexualität“30) oder in einem kleinlich egoistischen

Beiseiteschaffen der Erträge. Bataille warf dem bürgerlichen Kapitalismus vor, sich

allein der zweiten Alternative verschrieben zu haben. Das prosperierende Bürgertum

drückte sich vor seiner sozialen Verantwortung gegenüber der Verschwendung. Es

benutzte das Geld nur zur privaten Abzweigung, nicht zum öffentlichen Verbrennen.

Das hatte den Niedergang des Öffentlichen als einer Sphäre der gemeinschaftlichen

Verschwendung zur Folge, eine egoistische Rationalisierung gerade auch des Exzesses.

Die Zeitwährung schafft eine neue Öffentlichkeit, einen Raum des Tausches, der

weder der bürgerlichen Zone einer gemäßigten Geselligkeit noch der (im Batailleschen

Sinne) antibürgerlichen Stätte der Verausgabung entspricht. Diese Währung, die Zeit

statt Geld zählt, sozialisiert die Früchte der Produktion auf eine ganz direkte Weise: Sie

macht das egoistische Horten des Reichtums unmöglich, indem sie zugleich die

Möglichkeit der Verschwendung beseitigt. Sie beendet ein für allemal die janusköpfige

29 Vgl. für eine kurze Zusammenfassung den frühen Text Der Begriff der Verausgabung, in: Georges Bataille, Das theoretische Werk in Einzelbänden, hrsg. Von Gerd Bergfleth, Bd. 1: Die Aufhebung der Ökonomie, München 1985, S. 7-31. 30 Ebd., S. 12.

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moderne Geschichte des Zuviel, die Geschichte seiner Rückkehr in den

Produktionskreislauf oder seines skandalösen Verschwindens. Sie beendet diese

Geschichte, da sie das Zuviel zur organisatorischen Voraussetzung des Produzierens

macht. Produzieren in einer Welt, wo die Zeit selbst die Währung darstellt, ist ein

Produzieren auf der Grundlage von Überproduktion. Es handelt sich hier keineswegs

um eine Rückkehr zu vorkapitalistischen Tauschbeziehungen, die durch eine basale

Arbeitsteilung das Überleben sichern, sondern um die Reorganisation des Kapitalismus

in dem Moment, wo die Überproduktion zur verläßlichen Tatsache geworden ist und wo

jene Forcierung des Versprechens ungeahnter Möglichkeiten, die Geld darstellt, keine

wirksame Motivation mehr bietet. Es geht nicht um eine Umverteilung, um eine

Gerechtigkeit des Ausgleichs, der „natürlichen“ Balance – sondern um eine

Überführung des gesamten ökonomischen Systems mitsamt allen Differenzen, die es

hervorgebracht hat und weiter hervorbringt, in die Selbstverständlichkeit des Zuviel.

Um das Ende des Mehr, das nur dazu dient, die Herrschaft des Mangels zu verschärfen.

Um ein anderes, allgemein bekanntes, selbstverständlich vorauszusetzendes – und in

diesem Sinne: eine zivilisatorische Errungenschaft darstellendes – Mehr.

Struktureller Leichtsinn: Die Genügsamkeit des Mehr

In einer Umgebung, die noch weitgehend von den Vorstellungen des monetären

Kapitalismus besetzt ist, erscheinen Tauschringe bislang als exotisches, nach ihrer

kurzen Popularität in den 90ern schon fast wieder vergessenes Randphänomen,

bestenfalls als ein gesellschaftliches Experiment unter anderen. Zudem stoßen sie auch

auf immanente Probleme wie die Bewertung von Arbeitszeit hinsichtlich Intensität und

Niveau der Leistung (es entsteht aus praktischen Gründen vorerst die Notwendigkeit,

einzelne Leistungen wie ärztliche Versorgung oder juristische Beratung höher

einzustufen, und generell bleibt das Problem des Verzichts auf die Kategorien

„qualitativ“ und „quantitativ“ bei der Messung von Zeit). Als soziale Bewegung dürften

die Tauschringe kaum besondere Erfolgsaussichten haben, schon gar nicht unter diesem

Namen. Es steht zu befürchten, daß ihre Organisation im Rahmen einer community

policy verbleibt und sie entweder ein Teil der gouvernementalen Sozialarchitektur

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werden oder verschwinden.

Was jedoch festzuhalten bleibt, ist die ökonomische Pointe, die Zeit unmittelbar zur

Währung zu erklären. Sie liefert uns den vielleicht wertvollsten Hinweis für eine

Aporetik des Geldes. Die ökonomische Vernunft, die sich in diesen Tauschringen

artikuliert, sagt mehr über den gegenwärtigen Status von kommerziellen Transaktionen

in unserer Gesellschaft als der Gebrauch des Wortes „Markt“ in den neoliberalen

Diskursen. Denn es steht heute gerade in Folge der Deregulierung die Eigenständigkeit

einer Dimension des Wirtschaftlichen, wie sie der Begriff „Markt“ suggeriert, in Frage.

Man wird anfangen müssen, den Markt statt von der monetären Transaktion ausgehend

von sozialen Vorgängen und Beziehungen zu denken – nicht um ein romantisches

Soziales gegen den hartherzigen Realismus der Wirtschaft zu schützen, sondern weil die

Aktionen des Kaufens und Verkaufens sich aus einer eigenen Dynamik heraus sozial

redeterminieren. Geld könnte durchaus in nicht gar so ferner Zukunft aufhören, die

Identität des Systems Wirtschaft zu symbolisieren. Wenn es nicht mehr das Medium zur

Selbstreinigung des Marktes ist, sondern sich auf seinen eigenen Markt zurückgezogen

hat, erlangt der kommerzielle Akt, das Handeln im doppelten Sinne des Wortes, die

Freiheit, sich als Akt neu zu bestimmen. Die Frage, welche Währung an die Stelle des

Geldes tritt, welches Medium diesen Akt trägt und ihm gestattet, sich zuzutragen,

antizipiert diesen Moment einer Neubestimmung.

Eine Währung braucht eine gewisse Neutralität gegenüber dem, was sie vermittelt.

Wenn wir über das Funktionieren ökonomischer Systeme nachdenken, sollten wir indes

aufmerksam dafür werden, daß es verschiedene Verhältnisse und Verhältnismäßigkeiten

des Neutralen gibt. Die Neutralität der Zeit gegenüber dem, was in ihr, mit ihrem

Vergehen geschieht, ist eine andere als die Neutralität des Geldes gegenüber dem, was

man damit bezahlt und dafür übergibt. Die Zeit als Währung bringt nicht die

distanzierende Neutralisierung des monetären Zeichens, eine Neutralisierung, die die

Anwesenheit des Gegenstands ausstreicht (um in dieser Abwesenheit den Überschuß

oder den Mangel zu lokalisieren, sie als Über-Präsenz oder Mangel an Präsenz

interpretierbar zu machen). Die Zeitwährung verbleibt in Unkenntnis der

Unterscheidung von Gebrauchswert und Tauschwert sowie aller Konsequenzen, die ein

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bestimmter Kapitalismus aus der Verselbständigung des Tauschwerts gezogen hat.

Diese Währung läßt die Unterscheidung zwischen dem Gegenstand als Nahrung, Zeug

oder Objekt und dem Gegenstand als Ware fallen für eine andere Differenzierung: eine

neue Differenz in der Handlung, die nicht zwischen ihrer sozialen und ihrer

ökonomischen Dimension verläuft, sondern in einer durchgängig sozialen Ökonomie

die Operationen des Gebens und Nehmens als Werte des Vergehens ermittelt. Das

Leben selbst, die mir gegebene Zeit, die ich mit dem, was ich tue oder lasse, ausgebe,

avanciert zum ökonomischen Wert in einer Bio- oder Zooökonomie.

Bataille imaginierte eine Befreiung der Verschwendung von ihrer Instrumentalisierung

durch die Ökonomie des Mangels. Er sehnte die proletarische Revolution als einen Akt

der totalen Verausgabung herbei, der die Ressourcen des bürgerlichen Lebens

vernichten würde, und er feierte eine dunkle, sterile und erschöpfende, dem Tod

zugewandte Sexualität als subversive Kraft gegen die Allianz von Mehrung und Mangel.

Anstelle dieser Erlösung, die der Verschwendung nie zuteil geworden ist, kündigt sich

mit dem Übergang von der Geld- zur Zeitwährung eine ganz andere Umwertung an:

eine Umwertung des Mehr, die es von der Dialektik des Exzesses in die

Selbstverständlichkeit, den strukturellen Leichtsinn der Überproduktion birgt. Das

verlangt, etwas zu denken, dessen erstes Gesicht vielleicht noch entsetzlicher, noch

beklemmender und am Ende noch erleichternder ist als das Paradies des

Kommunismus: eine originäre Genügsamkeit des Mehr.

„Für den halben Luxus leg ich mich nicht krumm“, lautet eine charmante Formulierung,

mit der man einen gut bezahlten Job ausschlagen oder aus einem Projekt aussteigen

kann, wenn es sich auszuzahlen beginnt und absehbar wird, was man noch an Arbeit

hineinstecken muß, damit es sich wirklich auszahlt. Ich empfehle, diesen Satz noch

mehrmals zu lesen. Bislang ist es so, daß wir uns die erste Hälfte des Luxus gern

verdienen und kapitulieren, wenn wir feststellen, daß sich die zweite nach demselben

Muster entzieht. Dabei befindet sich die zweite Hälfte bereits in unserm Besitz, und es

ginge eher darum, nicht mehr auf die erste zu warten. Das ist, zugegeben, eine sehr

vereinfachte Lektüre. Es sollten noch weitere folgen.