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  • Uwe Rada

    Die Memel

  • Uwe Rada

    Die Memelkulturgeschichte

    eines europischen stromes

    Siedler

  • Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-Das fr dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier

    Munken Premium Cream liefert Arctic Paper Munkedals AB, Schweden.

    Zweite Auflage

    Copyright 2 by Siedler Verlag, Mnchen,in der Verlagsgruppe Random House GmbH

    Umschlaggestaltung: Rothfos + Gabler, HamburgKarten: Peter Palm, BerlinSatz: Ditta Ahmadi, Berlin

    Druck und Bindung: GGP Media GmbH, PneckPrinted in Germany 2ISBN 978-3-8868-93-

    www.siedler-verlag.de

    Die Recherchen zu diesem Buch wurden vom Goethe-Institut Minsk, dem Journalistennetzwerk n-ost, der Robert Bosch Stiftung

    und der Stiftung fr deutsch-polnische Zusammenarbeit untersttzt.

  • Es beugt sich herber der Niemen und nimmt sie in seine Arme.

    Und gibt ihr einen Kuss auf die Augen, die grnen, die leuchten von Traurigkeit.

    Und bringt sie hinab auf den Grund ins Blaue, in seinen kristallnen Salon.

    aus einem jiddischen gedicht

  • Eine der wirksamsten Mglichkeiten, der Zukunft eines wiedervereinigten Europas einen Weg zu bahnen, besteht darin, unsere Vergangenheit miteinander zu teilen, unser Gedchtnis, unsere bislang getrennten Erinnerungen zu einen.

    jorge semprn

  • Inhalt

    Weder Maas noch Memel Die Deutschen und ihr verlorener Strom 9

    Smalininkai und Schmalleningken Alte und neue Grenzen an der Memel 33

    Strom der ErinnerungDie Literatur an der Memel 49

    Der Lauf des StromesVon der Quelle bei Minsk bis zur Mndung ins Kurische Haff 77

    Luise, Napoleon, PutinDie Memel schreibt Geschichte 3

    Herzge, Frsten und KnigeStaatenbildung und regionale Identitten an der Memel 3

    Ludendorff und PisudskiDas Kriegsland an der Memel 53

    Heimat bis zum EndeJdisches Leben an der Memel 85

  • Fler und FlussschifferDie Memel als Wasserstrae 223

    Dreimal SozialismusDie sowjetische Memel 243

    Zeit wie ein FlussWarum die Memel der polnischen Rocklegende Czesaw Niemen ihren Namen schenkte 267

    Wilde LandschaftenDie Memel zwischen Europas Osten und Westen 285

    Mit der Vergangenheit in die ZukunftKlaipda und die Kurische Nehrung 35

    Die Memel im Grenzland EuropasDas Dreilndereck Biaystok, Grodno und Druskininkai 325

    Dank 355Ausgewhlte Literatur 356Chronologie 362Bildnachweis 368

  • Weder Maas noch MemelDie Deuts chen und ihr ver lorener St rom

    Nichts deutet darauf hin, dass im Rcken des Fotografen Tilsit liegt, Ostpreuens zweitgrte Stadt. Es war die Abgeschiedenheit und landschaftliche Schnheit Ostpreuens, die Walter Engelhardt Anfang der dreiiger Jahre veranlasste, von Thringen an den stlichen Rand des Reiches zu ziehen. Tilsit wurde der Ausgangspunkt seiner Streifzge mit der Kamera durch das Land der vielen Himmel. Seine Frau hat diese Fotos 1945 auf die Flucht mitgenommen und nach Thringen gerettet.

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    Ostpreuen. Auch wer nie da war, kennt die Bilder. Heraus-geputzte Drfer und schattige Alleen, ber die sich ein weiter Himmel spannt; Pferdefuhrwerke und Bauern auf den Feldern; Knigsberg mit dem Dom und den Khnen auf dem Pregel; die Seenlandschaft Masurens; Menschen vor ihren Husern, die Frauen mit Kopftchern, die Kinder oft barfu. Ostpreuen war, wie es Marion Grfin Dnhoff formulierte, eine Welt, die noch von der Natur bestimmt war und von einer gewissen Ehrfurcht, die inzwischen der gedankenlosen und unbarmherzigen Hybris des Menschen zum Opfer gefallen ist.

    Doch nicht nur dem technischen Fortschritt fiel dieses Ostpreuen zum Opfer, sondern auch der Geschichte. Mit der Flucht und Vertreibung von 2,2 Millionen der ehemals 2,5 Mil-lionen Bewohner endet in den Jahren nach 945 das 7 Jahre whrende Kapitel der Deutschen in der ostpreuischen Ge-schichte.

    Insgesamt werden aus dem deutschen Osten, aus Ostpreu-en und Westpreuen, aus Pommern und Schlesien, aus dem Posener Land und den Sudeten 4 Millionen Menschen vertrie-ben. All das, wovon Marion Grfin Dnhoff in ihrem Buch Namen die keiner mehr nennt spricht, ist seitdem Vergangenheit, eine versunkene Welt, bestenfalls noch abrufbar auf den Schwarz-Wei-Fotografien, die geblieben sind: ein groer Himmel (), bescheidene Drfer, Kopfsteinpflaster, Sonnenblumen im Vor-garten, Gnse auf den Straen. Dnhoff bezeichnet ihre Schrift als Buch des Abschieds. Es ist ein Abschied von einer Welt, in der die Jahreszeiten den Rhythmus des Lebens noch ganz unmittelbar bestimmten: das weidende Vieh auf sommerlichen Wiesen, Regenwolken ber leeren Stoppelfeldern, der Schrei der Wildgnse, die im Frhjahr gen Norden ziehen, der Ruf der H-

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    her im herbstlichen Gehlz, die Fuchsspur im frisch verschnei-ten Wald.

    Es sind Autoren wie Marion Grfin Dnhoff oder Chris-tian Graf von Krockow, aber auch Schriftsteller wie Johannes Bobrowski oder Siegfried Lenz, die den nachfolgenden Genera-tionen die Bilder Ostpreuens erhalten haben. Zu diesen Bil-dern gehren auch die Fotografien des Knigsberger Denkmal-amtes aus den Jahren 88 bis 943, die der 934 im ostpreuischen Jglack geborene Schriftsteller Arno Surminski verffentlicht hat. In ihnen wird die versunkene Landschaft noch einmal le-bendig, nicht nur fr jene, die sie einst mit eigenen Augen gese-hen haben, sondern auch denen, die sie nur vom Hrensagen kennen. Eines aber sucht man in dem Bilderreigen vergeblich: eine Wrdigung der Memel. In all den Erinnerungen, Fluchtbe-richten, Bildbnden, die sich seit der Wende zu Dutzenden auf den Bchertischen stapeln, kommt der grte Strom Ostpreu-ens allenfalls am Rande vor. Nicht einmal das Ostpreuische Landesmuseum in Lneburg widmet ihm ein eigenes Kapitel. Beinahe scheint es, als sei die Memel im Erinnern der Deut-schen an ihre einst stlichste Provinz gar nicht eingeschlossen, als wrden der Strom und mit ihm Stdte wie Tilsit, Ru und Memel ein zweites Mal in Vergessenheit geraten.

    Ein Grund fr diese Fehlstelle mag in der erinnerten Topo-grafie Ostpreuens liegen. Anders als der Pregel mit seinen Quellflssen Inster und Angerapp floss die Memel nicht durch die Mitte Ostpreuens und damit mitten durch seine einzige Metropole Knigsberg , sie streifte die Provinz lediglich im Norden. Hinzu kam, dass das deutsche Ordensland, aus dem spter das Herzogtum Preuen und die deutsche Provinz Ost-preuen hervorgingen, an seinen Rndern seit jeher ein ethnisch, kulturell und religis gemischtes Grenzland war. Das ostpreui-sche Gut Quittainen, von dem die Dnhoff im Januar 945 mit ihrem Reitpferd in Richtung Westen aufgebrochen war, grenzte

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    unmittelbar an das katholische Ermland, das lange Zeit zu Polen gehrt hatte. Preuisch wurde es erst im Jahre 772 bei der ersten Teilung Polen-Litauens. Im Sdosten Ostpreuens erstreckte sich mit Masuren eine ebenso arme wie ethnisch gemischte Re-gion, in der sich die deutsche und polnische Kultur gegenseitig beeinflussten. Schlielich der Norden. Rechts und links der Me-mel, in Preuisch-Litauen, waren vor allem in den Niederungs-drfern die Litauer in der Mehrheit. Zwar gehrten sie dem pro-testantischen Glauben an und waren ber die Jahrhunderte hinweg auf Distanz zu den katholischen Litauern im Grofrs-tentum und auch spter im russischen Zarenreich gegangen. Als preuische Litauer aber bewahrten sie sich eine sprachliche und kulturelle Autonomie. In seinem Buch Ostpreuen. Geschichte und Mythos beschreibt der 97 geborene Historiker Andreas Kossert Ostpreuen zu Recht als multikulturelle Landschaft. Hugenot-ten, reformierte Glaubensflchtlinge aus Hessen-Nassau, dem Siegerland, der Pfalz, Schweizer aus Neuchtel, Halberstdter und Magdeburger, Schotten, Salzburger Protestanten, polnische Reformierte und Arianer, russische Philipponen, sie alle fanden den Weg in das Land zwischen Weichsel und Memel. Preuen, so Kossert, hatte dort seinen Ursprung, wo heute Russen, Polen und Litauer Nachbarn sind, dort entstand ein Staat, der jahrhun-dertelang aufs engste mit diesen drei Nationen verflochten war.

    War Ostpreuen also nicht das Bollwerk des Deutschtums, als das es lange galt, sondern vielmehr ein melting pot im Nord-osten des Reiches? Das mag, neben der Geografie, der zweite Grund fr das Fremdeln der ostpreuischen Erinnerungslitera-tur mit der Memel sein. Immerhin wurde vor allem Preuisch-Litauen mit seinem Verwaltungszentrum Tilsit im deutschen Kaiserreich auch spttisch als Preuisch-Sibirien bezeichnet. Fr die Memel kam erschwerend hinzu, dass der groe Strom der Ostpreuen nur auf den letzten Kilometern seines insge-samt 937 Kilometer langen Laufs durch deutsches Territorium

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    floss. Oberhalb der ostpreuischen Grenzstadt Schmallening-ken war die Memel seit jeher litauisch, weirussisch, polnisch, russisch und jdisch. So fremd muss dieser Mittel- und Ober-lauf den Deutschen gewesen sein, dass sie sogar den Namen des Stroms teilten. Memel, das war nur das Wort fr den ostpreui-schen Abschnitt von Schmalleningken bis zum Kurischen Haff. Der Mittel- und Oberlauf des Stroms dagegen wurde im Deut-schen beim slawischen Namen genannt Njemen. Diese se-mantische Teilung schlug sich auch in den Werken der Histori- ker nieder. Der Frieden von Tilsit und der Bittgang der Knigin Luise bei Napoleon fand 87 demnach an der Memel statt. Als die Grande Arme Napoleons fnf Jahre spter bei Kaunas zum Feldzug gegen das zaristische Russland antrat, berschritt sie den Njemen. Memel und Njemen, das ist, als ob die Donau hinter Passau auch im Deutschen Dunaj, Duna, Dunav oder Dunarea hiee. Eine derartige Aufteilung eines Stroms in einen eigenen und den fremden war selbst im Europa des aufzie-henden Nationalismus einzigartig.

    Auch der Grfin Dnhoff war die Memel in ihrem Buch Namen die keiner mehr nennt keine Erwhnung wert. Die multi-kulturellen Grenzlandschaften von Ostpreuen waren ihr frei-lich keine Bedrohung; von Anfang an war die Dn