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Unverkäufliche Leseprobe aus: Jennifer Niven Stell dir vor, dass ich dich liebe Untertitel Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektro- nischen Systemen. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

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Unverkäufliche Leseprobe aus:

Jennifer Niven

Stell dir vor, dass ich dich liebe

Untertitel

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern,

auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags

urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die

Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektro­

nischen Systemen.

© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

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L I BBY

Wenn meine Nachttischlampe funktionieren würde wie Aladins

Wunderlampe, würde ich mir diese drei Dinge wünschen: dass

meine Mutter noch am Leben wäre, dass nie wieder etwas Schlim­

mes oder Trauriges passiert und dass ich ein Mitglied der Martin­

van­Buren­Highschool­Darlings wäre, dem besten Tanzteam in der

Region.

Aber was, wenn die Darlings dich nicht wollen?

Es ist 3 . 38 Uhr, und meine Gedanken flitzen so wild umher

wie mein Kater George, als er klein war. Plötzlich klettert mein Ge­

hirn an den Vorhängen hoch und schwingt sich aufs Bücherregal.

Und dann sitzt es vorm Aquarium, die Pfoten auf dem Glasrand

und die Nase unter Wasser.

Ich liege auf dem Bett und starre in die Dunkelheit, und meine

Gedanken turnen durchs Zimmer.

Was, wenn du wieder in die Falle gerätst? Wenn sie die Tür der

Cafeteria oder die Wand im Waschraum einreißen müssen, um dich

zu befreien? Was, wenn dein Dad wieder heiratet und dann stirbt und

du bei seiner neuen Frau und den Stiefgeschwistern bleiben musst?

Was, wenn du selbst stirbst? Was, wenn es keinen Himmel gibt und

du deine Mom nie wiedersiehst?

Ich befehle mir zu schlafen.

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Ich schließe die Augen und liege ganz still.

Ganz still.

Minutenlang.

Ich lege meine Gedanken neben mich und sage zu ihnen:

Schlaft, schlaft, schlaft. Aber sie kommen nicht zur Ruhe. Was,

wenn du zur Schule gehst und merkst, dass alles anders ist, dass

deine Mitschüler anders sind, und, egal, wie sehr du dich anstrengst,

du nie so gut sein wirst wie sie?

Ich öffne die Augen.

Mein Name ist Libby Strout. Ihr habt wahrscheinlich schon

von mir gehört. Vielleicht habt ihr das Video gesehen, wie ich aus

meinem eigenen Haus befreit wurde. Als ich das letzte Mal nach­

geschaut habe, hatten 6 345 981 Menschen das Video gesehen. Die

Chancen stehen also nicht schlecht, dass ihr dabei seid. Vor drei

Jahren war ich Amerikas fettester Teenager. Ich wog zu meinen

schwersten Zeiten 296 Kilo, mit anderen Worten: Ich hatte etwa

226 Kilo Übergewicht. Ich war nicht immer fett. Die Kurzfassung

der Geschichte ist: Meine Mutter starb, und ich wurde fett. Aber im

Gegensatz zu ihr bin ich immer noch da. Die Schuld meines Vaters

ist mein Gewicht jedenfalls nicht.

Zwei Monate, nachdem ich aus unserem Haus befreit wurde,

zogen wir in ein anderes Viertel auf der anderen Seite der Stadt.

Heute kann ich das Haus wieder allein verlassen. Ich habe 140 Kilo

abgenommen. Das Gewicht von zwei vollständigen Menschen.

Ich habe immer noch knapp 90 Kilo vor mir, aber das ist in Ord­

nung. Ich mag, wer ich bin. Erstens kann ich jetzt rennen. Und

Auto fahren. Und Klamotten im Einkaufszentrum kaufen, statt sie

irgendwo bestellen zu müssen. Und ich kann mich schnell im Kreis

drehen. Abgesehen davon, dass ich keine Angst mehr vor Organ­

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versagen haben muss, ist das vielleicht das Beste im Vergleich zu

damals.

Morgen ist mein erster Schultag seit der fünften Klasse. Mein

neuer Titel lautet Elftklässlerin, was wesentlich besser klingt als

Amerikas fettester Teenager. Aber es fällt mir schwer, irgendetwas

anderes zu sein als VOL L KOM M EN V ER Ä NGSTIGT.

Ich rechne schon mit der nächsten Panikattacke.

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JACK

Caroline Lushamp ruft mich auf dem Handy an, kurz bevor mein

Wecker klingelt, aber ich lasse die Mailbox antworten. Ich weiß,

was es auch ist, es ist nichts Gutes, und es ist meine Schuld.

Sie versucht es dreimal, hinterlässt aber nur eine Nachricht.

Ich bin drauf und dran, sie zu löschen, ohne sie mir anzuhören,

aber was ist, wenn sie eine Panne hatte und Hilfe braucht? Im­

merhin haben wir seit vier Jahren eine On /Off­Beziehung. (Die Art

Paar sind wir. So ein Zusammen­getrennt­zusammen­Paar, von

dem alle sagen, dass es früher oder später vor dem Traualtar lan­

den wird.)

Jack, ich bin’s. Ich weiß, wir machen gerade Pause, aber sie

ist meine Cousine. Meine COUSIN E. Also echt, sie ist M EIN E

COUSINE, JACK! Wenn du dich an mir rächen wolltest, weil ich

Schluss gemacht habe, dann herzlichen Glückwunsch, du Pisser, du

hast es geschafft. Wenn du mich heute auf dem Gang oder in der Cafe-

teria oder IRGENDWO SONST AUF DER WELT siehst, sprich mich

bloß nicht an! Weißt du was, tu mir den Gefallen und fahr zur Hölle.

Drei Minuten später ist eine Nachricht von besagter Cousine

auf der Mailbox, und erst denke ich, sie weint, aber dann ist Caro­

line im Hintergrund zu hören, und die Cousine fängt an zu krei­

schen, und Caroline kreischt zurück. Ich lösche die Nachricht.

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Zwei Minuten später schreibt Dave Kaminski, um mich zu

warnen, dass Reed Young mir die Fresse polieren will, weil ich mit

seiner Freundin rumgemacht habe. Ich antworte: Du hast was bei

mir gut, Mann. Und das meine ich auch so. Ich zähle den Punkte­

stand: Dave hat mir weit öfter geholfen als ich ihm.

So ein Aufstand wegen eines Mädchens, das Caroline ehrlich

gesagt so ähnlich sieht, dass ich – wenigstens anfangs – dachte, sie

sei es. Und das heißt doch auf irgendeine seltsame Art, dass Caro­

line sich geschmeichelt fühlen sollte. Es war wie ein Geständnis an

die Welt, dass ich wieder mit ihr zusammen sein will, obwohl sie

mich in der ersten Ferienwoche abserviert hat, um was mit Zach

Higgins anzufangen.

Ich überlege, ob ich ihr das schreiben soll, aber dann schalte

ich mein Handy aus und schließe die Augen und versuche, mich in

die Zeit Anfang Juli zurückzuversetzen. Als ich nichts anderes zu

tun hatte, als meine Arbeit bei Masselins Spielwaren zu machen,

auf dem Schrottplatz herumzustöbern, an (umwerfenden) Projek­

ten in meiner (grandiosen) Werkstatt zu basteln und mit meinen

Brüdern abzuhängen. Das Leben wäre so viel einfacher, wenn es

nur Jack + Schrottplatz + grandiose Werkstatt + umwerfende Pro­

jekte gäbe.

Du hättest niemals auf diese Party gehen dürfen. Du hättest

niemals etwas trinken dürfen. Du weißt, dass du dir nicht vertrauen

kannst. Meide Alkohol. Meide Menschenmengen. Meide Menschen.

Am Ende bringst du sie doch nur gegen dich auf.

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L I BBY

Es ist 6 . 33 Uhr, ich bin gerade aufgestanden und stehe vor dem

Spiegel. Es gab eine Zeit, vor etwas mehr als zwei Jahren, als ich

mich selbst nicht ansehen konnte oder wollte. Ich sah nur das ver­

kniffene Gesicht von Moses Hunt, der mir über den Schulhof hin­

weg zubrüllte: »Dich wird nie einer lieben, weil du fett bist!« Und

die Gesichter der anderen Fünftklässler, als sie zu lachen anfingen.

»Du verdeckst den Mond mit deinem Fett, Fetti Plauz, bleib doch

im Bett …«

Heute sehe ich hauptsächlich mich selbst – hübsches dun­

kelblaues Kleid, Turnschuhe, halblange braune Haare, deren Farbe

meine liebe, aber leicht demente Großmutter einmal als »genau

wie das Fell von Hochlandrindern« beschrieben hat. Und das Spie­

gelbild eines riesigen struppigen Wattebauschs von einer Katze.

George starrt mich mit seinen weisen goldenen Augen an, und

ich versuche mir vorzustellen, was er zu mir sagen würde. Vor vier

Jahren wurde bei ihm ein Herzfehler diagnostiziert, und man gab

ihm noch sechs Monate. Aber ich kenne ihn gut genug, um zu wis­

sen, dass George ganz allein entscheiden wird, wann es Zeit für

seinen Abgang ist. Er blinzelt mich an.

Ich glaube, jetzt würde er mir befehlen zu atmen.

Ich bin richtig gut im Atmen geworden.

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Ich schaue auf meine Hände. Die Fingernägel sind zwar bis

zur Nagelhaut abgekaut, aber meine Hände sind ruhig. So erstaun­

lich das auch ist, ich bin tatsächlich ziemlich ruhig, in Anbetracht

der Umstände. Ich stelle fest: Die Panikattacke ist nicht gekom­

men. Wenn das kein Grund zum Feiern ist. Ich lege eine der alten

Platten meiner Mom auf und fange an zu tanzen. Tanzen liebe ich

mehr als alles andere, und Tanzen ist das, was ich in meinem Le­

ben machen will. Ich hatte keinen Unterricht mehr, seit ich zehn

war, aber Tanzen liegt mir im Blut, und kein Trainingsrückstand

kann etwas daran ändern.

Ich sage mir: Vielleicht kannst du dieses Jahr bei der Aufnahme-

prüfung für die Darlings mitmachen.

Mein Gehirn zischt die Wand hoch, wo es zitternd hängen

bleibt. Was, wenn es nie dazu kommt? Was, wenn du stirbst, bevor du

irgendetwas Gutes oder Wundervolles oder Aufregendes erlebt hast?

In den letzten zweieinhalb Jahren habe ich mich einzig und

allein um mein Überleben gekümmert. Der Fokus jedes Menschen

in meinem Leben, einschließlich mir selbst, war: Wir müssen dafür

sorgen, dass es dir bessergeht. Und jetzt geht es mir besser. Also

was, wenn ich jetzt alle enttäusche, nachdem sie so viel Zeit und Ener-

gie in mich gesteckt haben?

Ich tanze wilder, um diese Gedanken zu verdrängen, bis mein

Dad an die Tür klopft. Sein Kopf erscheint im Türspalt.

»Du weißt ja, dass ich Pat Benatar bei voller Lautstärke so früh

am Morgen liebe, aber die Frage ist: Wie sehen das die Nachbarn?«

Ich stelle die Musik etwas leiser, aber ich tanze weiter. Als der

Song vorbei ist, krame ich einen Edding hervor und verziere einen

meiner Schuhe mit einem Zitat.

»Irgendwas kommt doch immer auf einen zu. Und selbst wenn

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es was Schlimmes ist, und du weißt, dass es was Schlimmes ist,

was willst du machen? Man kann nicht einfach aufhören zu

leben.« Truman Capote, »Kaltblütig«

Dann nehme ich den knallroten Lippenstift, den meine Großmutter

mir zum Geburtstag geschenkt hat, beuge mich näher zum Spiegel

und schminke mir die Lippen.

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JACK

Ich höre das Rauschen der Dusche und Stimmen im Erdgeschoss.

Ich ziehe mir das Kissen über den Kopf, aber es ist zu spät – ich

bin wach.

Ich stelle mein Handy an und schreibe erst Caroline, dann

Kam, dann Reed Young. Ich sage, dass ich sehr betrunken war

(eine Übertreibung), dass es sehr dunkel war (war es) und dass

ich mich an nichts mehr erinnere, weil ich nicht nur betrunken,

sondern auch total fertig war. Bei mir zu Hause ist gerade die Kacke

am Dampfen, ich kann jetzt nicht drüber reden, aber wenn ihr großzü-

gig sein und mir vergeben könnt, werde ich euch das nie vergessen.

Der Teil mit der Kacke bei mir zu Hause ist jedenfalls nicht gelo­

gen.

Für Caroline werfe ich ein paar Komplimente dazu und bitte

sie, sich bei ihrer Cousine für mich zu entschuldigen. Ich sage, ich

will es nicht selber tun, weil ich schon so ein Chaos angerichtet

habe und zwischen Caroline und mir nicht alles noch schlimmer

machen will. Auch wenn es Caroline war, die mich verlassen hat,

und auch wenn wir gerade gar nicht zusammen sind und auch

wenn ich sie seit Juni nicht mal mehr gesehen habe, krieche ich zu

Kreuze. Das ist der Preis, den ich dafür zahle, dass ich alle glück­

lich machen will.

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Ich schleppe mich über den Flur ins Bad. Was ich mehr brau­

che als alles andere, ist eine lange heiße Dusche, doch ich bekomme

nur ein warmes Rinnsal, gefolgt von isländischer Kälte. Sechzig

Sekunden später – länger halte ich es nicht aus – verlasse ich die

Dusche, trockne mich ab und stehe vor dem Spiegel.

Das also bin ich.

Das denke ich jedes Mal, wenn ich mein Spiegelbild sehe.

Nicht im Sinne von Wow, das bin ich, sondern eher Aha. Okay. Wen

haben wir denn da? Ich beuge mich vor und versuche, die Einzel­

heiten meines Gesichts zusammenzusetzen.

Der Typ im Spiegel sieht nicht schlecht aus – hohe Wangen­

knochen, kräftiger Kiefer, ein hochgezogener Mundwinkel, als

hätte er gerade einen Witz erzählt. Vielleicht fast irgendwie attrak­

tiv. So, wie er den Kopf zurücklegt und durch halbgeöffnete Lider

in die Welt schaut, wirkt er, als sei er es gewohnt, auf andere he­

rabzusehen, als wäre er schlau und wüsste das auch, und dann

geht mir auf, dass er in Wahrheit aussieht wie ein Arschloch. Abge­

sehen von den Augen. Sie sind zu ernst, und es sind Ringe darun­

ter, als hätte er nicht geschlafen. Er trägt dasselbe Superman­Shirt,

das ich den ganzen Sommer lang anhatte.

Was bedeutet dieser Mund (die Leute sagen, den hätte ich von

Mom) zusammen mit dieser Nase (auch von Mom) und diesen Au­

gen (eine Mischung aus Mom und Dad)? Meine Augenbrauen sind

dunkler als meine Haare, aber nicht so dunkel wie die von Dad.

Meine Haut ist mittelbraun, nicht so dunkel wie Moms und nicht

so hell wie Dads.

[…]