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Page 1: Und aus des Horizontes Tiefe - Heinrich von Kleist zum 200 ...8711120/... · Hans Werner Henze: Der Prinz von Homburg, Rebellion mein Kurfürst! Szene des Dörfings, 3. Akt Szene

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"Und aus des Horizontes Tiefe ..." - Heinrich von Kleist zum 200.

Todestag

Eine musikalische Annäherung (3)

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SWR 2 Musikstunde, 16. November 2010

"Und aus des Horizontes Tiefe ..." - Heinrich von Kleist zum 200.

Todestag

Eine musikalische Annäherung (3)

Heinrich von Kleist, der Schriftsteller, der Dramatiker, der Erzähler. Das

verbinden wir heute mit seinem Namen, Dramen wie „der Zerbrochne

Krug“, „Das Käthchen von Heilbronn“, die Novellen „Michael Kohlhaas“,

„das Erdbeben in Chili“ oder die Anekdoten „aus dem letzten

preußischen Krieg“, über Bach oder Werther.

Umfangreich ist sein dichterisches Oeuvre nicht, aber es bleiben ihm

auch nur zehn Jahre, in denen er schöpferisch tätig sein kann. Von der

ersten Tragödie „Die Familie Schroffenstein“ bis hin zu seinem letzten

Drama „Prinz Friedrich von Homburg“. (0’30)

Musik 1 Heinrich August Marschner: Ouvertüre Prinz Friedrich von Homburg Slowakische Staatsphilharmonie Leitung: Alfred Walter Naxos 8.223342 3‘43

(lange Blende)

Der Beginn der Ouvertüre aus Heinrich August Marschners

Schauspielmusik zu Kleists „Prinz Friedrich von Homburg“. Alfred Walter

leitete die Slowakische Staatsphilharmonie. Marschner komponierte die

Ouvertüre für eine Aufführung des Dramas im Dezember 1821 am

Dresdner Hoftheater, also zehn Jahre nach Kleists Tod.

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Im selben Jahr wurde „Prinz Friedrich von Homburg“, Heinrich von

Kleists letztes Drama in Wien uraufgeführt. Prinzessin Marianne von

Preußen hatte eine Aufführung zu Lebzeiten Kleists verhindert, da sie

durch die Rolle des Prinzen die Familienehre gekränkt sah. Kleists Prinz

ist ein traumwandlerischer Einzelgänger. Er widersetzt sich militärischen

Befehlen und erzielt damit den Sieg in der Schlacht von Fehrbellin. Eine

absurde Situation. Der Ungehorsam führt zum Erfolg, wird aber trotzdem

bestraft. Friedrich Wilhelm, Kurfürst von Brandenburg spricht das

Todesurteil aus. Der Prinz ist verzweifelt, fleht um sein Leben.

Am Ende wird er rehabilitiert, bekommt für den Sieg sogar noch einen

Lorbeerkranz überreicht und fragt, ob alles nur ein Traum gewesen sei,

woraufhin sein Obrist antwortet: „Ein Traum, was sonst“. Im

Unbewussten liegt die Kraft. Kleist hat sich in seinem Prinzen von

Homburg selbst verewigt. Auch er lehnt sich gegen das Militär auf, ringt

als Schlafwandler, als Träumer um einen Platz in der Gesellschaft.

Auf Kleists Grabstein steht ein Zitat aus dem vorletzten Auftritt des

Prinzen Friedrich von Homburg, das Urteil ist gesprochen und er schaut

dem Tod ins Auge.

„Nun, o Unsterblichkeit, bist du ganz mein!“ – Hans Werner Henze hat

Kleists Drama auf die Opernbühne gebracht. Hier diese Szene im

Uraufführungsmitschnitt von 1960. (1’45)

Musik 2

Hans Werner Henze: Der Prinz von Homburg, Nun, o Unsterblichkeit,

bist du ganz mein!

Vladimir Rudzak als Prinz Friedrich Philharmonisches Staatsorchester Hamburg / Leopold Ludwig

M0288115 003 RCA Records Label 173628-2 3‘30

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Szene des Prinzen aus Hans Werner Henzes Oper „Prinz von Homburg“

mit Vladimir Rudzak. Leopold Ludwig leitete das Philharmonische

Staatsorchester Hamburg.

Ingeborg Bachmann hat das Drama Kleists für den damals 30-jährigen

Henze in ein Libretto umgearbeitet. Henze, seit jeher begeistert von

Kleist, spricht von einem Bannfluch, der lange Zeit auf dem Dichter

lastete und warnt vor dem Missverstehen dieses Dramas, es gehe nicht

um den Ungehorsam eines Unsoldaten, der zum Militarismus

hinübergerettet werden müsse, es gehe um die Zerstörung des Begriffs

vom klassischen Helden, um eine Kampfansage gegen die Blindheit der

Gesetze. Henze legt Wert auf den Erhalt der Sprache Kleists. Die

„schwungvollen Jamben in lang aufschwingenden Phrasen erforderten in

der Musik ein ähnliches Mitschwingen“, erklärt Henze.

Der Kritiker der „Neuen Zeitung für Musik“ schrieb nach der Uraufführung

in Hamburg 1960. „Wie immer man zur Frage der Komponierbarkeit des

Kleist‘schen Schauspiels steht – man wird kaum verkennen, dass

Henzes musikalische Fantasie mit freiem Aufschwung dem großartigen

Flug der Kleist‘schen Sprachfantasie folgt. In diesem Sinne ist die Henze

Oper ein Erfolg.“ (1’15)

Musik 3

Hans Werner Henze:

Der Prinz von Homburg, Rebellion mein Kurfürst! Szene des Dörfings, 3.

Akt Szene 9

Helmut Melchert als Friedrich Wilhelm Philharmonisches Staatsorchester Hamburg / Leopold Ludwig,

M0288115 003 RCA Records Label 173628-2 1‘14

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Szene aus Henzes „Prinz von Homburg“ mit Helmut Melchert als

Kurfürst Friedrich Wilhelm, Leopold Ludwig leitete im Mitschnitt der

Uraufführung von 1960 das Philharmonische Staatsorchester Hamburg.

Reales Vorbild für Kleists Prinz von Homburg ist der Schöngeist Louis

Ferdinand, Prinz von Preußen, Komponist, Pianist, Beethoven widmet

ihm sein 3. Klavierkonzert. Als General der preußischen Armee greift

Louis Ferdinand in der Schlacht von Saalfeld eigenmächtig den Feind an

und kommt dabei zu Tode.

Wegen seines kapriziösen Auftretens, seiner ausgeprägten Allüren, und

seiner musischen Begabungen wird der Prinz gerne als schwarzes Schaf

des Hauses Hohenzollern abgetan und wahrscheinlich ist es genau das,

was Kleist an Louis Ferdinand besonders gefällt, der Prinz bricht mit der

Familie, ist auch ein Außenseiter.

Louis Ferdinand ist nicht nur ein ziemlich guter Pianist, der immerhin

Beethovens Werke spielen kann, sondern er komponiert auch selbst.

Hören wir einen seiner schönen langsamen Sätze. (1‘00)

Musik 4 Louis Ferdinand, Prinz von Preußen 2. Satz: Adagio aus: Klavierquartett Es-Dur, op. 5 Trio Parnassus und Thomas Selditz, Viola M0119739 003 MDG 303 1549-2 5‘26

Das Trio Parnassus und Thomas Selditz spielten den 2. Satz, adagio

aus Louis Ferdinands Klavierquartett Es-Dur, op. 5.

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Prinz Louis Ferdinand von Preußen und Heinrich von Kleist, beide gleich

alt, beide dienen in der preußischen Armee, erleben die Belagerung von

Mainz und die Rückeroberung durch Preußen und Österreich, beide

sterben jung, der eine auf dem Schlachtfeld, der andere durch Freitod.

Ob Kleist die Musik des Prinzen gekannt hat, wir wissen es nicht.

Welche Musik hört Kleist überhaupt, welche Konzerte, welche

Opernaufführung besucht er? Mozarts „Don Giovanni“ oder die

„Zauberflöte“. Kennt er die Werke von Haydn, Beethoven, was genau

spielt er auf der Klarinette? Fragen, die wir nicht beantworten können.

Nur so viel ist gewiss, Kleist ist auch Musiker, das spürt man in seinem

Umgang mit Sprache, mit Worten, Silben, mit Handlungssträngen und

Figuren, mit Dramaturgie. Unvergessen das „Ach“ der von Jupiter irre

geführten Alkmene am Ende seines Dramas „Amphitryon“, welch ein

Schlussakkord, ganze Germanistengenerationen haben sich darüber

ausgelassen.

Kleist ein komponierender Dichter. Der deutsche Literat Otto Ludwig

bemängelt wenige Jahrzehnte nach Kleists Tod, man habe bei der

Betrachtung seiner Werke zu wenig auf den Einfluss seiner

musikalischen Studien geachtet.

„Das Appellieren an das unmittelbare Gefühl, die konsequente Führung

der Charaktere, die Entwicklung des ganzen aus einem Hauptthema,

das Wiederzurückkehren von den kontrapunktischen Umwendungen zur

anfänglichen Gestalt“, all das sind für Ludwig Einflüsse der Musik.

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Kleists Dramen in Sonatenhauptsatzform? Kontrastreich wie die Themen

in einer Mozart‘schen Exposition charakterisiert er ein- und dieselbe

Figur. Kleist entwickelt Themen, verarbeitet sie, harmonisiert,

kontrapunktiert und erreicht in seinen Spannungsbögen eine Dynamik

der Extreme, sein Sprachfluss führt über ein crescendo zu einem

fortissimo und bricht abrupt ab, baut sich neu auf.

Die Komponisten der Romantik haben die Dynamik vom vierfachen

pianissimo zum fünffachen fortissimo ausgereizt. Tschaikowsky, Mahler

und Hugo Wolf in seiner sinfonischen Dichtung Penthesilea nach Kleists

Drama. Hören wir ins Finale hinein. (2’20)

Musik 5 Hugo Wolf: Penthesilea, Symphonische Dichtung, 3. Satz Radio Sinfonieorchester Stuttgart des SWR / Dietrich Fischer Dieskau M0041524 011 EMI CLASSICS 562195-2 4‘05

Kämpfe, Leidenschaften, Wahnsinn, Vernichtung, Finale aus Hugo Wolfs

Symphonischer Dichtung „Penthesilea“. Dietrich Fischer-Dieskau leitete

das Radio Sinfonieorchester Stuttgart des SWR.

Kleist komponiert seine Dramen und seine Novellen wie Musik, dabei so

modern, so extrem, so gefühlsverwirrend, so real und tiefen-

psychologisch, dass sich erst Komponisten des 20. und 21. Jahrhunderts

an seinen Figuren, an seine Texte heranwagen. Richard Strauss urteilte

noch knapp und herb: „Kleist ist unkomponierbar“. Zahlreiche Kollegen

sollten das widerlegen.

Es gibt rund 30 Kleist-Opern, zudem Ballett- und Schauspielmusik und

wenige Gedicht-Vertonungen. Manches mehr, vieles weniger erfolgreich.

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Das meiste existiert nicht auf CD, Ausnahmen sind Werke namhafter

Komponisten, so wie von Pfitzner, Henze oder Werner Egk. Er

komponierte eine Oper nach Kleists Novelle „Die Verlobung in San

Domingo“. Das Libretto hat er selbst verfasst und dabei ganze Passagen

wörtlich übernommen, immer dann, wenn Kleist in Rede und Gegenrede

spricht.

Die Novelle spielt auf der Insel Haiti zur Zeit der Sklavenaufstände um

1803, also für Kleist in der Gegenwart.

Vor dem Konflikt zwischen Schwarzen und Weißen kommt der junge

Offizier der französischen Armee, Gustav in das Haus des Schwarzen-

Führers Congo Huango, „ein fürchterlicher alter Neger“ wie ihn Kleist im

damals typischen Sprachgebrauch charakterisiert. Im selben Haus wohnt

eine Mulattin mit ihrer hellhäutigen Tochter Toni. In heuchlerischer

Gastfreundschaft heißen sie den Offizier willkommen, mit der Absucht

ihn zu töten. Toni verliebt sich jedoch in den weißen Mann. Um ihn vor

der Rache ihrer Familie zu schützen, täuscht sie Feindseligkeit vor und

fesselt den Ahnungslosen ans Bett, um ihn letztlich zu retten.

Es kommt zu tumultartigen Auseinandersetzungen. Der Offizier erkennt

Tonis gute Absichten zu spät. Rasend vor Wut erschießt er die junge

Frau. Sterbend appelliert Toni an Gustav: „Du hättest mir nicht

misstrauen sollen!“. Zu spät. Gustav scheitert an seinem starren

Schwarz-weiß Denken und tötet sich selbst.

Kleists psychologischen Verästelungen folgt Werner Egk in seiner Oper

nicht und verfehlt damit die zentrale Aussage der Novelle, die des

bedingungslosen Vertrauens.

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Am Schluss greift er auf typisches Opernvokabular zurück, in dem er

Toni alias Jeanne sagen lässt: „Mein Liebster, nimm mich jetzt für alle

Zeit“.

Hören wir das Finale aus Werner Egks Oper „Die Verlobung in San

Domingo“. (2’40)

Musik 6

Werner Egk „Die Verlobung in San Domingo“, Finale,

Evelyne Lear, Fritz Wunderlich, Bayerische Staatsorchester, Werner Egk

Orfeo LC 8175, C 343 9321 2‘35

Finale der Oper „Die Verlobung in San Domingo“ von Werner Egk. Mit

Evelyne Lear und Fritz Wunderlich. Der Komponist leitete das

Bayerische Staatsorchester in diesem Uraufführungsmitschnitt vom 27.

November 1963.

Heinrich von Kleist auf dem Weg zum Schriftsteller, darum geht es in der

heutigen SWR 2 Musikstunde.

Mit 24 Jahren entwirft er sein erstes dichterisches Werk, die Tragödie

„Die Familie Schroffenstein“, eine Abrechnung mit dem zeitgenössischen

Familienbild.

Geschrieben hat er zuvor schon viel, Briefe, Tagebücher, Aufsätze und

sein Ideenmagazin, das er auf seiner Reise nach Würzburg begonnen

hat. Viele Erfahrungen aus seiner Militär- und Studienzeit hat er darin

notiert und verarbeitet sie später in seinen Werken.

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Die kurze Visite bei den Juristen schärft Kleists Rechtsempfinden für

„Michael Kohlhaas“ oder den „zerbochnen Krug“, seine

Kriegserfahrungen spiegeln sich in „Prinz von Homburg“ oder der

„Hermannsschlacht“, ein patriotisches Drama, das vor allem von den

Nationalsozialisten instrumentalisiert und missbraucht wurde und das

Lion Feuchtwanger in seinem Roman „Die Geschwister Oppermann“

zum Konfliktpotential zwischen einem nationalsozialistischen Lehrer und

einem jüdischen Schüler werden lässt. So richtig erholt hat sich das

Drama davon nie.

Claus Peymann hat Anfang der 80er Jahre am Bochumer

Schauspielhaus ein Versuch der Rehabilitierung gestartet und das Stück

als „Modell eines Befreiungskrieges“ inszeniert.

Kleist verarbeitet also eigene Erlebnisse, Wirrungen, Krankheiten,

Enttäuschungen, sein zerrissenes Seelenleben in seinen Werken. – da

ist er seiner Zeit weit voraus, kann schon als romantischer Dichter

gelten, mit seiner bedingungslosen, realen Sprache gar als Dichter der

Moderne.

Zu sich selbst findet er darüber nicht. Kleist bleibt ein Seelensuchender

und ein Zweifelnder auch an der Kraft der Worte.

„Selbst das einzige, das wir besitzen“, schreibt er, „die Sprache taugt

nicht dazu, sie kann die Seele nicht malen und was sie uns gibt, sind nur

zerrissene Bruchstücke“. (2’00)

Musik 7 Beethoven op.111, 2. Satz Ausschnitt, Friedrich Gulda, M0014626 003 Amadeo 415193-2 5‘52

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(Am Ende lange Blende)

„Die Hölle gab mir meine halben Talente, der Himmel schenkt dem

Menschen ein ganzes oder gar keins. Ich bin jetzt auf dem Weg nach

Paris sehr entschlossen, ohne Wahl zuzugreifen, wo sich etwas finden

wird“, schreibt Kleist. Innere Zerrissenheit, Aufbruch in die Moderne.

Friedrich Gulda spielte einen Ausschnitt aus Beethovens op.111, auch

wegweisend in die Zukunft, eine gebrochene Musik.

Heinrich von Kleist. Auch wenn er an der Kraft der Worte zweifelt, ihn die

Unvollkommenheit der Sprache umtreibt, wird ihm das Schreiben

dennoch zu einem Ventil, zu einem Weg, von dem er immer wieder

abweicht.

„Wär ich zu etwas Anderem brauchbar, so würde ich es von Herzen gern

ergreifen: ich dichte bloß, weil ich es nicht lassen kann.“

gesteht er im August 1806 seinem Freund Otto August Rühle.

Der Kleistbiograph Günter Blamberger beschreibt es bildhaft mit den

Worten: „Leben und Schreiben sind für Kleist Zwischenorte und

Zwischenzeiten, Wartesäle mit dunkler Aussicht.“

Immer wieder flieht Kleist vor dieser Dunkelheit, vor inneren und äußeren

Zwängen, erst vor der Verlobten, dann vor den Anforderungen an den

Schriftsteller, immer mit der Hoffnung auf Heilung der Seele. Es gibt

nicht viele Cartoons über Kleist, anscheinend eignet er sich nicht für

Überzeichnungen, aber eine treffende Bilderfolge von Robert Gernhardt

gibt es doch: vier Zeichnungen. Kleist schließt die Haustür ab, hängt ein

Schild dran, auf dem steht: „Bin verreist Heinrich von Kleist“. (1’30)

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Musik 8

Charles Koechlin: En auto aus Skizzen zu einem imaginären Film,

Bearbeitung für zwei Klaviere, Yaara Tal und Andreas Groethuysen

M0051858 009 Sony Classical SMK 89618 0‘41

En auto aus Skizzen zu einem imaginären Film von Charles Koechlin mit

Yaara Tal und Andreas Groethuysen.

Kleist findet in seinem kurzen Leben nur wenig Fürsprecher. Ludwig

Tieck ist einer von ihnen und Christoph Martin Wieland, Dichter und

Goethefreund, lange Zeit eine intellektuelle Institution in Weimar.

Der 25-jährige Kleist besucht den fast 70-jährigen Wieland und trägt aus

seinem neuen Drama „Robert Guiskard“ vor.

Wieland ist gepackt: „Wenn die Geister des Äschylus, Sophokles und

Shakespeare sich vereinigten eine Tragödie zu schaffen, so würde das

sein wie Kleists Tod Guiskards des Normannen“.

Für Wieland steht fest, Kleist sei dazu geboren, die große Lücke in der

Literatur auszufüllen, was selbst Goethe und Schiller nicht vermochten.

Wielands Euphorie ist – mit Verlaub - überzogen, ein Gefühlsausbruch,

fern ab jeglicher Realität, immerhin hat Schiller schon die Räuber,

Kabale und Liebe, Don Carlos und Wallenstein geschrieben, Goethe

seinen Götz, Iphigenie und Egmont. Von einer Lücke kann nicht die

Rede sein.

Wieland hängt vergangenen Zeiten nach. Er steht am Ende seines

Lebens, vielleicht möchte er mit Kleist als Zögling die „Wielandsche

Schule“ nochmals aufleben lassen, vergeblich, weil Kleist seiner Schule

längt entwachsen ist.

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Wieland erinnert sich vielleicht an seine eigenen Erfolge, zu seinen

bekanntesten Werken gehört das Versepos „Oberon“, Carl Maria von

Weber hat es in seiner letzten Oper in englischen Übersetzung vertont.

(1’40)

Musik 9: Carl Maria von Weber: Oberon: Fatal vow! Arie des Oberon Steve Davislim, Orchestre Révolutionnaire et Romantique John Eliot Gardiner

M0081964 005 Philips 4756563 2‘14

Arie des Oberon aus dem ersten Akt von Carl Maria von Webers Oper

nach Wielands Epos mit Steve Davislim und dem Orchestre

Révolutionnaire et Romantique. Dirigent: John Eliot Gardiner.

Wielands Lob, Fluch oder Segen? Kleist ist im Taumel: „ich nähre mich

dem Erdenglück“. Dem Freund Pfuehl schreibt er, dass er nur ein Ziel

habe, der größte Dichter seiner Zeit zu werden.

Gern würde Kleist länger im Hause Wieland bleiben, aber Wielands

Tochter Luise verliebt sich in den jungen Gast. Kleist flieht, geht mal

wieder auf Reisen: Leipzig, Dresden, Schweiz.

Sicher wiegt auch die Erwartung Wielands zu schwer, der ihn auffordert:

„Sie müssen Ihren Guiskard beenden, und wenn der ganze Kaukasus

und alles auf Sie drücke.“

Vergeblich: Guiskard geht in Flammen auf, Kleist verbrennt das

Manuskript in Paris.

Ist der Flammentod des Guiskard das Ende des Schriftstellers Kleist? Es

sieht düster aus. Kleist bleibt lange Zeit in Mainz in ärztlicher

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Behandlung. In Berlin bittet er dann den König um eine Anstellung. Er

wird Zivilbeamter und arbeitet im Berliner Finanzdepartment.

Wieder einmal zwängt er sich in ein äußeres Korsett.

Das Ideal vom freien Künstlerdasein bleibt ein Traum. „In mir ist nichts

beständig als die Unbeständigkeit“.

Wegen gesundheitlicher Probleme lässt sich Kleist von seinem Amt

beurlauben, er hadert mit der Politik Preußens, wirft Friedrich Wilhelm

(dem) III Unentschlossenheit im Verhalten gegenüber Napoleon vor. Die

Macht Preußens steht auf dem Spiel und geht schließlich verloren.

Kleist möchte nicht mehr dienen, es drängt ihn zurück an den

Schreibtisch. Der „Zerbrochne Krug“ wird fertig, kurz darauf das Lustspiel

„Amphitryon“.

Kleist schreibt Erzählungen und erste Szenen seiner Penthesilea, an der

er während der Monate seiner Gefangenschaft im französisch besetzten

Berlin weiterschreibt. Nach dem Friedenschluss von Tilsit, im Juli 1807

kommt er wieder frei.

Kleists Leben ein Zick-Zack Kurs. Nun will er auf nach Dresden, wo er

mit den Freunden Rühle und Pfuehl Pläne schmiedet und auf Goethes

Unterstützung hofft. Um das schwierige Verhältnis zu Goethe geht es

morgen in der SWR 2 Musikstunde ab 9.05 Uhr. (2’15)

Musik 10 Viktor Ullmann: Der zerbochne Krug“, Oper in einem Akt

Deutsches Symphonieorchester Berlin / Gert Albrecht

M0288112 002 ORFEO C 419981 6‘50

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Ouvertüre zu Viktor Ullmanns Oper „Der zerbochne Krug", Gert Albrecht

leitete das Deutsche Symphonieorchester Berlin. Das war die SWR 2

Musikstunde mit Ulla Zierau zu Leben und Werk von Heinrich Kleist.

Musiktitel und Manuskript finden Sie auf unserer Internetseite unter

swr2.de. Dort können Sie die Musikstunden auch nachhören.