Über die beziehungen zwischen tuberkulose und psychose

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754 KLINISCHE WOCttENSCtt 0BER DIE BEZIEHUNGEN ZWISCHEN TUBERKULOSE UND PSYCHOSE. Won Dr. HERNIANN STEFAN, Warstein. Die Beziehung der Erkrankungen anderer Organe zu den Geisteskrankheiten hat in der letzten Zeit zu auBerordentlich vielen Hypothesen Veranlassung gegeben. Gewissen Ver~iH- derungen der Psyche begegnen wir bei ausgedehnter Lungen- oder allgemeiner Tuberkulose nicht selten. In erster Linie macht sich ein Schwanken der Stimmung bemerkbar, reiz- bares und empfindliches Wesen fgllt auf, daneben Energie- losigkeit und Willensschw~iche, mehr als es durch das k6rper- liche Leiden an sich begriindet erscheint. Allbekannt ist die hoffnungsvolle und sorglose Stimmung Tuberku16ser, ein Optimismus, der gerade in den letzten Stadien der Erkrankung hiiufig zu beobachten ist. In anderen F~illen kommt es bei vorgeschrittener Phthisis nach E. MEYER ZU ausgesprochenen Psychosen, die in einer dauernden, abet in ihrer Intensit~t schwankenden Bewugtseinstrtibung, teilweiser Desorientiert- heft, unklaren, verschwommenen Sinnest/iusehungen und bald mehr ~ingstlicher, bald heiterer Stimmung sich ~iugern. Das Krankheitsbild entspricht den sog. ErschSpfungspsychosen oder Inanitionsdelirien, wie sie sich auch sonst bei ersch6p- fenden Momenten anderer Ursache herausbilden. Auch nach MEYER werden als Grund zu deren Entstehung im allgemeinen Stoffwechselst6rungen und Tuberkeltoxinwirkung angenom- men. In einer meiner frfiheren Arbeiten habe ich einen Fall yon symptomatischer Psychose bei einer schweren Phthise beschrieben. In der Literatur finden wir einige Angaben fiber den Zusammenhang zwischen Psyche und Tuberkulose. So land BO~'HOEFFER vor allem eine Euphorie, h~ufig aber auch eine augerordentliche fdberempfindlichkeit und Re.~zbarkeit sowie eine emotionelle Schw~che. Die eigent- lichen Psychosen der Tuberkulotiker sind meist yon amentia- artigem Charakter, doch linden sich auch halluzinoseartige Erkrankungen und einfache Delirien. Alkoholismus in Kom- bination mit I,ungentuberkulose ffihrt oft zum t(orsakowschen Zustandsbild. KRAEPELIN und BUMKE linden gleichfalls eine Euphorie und eine unbegreifliche Zuversichtlichkeit, die oft in grellem Gegensatz zu dem tats~chlichen k6rperlichen Befund der tiranken steht. SC~LAPPER untersuchte, ob Geisteskrankheiten mit Tuberkulose in urs~tchlicher Beziehnng stehen, lehnt diesen Zusammenhang insbesondere ftir die Schizophrenie ab. BRANDENBERG pragt fiir die Ver~inderungen der gemiitlichen Verfassung tuberkutSs Erkrankter den Begriff ,,TuberkulSser Charakter", wobei er sagt, dab im Hinblick auf den Charakter die Grenzen unscharf und die ~lberg~inge yon normal zu pathologisch verschwommen sind. MELZER berichtet auf Grund eigener Erfahrung in einer Lungenheilst~itte, dab symptomatische Psychosen bei Lungen- tuberkulose vorkommen, jedoch selten sind. Nur bei sehr welt fortgeschrittener Lungentuberkulose konnte er delirante Zust~inde, psychotische Ver~nderungen mit Sinnest~iuschungen, Verfolgungswahnideen und GrSBenideen feststellen, v. MURALT konnte bei 16oo Tuberkul6sen einige ausgepr~tgte Geistes- stSrungen beobachten, t3ei l~nnern im Trinkerdelirium beobachtete er ~hnliche, aber ruhig verlaufende und vorzugs- weise mit Geh6rst~uschungen einhergehende Zustandsbilder. Weiterhin kamen amentiaartige Krankheitsbilder mit ttal- luzinosen, Klangassoziationen und Erregungszust~nde vor. ZIx~xN, Dusn beschreiben F~ille yon Melancholien und Er- regungszust~inde bei Tnberkul6sen. H. HO~NANN nimmt eine F,inteilung der Psychosen posttuberkul6sen Ursprunges vor, die er mit den Namen ,,Paraphrenia phymatosogenes" belegt, mit den Unterabteilungen: depressive Form, expansive Form, halluzinatorische Form, stupor6se Form. Er halt diese Symptomenkomplexe ffir nnspezifisch und gleichwertig den Symptomen anderer innerer Organkrankheiten. W'erfen wir nun einen Riiekblick auf unsere bisherigen Betrachtungen fiber den mSglichen Zusammenhang Tuberku- lose und Psychose, so wird uns klar, dab die Frage Tuberkulose als Ursache psychischer t?;rkrankungen noch keineswegs dutch RIFT. 14. JAHRGANG. Nr. 2I 25. MAI 1935 Tatsachenmaterial so eindeutig gekl~rt ist, so daI3 es durchaus verst~ndlich erscheint, wenn einige Autoren die Diagnose tuberkul6se Psychose als sYmptomatische Psychose ablehnen. Im Arch. f. Psyehiatr. Bd. xoo schilderte ich einen Fall vort symptomatischer Psychose infolge hochgradiger Lungentuberkulose bei einer 28j~hr. Frau aus tuberkulSser Familie. Im Vordergrunde standen die Zeichen yon Rindenschw~che, Zerfall der Assoziationen, Auftreten yon zahlreiehen Phantasmen. Im ~uBeren gild herrschte vor Verworrenhelt, Desorientiertheit, motorische Unruhe. Die Kranke bot alle Anzeichen der Tox~mie mit Temperaturen, Acidose im Blur, absolute und relative Lenkocytose mit Linksverschiebung sowie eine Vermehrung des Reststickstoffgehaltes ira Blutserum. Da die IKranke nun inzwischen in der Tuberkuloseklinik in Jena (Prof. Dr. LO~UMEL) verstorben ist, bin ich in der Lage, den Obduk- tionsbefund kurz wiederzugeben und das Krankenblatt zu erggnzen. Obduktion: Produktiv-kavernSse beiderseitige Lungentuber- kulose. Am 3. X. 1933: Kommunikation der Kavernen mit dem Bronchus. Bronchogene Streuung. AcinSs-nodSse Tuberknlose beider Lungen. Ulcer6se Kehlkopftnberkulose. Ausgedehnte ulcer6se Darmtuberkulose. Phlegmone der Appendix mit Per- foration an der Spitze. Diffuse eitrige Peritonitis. Die Symptomatologie dieses Krankheitsfalles einschlieBlich der nachgewiesenen Tox~mie sowie der Obduktionsbefund erh~rten die Diagnose ,,Tuberknl6se Psychose". Eine schizophrene ProzeBer- krankung lag bestimmt bei vorsichtiger Beurteilung nicht vor*. In diesem Zusammenhange m6chte ich auf eine weitere Beobachtuug hinweisen, die ich bei tuberkul6sen Schizo- phrenen zu machen Gelegenheit hatte. Es handelt sich bei diesen F~.llen nicht um ausgesprochene symptomatische tuberkul6se Psychosen, sondern um typische Schizophrene, in deren IKrankheitsverlauf pl6tzlich eine offene Lungen- tuberkulose zum Ausbruch kam und bei denen nl6glicherweise unter dem Einfluf3 des tuberkulSsen Virus sich in allen 9 F~illen ein charakteristisches katatones Zustandsbild ent- wickelte. Die andere Auffassung w~re die, dab sich das katatone Symptomenbild dieser Schizophrenen vielleicht auch ohne Tuberkulose entwickelt h~tte. Es wird bestimmt nicht an Stimmen fehlen, die dies entschieden bejahen. Ich schildere diese sehr eigenartigen F~ille, in der Absicht, dazu beizutragen, der unklaren Frage des Zusammenhang~s zwischen tuberkul6ser Psychose als exogener Reaktionsform und Tuberkulose etwas n~her zu kommen. Nach den heute herrschendea Ansichten, betreffend der J~tiologie der In- toxikationspsychosen, glauben wir die Wirksamkeit lebender Iirankheitserreger, in diesem Falle der Kochschen ]3acillen, vor allem ihren giftigen Ausscheidungen, den Tuberkel- toxinen zuschreiben zu diirfen. Der Nachweis einer Tox~imie ist die Best~tigung dieser Annahme. Abet wir wissen ferner, dab auger den Toxinen im Verlaufe dieses konsumierenden, chronisch-entziindlichen Prozesses noch allerlei andere Gifte entstehen k6nnen. Es bilden sich infolge der sch~digenden Einwirkung der Tuberkelbacillen auf die K6rpergewebe giftige Abbaustoffe, die nicht ganz ausgeschieden werdem AuBerdem entstehen im Abwehrkampf Autotoxine, die mSglicherweise ungew6hnliche, fiir das Nervengewebe nicht gleichgifltige BlutbestandteiIe enthalten. Es gelangen auger Zweifel bei der Zersetzung und Resorption krankhafter, dutch die Infektion bewirkter Zerfallsprodukte unter Um- st~nden groBe Mengen yon Giftstoffen in das Blur, die auf das Blutgefiigsystem und ant das Zentralnervensystem eine Reizwirknng auszuiiben verm6gen, als deren klinisches Symptomenbild eine Psychose bzw. psychische Ver~inderungen resultieren k6nnen. 1. Fall: Pr.-Nr. 4195 . W. H., 38 Jahre alter Bergmann, keine erbliche Belastung. Gute Schulleistung. Normale Entwicklung. iKeine venerischen Krankheiten. Beginn der Schizophrenie (para- noide Form) im Jahre 1927 mit den Zeichen yon systematischen Wahnvorstellungen, im Sinne yon BeeintrXchtigungsideen und Geh6rst~usehungen. Seit Mai 1932 best~ndig subfebrile Tempe- raturen konstante Gewichtsabnahme, blasses Aussehen, SchweiB- ausbriiche, ttustenreiz, Auswurf und Foetor ex ore, im Sputum wurden Tuberkelbacillen nachgewiesen. Senkungsgesehwindigkeit * HANS SEELERT schreJbt ill seiner Arbeit fiber ,,Symptornatische Psychosen", dab wit derartige Psychosen als Einleitung yon schizophrenen Krankheitsprozessen beobachten kSnnen, ohne dab es m6glich sei, die Entwicklung der Psychose aus einer kSrper- lichen Krankheit zu erklaren.

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Page 1: Über die Beziehungen Zwischen Tuberkulose und Psychose

754 K L I N I S C H E W O C t t E N S C t t

0BER DIE BEZIEHUNGEN ZWISCHEN TUBERKULOSE UND PSYCHOSE.

Won

Dr. HERNIANN STEFAN, Warstein.

Die Beziehung der Erkrankungen anderer Organe zu den Geisteskrankheiten hat in der letzten Zeit zu auBerordentlich vielen Hypothesen Veranlassung gegeben. Gewissen Ver~iH- derungen der Psyche begegnen wir bei ausgedehnter Lungen- oder allgemeiner Tuberkulose nicht selten. In erster Linie macht sich ein Schwanken der Stimmung bemerkbar, reiz- bares und empfindliches Wesen fgllt auf, daneben Energie- losigkeit und Willensschw~iche, mehr als es durch das k6rper- liche Leiden an sich begriindet erscheint. Allbekannt ist die hoffnungsvolle und sorglose Stimmung Tuberku16ser, ein Optimismus, der gerade in den letzten Stadien der Erkrankung hiiufig zu beobachten ist. In anderen F~illen kommt es bei vorgeschrittener Phthisis nach E. MEYER ZU ausgesprochenen Psychosen, die in einer dauernden, abet in ihrer Intensit~t schwankenden Bewugtseinstrtibung, teilweiser Desorientiert- heft, unklaren, verschwommenen Sinnest/iusehungen und bald mehr ~ingstlicher, bald heiterer St immung sich ~iugern. Das Krankheitsbild entspricht den sog. ErschSpfungspsychosen oder Inanitionsdelirien, wie sie sich auch sonst bei ersch6p- fenden Momenten anderer Ursache herausbilden. Auch nach MEYER werden als Grund zu deren Entstehung im allgemeinen Stoffwechselst6rungen und Tuberkeltoxinwirkung angenom- men. In einer meiner frfiheren Arbeiten habe ich einen Fall yon symptomatischer Psychose bei einer schweren Phthise beschrieben. In der Literatur finden wir einige Angaben fiber den Zusammenhang zwischen Psyche und Tuberkulose. So land BO~'HOEFFER vor allem eine Euphorie, h~ufig aber auch eine augerordentliche fdberempfindlichkeit und Re.~zbarkeit sowie eine emotionelle Schw~che. Die eigent- lichen Psychosen der Tuberkulotiker sind meist yon amentia- artigem Charakter, doch linden sich auch halluzinoseartige Erkrankungen und einfache Delirien. Alkoholismus in Kom- bination mit I,ungentuberkulose ffihrt oft zum t(orsakowschen Zustandsbild. KRAEPELIN und BUMKE linden gleichfalls eine Euphorie und eine unbegreifliche Zuversichtlichkeit, die oft in grellem Gegensatz zu dem tats~chlichen k6rperlichen Befund der t i ranken steht. SC~LAPPER untersuchte, ob Geisteskrankheiten mit Tuberkulose in urs~tchlicher Beziehnng stehen, lehnt diesen Zusammenhang insbesondere ftir die Schizophrenie ab. BRANDENBERG pragt fiir die Ver~inderungen der gemiitlichen Verfassung tuberkutSs Erkrankter den Begriff ,,TuberkulSser Charakter", wobei er sagt, dab im Hinblick auf den Charakter die Grenzen unscharf und die ~lberg~inge yon normal zu pathologisch verschwommen sind. MELZER berichtet auf Grund eigener Erfahrung in einer Lungenheilst~itte, dab symptomatische Psychosen bei Lungen- tuberkulose vorkommen, jedoch selten sind. Nur bei sehr welt fortgeschrittener Lungentuberkulose konnte er delirante Zust~inde, psychotische Ver~nderungen mit Sinnest~iuschungen, Verfolgungswahnideen und GrSBenideen feststellen, v. MURALT konnte bei 16oo Tuberkul6sen einige ausgepr~tgte Geistes- stSrungen beobachten, t3ei l ~ n n e r n im Trinkerdelirium beobachtete er ~hnliche, aber ruhig verlaufende und vorzugs- weise mit Geh6rst~uschungen einhergehende Zustandsbilder. Weiterhin kamen amentiaartige Krankheitsbilder mit t tal- luzinosen, Klangassoziationen und Erregungszust~nde vor. ZIx~xN, Dusn beschreiben F~ille yon Melancholien und Er- regungszust~inde bei Tnberkul6sen. H. HO~NANN nimmt eine F, inteilung der Psychosen posttuberkul6sen Ursprunges vor, die er mit den Namen ,,Paraphrenia phymatosogenes" belegt, mit den Unterabteilungen: depressive Form, expansive Form, halluzinatorische Form, stupor6se Form. Er halt diese Symptomenkomplexe ffir nnspezifisch und gleichwertig den Symptomen anderer innerer Organkrankheiten.

W'erfen wir nun einen Riiekblick auf unsere bisherigen Betrachtungen fiber den mSglichen Zusammenhang Tuberku- lose und Psychose, so wird uns klar, dab die Frage Tuberkulose als Ursache psychischer t?;rkrankungen noch keineswegs dutch

R I F T . 14 . J A H R G A N G . Nr. 2I 25. MAI 1935

Tatsachenmaterial so eindeutig gekl~rt ist, so daI3 es durchaus verst~ndlich erscheint, wenn einige Autoren die Diagnose tuberkul6se Psychose als sYmptomatische Psychose ablehnen.

Im Arch. f. Psyehiatr. Bd. xoo schilderte ich einen Fall vort symptomatischer Psychose infolge hochgradiger Lungentuberkulose bei einer 28j~hr. Frau aus tuberkulSser Familie. Im Vordergrunde standen die Zeichen yon Rindenschw~che, Zerfall der Assoziationen, Auftreten yon zahlreiehen Phantasmen. Im ~uBeren gild herrschte vor Verworrenhelt, Desorientiertheit, motorische Unruhe. Die Kranke bot alle Anzeichen der Tox~mie mit Temperaturen, Acidose im Blur, absolute und relative Lenkocytose mit Linksverschiebung sowie eine Vermehrung des Reststickstoffgehaltes ira Blutserum.

Da die IKranke nun inzwischen in der Tuberkuloseklinik in Jena (Prof. Dr. LO~UMEL) verstorben ist, bin ich in der Lage, den Obduk- tionsbefund kurz wiederzugeben und das Krankenblatt zu erggnzen.

Obduktion: Produktiv-kavernSse beiderseitige Lungentuber- kulose. Am 3. X. 1933: Kommunikation der Kavernen mit dem Bronchus. Bronchogene Streuung. AcinSs-nodSse Tuberknlose beider Lungen. Ulcer6se Kehlkopftnberkulose. Ausgedehnte ulcer6se Darmtuberkulose. Phlegmone der Appendix mit Per- foration an der Spitze. Diffuse eitrige Peritonitis.

Die Symptomatologie dieses Krankheitsfalles einschlieBlich der nachgewiesenen Tox~mie sowie der Obduktionsbefund erh~rten die Diagnose ,,Tuberknl6se Psychose". Eine schizophrene ProzeBer- krankung lag bestimmt bei vorsichtiger Beurteilung nicht vor*.

In diesem Zusammenhange m6chte ich auf eine weitere Beobachtuug hinweisen, die ich bei tuberkul6sen Schizo- phrenen zu machen Gelegenheit hatte. Es handelt sich bei diesen F~.llen nicht um ausgesprochene symptomatische tuberkul6se Psychosen, sondern um typische Schizophrene, in deren IKrankheitsverlauf pl6tzlich eine offene Lungen- tuberkulose zum Ausbruch kam und bei denen nl6glicherweise unter dem Einfluf3 des tuberkulSsen Virus sich in allen 9 F~illen ein charakteristisches katatones Zustandsbild ent- wickelte. Die andere Auffassung w~re die, dab sich das katatone Symptomenbild dieser Schizophrenen vielleicht auch ohne Tuberkulose entwickelt h~tte. Es wird bestimmt nicht an Stimmen fehlen, die dies entschieden bejahen.

Ich schildere diese sehr eigenartigen F~ille, in der Absicht, dazu beizutragen, der unklaren Frage des Zusammenhang~s zwischen tuberkul6ser Psychose als exogener Reaktionsform und Tuberkulose etwas n~her zu kommen. Nach den heute herrschendea Ansichten, betreffend der J~tiologie der In- toxikationspsychosen, glauben wir die Wirksamkeit lebender Iirankheitserreger, in diesem Falle der Kochschen ]3acillen, vor allem ihren giftigen Ausscheidungen, den Tuberkel- toxinen zuschreiben zu diirfen. Der Nachweis einer Tox~imie ist die Best~tigung dieser Annahme. Abet wir wissen ferner, dab auger den Toxinen im Verlaufe dieses konsumierenden, chronisch-entziindlichen Prozesses noch allerlei andere Gifte entstehen k6nnen. Es bilden sich infolge der sch~digenden Einwirkung der Tuberkelbacillen auf die K6rpergewebe giftige Abbaustoffe, die nicht ganz ausgeschieden werdem AuBerdem entstehen im Abwehrkampf Autotoxine, die mSglicherweise ungew6hnliche, fiir das Nervengewebe nicht gleichgifltige BlutbestandteiIe enthalten. Es gelangen auger Zweifel bei der Zersetzung und Resorption krankhafter, dutch die Infektion bewirkter Zerfallsprodukte unter Um- st~nden groBe Mengen yon Giftstoffen in das Blur, die auf das Blutgefiigsystem und ant das Zentralnervensystem eine Reizwirknng auszuiiben verm6gen, als deren klinisches Symptomenbild eine Psychose bzw. psychische Ver~inderungen resultieren k6nnen.

1. Fall: Pr.-Nr. 4195 . W. H., 38 Jahre alter Bergmann, keine erbliche Belastung. Gute Schulleistung. Normale Entwicklung. iKeine venerischen Krankheiten. Beginn der Schizophrenie (para- noide Form) im Jahre 1927 mit den Zeichen yon systematischen Wahnvorstellungen, im Sinne yon BeeintrXchtigungsideen und Geh6rst~usehungen. Seit Mai 1932 best~ndig subfebrile Tempe- raturen konstante Gewichtsabnahme, blasses Aussehen, SchweiB- ausbriiche, ttustenreiz, Auswurf und Foetor ex ore, im Sputum wurden Tuberkelbacillen nachgewiesen. Senkungsgesehwindigkeit

* HANS SEELERT schreJbt ill seiner Arbeit fiber ,,Symptornatische Psychosen", dab wi t derartige Psychosen als Einleitung yon schizophrenen Krankheitsprozessen beobachten kSnnen, ohne dab es m6glich sei, die Entwicklung der Psychose aus einer kSrper- lichen Krankheit zu erklaren.

Page 2: Über die Beziehungen Zwischen Tuberkulose und Psychose

2 5 . M A I I 9 3 5 K L I N I S C H E W O C H E N S C H R I F T . 14 . J A H R G A N G . Nr . 21 755

nach WESTI/;RGREEN 31 mm. Klinisch und rOntgenologisch beider- seits tuberkul6se Lungenherde, Blutbild: Leukocytose nlit Links- verschiebung. Positive Percutan-Tuberkulinreaktion nach HAM- BURGER. Neurologisch: Leptosomer Bautyp. Hirnnerven fret. Haul-, Schleimhant-, Sehnen-, Gelenkreflexe seitengleich und gut ausl6sbar. Mit der Lungentuberkulose fgllt zeitlich zusammeil ein deutlicher Wandel ira psychischen Symptomenbild. Der Kranke bietet allmghlich ausgesprochen katatone und kataleptische :Er- scheinungen. Erregungs- und Stuporzustgnde mit den Merkmalen yon Befehlsautomatie und iXTegativismus 16sen sich ab.

2..Fall: Pr.-1Nrr. 6363. G, J., 22 Jahre alter Student, t-Iereditat o . B . Seit 1928 Syrnpgome ether Schizophrenie (paranoide Form). Behauptete, er werde alles vernichten, er set ein Antichrist, fflhlte sich verfolgt, h6rte Stimmen. Seit M~rz 1934 nachweisbare offene Lilngentuberknlose mit positivem Sputum, beschleunigter Blutsen- kungsgeschwindigkeit, absoluter und relativerLeukocytose, subfebri- len Temperaturen. Psychisch: Pat. gespannt, liegt steifwie ein Brett zu Belt, spricht kein Wort, reagiert auf keine Anrede, ist gesperrt.

3..Fall: Pr.-lXTr. 6192. t<. G. Keine erbliche Belastung. Keine venerischen tKrankheiten. Student. Seit 1932 h6rt Pat. Stimmen, ist erregt, grimlnassiert, gewalttiitig, fflhlt sich verfolgt, bedroht seine Angeh6rigen mit dem Revolver. Im Juli 1934 wurde ein bacillenpositiver Auswurf beobachtet, l<linisch und r6ntgenologisch wurde ein akuter tuberkulSser pulmonaler Prozel3 diagnos{iziert. 3 Monate sparer f~,llt auf, da8 tier Igranke bewegungsarm, gesperrt wurde und starres Aussehen bekam. Der passiv gehobene Arm "blieb in der Stellung. Aus dem Munde SpeichelftuS. Cyanotisches, schwitzendes Gesicht. Stol3weise SprachguSerung mit leiser Stimme und halb ge6ffnetem ]V~unde. Gespannter Gesichtsausdruck. Halt den Kopf bestgndig etwas gehobeil.

$..Fall: Pr.-Nr. 3941 . A. Sch. Aufgenommen 1926. Ver- schrobene Redensarten. Beeintrgchtigungs- und Verfolgungsideeil. Spricht erregt und sehr lebhait. Ffihlt sich beeinflu8~ yon Geistern, die zu ihm sprechen. Im Dezember 1934 Manlfestwerden ether Lungentuberkulose. Im Januar ~935 ~nderuilg des psyehischeil ]Krankheitsbildes im Sinne einer I~atatonie.

5..Fall: Pr.-Nr. 4219. H. S., geboren am 5. VI. 19o2. ]grkrankte 1921 an einer Schizophrenie, die sich in ghnlicher Weise nach dem Auftreteil einer offenen Lungentuberkulose im Jahre 193 ~ im Sinne ether ausgeprggteil I~atatoilie vergnderte. Seine katatoneil g-r- s cheinungen waren gegenseitig sich abl6sende Stupor- und Er- iegungszustgnde mit den lVIerkmalen yon triebhaftem Wider- streben, Befehlsautomatie und kataleptischen ]~rscheinungeil.

J~hnlich verh ie l ten sich vier wei tere Falle, auf deren Schi lderung ieh wegen R a u m m a n g e l verzichte .

Schon VV'ICI~eRT hat , in seiner i l l teressanten Arbe i t fiber symptoma t i s che durch chrollische, tuberknl6se Meningi t iden hervorgerufene Psychosen, zehn klinisch und ana tomisch l ln tersuchte F~lle beschrieben. I n chrollischen, mehrere ]~onate daner l lden Prozessen kam es zur Ausbi ldung eines sch izophren-paranoiden oder eilles ka t a tonen S y m p t o m e n - komplexes . WIC~E~T weist mi t IXrachdruck darauf, dab sich tuberkul6se meningi t ische Prozesse lange Z e i t h indurch als eine Psychose gugern kSnnen, wobei die meningea len S y m p t o m e f ibe rhaupt fehlell. Bet der Sekt ion wurden Vera l lderungen in den Vent r ike lwSnden und Lficken in der I I I . und V. 1Rinden- schicht naehgewiesen.

DaB sieh bet diesen, fr i iher als hebephrene und paranoide F o r m e n der Schizophrenie, anfgefal3ten Krankhei t s fg l len nun k a t a t o n e Zustandsbi lder entwickel tel l , is t aul3er Zweifel. Zei t l ich f~tllt diese W a n d l u n g im Symptomenb i lde zusammen mi t dem Manifes twerden der Lungentuberkulose . Die Diffe- rent ia ld iagnose der k a t a t o n e n S y m p t o m e bere i t e t im all- gemeinen keine groBen Schwierigkei ten. Wo sie in reiner F o r m auf t re ten , lassen sie sich k a n m mi t i rgendeinem allderen S y m p t o m verwechseln. U m so wicht iger ist die Fests te l lung, dab ka t a tone Znst~nde nach BUMKE auch bet anderen Kral lk- ke i ten als bet der Schizophrenie beobach te t werden. Ihre ausschlieSliche diagnost ische Bedeutu l lg fiir die Schizophrenie ist nach ullseren heu t igen E r f ah rungen nicht m e h r richtig. K[ataleptische Zus tande l inden wir bet Depress ionszustanden, in der Hypnose , ferner bet hys ter i schen und gewissen epilep- t ischen Zustgnden. IZatatone S y m p t o m e werden ferller bet organischen Psychosen (bet Paralyse, H i r n t u m o r e n usw.) und bet allen exogel len Reak t ions fo rmen nach Infekt iol lskral lk- he i ten - - I3ONHOEF~ER - - beobach te t . Ffir die Diagnos t ik schein t es nach der Ans ich t BONHO~FF~RS wichtig, dab es

kein einziges ka ta tones S y m p t o m gibt, welches sich nicht auch bet Infekt ionspsychosen finder, Stereotypien, motor ische Erregung, Grimassierell , Negat iv ismus, Verbiger ieren k6nnen ebenso eine Infekt ionspsychose einlei ten wie eine Ka ta ton ie . Das ist diagnost isch unbequem, denn auch echte iKatatonien werden bekannt l ich n ich t sel ten wghrend ether zufall igen In fek t ionskrankhe i t manifest . Es kSnnen also I r r t f imer nach beiden R ich tungen hin auf t re ten.

~Nenngleich diese Falle sicher nicht symptoma t i s che Psychoseformen darstellen, wenigstens nach der heute g d t e n d e n Theor ie fiber die Schizophrenie, so l iegt denlloch die Annahme nahe, dab diese ka t a tonen und ka ta lep t i schen Zustande, wie wit sie ja auch bet anderen In fek t ionskrankhe i t en beobach ten k6nnen, mi t der Tuberkulose doch in ursachl ichen Zusammen- hang zu br ingen sind. Es ist ja n ich t ansgeschlossen, dab m a n einst der Tuberkulose in der -&tiologie der Schizophrenie mehr Aufmerksamke i t zollen wird, analog den Ul l te rsuchungen L6WENSTEINS bet der Polyar thr i t i s . Sehr bemerkenswer t und bekal ln t ist doch der EinfluS, den In fek t ionskrankhe i t en ant schon bestehende Geistesst6rungen haben k6nnen. So ist in der L i t e ra tu r beschrieben, dab yore Typhus befallene Geistes- kral lke oft ffir l~llgere Zei t geistig gallz klar erscheinen, dab auch Epilepsie durch Typhus gtinstig beeinflul3t werden k6nne. Man sieht in manchen Fallen, dab die Kra l lken wahrel ld des ]~rysipels fast wie gesund erscheinen. Selbst kol lnte ich wiederhol t beobachten, dab ka ta tone Stupore sich wahrend einer Pneumonie 16sten, dab Sinl lestauschungen, Wahnvors t e l lungen v611ig schwinden k6nnell. Es zeigt sich abet, dab derar t ige Besserungen fast nie dauerl ld bestehen, dab zumeis t nach Ablau t der In fek t ionskrankhe i t der al te k rankhaf te psychische Zustand wieder e int r i t t . Es set nun noch eines besonderen Momell tes gedacht , das vielfach Er - wahnung findet, wenn m a n die Tuberkulose als Ursache yon Geis teskrankhei ten anffihrt. Nach den Sta t i s t iken fiber Todesfal le in den I r renans ta l t en s t i rb t n~mlich ein erhebl icher Tell der Geis teskranken an Tuberkulose. Auch hier ist die Frage lloch often, ob nun die Tuberkulose Ursache oder Folge der Psychose set. LI~B~R~a~ISTER b e a n t w o r t e t diese Frage dahingehend, dab in den I r renansfa l t en bet den ver- a l te ten Psychosen ein Manifes twerden einer l a ten ten Tuber- kulose sehr hauf ig v o r k o m m t und dab alas Manifes twerden der Tuberkulose als eine Folgeerscheinung der Psychosen aufzufassen set. E r ffihrt das da rauf znriick, dab in den durch die Psychose geschadigten Organismen al te Infek t ionsherde reakt iv~ert werden, oder dab bei dem engen Zusammenleben der vie l fach ullreinl ichen Kranken exogene Reinfek t ionen le ichter vorkommel l .

Wel ln wi t versuchen, diese Beobach tungen und Er fah- rungen kurz znsammenzufassen, so k6nnen wir folgendes bemerken : Ausgedehn t e , - floride tuberknl6se Prozesse m i t Gewebszerfal l und tox~mischen Ersche inungen einher- gehend, k6nnen, wenn auch in sel tenen Fallen, ohne Zweifel eine symptomat i sche Psychose ausl6sen. Es wird an H a n d yon neun beobach te ten und kurz wiedergegebenen IKrankheits- fallen gezeigt, dab nach dem Manifes twerden einer offenen Lul lgentuberkulose sich ausgepr/igte ka ta tone S y m p t o m e ent- wickel ten. ]as wird ant den b~achtenswer ten ]ginflu8 hill- gewiesell, den die Tuberkulose als Infekt io l l skra l lkhei t auf eine sehon bestehende Geistesst6rullg ausi iben kann.

L i t e r a t u r : BONHOEFFER, Arch. f. Psychiatr. 58 ( 1 9 1 7 ) . - Mschr. Psychiatr. 35, 113 (1914). -- BUMKE, Lehrbuch der Geistes- krankheiten. Berlin: Julius Springer 1924 - - Die Diagnose der Geisteskrankheiten. 1919. -- HOFFMANN, Arch. f. Psychiatr. 66, 699 (1922). -- KRAEPELIX, Allg. Z. Psychiatr. 1, 73 ( 1 9 1 7 ) . - LIEBER~XlS:rEI~, Arch. f. Psychiatr, 7o, 58 (1923). -- MELZER, Der ]ginfluB der Tuberkulose auI das Seelenleben der I~ranken. Stutt- gart 1933. -- MEYER, Ursachen der Geisteskrankheiten. Jena 19o 7. - SCHLAPP~R, Beifr. iKliil. Tbk. 66, 274 (1927). - - SEELERT, Fortschr. Neur. 6, H. II (1934). -- SmEFAN, Arch. f. Psychiatr. Ioo, 352 (1933). - - ~'*IeltERT, Uber Symptomatische durch chronische, wahrscheinlich tuberkul6se Meningitiden tlervorgerufene Psychosell. Rocz. psychiatr. (poln.) H. II .

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