uber eine familiäre blutdrüsenerkrankung

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Uber eine famili~re Blutdriisenerkrankung. Von Ernst Kretschmer (Tiibingen), d. z. ordin. Arzt der Nervcnstation Res.-Laz. Mergentheim (Chefarzt : Stabsarzt Dr. M e i s s n e rl. (Eingegangen am 9. Februar 1917.) Die nerveni~rztliche Beobachtung eines Landsturmpflichtigen gab mir Gelegenheit, in einen eigenartigen Degenerationszustand einer oberschwttbischen Bauernfamilie Einblick zu gewinnen. Die hier teils untersuchten, teils anamnestisch kurz skizzierten FMle geben zuntichst einen Beitrag zur Lehre yon den polyglanduli~ren Syndromen, der sich auf diesem noch wenig geklttrten Gebiet auf deskriptive Dar- stellung beschrt~nkt, soweit nicht bekannte Symptomkomplexe in Frage kommen; insbesonderc erschien eine ausgedehntere Er6rterung der Koordination oder Subordination der einzelnen Symptomgruppen vorerst mfif~ig und die Auffassung des ganzen Krankheitsbildes als ,,polyglandulhr" ffir die vorl~ufige Registrierung ausreichend. Sodann abet zeigt FMI I eine an sich sehr merkwiirdige ,,primi~re" Muskel- er krank u ng, die durch ihr Auftreten im Rahmen einer Blutdrfisen- stSrung doppelt bemerkenswert wird. I. Franz K., Bauernsohn, geb. 29. Xll. 1886. wur(h' im M~ti 1916 w('~('n Simu]ationsvcrdacht eingewicscn, nachdem cr einige Zcit vorher als ungedienter L~m(lsturmpflichtiger (.ing(,z(~gen un(1 seitht'r m('ist w(,g('n Beinsehmerz(,n kral>k- ~(,,u(,tzt ~('wc~cn war. l)ic k6rpcrlichc Erscheinung des Manncs fMlt schon ;Lus (h,r Entfermmg auf: auf hohen Bcincn ein brciter, massiger OberkSrpcr, an dem (lie Arme mit den tatz(.nartig gro6en Handcn f~st his zum Knit, herabhi~ngen, d(,r Kopf zu klcin, tin stupidcs, weinerlichcs Gesicht. Den KSrpcr nach vorn gebeugt, breitbeini~, mit gcknicktcn Knien, bcwe~t cr sich in kleinen, sWifen Schritten miihsam am St~)ck cinhcr. Im einzclnen ist am KSrpcrbau f()lgendes zu bcmcrken: der Hirnsch~del ist kurz, nach vorn abgeflacht, mit fliehender Stirn und mangclnder Hint<,rhaupts. w)rwSlbung, die Nase gr<)lL doch scharf und etwas gebogen, die Jochbcine grob, die Ohren grog, rot und abs~hend, die Lippcn dick; der Unterkiefcr dagegen tritt etwas zuriick; das Gebil~ ist unrcgelmitl~ig, sehiefstehcnd und lfickenhaft. I)ie Zunge hat gcwOhnlichc GrSl~e. Nebcn dem mi~$ig entwickelten Schi~del im- poniert der umfan~reiche, mi~chtig gew51btc Brustkorb und die herkulische Sohulterbrcitc. Die Gliedma6en sind gegen den Rumpf unverhi~ltnismi~6ig l~mg. An den groSen RShrenknochen sind im RSntgenbild die Epiphysenfugen often zu sehen. Hiinde und Fiil3e sind nicht nur lang, sondcrn im ganzen m~chtig vergrSBert, unfSrmlich breit und plump, Finger und Zehcn walzcnf6rmig dick.

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Page 1: Uber eine familiäre blutdrüsenerkrankung

U b e r e i n e f a m i l i ~ r e B l u t d r i i s e n e r k r a n k u n g .

V o n

E r n s t Kretschmer (Tiibingen), d. z. ordin. Arzt der Nervcnstation Res.-Laz. Mergentheim (Chefarzt : Stabsarzt Dr. M e i s s n e rl.

(Eingegangen am 9. Februar 1917.)

Die nerveni~rztliche Beobachtung eines Landsturmpfl icht igen gab mir Gelegenheit, in einen eigenartigen Degenerat ionszustand einer oberschwttbischen Bauernfamilie Einblick zu gewinnen. Die hier teils untersuchten, teils anamnest isch kurz skizzierten FMle geben zuntichst einen Beitrag zur Lehre yon den p o l y g l a n d u l i ~ r e n S y n d r o m e n , der sich auf diesem noch wenig geklttrten Gebiet auf deskriptive Dar- stellung beschrt~nkt, soweit nicht bekannte Symptomkomplexe in Frage kommen; insbesonderc erschien eine ausgedehntere Er6r terung der Koordinat ion oder Subordinat ion der einzelnen Symptomgruppen vorerst mfif~ig und die Auffassung des ganzen Krankheitsbildes als , ,polyglandulhr" ffir die vorl~ufige Registrierung ausreichend. Sodann abet zeigt FMI I eine an sich sehr merkwiirdige , , p r imi~re" M u s k e l - e r k r a n k u ng , die durch ihr Auftreten im Rahmen einer Blutdrfisen- stSrung doppelt bemerkenswert wird.

I. Franz K., Bauernsohn, geb. 29. Xll. 1886. wur(h' im M~ti 1916 w('~('n Simu]ationsvcrdacht eingewicscn, nachdem cr einige Zcit vorher als ungedienter L~m(lsturmpflichtiger (.ing(,z(~gen un(1 seitht'r m('ist w(,g('n Beinsehmerz(,n kral>k- ~(,,u(,tzt ~ ( ' w c ~ c n w a r .

l)ic k6rpcrlichc Erscheinung des Manncs fMlt schon ;Lus (h,r Entfermmg auf: auf hohen Bcincn ein brciter, massiger OberkSrpcr, an dem (lie Arme mit den tatz(.nartig gro6en Handcn f~st his zum Knit, herabhi~ngen, d(,r Kopf zu klcin, tin stupidcs, weinerlichcs Gesicht. Den KSrpcr nach vorn gebeugt, breitbeini~, mit gcknicktcn Knien, bcwe~t cr sich in kleinen, sWifen Schritten miihsam am St~)ck cinhcr.

Im einzclnen ist am KSrpcrbau f()lgendes zu bcmcrken: der Hi rnsch~de l ist kurz, nach vorn abgeflacht, mit fliehender Stirn und mangclnder Hint<,rhaupts. w)rwSlbung, die Nase gr<)lL doch scharf und etwas gebogen, die Jochbcine grob, die Ohren grog, rot und abs~hend, die Lippcn dick; der Unterkiefcr dagegen tritt etwas zuriick; das Gebil~ ist unrcgelmitl~ig, sehiefstehcnd und lfickenhaft. I)ie Zunge hat gcwOhnlichc GrSl~e. Nebcn dem mi~$ig entwickelten Schi~del im- poniert der umfan~reiche, mi~chtig gew51btc B r u s t k o r b und die herkulische Sohulterbrcitc. Die Gl i edma6en sind gegen den Rumpf unverhi~ltnismi~6ig l~mg. An den groSen RShrenknochen sind im RSntgenbild die Epiphysenfugen often zu sehen. Hiinde und Fiil3e sind nicht nur lang, sondcrn im ganzen m~chtig vergrSBert, unfSrmlich breit und plump, Finger und Zehcn walzcnf6rmig dick.

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80 E. Kretsehmer:

Die Gctenke sind durehwcg plump; besonders die ~Knicgelenkc cr~cheinen kn6- ehern verdiekt und werden lebhaft druckempfindlich angegeben, ohne dab ent- ziindliehe Erscheinungen naehzuweisen w~ren. Die W i r b e l s a u l e wird in dcr Lendenpartie stets steif gehalten; Biegung und Druek werden hicr mit lebhaften Schlnerzi~uBcrungen bcantwortct; grebe anatomische Ver~inderungen sind an der Wirbels~ute nicht nachzuweisen. Die wiehtigstcn K6rpernml~c sind folgende (in Klammer die Mai~e tines beliebigen, etwa imrmal gebautcn Mitpaticnten der- selben K6rpergrSi]e zum Vcrgleich):

KSrpcrgr61]e . . . . . . . . . 170 cm Brustumfang . . . . . . . . . 100/105 (85/91) cm Beinl~nge (Sympilyse-Boden) . . 96 (89)em Mittelhandumfang . . . . . . . 24 (20) cm.

Die M u s k u l a t u r is( am ganzen K6rper derb und stattlich entwiekelt; besonders votuminOs is( sic am Brust.Schultcrgiirtel. Als isoliertc Erscheinung imponieren zwei m~iehtige, kissenartige Vorw61bungen, der beiderseitigen Lcnden- muskulatur entspreehend, yon starker Druckcmpfindlichkeit. Eine am 19. V. vorgenommene Probeineision (Dr. Meissner) auf der linken Seite ergab hie," nach Durchtrennung der Haut einen zwischen zwei Fascienblittter eingelagertcn umschricbenen FettkSrper als Ursache der VorwSlbung; er war dureh das tiefi, Fascienblatt yon makroskopisch normal erscheinender Lendenmuskulatur ge- trennt; spezialistische mikroskopische Untersuehung (Res.-Lazarett I, Stuttgart) eines ausgcschnittenen Muskelstfickchens ergab jedoch Vermehrung des iut~,r- stitielh~n Fettgcwcbes, fcrner zum Tell abnormc Faservcrschmiilerung und Kcra- vermehrung. Ein ausgeschnitt~ncs Stiickchen des Fettk6rpers zcigte auch histo- logisch nichts Abnormes. hn iibrigen is( am ganzen K6rper das Fettpo!ster gut, doch uicht iibermgflig cntwickclt. - - Die H a u t ist click, doch elastisch, glatt, die SchwciBabsondcrung normal. Die Hautfarbe is( ausgesprochen dunkelbraun; am Glic(lan~atz is( die Pigmentierung besonders intensiv, an manchen Stellen. z. B. in der Hfftgcgcnd, fleckig; die Sehleimhi~ute sind nicht pigmcntiert, l)as Ha ar is( dunkel, auf dem Kopf reichlich; dagegen i.~t Bartwuchs und K6rp(,r- behaarung ganz mangelhaft; (lie Schamhaare schneiden horizontal ab.

Am Gef~f lsys tem ist einc starke Dcrmographie festzustellen. Der Blut- druck betrhgt 107 mm RR., die Gefi~Be siud welch, der Puls ist kri~ftig, dabei schr leicht durch KSrpcrbewegung ansprechbar; er bctriigt im Lichen 80, im Stchen I00--110; an einzelnen Tagen wurdc bei normaler Temperatur und ruhiger Gemiits- lage auch bci Bettruhc erhebliche Tachykardie (130--140) fesWcstellt. Der Herz- spitzcnst~)6 ist etwas verst~trkt, Herzfigur und Hcrzt6ne sind nach spezialistischer Untcrsuchung (Dr. Well) nornmL Im Btutbiid betr~.gt das VerhKltnis dcr ein- kernigen zu den mehrkernigen weiBen BlutkSrperchen 34 : 66, sons( ist nichts Abnormes fcstzustellen. ]m Urin linden sich auch nach mehrtiigiger Bettruhe 6fters Spuren yon Eiweil], reichlich ausgcsogene rote BlutkSrperchen und vcr- einzeltc entsprechende Zylindcr. Die Atmung is( etwas beschlcunigt; man z~ihlt in Ruhe im Wachen 28, im Schlaf 18 Atemziige. Sonst is( an den der direkten Untcrsuchung zuganglichen Brust- und Bauchorgancn nichts Krankhaftes fcst- zustcllen.

Untcr den e n d o k ri n e n D r fi s c n fallen dic Hoden durch Kleinhcit (kaum Wal- nuBgr6Bc) auf. Ihre Konsistenz is( nicht deutlich veriindert, das iibrige Genitale geniigcnd entwickclt. Der Tastbefund an der Schilddriise ist durchaus normal. ~rberm obcrcn Brustbein ist keinc D~mpfung nachzuwcisen. Der Tiirkensattel erscheint im R6ntgcnbild etwas, jedoch nicht in auffallendem Grad, exkaviert. - - Die Lymphdriisen zeigcn keine auffallende VergrSllcrung.

Die eigentllch neu ro log i sche Untcrsuchung (.rgibt wenig Bemerk(,nswertes.

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[~Tber eine familiiire Blutdrasenerkrankung. 81

Pupillcn und Reflex(. sind in Ordnung. die Muskelkraft ist bei geeigneter Unter- suchungsweise durchweg ganz gut, nut in der Lendenmuskulatur nieht genauer zu priifen; cbenso ist di(, Muskelspannung bei dem aktiven Widerstreben des Pat. t,icht sicher fcstzustellen. Die elektrisch(, Erreobarkeit allr, r Muskeln und Nerven i~t. qualitativ und quantitativ normal.

In psyeh i sche r Hi ns ich t bestcht tin Schwachsinn yon bcstimmter Fii, rbung. I)ic clementaren Schulkenntnissc (Lescn, Schrciben. Rechncn) sind vorhanden. w(,nn auch vielfach mangelhaft. Gegen Dinge, die nicht seinen engsten persiin- lich~'n [nteressenkreis beriihrcn, legt der Pat. eine stupidc (;leichgiiltigkeit an den TaV. Er sWht tcilnahmslos herum, er sticrt bcider iirztlichen Untcrhaltung bl6d(. vor sich bin, sieht nicht her. erzahlt nicht spontan, sondern ,,ibt nur kurze mecha- nischc Antworten. die nicht immer die Fragc treffen. Nur in Dingen, die sein unmittelbares persSnlichcs Bchagen angehcn, kommt ein sehr ansprechbares Affcktleben yon infantiler Lcbhaftigkeit und Unbestandigkeit zutage; unbequeme kSrpcrlichu Un~rsuchung bcantwortct er mit lautem Jammern und eigensinnigem Stri~uben, Ncckcreien der Kameraden mit Wcinen und Zornausbriichen, die bei Ablenkung im niichstcn Augenblick in zufricden(~s Lachen iibergehcn. Die kSrper- lichen Beschwerdcn stehen im Mittelpunkt des Bewul]tseins.

fJber die Vorgeschich te des Pat. wird berichtct, da.$ er yon Kindheit auf ,,immer halb krank" g(,wesen sci. Er sei oft woehenlang zu Bctt gelegen. Sobald er streng arbeitete, habe er sich niederlegcn miis~n. Die jetzigen Beschwerden und k6rperlichen Besondcrheiten seien schon immer vorhanden gewesen. Er sei kindlich, welch und cmpfindlich, habe in der Schule sehr schlecht gelernt. ~i einmal sitzengeblielx~n und babe aueh spat(,r nut unter l~itung des Va~rs attf dessen Hof arbeiten k/innen.

I1. Aloys K.. Vatcr des vor igen , 61 Jahre air. konnte wi~hrend tines Be- sucils bei seinem Sohn kurz untersucht wcrden. Er zeigt vielc :4hntichkeit mit die- sere: noch sti~rkere l~berl~nge tier Arme und Beine, noch grSflere und unf6rmlichere Hiind,,, dicke, kolbige Nase; kleine Hoden, dabei eher vergrSllertc, sonst unver- i~nderte Schilddriise. KSrperli~nge 181 em, Kopf verhitltnismitBig klein, mit buschi- gem Haupt- und Barthaar. Klcinc, tiefliegende Augen. links Sehschwi~che und Pupillenvercngerung. l)er brei~ Brustkorb und die gute Muskel- trod Fettent- wickhmg fehlcn bei ihm. - - Ausgepriigte StSrungen am Gefaflsystem: starke Varicac, Arterienverhitrtung, Herzinsuffizienz mit A~mnot und distaler Cyanose.

Ausgesprochenc C~elcnkvcriinderungen.' X-Beine, rechts unregelmallige knS- theme Knievcrdickung. Kyphoskoliosv der Wirbelsaule. breite, plumpe Dorn- fortsi~tze. Starkc Druckempfindlichkeit der Lendenwirbelsiiule und Lenden- muskulatur. Schmerzcn in den Knicgelenken. - Psychisch: bcschr/tnkt, doch als selbst, i~ndiger Bauer berufsfiihig, treuherzig, gutmiitig, kritikschwach, redselig.

Ill. I~b(~r dit. iib':igc Fami l i e des Franz K. ist folgendes in Effahrung zu bringcn: 1)er Grollvater v~tterlicherseits babe das Leiden im Rficken und in den Knien gehabt, dasselbe ~i bei beiden Vatersbriidern. nieht bei der Vatersschwester ~'orhanden. Beide Briidcr. auch sonst verschiedene mi~nnliche AngehSrige der vitterlichen Familie hi~tten die auffallend grogen Hi~nde, der eine Bruder leidet an Kreuzschmerzen. starken Krampfadern und Magenkriimpfen, der andere an schwcrer Furunculose. Si~mtliche Geschwister sind unbegabt. Die einzige Schwester sei bucklig und habe im Knie oft Rhcumatismus, sonst sei sic gesund und kSnne tiichtig arb(.iten, wi~hrend beide Briider nach Mitteilung des Schultheigenamts auch jetzt im Krieg mili~runtauglich sind. Die Schwester ist verheiratet und habe drei Kinder gchabt; ein Sohn sei mit einem Monat gestorbcn, der andere sei sehr begabt, abet viel kranklich gewesen und mit 11 Jahren an Kri~mpfen gestorben; ihrc lunge Tocht~,r hab(, auch schon das Leid~,n in einem Knit. - Die Mutter de~

z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXVI. {j

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82 E. Kretschmer:

Franz K. s(,i mit dem Vatcr nicht vcrwat~dt; si,, s~'i nerv6s, aufg(.r('~'t und mag~,n- ]eidcnd.

Versuehen wit, das Leiden, das bier in einer Familie sich forterbt , ansehaulieh zu zeiehnen. Es ist einerseits so vielgestaltig, da6 es in seiner vollen Entwieklung bei Franz K. kaum eine Gewebs~rt des K6rpers versehont; andererseits sondern sich daraus typisehe Ziige, die das Kraukheitsbild beherrschen und die bei mehreren Vami]ienmit- gliedern bald einzeln, bald in Kombination wiederkehren. - - Man st6flt, zun~chst auf das wohlbekannte Bild des E u n u e his m u s : Kleine Hoden, t3berl~nge der Gliedma$en, offene Epiphysenfugen, kleiner Schfi~del mit flachem Hinterhaupt, mangelhafte K6rperbehaarung bei dichtem Hauptha~ar. Dieses Symptombild ist bei Vater und Sohn reeht deutlieh und fast iibereinstimmend ausgeprSgt; beim Vater ist aueh die absolute K6rpergr6l~e betr~iehtlieh. Hier ist sogleich die a kr o m e g a l e Entwickhmg der H~inde und FiiBe anzusehlie$en, die ein fast durehggngiges Merkmal der mfinntiehen Familienmitglieder zu sein seheint und die kongenital oder friih entstanden, jedenfalls im spgteren Alter ziemlieh station~ir ist. Man wird diese St6rung- auch wenn begreiflicherweise deutliehe Veriinderungen am R6ntgen, bild des Tfirkensattels fehleu, unbedenklieh auf die Hypophyse be- ziehen diirfen. Am Kopf fehlen, abgesehen vielleicht yon der grofSen Nase, ausgesproehen akromegale Kennzeiehen. - - Das bisher um- sehriebene Hoden-Hypophysensyndrom mul.~ wegen seiner klaren klinisehen Deutbarkeit in den Mittelpunkt der Betraehtung gestellt wcrden. Nach seiner Erkenmmg ist die Auffassung des ganzen Krank- heitbildes als eines polyglandul~ren sehr nahegeriickt..

Jedenfalls wird man geneigt sein, die dunkle, an manchen Stellen a.bnorm fleckige Hautpigmentierung bei dcm jtingeren Patienten auf die N e b e n n i e r e zu beziehen. Wenn es'aueh zu gewagt w~re, weiteren Beziehungen der Nebenniere, etwa in ihrer Wirkung auf den Sympathi- custonus nachzugehen, so werden doeh die kardiovaseulSren Symptome bei dem Fehlen deutlicher Sehilddrfisenanomalien in diesem Zusammen- hang am besten sigh betraehten lassen. Die Neigung zu mannigfaeben H e r z g e f ~ i B s t 6 r u n g e n in der Familie ist auffallend. Man wird die grol3en, zum Teil anseheinend spontanen Pulsfrequenzsehwankmlgen bei Franz K. zwanglos mit innersekretorischen Vergnderungen in Zu- sammenhang bringen k6nnen und die Arteriosklerose a]s Folge soleher unausgeglichener Einwirkungen auf dam Gefi~gsx'stem m6glicherweise bcgreifen. Auf andere vasomotorische Symptom(,, wie (lie sehr aus- gesprochene Dermographic sei nur nebeubei hingewiesen. 0b die starke Disposition der Familie zur Krampfaderbildtmg irgendwie hierher ge- hSrt, bleibt dahingestellt. Dagegen ist die Lymphocytose als Symptom endokriner Regelwidrigkeiteu gut verstiin(llicb.

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l'Tber eine blmililh'e l~lutdrUserwrkr~mklm-. 83

Die Familie ist p sych i sch a n s g e s p r o o h e n m i n d e r w e r t i g , Vatcr und Briider sind geistig beschrS~nkt, Franz K., bei dem auch die k6rperlichen St6rungen besonders stark hervortreten, ist schwach- sinnig, sein Affektleben aus stumpfer ]nteresselosigkcit und primitiver t?bererregbarkeit gemischt, wobei die Neigung zu hysterischen Aus- drucksformen (vielleicht miitterlicherseits vererbt) in diesem Zusammen- hang auf~er acht bleiben kann.

Wi~hrend die bisher besprochencn Syml)tomgrupperl tells pr~tgaante Ausdrucksformen von St6rungcn hestimmter endokriner Driisen, tells, wie die Gefit!~- und IntelligenzstSrungen, in ihrer speziellen Driisen- zugehSrigkeit zwar nicht bestimmbar, doeh gelitufige Folgeerscheinungen verschiedcner innersekretorischer Anomalien sind, so sind die folgendea Krankheitserscheinungen in ihrer Zugeh6rigkeit zu den Blutdriisen- erkrankungen zwar theoretisch weniger gesichert, abet eben desha]b in ihrem hier gegebeneu empirisehen Znsammenhang mit solchen um so bemerkenswerter.

A r t h r o p a t h i e n in Verbindung mit innersekretorischen StSrungen, hesonders auch gerade in der Umgebung der akromegalen und eunucho- iden Grulope sind ja immerhin nichts UngewShnliches. In der hier be- schriebenen Familie finden wir nun einen ganz bestimmten Typ, n~mlich ein elektives Befallensein der WirbelsSuIe un(1 der Kniegelenke. Das eine Mal, wie bei Franz K., handelt es sich einfach um Schmerzen, alas andere Mal, wie bei dem Vater, um greifbarc anatomische Ver- itnderungen: Kyphoskoliose, arthritische Verdickungen, Genu valgum; auch sonst schon hei jfingeren Familiengliedern: Buckligkeit, Kreuz- schmerzen, Knierheum~tisnms.

Am interessantesten aber ist die hei Franz K. vorhandene M us k el- e r k r a n k u n g , besonders der Befund an der Len(tenmuskulatur. In der mir zugiinglichen Literatur habe ich etwt~s 2ihnliches in diesem Zu- sammenhang nicht linden k6nnen: tin gro6er, druckschmerzhafter, lipomartiger Pseudomuskelwulst, in einer Fascienscheide eingeschlossen, (larunter der erkrankte Muskel selbst mit vermehrtem interstitiellem Fettgewebe, FaserverschmSlerung und Kernvermehrung. Also eine lokale Muskelpseudohypertrophie. Allerdings kann auch die tibrige K6rpermuskulatur nicht als normal bezeichnet werden, wenn sie auch an und ffir sich kcine deutlichen VerSnderungen nach Kraft, Umfang und Konsistenz aufweist. Es besteht ein grobes Mil~verh~ltnis zwischen Arbeitsleistung und Muskelentwickhmg. Die ath[etische Muskulatur, wie sie K. besonders am Brust-Schultergtirtel zeigt, ware bei einem trainierten Schwerarbeiter nicht zu beanstanden; bei einem kriinklichen, vielfach halb arbeitsunfhhigen [ndividmtm ist sie als pathologische Muskelhypertrophie aufzufassen. - - Auf die Parallelen, die sich be- ziiglich der lmlschriebene~l Fettanhiiufung ebmrseits zur Dyst, rophia

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84 E. Kretschmer:

adiposogenitalis, andererseits (Sehmerzhaftigkeit !) zur De ['e u mschen Krankheit ziehen lassen, sei nur beil~ufig hingewiesen; die erstere ist wegen des Hoden-Hypophysenkomplexes bemerkenswert.

Dagegen scheinen mir Fhlle, wie der vorliegende, fiir die Theorie der prim~ren Myopathien, speziell der Dystrophia musculorum pro- gressiva, aller Beaehtung wert. Sollten sich solche Symptomgrup- pierungen, wo die Muskeldystrophie als Teilerscheil.mng eines offenbar innersekretorisch bedingten Krankheitsbildes auftritt, h~iufiger beob- aehten lassen, so w~ren sie sehr geeignet, die Vermutung eines endo- krinen Ursprungs derselben zu stiitzen. Wird man sich doch schon in diesem Einzelfalle, wo die Hauptsymptome eines vielgestaltigen Leidens sich zwanglos in den Rahmen einer polyglanduli~ren St6rung einftigen lassen, schwer entschlie[3en k6nnen, nun geraxie die Myopathie diesem Kausalzusammenhang nicht unterzuordnen, sondern als koordinierte selbsti~ndige Degenerationserscheinung danebenzustellen. - - .Die vor- liegende Muskelkrankheit hat, wie die oben gegebene Schilderung zeigt, Ahntichkeiten nach verschiedenen Seiten, dabei a, berein so eigenartiges Gepr~ge, dab sie sieh in ein diagnostisches Schema nicht einordnen liil~t. Doch sind die Parallelen zur Dystrophia musculorum progressiva zahlreich; Hypertrophie ohne funktioneUe Mehrleistung und Pseudo- hypertrophie; Faseratrophie, Muskelkernvermehrung, Fetteinlagerung; Befallensein yon Muskeln, die auch yon der Dystrophia musculorum progressiva bevorzugt werden, wie Lendemnuskulatur und Sehulter- gfirtel, Fehlen grober St6rungen der elektrischen Erregbarkeit; Auf- treten irn jugendlichen Alter und als Teilerscheinung eines familihren Leidens. Auch ist bekannt, dal3 bei der progressiven Muskeldystrophie Kombinationen mit anderweitigen Entwieklungsanomalien, besonders am Skelett nicht selten beobachtet werden. Andererseits ist die vor- ]iegende Muskelerkrankung durch ihre beschrhnkte Entwicklung, das bisherige Fehlen deutlicher Progression, das Fehlen yon motorischer [nsuffizienz und Atrophie und besonders durch die Bildung umschrie- bener, schmerzhafter FettkSrper yon der progressiven Dystr(,phie recht erhcblich unterschieden. -- Bei dem Vater des Patienten fehlen Muskel- st6rungen der besehriebenen Art; er ist mager, seine Muskulatur gleich- m~tl~ig senil atrophisch. Auch beztiglich der iibrigen Familie sind An- gaben, die auf Myopathie hinweisen, nicht zu erheben.

Wenden wir uns noch einmal dem Gesamtkrankh(,itsbild zu, und zwar in seinem ze i t l i chen Ver l au f bei den einzelnen Familienmit- gliedern. Es handelt sich offenbar nicht um eine Kt'ankheit im engeren Sinn, sondern um einen in seinen Grundlagen angeborenen und weiter- hin ziemlich stationiiren Zustand k6rperlicher und psychischer Dege- ueration; selbst.verst~ndlich ist dabei eine Weiterentwicklung von Folgesymptomen, wie ~. B. des Knoehenli~ngenwaehstltms a.ls l~'olge

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Ober aine familitire Blutdrtlsenerkrankung. 85

der chronischen Hodeninsuffizienz nicht ausgeschlossen. MSglicher- weise kann die Tatsache so gedeutet werden, da$ sowoh] die Extremi- tgttenF, i.nge, wie die akromegale Entwickhmg der Hitnde und FfiSe bei dem Mteren Individuum, Aloys K., noch ausgebildeter ist als bei dem jfingeren. DaB auch die Gelenk- und Gefiif~stSrungen unter den Schi~di- gungen des Lebens sich zur greifbaren Krankheit weiterentwiekeln, wird nicht wundernehmen.

Es wurde schon betont, dab es sich um ein im ~rusgesprochensten Grade familiiires ],eiden handelt. Betrachtet man den Vererbungstyp, soweit es sich bei den nicht durchweg gesicherten Angaben fiber die weitere Familie beurteilen li~Bt,, so fiillt die ganz vorwiegende Beteiligung der miinnlichen Falnilienmitglieder auf: es kann dies sehr wohl auf der wichtigen Rolle beruhen, die die Keimdrfise offenbar im Krankheits- bilde spielt. Die Vererbung erfolgt offenbar immer direkt vom Vater auf den Sohn.

Zum Schlul~ seien die gewonnenen Untersuehungsresultate kurz zusammengestellt:

1. Es handelt sich um einen fami l i i i ren Z u s t a n d kSrpe r l i che r und p s y e h i s e h e r D e g e n e r a t i o n , der vorwiegend die mann- lichen Mitglieder betrifft und in seinen Grundlagen angeboren und stationiir ist.

2. Dieser Zustand ist wahrscheinlich als polyglandul i i , res Syn- drom aufzufassen, weil er sieh teils auf bekannte endokrine StSrungen zurfiekfiihren lii, gt, teils aus solchen wohl verstiind- lich ist.

3. Im Mittelpunkt steht ein Hoden-Hypophysenkomplex im Sinne des e u n u c h o i d e n H a b i t u s und des p a r t i e l l e n a k r a l e n Riesenwuchses . Vielleicht ist die Neben niere teilweise mit- betroffen (Hautpigment, Gef~fle).

4. Die Familie zeigt vielfach I n t e l l i g e n z s e h w ~ c h e , ferner eine Disposition zu A r t h r o p a t h i e n der WirbelsKule und Knie - ge lenke und zu Herzge f~Bs t5 rungen .

5. In einem Fall besteht eine e i g e n a r t i g e M u s k e l e r k r a n k u n g , die an der L e n d e n m u s k u l a t u r als P s e u d o h y p e r t r o p h i o mit F e t t k 5 r p e r b i l d u n g und M u s k e l d y s t r o p h i e , am tibrigen KSrper, besonders am Schu l t e rg f i r t e l , als H y p e r - t r o p hi e ohne funktionelle Mehrleistung sich darstellt ;sie zeigt viele Parallelen mit der Dystrophia musculorum progressiva, ohne mit ihr identisch zu sein.